18

Lorenas Brust schmerzte. Sie hatte Mühe zu atmen, denn ihr Rüstungspanzer schien sie zerquetschen zu wollen.

Aber Lady Proudmoore und ihre Freundin Aegwynn vermochten die dämonischen Barrieren zu durchbrechen, die sie gefangen gehalten hatten. Wer auch immer diese Frau war, die Lady begegnete ihr mit mehr Respekt und Ehrfurcht, als Lorena es jemals zuvor beobachtet hatte. Offenbar hatten sie Lorenas Körper dazu benutzt, um die Barrieren von der anderen Seite her aufzuheben. Der Oberst verstand von all dem nicht das Geringste. Gerede über Magie verursachte ihr für gewöhnlich Kopfschmerzen; alles, was sie daran interessierte, war, ob sie funktionierte.

Lady Proudmoore wandte sich an die ältere Frau. »Magna, ich habe eine Bitte.«

»Ja?«

»Hättet Ihr etwas dagegen, den Platz mit ein paar Donnerechsen zu teilen? Ich kann Barrieren herbeizaubern, die Euer Haus, Euren Garten und Euren Brunnen schützen. Und das Hochland wird sie zusammenhalten.« Sie erklärte schnell das Problem mit den Donnerechsen.

Als sie es hörte, lachte die alte Frau. »Ich habe keine Einwände. Ich hielt mir einst eine Donnerechse als Haustier.«

Lorenas Mund öffnete sich vor Überraschung. »Bitte sagt mir, dass Ihr scherzt.«

»Nicht im geringsten. Es war kurz nach meinem vierhundertsten Geburtstag. Nach so langer Zeit wurde die Einsamkeit überwältigend, deshalb entschloss ich mich, ein Haustier zu halten. Ich betrachtete einen domestizierten Kodo als Herausforderung. Ich nannte ihn Scavell – nach meinem Mentor.«

»Kodo?«, fragte Lorena mit einem Stirnrunzeln.

Aegwynn zuckte mit den Achseln. »So nannten wir sie damals. Ich hatte schon immer eine Schwäche für die Biester und teile mein Zuhause gern mit ihnen.«

»Danke, Magna.« Lady Proudmoore wandte sich an Lorena. »Gebt mir fünf Minuten, um zu erledigen, was mich nach Durotar geführt hat. Dann werde ich nach Theramore zurückkehren. Ich versetze uns alle drei hin. Befehlt Euren Soldaten, sofort per Luftschiff nach Theramore zurückzukehren.« Sie lächelte ironisch. »Ich fürchte, ein ganzes Luftschiff zu teleportieren, nachdem ich die Donnerechsen hergebracht habe, überstiege meine Kräfte.«

»Sehr gut, Milady«, sagte Lorena mit einem Nicken.

»Danke, Oberst.« Die Lady sprach mit einem warmen Lächeln, und Lorena fühlte einen Anflug von Stolz. Der Oberst hatte ein großes Risiko auf sich genommen, hierher zu kommen. Sie hatte auf Booravens Fähigkeiten gebaut, um Lady Proudmoore im Orc-Land aufzuspüren und darauf gehofft, dass die Lady angesichts dieser Anmaßung nicht verärgert sein würde. Aber es schien, dass es richtig gewesen war, ihren Instinkten zu vertrauen. Und außerdem hatte sie aktiv dabei mitgewirkt, die Lady und ihre Freundin aus der Gefangenschaft zu befreien.

Während Lady Proudmoore ihre Augen schloss und sich auf das Zaubern konzentrierte, schaute Lorena zu der alten Frau. »Ihr seid wirklich vierhundert Jahre alt?«

»Nein. Mehr achthundert.«

Lorena nickte. »Ah.« Sie blinzelte erneut. »Dann habt Ihr Euch gut gehalten.«

Aegwynn grinste. »Ihr hättet mich vor dreißig Jahren sehen sollen.«

Lorena entschied, dass ihr diese Unterhaltung viel zu bizarr wurde und ging zur Strickleiter, um Major Bek und den anderen die neuen Anweisungen zu erteilen. Bek nahm den Befehl entgegen, wünschte ihr Glück und bereitete das Luftschiff auf die Rückreise vor.

Indem sie die Leiter hinunterkletterte, signalisierte Lady Proudmoore ihre Bereitschaft zum Aufbruch. Sobald Lorena von der untersten Sprosse getreten war, ordnete Bek an, die Leiter einzuziehen, und das Luftschiff trat seine Reise zurück nach Süden an.

»Der Kämmerer hat die meiste Zeit im Thronsaal verbracht.« Lorena schaffte es nicht, ihre Abneigung aus der Stimme herauszuhalten. Dann fragte sie sich, warum sie es überhaupt versuchte. »Meist saß er auf Eurem Thron.«

Lady Proudmoore nickte. »Kristoff war der Thron immer wichtig.«

»Ein wenig zu wichtig, wenn Ihr mich fragt«, bestätigte Lorena.

»Allerdings. Ich bin so weit.«

Lorena versteifte sich. Sie war nur einmal teleportiert worden, damals im Krieg, und sie hatte Magenschmerzen davon bekommen.

Dann stand die Welt Kopf, das Innerste wurde nach außen gestülpt. Lorena fühlte sich, als wäre ihr der Kopf entfernt und zwischen den Kniescheiben platziert worden, während die Füße plötzlich aus dem Hals ragten.

Eine Sekunde später normalisierte sich alles wieder, und Lorena erhob sich vom Steinboden. Sie registrierte beiläufig, dass dies Lady Proudmoores Thronsaal war und Duree sie anschrie, weil sie nicht an sich halten konnte und sich übergab.

»Milady!«, erklang Kristoffs Stimme. »Ihr seid zurück! Und Oberst Lorena auch. Wir hatten schon befürchtet, Ihr wärt vom Flammenden Schwert gefangen genommen worden. Ihr werdet erfreut sein zu hören, dass wir Northwatch mit Truppen verstärkt haben. Was sich gut trifft, da Orc- und Troll-Armeen dorthin unterwegs sind... Und wer ist das?«

Lorena würgte schon wieder. Ihr Magen krampfte sich zusammen, aber diesmal beherrschte sie sich.

»Mein Name ist Aegwynn.«

»Wirklich?« Kristoff klang so überrascht, als wüsste er, um wen es sich bei Aegwynn handelte. Lorena selbst hatte nicht den Hauch einer Ahnung, abgesehen davon, dass es sich offenkundig um eine sehr alte Frau handelte.

»Ja. Und obwohl ich eigentlich nicht länger wirklich eine Tirisfalin bin, erkenne ich doch den Gestank von Dämonen, wenn ich ihn rieche – und hier ist er allgegenwärtig.«

Obwohl ihr Bauch wahrscheinlich längst leer war, würgte Lorena neuerlich und fragte sich, was eine Tirisfalin sein mochte.

»Wovon redet Ihr da?«, raunzte Kristoff ärgerlich.

»Bitte, Kristoff, sagt mir, dass Aegwynn sich irrt«, forderte die Lady ihn auf. »Sagt mir, dass Ihr Euch nicht mit Zmoldor und dem Flammenden Schwert verbündet habt!«

»Milady, es ist nicht so, wie Ihr offenbar glaubt...«

Nachdem ihr Magen aufgehört hatte, sie zu quälen, konnte Lorena endlich wieder aufrecht stehen. Sie sah sich mit einem interessanten Szenario konfrontiert: Kristoff stand direkt vor dem Thron und schaute höchst erschrocken drein; Aegwynn blickte verärgert – was sich kaum von ihrem üblichen Gesichtsausdruck unterschied; aber in Lady Proudmoores Zügen entdeckte sie etwas Neues, kalte Wut. Ein Sturm schien hinter ihren Augen aufzuziehen, und Lorena war dankbar, dass die Lady auf ihrer Seite stand.

»Nicht, wie ich glaube? Was sollte ich denn glauben, Kristoff?«

»Die Orcs müssen eliminiert werden, Milady. Zmoldor hat dasselbe Ziel, und er ist ein niederer Dämon. Ich habe bereits einen Plan, wie wir ihn, wenn wir fertig sind, von dieser Welt verschwinden lassen...«

»Fertig? Fertig womit? Sagt mir, was Ihr da in Bewegung gesetzt habt, Kristoff.«

»Eine Kette von Ereignissen, die die Orcs von unserer Welt vertreiben werden. Es ist alles nur zum Besten, Milady. Sie gehören nicht hierher und...«

»Armseliger Narr!«

Kristoff reagierte, als wäre er geschlagen worden. Lorena war nicht weniger überrascht als der Kämmerer. In all der Zeit, die sie unter ihr gedient hatte, hatte sie Lady Proudmoore nie so sprechen gehört.

»Zmoldor ist ein Dämon. Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet ihn stoppen?« Sie wies auf die alte Frau. »Das ist Aegwynn, die Mächtigste der Wächterinnen.«

Aegwynn schnaufte zu den Worten, aber die Lady und Kristoff ignorierten es.

»Nicht einmal sie war imstande, Zmoldor vollständig zu schlagen – obwohl sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand. Was lässt Euch also glauben, dass Ihr erfolgreicher sein könntet? Und selbst wenn Ihr es wärt... kein Ziel ist es wert, sich mit einem Dämon zu verbünden. Deren einziges Ziel es ist, Chaos zu säen. – Oder hat Euch die Zerstörung von Lordaeron noch nicht gereicht? Muss Kalimdor ihm in den Sog folgen, wenn erst der Krieg, auf den Ihr so begierig seid, nach Northwatch schwappt?«

»Außerdem«, fügte Aegwynn hinzu, »selbst wenn Ihr die Absicht hattet, Zmoldor zu vernichten oder zu verbannen, so hättet Ihr es nicht vermocht. Niemals. Ihr seid sein Sklave.«

»Das ist absurd!« Kristoff klang jetzt noch nervöser als zuvor. »Das ist nur ein Zweckbündnis, und wenn erst die Orcs weg sind...«

»Die Orcs sind unsere Verbündeten, Kristoff.« Blitze schienen um ihr goldenes Haar zu knistern, und ein schwacher Wind materialisierte an ihren Knöcheln und ließ den weißen Umhang der Lady aufwallen. »Diese Allianz wurde mit Blut geschmiedet. Und die Dämonen sind der Feind allen Lebens. Wie konntet Ihr uns nur verraten? Mich verraten?«

Kristoff geriet jetzt über die Maßen ins Schwitzen. »Ich schwöre Euch, Milady, es ist kein Verrat. Ich habe einfach getan, was ich für das Beste für Theramore hielt. Das Flammende Schwert ist nicht mehr als eine von Zmoldor angeführte Gruppe aus Zauberern, welche die natürliche Feindseligkeit gegen die Orcs für ihre Zwecke ausnutzt. Sie schüren nichts, was nicht schon da wäre.«

»Was ist mit den Orcs, die bei alldem mitmachen?«, fragte Lorena.

»Wie?« Kristoff klang verwirrt.

»Die Orcs, die mich und meine Truppen in Northwatch angegriffen haben, gehörten dem Flammenden Schwert an. Wie passt das zusammen?«

»Ich...« Kristoff wirkte ratlos.

Lady Proudmoore schüttelte ärgerlich den Kopf. »Wie viele, Kristoff? Wie viele müssen sterben, um Eure perfekte, von Orcs befreite Welt zu erschaffen?«

Jetzt wähnte sich der Kämmerer auf sichererem Terrain. »Weit weniger, als wenn wir darauf warten, dass Thrall stirbt oder die Orcs sich wieder zurückverwandeln. Er war der Einzige...«

»Genug!« Jetzt verstärkte sich die Brise, Blitze schossen aus den Fingerspitzen der Lady.

Kristoff schrie eine Sekunde später auf und fasste sich an seine linke Schulter. Rauch kräuselte zwischen seinen Fingern.

Instinktiv rannte Lorena zu ihm und zerrte ihm den brennenden Stoff vom Leib. Auf seiner nackten Schulter prangte eine Tätowierung, die identisch mit jener war, welche Lorena, Strov, Clai, Jalod und die anderen an den Orcs von Northwatch gesehen hatten – die lodernde Klinge eines Schwertes.

Auch die Tätowierung fing nun Feuer.

Eine Sekunde später war sie verschwunden und hinterließ nur verkohltes Fleisch. Kristoff brach kraftlos zusammen, seine Augenlider flatterten.

In gefasstem Ton sagte Aegwynn: »Zmoldor ist weg.«

»Ja.« Auch Lady Proudmoore klang jetzt wieder ruhiger. »Und mein Bannspruch hat ihm verraten, dass wir ihm auf der Spur sind.«

»... so Leid...«

Lorena kniete neben Kristoff, der zu flüstern begonnen hatte. Die Worte, die über seine Lippen kamen, waren kaum mehr als ein Hauch.

»Dachte... was ich tat... geschehe aus freiem... Willen... aber Zmoldor... kontrollierte... alles. Tut... so Leid... so Leid...«

Das Licht schwand aus seinen Augen.

Alle drei Frauen schwiegen für eine Weile. Für Lorena war es das Schlimmste, dass Kristoff im Grunde wahrscheinlich gar kein übler Mensch gewesen war. Er hatte lediglich das getan, was er für das Beste für Theramore hielt. Er hatte gemeint, seine Pflicht zu erfüllen. Natürlich hatte er dies denkbar falsch angestellt, aber er hatte das Herz am rechten Fleck getragen.

Sie fühlte sich schuldig. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie Kristoff nichts mehr als den Tod gewünscht hatte. Aber nun, da er tot war, fühlte sie nur eine große Traurigkeit.

Sie blickte zu Lady Proudmoore. »Wir müssen nach Northwatch. Wenn wir Glück haben, hat der Krieg noch nicht begonnen, und vielleicht können wir die Truppen noch aufhalten. Ihr müsst das persönlich erledigen, Milady. Major Davin wird von niemand anderem Befehle entgegennehmen.«

Lady Proudmoore nickte. »Ihr habt Recht. Ich werde...«

»Nein«, warf Aegwynn ein.

Die Lady musterte sie kühl. »Wie bitte?«

»Es ist Magie im Spiel, Lady Proudmoore, und Ihr seid die einzige Person in Kalimdor, die sie stoppen kann. Euer ehemaliger Kämmerer hatte mit einem Recht: Zmoldor ist ein niederer Dämon. Er war einer von Sargeras' Handlangern. Er selbst hat nicht die Macht, so viele Leute zu beeinflussen – oder einen Wald abzuholzen und die Bäume zu teleportieren. Diese Zauberer, die Kristoff erwähnte, sind die Wurzel allen Übels. Sie handeln in Zmoldors Namen, vielleicht als Gegenleistung für seltene Schriftrollen.« Sie schüttelte den Kopf. »Zauberer sind hinter Sprüchen her wie ein Süchtiger hinter einer Schlafmohnpflanze. Es ist abscheulich...«

»Wir haben nicht die Zeit, auf die Jagd nach einer Gruppe von Zauberern zu gehen«, sagte Lorena.

»Diese Zauberer sind das Zünglein an der Waage, Oberst«, beteuerte Aegwynn.

Lorena schaute zu Lady Proudmoore. »Nach allem, was wir wissen, Milady, haben die Kämpfe bereits begonnen. Und wenn es noch nicht passiert ist, kann es jederzeit losgehen, falls Kristoff in Bezug auf die Orcs Recht hat und diese Truppen hierher ziehen. Wenn erst die Kämpfe beginnen, zählt es nicht mehr, wer oder was sie ausgelöst hat. Es wird ein Blutvergießen geben, und wenn diese Grenze erst überschritten ist, wird die kostbare Allianz für immer zerschlagen sein.«

Aegwynn sah die Lady an. »Die Zeit drängt. Ihr habt selbst gesagt, Zmoldor weiß, dass wir ihm auf der Spur sind. Wir müssen jetzt zuschlagen, bevor er die Möglichkeit hat, sich eine Strategie gegen Euch einfallen zu lassen. Und Ihr könnt nicht an zwei Orten zugleich sein.«

Da lächelte die Lady. Es war ein strahlendes Lachen, das Lorena als Ausdruck von Erleichterung auffasste, nach all dem Zorn, den Kristoff in ihr entfacht hatte.

»Ich muss nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.« Sie ging zum Eingang ihrer Kammer und trat hinein.

Lorena und Aegwynn tauschten erstaunte Blicke miteinander. Dann folgten sie ihr. Als sie drinnen ankamen, sahen sie, wie Lady Proudmoore in ihren Schriftrollen wühlte. Plötzlich hielt sie inne und rief: »Ah! Da ist er ja!«

Sie drehte sich um und hielt einen Stein, den ein verschlungenes Symbol zierte, in der Hand. Einen Stein, der plötzlich und warnungslos zu glühen begann...

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