Die Panik ließ Davin bis in die Zehenspitzen erzittern. Um ihn herum starben Soldaten, seine Soldaten. Ihre Körper wurden verheert und verstümmelt, die Gliedmaßen und Köpfe abgetrennt. Klingen schnitten tief in Fleisch und Knochen. Der Lärm und das Geschrei schwollen zu einem infernalischen Konzert an.
Und Davin stand einfach da und wartete darauf zu sterben. Er war davon ausgegangen, dass Burx ihn mit seiner Axt augenblicklich zweiteilen würde. Aber ein paar Soldaten eilten ihrem Kommandeur zu Hilfe und attackierten den Orc. Davin war sich nicht sicher, womit er sich eine solche Loyalität verdient hatte. Aber er war dankbar dafür. Er wollte nicht sterben.
Danach griff ihn niemand mehr an. Orcs und Trolle suchten sich Menschen, gegen die sie ihren Kampf fortsetzten, und irgendwie wurde Davin, der dem Wasser näher stand als irgendein anderer, völlig ignoriert.
Der Körper eines Trolls fiel ihm vor die Füße, und Korporal Barnes flog hinter ihm in hohem Bogen vorbei, landete klatschend im Wasser. Davin fragte sich unwillkürlich, warum derjenige, der Barnes niedergestreckt hatte, dessen Körper so weit von sich schleuderte. Dann aber entschied er, dass er das gar nicht wissen wollte.
Plötzlich explodierte die Welt. Zumindest hatte es fast den Anschein. Ein Erdstoß erschütterte den Boden so heftig, dass etwas geschah, was die Panik bislang verhindert hatte: In Davin kam wieder Bewegung – auch wenn er nur zu Boden stürzte.
Obwohl sich bislang keine Wolke am Himmel gezeigt hatte – der Tag war klar und sonnig gewesen – wurde es mit einem Mal finster. Blitze zuckten mit Donnergrollen und ohrenbetäubendem Getöse zum Boden hinab und schlugen dort ein.
Davin vernahm ein Rumpeln und sah kurz darauf, wie sich eine riesige Wasserwand aufbaute. Während all der Zeit in Northwatch hatte er nie eine auch nur annähernd so hohe Welle gesehen. Diese war so hoch wie die Mauern der Festung – und rollte geradewegs auf Davin zu.
Schnell versuchte er auf seine Beine zu kommen, aber seine Stiefel fanden keinen ausreichenden Halt im Sand. Er fiel auf das Gesicht. Während er noch den Sand ausspuckte und sich gleichzeitig bemühte, keinen neuen zwischen die Zähne zu bekommen, ergab sich Davin dem Unausweichlichen, versteifte sich und rammte seine Hände wie Anker in den Sand.
Das Wasser schlug über ihm zusammen und riss ihn fast von dem Stück Boden, wo er sich mit allen verfügbaren Mitteln zu halten versuchte. Dank seiner Rüstung und der tief eingegrabenen Arme trotzte er den Gewalten, die an ihm zerrten. Er fragte sich, wie es wohl den anderen Soldaten, die weniger gut gewappnet waren, ergehen mochte – die Orcs und Trolle kümmerten ihn nicht –, aber am meisten interessierte ihn, ob er jemals wieder würde Luft holen können.
Dann endlich ebbte das Wasser in entgegengesetzter Richtung ab. Die Welle hatte den Sand von Davins Gesicht gewaschen. Er war völlig durchnässt. Das Wasser hatte seine Haare in etwas verwandelt, das wie eine triefende Kappe an seiner Kopfhaut anlag, und sein Bart klebte fühlbar durchweicht an seinem Gesicht.
»Ihr habt mich heute beschämt, Krieger!«
Davin rollte sich auf den Rücken und blickte empor. Der Himmel war immer noch finster, abgesehen von einer Stelle, wo ein Luftschiff schwebte.
Davin erlaubte sich ein flüchtiges Gefühl von Hoffnung. Vielleicht gehörte das Luftschiff Oberst Lorena, die sich und Lady Proudmoore aus der Gewalt des Flammenden Schwerts hatte befreien können. Dieser Alptraum von einer Naturkatastrophe, der gerade über ihn hinweggerollt war, konnte durchaus die Tat der Lady gewesen sein. Sie war zurückgekommen, um die Truppen zu verstärken, die Orcs zurückzuschlagen und so letztlich die Rettung zu bringen.
Als er sich das Luftschiff jedoch genauer betrachtete, rutschte ihm das Herz in die Hose. Die Hülle war mit bizarren Symbolen bedeckt, die der Major ausnahmslos als orcischer Herkunft identifizierte. Zumindest zwei der Symbole hatte er auf Waffen und Rüstungen gesehen, die Orcs in Schlachten getragen hatten. Krieger, die seine Soldaten getötet hatten. Davins Kommandeur hatte damals gemeint, dass diese Symbole das Äquivalent zu den unter Menschen gebräuchlichen Wappen seien.
Davin war nie ein sonderlich religiöser Mensch gewesen. Das einzige Mal, dass er gebetet hatte, war, als er sich hinter jenem Baum versteckte und flehte, die Dämonen mögen ihn nicht entdecken. Dieses Gebet war scheinbar erhört worden, aber Davin wollte das Glück nicht herausfordern, hatte es nie überstrapaziert.
Bis heute. Denn hier und jetzt machte er eine Ausnahme – um den Tag zu überleben.
Irgendwie fand er die Kraft auf die Beine zu kommen. Die Worte, die er gehört hatte, waren aus dem Luftschiff erklungen, und nun fiel eine Strickleiter herab. Sie straffte sich, als der Orc, der die Worte gesprochen hatte, daran zu Boden kletterte.
Als die massige Gestalt den Strand erreichte, hoben die anderen Orcs – zumindest diejenigen, die Davin aus den Augenwinkeln erkennen konnte – die Waffen zum Gruß. Der Major stellte fest, dass der Neuankömmling blaue Augen hatte, und auf einmal wurde ihm klar, wen er vor sich hatte – auch wenn er dem Kriegshäuptling der Orcs noch nie zuvor persönlich begegnet war.
Gleichzeitig fiel ihm ein, dass Thrall ein mächtiger Schamane war. Wie Lady Proudmoore konnte auch er hinter der gerade erlebten Überschwemmung stecken.
Seinen Kriegshammer hielt der Orc mit einer Hand zum Himmel gereckt, und Davin wusste, das es sich dabei um den legendären Doomhammer handelte, der einst Orgrim, Thralls Lehrmeister, gehört hatte.
Der Orc brüllte: »Ich bin Thrall, Kriegshäuptling von Durotar, Lord der Clans, Anführer der Horde! Ich bin gekommen um klarzustellen, dass...« Er zeigte auf Burx. »... dieser Orc nicht für mich spricht!«
In den letzten sechs Jahren hatte Davin vielen Treffen mit Orcs beigewohnt. Zuerst im Krieg, aber auch aufgrund Northwatchs exponierter Küstenlage war es immer wieder zu Zusammenkünften gekommen. Zahlreiche Orcs zogen durch diese Gegend.
In all der Zeit jedoch hatte Davin nicht einmal annähernd eine solche Regung im Gesicht eines Orcs bemerkt, wie er sie jetzt bei Burx sah.
»Krieger von Durotar, legt die Waffen nieder!« Wieder wies Thrall auf Burx, doch dieses Mal tat er es mit seinem Hammer. Mit dieser fürchterlichen Waffe, die Legende war.
»Diese schlechte Kreatur hat sich mit einem Dämonen verbündet, damit zwischen unseren Völkern Krieg herrscht. Ich aber werde unser Abkommen nicht brechen und damit jenen Kreaturen zuarbeiten, die versucht haben, uns zu vernichten – niemals!«
Burx fauchte: »Ich war immer ein treuer Diener...«
Thrall schüttelte den Kopf. »Mehrere Krieger berichteten von einem Talisman in Form eines in Flammen stehenden Schwertes, den du bei dir trägst. Dabei handelt es sich um das Symbol der Vereinigung Flammendes Schwert. Wie mir Jaina und eine alte Zauberin, die sich mit den Menschen verbündet hat, erklärten, sind alle, die dieses Zeichen tragen, Leibeigene eines Dämons namens Zmoldor. Dieser versucht, Unfrieden auf Kalimdor zu schüren und unser Bündnis zu unterhöhlen. Und wie seit Orc-Gedenken üblich, benutzen uns die Dämonen auch diesmal wieder, um uns zu schwächen. Vielleicht wollen sich uns danach auch endgültig den Garaus machen!«
Burx zeigte mit seiner Waffe auf Davin. »Das da sind die Bastarde, die versucht haben, uns in den Untergang zu treiben! Sie haben uns versklavt und uns unser rechtmäßiges Erbe verweigert!«
Im Gegensatz zu Burx' hysterischer Stimme antwortete Thrall ruhig und gefasst. »Richtig, einige von ihnen haben das getan. Sie taten es wegen der Dämonen, die uns unsere Seele raubten und uns zwangen, ihren Krieg gegen die Völker dieser Welt auszutragen. Einen Krieg, den wir schließlich verloren haben. – Aber wir haben diese Fesseln abgeworfen. Wir sind wiedererstarkt und beinahe so wie wir früher einmal waren. Und warum, Burx, ist uns das gelungen? Ich will es dir sagen: weil wir Krieger sind. Weil wir reinen Geistes sind. Oder zumindest die meisten von uns. Denn ich kann nicht diejenigen rein nennen, die mit Höllenkreaturen paktieren, um Orcs zu verleiten, ihr Wort zu brechen.«
Die Orcs und Trolle starrten Burx mit einer Mischung aus Überraschung und Ekel an. Ein paar, erkannte Davin, blickten völlig verwirrt, und einer von ihnen fragte schließlich: »Ist das wahr, Burx? Du hast dich mit einem Dämon eingelassen?«
»Um die Menschen zu vernichten, würde ich mich mit tausend Dämonen einlassen! Sie müssen vernichtet werden, koste es, was es wolle!«
Wie um die gerade geäußerte Überzeugung zu unterstreichen, griff Burx Davin an.
Jede Faser seines Körpers drängte den Major dazu, wegzulaufen. Aber seine Beine gehorchten ihm ebenso wenig wie kurz zuvor, als die Welle auf ihn zugerollt war.
Er sah, wie Burx mit seiner Streitaxt ausholte, um ihm den Schädel zu spalten.
Aber bevor der den Schwung vollenden konnte, verfiel sein ganzer Körper in heftige Zuckungen. Er stoppte inmitten der Vorwärtsbewegung und fiel in den Sand. Davin sah, wie Thrall Burx mit seinem Doomhammer traf.
»Du hast Schande über Durotar gebracht, Burx. Du trägst Schuld am ehrlosen Tod von Orcs, Trollen und Menschen. Diese Schmach kann nur durch deinen Tod getilgt werden. Und als Kriegshäuptling ist es meine heilige Pflicht, dieses Urteil zu vollstrecken!«
Thrall hob seinen Hammer und ließ ihn mit fürchterlicher Gewalt auf Burx' Haupt krachen.
Davin fuhr unwillkürlich zusammen, als Blut über den sandigen Boden spritzte und sowohl Thrall als auch ihn traf. Er war jedoch zu geschockt, um zu versuchen, den Lebenssaft des Orc abzuwischen. Nicht einmal das Blut, das sich mit der Nässe auf seiner linken Wange mischte, beachtete er. Oder die Schädelsplitter, die sich in seinem Bart verfangen hatten.
Auch Thrall machte keinerlei Anstalten, die Spuren von Burx' zertrümmertem Haupt von sich zu wischen, obwohl ihn noch wesentlich mehr davon getroffen hatte. Davin schloss nicht aus, dass das Blut eines Unterlegenen bei Orcs als Ruhmeszeichen galt.
Der Kriegshäuptling trat vor und sagte an Davin gewandt: »Ich entschuldige mich im Namen von Durotar für diesen Verräter, Major, und für diese schreckliche Schlacht. Ich werde es zu verhindern wissen, dass das Flammende Schwert meine Leute noch einmal beeinflusst. Und ich hoffe, dasselbe könnt auch Ihr mir für Eure Seite versichern.«
Davin traute seiner Stimme nicht, deshalb nickte er nur.
»Dann werden wir nun abziehen«, versprach Thrall mit Genugtuung. »Ich bin untröstlich, dass wir nicht rechtzeitig hier waren, um dieses Blutvergießen zu verhindern. Aber zuerst musste ich die Truppen, die auf dem Landweg vorrückten, aufhalten. Wir werden alle nach Durotar zurückkehren und euch nicht mehr angreifen...« Der Kriegshäuptling trat vor. »Jedenfalls nicht, so lange ihr uns keinen Anlass dazu gebt.«
Wieder nickte Davin, diesmal deutlich eifriger und mit allem Nachdruck, zu dem er fähig war. Er verließ seinen Platz auch nicht, als Thrall seinen Truppen den Befehl gab, die Toten und Verwundeten einzusammeln und zu den Booten zurückzukehren, um heim nach Kolkar Crag zu segeln. Davin stand lange nur da, seine Stiefel im Sand eingesunken.
Die Überreste von Burx' Blut, seinem Schädel und Gehirn bedeckten noch immer den Körper und die Rüstung Thralls, als der Orc die Leiter seines Luftschiffs erklomm. Kurz darauf trat die Flotte ihre Reise nach Norden an.
Davin wunderte sich, dass seine Gebete erneut erhört worden waren. Vielleicht, dachte er, war ja an dieser ganzen Beterei doch etwas dran.
Auch darüber, wie rasch sich die Gesamtsituation zum Guten hin verändert hatte, konnte er nur staunen. Ganz allein Thralls Ansprache hatte all dies bewirkt. Natürlich hatte ihm die spektakuläre Hinrichtung die nötige Aufmerksamkeit gesichert. Aber ohne seine Überzeugungskraft hätte dieser Effekt nur für kurze Zeit angehalten. Nein, Thralls Worte hatten die Orcs und Trolle überzeugt, die Kämpfe einzustellen und sich zurückzuziehen.
Es fiel Davin schwer, es sich einzugestehen, dass er vom Auftritt des Kriegshäuptlings beeindruckt war.
Schließlich fragte ein Captain: »Eure Befehle, Major?«
»Äh... Abmarsch, Captain.« Er stieß den Atem aus, von dem ihm nicht bewusst gewesen war, dass er ihn überhaupt angehalten hatte, und fühlte sich plötzlich sehr müde. »Wir marschieren nach Hause.«