Jaina hatte Aegwynn und Lorena zu dem kleinen Speiseraum geschickt, der sonst hochrangigen Offizieren und Vertretern des Staates vorbehalten war. Letztere Titulierung war für den kürzlich verstorbenen Kristoff und Jaina selbst reserviert gewesen, hatte ihnen Duree, die kleine Frau, die Jaina zur Seite stand, erklärt. Die junge Magierin hatte Aegwynn ebenfalls den Zutritt gestattet. Als Duree Einspruch erhob, erklärte Jaina, dass ein Wächter einen höheren Rang hatte als ein Staatsoberhaupt.
Jaina hatte sich in ihre Kammer zurückgezogen. Auch sie musste etwas zu sich nehmen, aber gleichzeitig auch herausfinden, wo sich die Zauberer aufhielten. Lorena wollte eigentlich schnellstmöglich zu ihren Truppen nach Northwatch – für den Fall, dass Thrall es nicht schaffte, die Kampfhandlungen zu stoppen. Aber Jaina hatte das abgelehnt. Sie vertraute Thrall offenbar voll und ganz. Außerdem brauchte sie Lorena als Schutz, wenn sie auf Zmoldor und seine Diener traf. Vor allem, weil Kristoff ihre Leibwache nach Northwatch geschickt hatte.
Aber Jaina musste in Ruhe arbeiten, deshalb schickte sie die alte Wächterin und den jungen Oberst zum Essen. Aegwynn bestellte nur einen Salat und etwas Fruchtsaft, Lorena hingegen orderte einen Teller voller Fleisch und einen Eberschnaps. Ein Getränk, von dem Aegwynn noch nie etwas gehört hatte. Lorena erklärte ihr jedoch bereitwillig, dass die Orcs es herstellten.
Aegwynn lachte auf, als sie das hörte. »Wie die Zeiten sich doch geändert haben...«
»Was meint Ihr damit?«
»Es ist noch nicht lange her, dass die Orcs die Schergen der Dämonen waren, deren Vernichtung ich mein Leben geweiht hatte. Sie waren Monster, Berserker die das Land im Namen von Gul'dan verwüsteten, der Sargeras diente. Die Vorstellung, dass Menschen ein Orc-Getränk genießen, ist im besten Fall... bizarr.«
Lorena lächelte. »Ja, aber ist ,nicht lange her' nicht ein relativer Begriff, wenn man mit jemanden redet, der so alt ist wie Ihr?«
Aegwynn gluckste. »Ein guter Einwand.«
»Ihr seid wirklich tausend Jahre alt?«
Ironisch lächelnd und mit einer wegwerfenden Handbewegung erwiderte Aegwynn: »Ein Jahrhundert mehr oder weniger – was macht das schon aus?«
Lorena schüttelte den Kopf. »Magie... Ich habe sie niemals verstanden, habe sie immer gehasst, selbst wenn sie auf mein Geheiß zum Einsatz kam.«
Aegwynn zuckte die Achseln. »Ich wollte niemals etwas anderes als ein Zauberer sein. Seit ich ein kleines Mädchen war, war das die Antwort auf all meine Sehnsüchte und Fragen. Die Erwachsenen sahen mich immer merkwürdig an, wenn ich laut davon träumte. Zauberer waren immer nur Männer gewesen.« Letzteres sagte sie voller Bitterkeit.
»Das gilt auch für das Soldatentum. Ich wuchs unter neun Brüdern auf, und sie waren alle Soldaten, so wie unser Vater. Ich wollte nicht einsehen, warum ich dafür nicht auch geeignet sein sollte.« Lorena schmunzelte. »Auch ich erntete ein paar höchst merkwürdige Blicke, das dürft Ihr mir getrost glauben.«
Kurze Zeit später kamen die Getränke, ebenso wie Aegwynns Salat. Lorena hob ihren Krug. »Möchtet Ihr einen Schluck nehmen und kosten?«
Eberschnaps stank fast genauso erbärmlich wie das Tier, nach dem man ihn benannt hatte. Ihre Nase kräuselnd lehnte Aegwynn höflich ab. »Seid mir nicht böse, aber ich hatte keinen Alkohol mehr seit... nun ja, Jahrhunderten. Magier können es sich nicht leisten, die geistige Klarheit zu verlieren. Deshalb habe ich den Gefallen daran schon vor einer Weile verloren.« Sie hielt ihren eigenen Krug hoch, dessen Inhalt ein Saft aus drei verschiedenen Früchten war. »Das ist das Stärkste, was ich mir gönne.«
»Verstehe.« Lorena nahm einen großen Schluck von ihrem Getränk. »Ich kann vier hiervon trinken, bevor man mir etwas anmerkt. War schon immer hart im Nehmen.« Sie grinste. »Selbst als Neuling bei der Stadtwache von Kul Tiras trank ich die Männer meiner Wachstube stets unter den Tisch. Wir begannen Wettbewerbe mit den anderen Stuben auszutragen, und ich war immer die Geheimwaffe – der Trumpf im Ärmel.« Sie lachte. »Auf diese Weise vervierfachte ich mein Einkommen allein im ersten Jahr. Wetten können sehr lukrativ sein – wenn man auf der Gewinnerseite steht.«
Aegwynn lächelte, während sie an ihrem Salat zu knabbern begann. Sie stellte fest, dass sie das Gespräch mit dieser Frau genoss. Ein Gefühl, das sie noch vor einem Tag nicht für möglich gehalten hätte. Sie war fest davon überzeugt gewesen, keinen Bedarf mehr an der Gesellschaft anderer Menschen zu haben.
Der Diener brachte eine Auswahl von Fleischsorten, allesamt knusprig gegart. Aegwynn erkannte nur ein paar davon, aber sie nahm an, dass der Viehbestand auf Kalimdor sich von dem gewohnten genügend unterschied, um das zu erklären. Es war schon Jahre her, seit sie zuletzt Fleisch gegessen hatte, und im Gegensatz zum Aroma, das das Getränk des Oberst verströmte, war der Geruch des Fleisches fast überwältigend. In ihrer Zeit als Magierin war Fleisch ihr ständiger Begleiter gewesen. Die erschöpfenden Anstrengungen beim Zaubern verlangten nach regelmäßiger Proteinzufuhr. Aber seit ihrem selbst gewählten Exil in Kalimdor benötigte sie die Jagd nicht mehr, noch spürte sie das Bedürfnis, Fleisch zu essen. Deshalb war sie Vegetarierin geworden.
»Darf ich einen Bissen haben?« Zu Aegwynns eigener Überraschung klang ihre Stimme schüchtern – noch so ein Gefühl, dessen sie sich nicht für fähig erachtet hatte.
Lorena schob ihr den Teller zur Mitte hin entgegen. »Bedient Euch ohne Scheu.«
Als Aegwynn hungrig ein Stück, das wie ein Schweinswürstchen ausgesehen hatte, kaute, fragte Lorena: »Ich muss es wissen, Magna, wie ist das?«
»Nennt mich Aegwynn«, warf sie ein, während sie die Wurst verspeiste. »Ich habe aufgehört, Wächter zu sein, als ich die Kraft auf meinen Sohn übertrug. Ich wäre gewiss nicht mehr in der Lage, die Verantwortung zu rechtfertigen, die der Titel erfordert.« Sie schluckte, dann fragte sie: »Wie ist was?«
»So lange zu leben. Ich bin als Soldat geboren und erzogen worden, und ich wusste von Anfang an, dass ich mein vierzigstes Lebensjahr vermutlich nicht erreiche. Ihr hingegen habt Euer vierzigstes Jahrzehnt erlebt. Sogar das Doppelte davon – ich vermag mir das kaum vorzustellen.«
Aegwynn gab einen langen Seufzer von sich, und ihr Atem roch jetzt nach Schweinswurst – was immer noch angenehmer war als die Fahne, die der Schnaps erzeugte. »Da gibt es wirklich nicht viel zu erzählen. Wächter ist man rund um die Uhr, es gibt keinen Müßiggang, keine Freizeit – traurigerweise. Dämonische Angriffe waren eine allgegenwärtige Bedrohung, seit ich geboren wurde. Die Attacken wurden zunehmend öffentlicher ausgetragen, was die Dinge ein wenig vereinfachte. Aber als ich darin versagte, die Dämonen aufzuhalten, verbarg ich mein Scheitern so gut es ging vor denen, die meiner Hilfe bedurft hätten. Die meisten Leute wissen nichts davon, wissen wenig oder nichts über mich, auch heute noch, und der Rat wollte es schon damals dabei belassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist merkwürdig, ich verachtete ihn aus vielerlei Gründen, doch diese Entscheidung trug ich mit. Aus Scham? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob es ein Fehler war, mein Versagen nicht vor der Öffentlichkeit einzugestehen. Fakt ist, die Leute fühlten sich vermutlich sicherer, weil sie die Wahrheit nicht kannten. Viele sind in den vergangenen Schlachten gestorben, aber die Dämonen wurden ebenfalls empfindlich getroffen und am Ende zurückgeworfen. Nehmt nur Eure Lady Proudmoore und ihren Orc-Freund. Die beiden haben der gesamten Dämonenschaft mehr geschadet, als ich es in tausend Jahren davor vermochte.«
»Wir sind eben streitsüchtige Kreaturen, Sterbliche, die man besser nicht reizt.« Lorena grinste. »Gebt uns einen Feind, den wir bekämpfen können, und wir tun es bis zum letzten Atemzug. Und noch darüber hinaus, falls nötig.«
»In der Tat, Oberst. Dürfte ich noch etwas haben?«
Lorena lachte. »Bedient Euch.«
Als sie ein weiteres Bratenstück nahm, wiederum eines, das sie nicht kannte, fragte sich Aegwynn, was geschehen würde, wenn auch noch die letzte Bedrohung verschwunden war. Sie fand die Aussicht, in ihre kleine Hütte im Hochland von Bladescar zurückzukehren, weniger verlockend, als sie es noch vor kurzem gedacht hätte. Jaina hatte Recht gehabt: Menschen und Orcs hatten sich hier ein Leben aufgebaut, und das war mit Medivhs Verdienst.
Was bedeutete, dass es auch ihr Verdienst war. Vielleicht war es das Beste, was man sich wünschen konnte, die Früchte all ihrer Mühen...
Bevor sie weiter grübeln konnte, betrat Jaina den Raum und sagte: »Ich habe sie gefunden. Wir müssen uns beeilen.«
Die junge Magierin sah erschöpft aus. Aegwynn stand auf. »Geht es Euch gut?«
»Ich bin ein wenig müde, aber mir geht es gut, ja«, versicherte Jaina.
Aegwynn deutete auf den Teller mit den Bratenstücken. »Esst etwas. Es nützt niemandem, wenn Ihr zusammenbrecht. Ich weiß besser als jeder andere, was mit einem Zauber passiert, der nicht mit voller Konzentration gewirkt wird.«
Jaina öffnete ihren Mund, schluckte aber den Widerspruch hinunter, der ihr auf der Zunge lag. »Ihr habt sicherlich Recht, Magna.«
Lorena beugte sich zu Jaina hinüber. »Sie mag es nicht, so genannt zu werden.«
Als sie das hörte, gab Aegwynn ein bellendes Lachen von sich. Sie begann diesen Oberst wirklich zu mögen.
Nachdem Jaina etwas hinuntergeschlungen hatte – Aegwynn bemerkte amüsiert, dass Lorena wohl den kleinsten Anteil an der ursprünglich für sie bestimmten Mahlzeit erhalten hatte –, sagte die Lady: »Das Flammende Schwert operiert von einer Höhle auf dem Gipfel des Dreadmist aus.«
Lorena zuckte zusammen. »Na großartig.«
Aegwynn sah Lorena fragend an. »Wo liegt das Problem?«
»Auf dem Dreadmist sind die Gipfelregionen von einem orangefarbenen Nebel bedeckt.«
Jaina sagte: »Es liegt der Rest eines alten dämonischen Fluchs auf diesem Ort. Deshalb hat ihn Zmoldor wahrscheinlich gewählt. Deshalb und seiner günstigen Lage wegen, gleichweit entfernt von Orgrimmar und Theramore. Auf jeden Fall wird uns meine Magie alle drei vor den Effekten des Nebels beschützen.«
»Gut«, sagte Lorena mit Nachdruck.
»Außerdem hat Duree das hier gefunden.« Jaina zog eine vertraut wirkende, entsiegelte Schriftrolle aus ihrem Umhang und reichte sie an Aegwynn weiter.
Aegwynn nahm sie entgegen und erkannte, dass das erbrochene Siegel von Tirisfalen stammte. Dann öffnete sie das Dokument – und lachte. Der Text war in ihrer eigenen Handschrift verfasst.
Sie gab die Schriftrolle an Jaina zurück. »Das ist meine Verbesserung des Dämonenbannspruchs. Ich habe die Formel vor dreihundert Jahren aufgeschrieben, nachdem Erthalif gestorben war und ich Zugang zu seiner Schanze erhielt.« Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an die Bibliothek des alten Elfs, die um einiges hätte reinlicher sein müssen, um wenigstens als Schweinestall durchzugehen.
Sie benötigte zehn Wochen, um mit Erthalifs Bediensteten sämtliche Schriftrollen auch nur zu sortieren sowie die angetrockneten Speisereste abzukratzen und das Ungeziefer zu bekämpfen. Als sie die Aufzeichnungen des legendären Elfenzauberers Kithros über das Bewegen von Objekten von einem Reich in ein anderes fand, war es Aegwynn gelungen, sie zu einem wirkungsvollen Bannspruch gegen Dämonen zu modifizieren.
»Ich wage zu behaupten, dass wir, hätte ich diesen Spruch schon vor achthundert Jahren besessen, heute keinerlei Probleme mehr mit Zmoldor hätten...«
Jaina verstaute die Schriftrolle wieder unter ihrem Umhang. »Das ist eine Fehleinschätzung. Ich habe es überprüft, und es stellte sich heraus, dass Ihr Zmoldor schon beim ersten Mal erfolgreich außer Gefecht gesetzt habt. Aber als die Brennende Legion angriff, rekrutierte sie viele Dämonen, einschließlich derer, die von den Tirisfalen gebannt worden waren. Als der Krieg endete, gelang es einigen Nachzüglern, in dieser Welt zu bleiben, auch als die Legion zurückgeworfen wurde.«
»Und Zmoldor war einer von ihnen?«, fragte Aegwynn.
Jaina nickte.
Lorena zückte ihr Schwert – was auf Aegwynn übereifrig wirkte, insbesondere für jemanden, der so viel Angst davor hatte, sich zu diesem Dreadmist-Ort zu begeben und sagte: »Milady, wenn Ihr mir die Frage gestattet – worauf warten wir eigentlich noch?«
»Nur noch eine Warnung«, antwortete Jaina. »Ich war nicht in der Lage, allzu viel vorauszusehen, da ich fürchten musste, entdeckt zu werden. So bin ich mir auch nicht sicher, welcher Natur der Schutz ist, mit dem sich Zmoldor und seine Zauberer umgeben. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.« Sie drehte sich zu Aegwynn um. »Magna Aegwynn. Ihr müsst uns nicht begleiten. Es wird vielleicht gefährlich.«
Aegwynn schnaubte, denn es war mit Sicherheit der falsche Moment, um so etwas zu sagen, vor allem, wenn man ihre frühere Stellung als Wächterin bedachte.
Noch vor kurzem hatte sie geglaubt, in ihrem Amt versagt zu haben. Nun wusste sie es besser. Und nach wie vor trug sie ein gerütteltes Maß an Verantwortung.
»Ich sah mich schon, als Eure Ur-Ur-Großeltern noch Kinder waren, mit sehr viel ärgeren Gefahren konfrontiert als dieser Wicht von einem Dämon sie darstellt... Wir vergeuden bloß Zeit.«
Jaina lächelte zufrieden. »Dann los!«