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Viele Jahre lang war Rexxar, der letzte des Mok'Nathal-Clans, allein durch Kalimdors Weiten gezogen. Immer in Begleitung seiner großen Braunbärin Misha. Als Mischling, in dem Orc- und Oger-Blut flossen, wie bei den meisten seines nun ausgestorbenen Clans, war er des Streits, der Rücksichtslosigkeit und des endlosen Krieges müde geworden – womit zugleich all das umschrieben war, was lächerlicherweise als Zivilisation gerühmt wurde. Rexxar fand mehr Zivilisation bei Mishas Bärenfreunden oder bei den Wölfen von Winterspring, als in einer der Städte, die Menschen, Zwerge, Elfe oder Trolle errichtet hatten und die die Landschaft verschandelten.

Nein, Rexxar zog es vor umherzuziehen, vom Land zu leben und niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Wenn er je das Bedürfnis verspürte, einen Ort Heim zu nennen, wusste er, dass er ein solches in Durotar hatte. Als die Nation der Orcs gegründet wurde, war Rexxar einer sterbenden Grünhaut zu Hilfe geeilt, die eine Nachricht an Thrall überbringen sollte. Dem Krieger seinen letzten Wunsch erfüllend hatte Rexxar Thrall die Meldung zukommen lassen und festgestellt, dass jene Orcs zurück zur alten Lebensart gefunden hatten, welche noch aus der Zen stammte, bevor Gul'dan und sein Schattenrat ihr einst so stolzes Volk missbraucht hatten.

Aber obwohl Rexxar die Ehre hatte, Thrall einen Freund nennen zu dürfen und ihm Treue geschworen hatte – und dieser Pflicht gern nachkam, indem er den Orcs gegen Admiral Proudmoores Verrat half –, drängte es Rexxar schließlich doch wieder, seine Wanderschaft fortzusetzen. Selbst eine so großartige Nation wie Durotar hatte Städte, Siedlungen und Regeln. Rexxar jedoch war für die Freiheit der Wildnis geschaffen.

Ohne Vorwarnung begann Misha loszurennen.

Rexxar zögerte eine Sekunde, dann folgte er seiner Begleiterin. Er durfte nicht darauf hoffen, mit dem galoppierenden Gang des vierbeinigen Tiers Schritt halten zu können. Aber die Beine des Halbbluts waren stark genug, um ihn in Sichtweite der Bärin zu halten. Misha würde sich nicht ohne guten Grund von seiner Seite entfernen.

Sie befanden sich in der Nähe der Küste, in einem Gebiet, das mit hohem Gras bewachsen war. Obwohl niedere Kreaturen es vermutlich als anstrengend empfunden hätten, das Terrain zu durchqueren, schafften Rexxar und Misha dies mühelos.

Eine Minute später blieb Misha stehen, ihre Schnauze vom schulterhohen Gras verborgen. Rexxar wurde langsamer und legte seine Hand um den Griff einer seiner Äxte, die auf seinem Rücken befestigt waren.

Was Misha gewittert hatte, war der Körper eines Vollblut-Orcs. Rexxar wusste das, weil ein beachtlicher Teil eben dieses Blutes vergossen worden war.

Rexxar schüttelte seinen Kopf.

»Ein gefallener Krieger. Es ist nur bedauerlich, dass er allein gestorben ist, ohne Kameraden, die ihm im Kampf hätten beistehen können...«

Noch bevor der Halbblut-Wanderer in Betracht ziehen konnte, den tapferen Orc zu begraben, hörte er ein Flüstern.

»Bin... noch nicht... tot...«

Misha gab ein Jaulen von sich, als wäre sie davon, dass der Orc sprechen konnte, überrascht worden. Rexxar schaute sich genauer an, was er für einen Leichnam gehalten hatte. Er bemerkte, dass dem Orc ein Auge fehlte, diese Wunde aber längst verheilt war, weshalb sie nicht von derselben Hand verursacht worden sein konnte, die den Orc so übel zugerichtet hatte.

»Flammendes... Schwert. – Müssen nach... Orgrimmar. Thrall... warnen... Flammendes... Schwert...«

Rexxar wusste nicht, was an einem Schwert, das in Flammen stand, so wichtig sein sollte. Aber dieser Krieger hatte sich offensichtlich ans Leben geklammert, um genau diese Botschaft an Thrall zu übermitteln.

Er erinnerte sich an den Treueschwur, den er dem Kriegshäuptling geleistet hatte, und fragte: »Wie heißt du?«

»By...Byrok.«

»Fürchte dich nicht, Byrok. Ich bin Rexxar von den Mok'Nathal, und ich schwöre dir, dass Misha und ich dafür sorgen werden, dass du nach Orgrimmar gebracht wirst, damit du deine Warnung an den Kriegshäuptling überbringen kannst!«

»Rexxar... ich... kenne dich... Wir... Müssen... beeilen.«

Das Halbblut kannte den Orc nicht – aber das war ohne Bedeutung. Mit einer Sanftheit, die er nur selten zum Vorschein kommen ließ, hob er Byroks blutenden Körper an und legte ihn über Mishas breiten Rücken. Die Bärin trug die Last ohne Murren. Obwohl sie sich keine besondere Treue geschworen hatten, war das Band zwischen Rexxar und Misha unzertrennlich. Was immer Rexxar von ihm forderte oder erbat, Misha hätte es getan.

Ohne ein weiteres Wort wandten sie sich westwärts und schritten auf Orgrimmar zu.


Als Rexxar das erste Mal nach Orgrimmar gekommen war, wurde noch daran gebaut. Ringsum waren Heerscharen von Orcs damit beschäftigt, Häuser zu errichten, Wege anzulegen und die raue Wildnis Kalimdors in eine neue Heimat zu verwandeln.

Bei seiner Rückkehr stellte er fest, dass diese Arbeiten inzwischen erledigt waren. Aber es waren immer noch viele Dutzend Orcs durch die Tore sichtbar, die sich mit den Alltäglichkeiten des Lebens beschäftigten.

Obwohl er wenig für die Zivilisation übrig hatte, erfüllte Rexxar das, was er sah, mit Stolz und Freude. Seit er in diese Welt gekommen war, war das Volk seiner Mutter entweder besessenes Werkzeug von Gul'dans dämonischen Meistern gewesen oder gebrochene Sklaven der menschlichen Feinde. Wenn Orcs auf dieser Welt leben sollten, dann besser zu ihren eigenen Bedingungen.

Auf drei Seiten war die Stadt von Hügeln umgeben, auf der vierten hatte man eine massive Steinmauer errichtet. Von riesigen Holzstämmen verstärkt, wurde die Wand nur von einem großen Holztor unterbrochen, das derzeit offen stand. Und von zwei Wachtürmen. Auf der Mauer befanden sich Stangen mit spitzen Enden und noch mehr Stämme, allesamt zugespitzt, um Feinde davon abzuhalten, die Tore zu erstürmen. Das purpurne Banner der Horde wehte von beiden Türmen und an einigen der Stangen.

Es war, befand Rexxar, ein furchterregender Anblick, passend zur Heimstatt der mächtigsten Krieger der Welt.

Eine Wache, die einen Speer trug, kam ihm vom Tor entgegen. »Wer bist du?«

»Ich bin Rexxar, der letzte Sohn der Mok'Nathal. Ich trage Byrok, der verletzt wurde und eine Botschaft für Kriegshäuptling Thrall hat.«

Die Wache schaute finster drein und spähte zu einem der Wachtürme hoch. Der dort postierte Krieger rief nach unten: »Ist schon in Ordnung. An den kann ich mich erinnern und ebenso an seine Bärin. Kenne auch die Wolfsmaske. Er ist ein Freund des Kriegshäuptlings. Lass ihn ein.«

Rexxar trug den ausgebleichten Schädel eines Wolfs, den er selbst erlegt hatte, wie einen Kriegshelm. Er dient ebenso als Kopfschutz wie als Schreckenssymbol für seine Feinde.

Die Wache gab sich damit zufrieden, trat zur Seite und erlaubte Rexxar, Misha und der Last auf dem Rücken der Bärin den Zutritt nach Orgrimmar.

Die Orc-Stadt war wie eine große Schlucht gebaut, mit traditionellen Sechseck-Gebäuden zu den Seiten. Als er durch das Tal der Ehre schritt, wo das Tor zum Tal der Weisheit stand, in dem sich Thralls Thronsaal befand, war Rexxar gleichermaßen fasziniert wie betroffen. Ersteres. weil die Orcs es in gerade mal drei Sommern so weit gebracht hatten. Letzteres, weil es noch eine weitere Stadt war in einer Welt, in der es schon viel zu viele davon gab.

Als er das Tal der Weisheit zur Hälfte durchquert hatte, wurde er von einem mittelgroßen Orc empfangen. Nazgrel war der Anführer von Thralls Leibwache und erwartete ihn zusammen mit vier anderen Kriegern. »Sei gegrüßt, letzter Sohn der Mok'Nathal. Es ist viel zu lange her.«

Aus Respekt nahm Rexxar seinen Helm ab. »Seit ich dich gesehen habe, Nazgrel, ja. Seit ich die Stadt gesehen habe, nein. Ich habe Thrall die Treue geschworen, und ich würde diesen edlen Krieger hier nie im Gras sterben lassen.«

Nazgrel nickte. »Wir sind gekommen, um dich zu ihm zu geleiten. Der Schamane wurde ebenfalls gerufen, damit er sich um Byrok kümmert. Wir sind auch gekommen, um Misha von ihrer Bürde zu befreien.«

Auf ein Zeichen von Nazgrel hin hoben zwei seiner Wachen Byroks blutenden Körper von Mishas Rücken. Zuerst brüllte die Bärin, aber nach einem Wink von Rexxar hörte sie auf.

Sie setzten den Weg durch die langen und gewundenen Straßen von Orgrimmar fort, bis sie zu einem großen sechseckigen Gebäude an der entfernten Seite des Tals der Weisheit gelangten. Thrall empfing sie im Thronsaal, der Rexxar so kalt vorkam wie der Frostsaber Rock.

Thrall saß auf seinem Thron. Auf der einen Seite stand sein verschrumpelter Schamane Kalthar und auf der anderen ein Orc, den Rexxar nicht kannte. Als die Wachen Byrok auf den Boden gelegt hatten, beugte sich Kalthar zu dem Krieger hinab.

Leicht fröstelnd salutierte Rexxar vor dem Kriegshäuptling. »Ich entsende dir Grüße, Kriegshäuptling der Horde.«

Thrall lächelte. »Es tut gut, dich wieder zu sehen, mein Freund. Ich wünschte nur, es hätte nicht erst einer meiner Leute fast tot geprügelt werden müssen, damit du nach Orgrimmar zurückfindest.«

»Es ist nicht meine Art, unter Städtern zu leben, Kriegshäuptling, wie du gut weißt.«

»In der Tat, das tue ich. Wieder hast du uns einen großen Dienst erwiesen.« Er drehte sich zu dem Schamanen um. »Wie geht es ihm?«

»Er wird es überleben. Er ist stark. Und er wünscht, mit dir zu sprechen.«

»Kann er das denn?«, fragte Thrall.

Kalthar schnaufte »Nicht gut, aber ich bezweifle, dass er mir erlaubt, ihn richtig zu behandeln, bevor er das getan hat.«

»Ich muss... mich aufsetzen... Hilf mir, Schamane,« sagte Byrok. Er klang stärker, als er es im Gras getan hatte, wenn auch nur geringfügig.

Mit einem langen Seufzer gab der verrunzelte Orc Nazgrels Wachen ein Zeichen, damit sie Byrok in eine sitzende Position halfen.

Zögerlich, immer wieder unterbrochen von Atempausen, erzählte Byrok, was ihm widerfahren war. Rexxar wusste nichts vom Flammenden Schwert, aber die anderen offensichtlich durchaus.

»Das kann nicht dasselbe sein«, meinte der Orc, den Rexxar nicht kannte, irgendwann. »Nicht das, was wir kennen.«

»Es scheint unwahrscheinlich, das ist wahr, Burx«, sagte Thrall, »aber wenn ihr Symbol exakt so aussieht...«

Burx schüttelte seinen Kopf. »Es könnte Zufall sein, aber das glaube ich nicht. Ich habe Gerüchte über einen Menschenkult gehört, der in Theramore entsteht. Er wird das Flammende Schwert genannt. Es könnte sein, dass einer von denen ein paar unserer Leute als Sklaven hielt, davon gehört hat und es für seine Zwecke missbrauchte.«

Nazgrel nickte. »Ich habe auch derartige Gerüchte gehört, Kriegshäuptling.«

»Bei allem Respekt«, sagte Kalthar, »ich muss diesen Mann behandeln. Er hat seine Pflicht erfüllt. Jetzt werde ich ihn aus diesem unerträglich kalten Thronsaal fortbringen und heilen.«

»Natürlich.« Thrall nickte, und auf Anweisung des alten Schamanen trugen die Wachen Byrok aus dem Saal.

Thrall stand von seinem Thron aus Fellen auf und begann auf und ab zu gehen. »Was weißt du von diesem Flammenden Schwert, Nazgrel?«

Nazgrel zuckte mit den Achseln. »Sehr wenig. Menschen, die sich in ihren Häusern versammeln, um Dinge zu besprechen.«

Burx lachte höhnisch. »Sitzen und reden können die Menschen wirklich gut.«

»Aber wenn sie frech genug werden, einen Orc innerhalb der Grenzen von Durotar anzugreifen«, fügte Nazgrel hinzu, »dann sind sie ein gutes Stück mächtiger geworden, als wir dachten.«

»Wir müssen darauf reagieren«, sagte Burx. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns die Menschen sonst ihrerseits angreifen.«

Rexxar hielt das für eine übertriebene Einschätzung. »Du würdest eine ganze Spezies nach den Taten von sechs Einzelnen beurteilen und strafen?«

»Sie würden dasselbe mit uns tun, ohne mit der Wimper zu zucken«, schnaubte Burx. »Und wenn wir es dabei nicht mit denselben sechs zu tun haben, die schon unsere Bäume stahlen und die nur herumstanden und nicht einschritten, als Orc-Händler attackiert wurden, dann sprechen wir von wesentlich mehr als nur sechs

Thrall drehte sich und sah Burx an. »Theramore ist unser Verbündeter, Burx. Jaina würde nicht erlauben, dass solche Sachen eine derartige Reaktion entfachen.«

»Sie hat vielleicht keine Kontrolle mehr darüber«, sagte Nazgrel. »Trotz all ihrer Macht, trotz allem, was ihr unseren Respekt eingebracht hat, ist und bleibt sie doch stets nur eine Menschenfrau.«

Rexxar erinnerte sich an Jaina Proudmoore als den einzigen ehrenhaften Menschen, den er je kennen gelernt hatte. Als sie sich entscheiden musste, sich auf die Seite ihres Vaters zu stellen, ihrem eigenen Fleisch und Blut, oder ein Versprechen mit den Orcs zu einzuhalten, hatte sie das Letztere getan.

Ihre Wahl bewahrte Durotar davor, zerstört zu werden, noch bevor es überhaupt richtig erbaut worden war.

»Lady Proudmoore«, sagte er, »wird das Richtige tun.«

Burx schüttelte den Kopf und entgegnete: »Dein Vertrauen ist rührend, Mok'Nathal, aber unangebracht. Glaubst du wirklich, dass eine Frau menschliches Verhalten ändern kann, das über Jahrzehnte gewachsen ist? Sie bekämpften uns und töteten uns und versklavten uns. Glaubst du, das ändert sich, nur weil eine einzige Person es sagt?«

»Die Orcs haben sich geändert, weil eine Person es gesagt hat«, erwiderte Rexxar leise. »Diese Person steht jetzt vor dir als Kriegshäuptling. Misstraust du ihm?«

Darauf lenkte Burx ein. »Natürlich nicht. Aber...«

Thrall hatte seine Entscheidung schon getroffen. Er setzte sich zurück auf seinen Thron und verbot Burx, weiterzusprechen. »Ich weiß, wozu Jaina in der Lage ist, und ich kenne ihr Herz. Sie wird uns nicht verraten, und falls Vipern in ihrer Mitte sind, werden die Horde und die mächtigste Zauberin des Kontinents sich gemeinsam darum kümmern. Wenn sie mit den Donnerechsen fertig ist, werde ich mit ihr über das Flammende Schwert sprechen.« Er drehte sich um und musterte Burx eindringlich. »Was wir aber nicht machen werden, ist unser Wort brechen und die Menschen angreifen – haben wir uns verstanden?« »Das haben wir, Kriegshäuptling.«

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