»Sir, die Orcs haben ihr Lager aufgeschlagen.«
Major Davin begann Haarbüschel aus seinem Bart zu reißen – zum Teufel mit der Kleiderordnung. »Wie viele?«
Korporal Rych zuckte mit den Achseln »Unmöglich, mit Gewissheit zu sagen, Sir.«
Davin schloss resigniert die Augen und zählte insgeheim bis fünf. »Dann ratet«, quetschte er schließlich hervor.
Noch ein Achselzucken. »Der Späher behauptet, dass es mindestens sechshundert sind. Es ist schwer abzuschätzen, Sir. Sie halten weit genug Abstand, um keine Grenze zu verletzen, aber...«
Als Rych zögerte, seufzte Davin. »Aber was?«
»Nun, Sir, im Moment sitzen sie da nur rum. Aber ich glaube nicht, dass das so bleiben wird. Besonders nicht, wenn die Boote eintreffen.«
Wieder seufzte Davin. Es schien, als wäre dieses Seufzen alles, was er in diesen Tagen wirklich in Perfektion beherrschte. Dutzende Boote, die Orcs und Trolle transportierten, waren tags zuvor gesichtet worden, wie sie auf der Großen See nach Süden fuhren – Richtung Northwatch. In wenigen Stunden würden sie ihr Ziel erreichen. Und spätestens dann würde Davin eine Entscheidung treffen müssen.
Die Anweisungen von Kämmerer Kristoff, der den Oberbefehl innehatte, während Lady Proudmoore von diesen Flammendes-Schwert-Leuten gefangen gehalten wurde, lauteten, Northwatch um jeden Preis zu halten.
Davin wusste nicht, wie er das schaffen sollte.
Eigentlich hatte er nie Soldat werden wollen. Zugegebenermaßen hatte er jedoch einen Hang zur Gewalt, der dem Anwerber aufgefallen war, als er in seinem Dorf nach Nachwuchs gesucht hatte. Dazu war er allerdings auch ein entsetzlicher Feigling, der es aber schaffte, diesen Umstand während der Ausbildung zu verbergen. Hauptsächlich deshalb, weil er niemals in wirklich ernsthafte Gefahr geriet. Er musste nur etwas schauspielern, und das fiel Davin leicht. Sein Schwert an einer Strohpuppe einsetzen? Kein Problem. Aber ein echter Kampf gegen einen Feind aus Fleisch und Blut? Darin war er hoffnungslos schlecht.
Deshalb hatte er beim ersten Mal, als er einem echten Gegner gegenüberstand, auch gedacht, er sei verloren. Aber er hatte Glück gehabt, weil er einer wirklich fähigen Truppe angehörte. Davin hatte sehr wenig für den Sieg getan, als es gegen die aufständischen Zwergen gegangen war. Diese waren auf der Flucht vor der Justiz in sein Dorf gekommen, nachdem ein Putsch gegen die Regierung der Zwerge gescheitert war. Aber der Rest seines Trupps hatte exzellente Arbeit geleistet und die Zwerge gefangen genommen oder getötet.
Davin konnte sich im Ruhm seiner Kameraden sonnen.
Dann war die Brennende Legion auf den Plan getreten. Es war schrecklich gewesen. Leute um ihn her waren gestorben. Lordaeron war zerstört worden. Menschen und Orcs hatte Seite an Seite gekämpft. Die ganze Welt war in Chaos versunken. Davin hatte nie verstanden, warum Lady Proudmoore das Bündnis mit den Orcs eingegangen war. Das waren Teufel, nicht viel besser als die Dämonen selbst.
Aber niemand hatte Davin nach seiner Meinung gefragt.
Sein schlimmster Tag war in einem Wald im Nirgendwo gewesen. Davin hatte nicht gewusst, wo er sich befand, nur dass er sich dort mit den angeschlagenen Resten seines Trupps aufgehalten hatte. Sie waren unterwegs, um eine Dämonenburg zu finden, damit ein Zauberer oder jemand anderes dort nach Geheimnissen suchen konnte. Davins Job war simpel gewesen, er lautete: Beschütze den Zauberer!
Alle anderen suchten nach der Festung.
Unglücklicherweise hatten sie sie auch gefunden. Und die Dämonen reagierten nicht gerade nett darauf.
Kaum dass sie mit ihren glosenden Augen angriffen, war Davin von Panik gepackt worden. Er versteckte sich hinter ein paar Eichen, ließ den Zauberer unbeschützt zurück. Und während der Magier sein Bestes gab, um sich zu verteidigen, setzte ihn schließlich einer der Dämonen in Brand.
Davin sah aus der Sicherheit seines Baumverstecks zu, wie der Zauberer, den er hatte schützen sollen, vor Schmerzen brüllte und sehr, sehr langsam starb.
Irgendwie – Davin hatte nie begriffen, warum – übersahen ihn die Dämonen. Vielleicht betrachteten sie Davin nicht als Bedrohung, was sicherlich auch stimmte. Als sein Trupp ausgelöscht war und die Dämonen davonzogen – wohin auch immer Dämonen ziehen mochten –, lief Davin zum Basislager zurück und erwartete, scharf für seine Feigheit gerügt zu werden. Er war bereit, die Konsequenzen zu tragen, wenn er nur nicht wieder hinaus musste, um so etwas noch einmal durchzumachen.
Stattdessen feierten sie ihn als Helden, weil er das Gemetzel überlebt hatte und zurückgekommen war, um darüber zu berichten.
Und dann beförderten sie ihn.
Davin stand alldem fassungslos gegenüber. Er war kein Held, ganz gewiss nicht, eher das genaue Gegenteil. Aber jeder Versuch dies klarzustellen, brachte ihm nichts anderes ein, als dass er für übermäßig bescheiden gehalten wurde.
Es war verrückt. Statt vom Kampf befreit zu werden, erhielt er das Kommando über Truppen.
Bald darauf jedoch war der Krieg so freundlich, vorbei zu sein. Was Davin die Peinlichkeit ersparte, tatsächlich eine Armee in eine Schlacht führen zu müssen, die er unmöglich siegreich hätte beenden können.
Die Brennende Legion wurde zurückgeschlagen nach Woher-auch-immer-sie-gekommen-war, und Davin erhielt noch eine weitere Beförderung. Dieses Mal zum Major. Nach Admiral Proudmoores Ankunft und anschließendem Tod wurde Davin schließlich das Kommando über die Feste Northwatch übertragen.
Bis vor kurzem hatte er dieses Leben gemocht. Northwatch war ein friedlicher Flecken, und auch wenn Davins Feigheit ihm das Kämpfen unmöglich machte, war er in Verwaltungsdingen durchaus talentiert.
Jedenfalls so lange nichts passierte, was das geregelte Tagwerk ins Chaos stürzte.
Davin mochte Oberst Lorena nicht sonderlich. Dennoch wünschte er, sie wäre jetzt hier gewesen. Sie konnte eine Garnison im Ernstfall bei weitem besser befehligen als er, denn im Gegensatz zu Davins Karriere basierten Lorenas Beförderungen auf echten Verdiensten.
Und wenn die Streiter des Flammenden Schwerts schon sie erwischt hatte, ganz zu schweigen von Lady Proudmoore, welche Hoffnung blieb dann ihm noch, Davin?
Oreil kam hereingestürmt, seine zu große Rüstung schepperte bei jedem Schritt. »Major Davin! Major Davin! Die Orcs rücken an. Ihre Boote haben bereits angelegt.«
Davin seufzte ein weiteres Mal. »Die Boote haben bereits angelegt?«
»Hat Euch niemand informiert?« Oreil blinzelte unruhig. »Oh, wartet, ich sollte das ja tun. Es tut mir Leid, Sir, aber ich war so aufgeregt. Bitte bestraft mich dafür nicht.«
Davon stand hinter seinem Tisch auf und ging zur Tür. »Gefreiter, im Moment sollte ein Militärgericht die geringste Eurer Sorgen sein!«
Langsam stieg Davin die enge Treppe hinunter, die zum Boden des im Zentrum der Festung gelegenen Turms führte. Northwatch war auf einem welligen Hügel, der zur Großen See hinlief errichtet worden. Die östliche Begrenzung der Feste bildete eine Steinwand, die zwischen zwei Hügeln lag. Die Gebäude, aus denen sich Northwatch zusammensetzte, wiesen zur Westseite der Mauer hin, die Ostseite war ein mit Palmen bewachsener Strand.
Als er den Bogengang erreichte, der durch die Steinmauer zum Strand hinausführte, sah Davin Orcs und Trolle.
Viele Orcs und Trolle.
Ihre Boote waren alle an Pfählen vertäut, die jemand in den Sand gerammt hatte. Es gab Dutzende, jedes vollbesetzt mit einem Dutzend Trollen und Orcs. Einige trugen Tierhäute, andere die Schädel gefährlicher Bestien als Helme. Alle waren mit Äxten, Breitschwertern, Morgensternen, Knüppeln und anderen Waffen ausgerüstet, die auf den ersten Blick größer zu sein schienen als Davin.
»Das ist es also«, murmelte er selbstvergessen. »Wir werden alle sterben...«
»Was sagtet Ihr, Major?«, fragte einer der Soldaten, der den Bogengang bewachte.
Davin schüttelte rasch den Kopf. »Nichts.«
Irgendwie schaffte er es, sich dazu zu zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nachdem er den Bogengang passiert hatte, versanken seine Stiefel mit jedem Schritt tiefer im Sand.
Beiläufig registrierte er, dass Dutzende Truppen mit ihm auf einer Linie liefen. Er warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass weitere von ihnen vor der Mauer eine Schlachtreihe bildeten, andere bezogen ihre Positionen auf den Zinnen. Davin war dankbar, dass offenbar irgendjemand den Befehl dazu gegeben hatte, und er fragte sich flüchtig, wer es gewesen sein mochte.
Er wandte sich den Neuankömmlingen zu. »Ich bin Major...« Er räusperte sich und setzte erneut an. Seine Stimme war immer noch brüchig, aber jetzt weithin vernehmlich. »Ich bin Major Davin. Ich habe das Kommando über die Feste Northwatch. Was treibt Euch hierher?«
Für einen kurzen Moment gab sich Davin der Hoffnung hin, dass die Orcs antworten würden, sie wären nur auf der Durchreise und innerhalb einer Stunde wieder abzugsbereit. Er hoffte es genauso inständig, wie er damals nach seiner Rückkehr vom Massaker an seinem Trupp gehofft hatte, aus der Armee entlassen zu werden. Und damit hatte diese Hoffnung wohl die gleiche bescheidene Aussicht, sich zu erfüllen...
Der größte und schrecklichste Orc trat vor. (Davin war schon allein deshalb gewillt, ihn als den Größten und Schrecklichsten anzusehen, weil er vortrat.)
»Ich bin Burx. Ich spreche für Thrall, den Kriegshäuptling der Horde und Lord der Clans. Diese Eure Feste verletzt das Bündnis zwischen unseren Völkern. Ihr habt eine Stunde, um sie zu räumen und alle Spuren Eurer Anwesenheit zu tilgen.«
Davin stammelte: »Ihr... das kann nicht Euer Ernst sein. Es ist unmöglich, die Feste binnen nur einer Stunde zu räumen!«
Burx grinste. Es war die Art von Lächeln, die ein Raubtier zeigte, wenn es lediglich die Zähne fletschte und kurz davor stand, sich auf seine hoffnungslos unterlegene Beute zu stürzen. »Wenn Ihr dieser Anordnung nicht folgt, lasst Ihr uns keine andere Wahl als anzugreifen. Und Euch alle zu töten.«
Davin hegte nun keinerlei Zweifel mehr, dass ihm und den anderen Bewohnern genau das bevorstand.