8

Lorena wurde von Duree, der verrückten alten Zofe, die die Angelegenheiten von Lady Proudmoore regelte, in deren Gemach geführt. Doch der Raum war leer.

Lorena wirbelte zu Duree herum, die sie um einen ganzen Kopf überragte und fragte: »Wo ist sie?«

»Sie wird bald zurück sein, grämt Euch nicht. Sie ist vor einer Stunde gegangen, um sich mit diesem Orc-Kriegshäuptling zu treffen. Sie sollte jeden Moment wieder zurück sein.«

Verärgert fragte Lorena: »Sie trifft sich mit Thrall?«

Duree legte ihre Hand auf den Mund. »Oh, meine Liebe, ich durfte das gar nicht erzählen. Vergesst einfach, dass ich irgendetwas gesagt habe. Würdet Ihr das bitte tun, meine Teure?«

Der Oberst blieb ihr die Antwort schuldig. Stattdessen verzog sie ihr kantiges Gesicht und gab ein Knurren von sich, weil sie wollte, dass die alte Frau endlich das Zimmer verließ. Sie hatte Erfolg mit ihrer Drohgebärde, denn Duree preschte förmlich aus der Kammer, so überhastet, dass ihr fast die Brille von der Nase rutschte.

Einen Moment später erschien Kristoff. »Oberst. Duree sagte, Ihr wolltet Meldung machen.«

Lorena schaute auf den Kämmerer. Wie die Zofe war auch Kristoff ein notwendiges Übel. Immerhin funktionierte eine Nation nicht nur allein durch das Militär. Eine der ersten Lektionen, die ihr Vater und ihre Brüder ihr erteilt hatten, war gewesen, nett zu Verwaltern und Ihresgleichen zu sein. Denn sie waren es, die noch viel entscheidender als ein hochdekorierter Offizier dafür sorgten, dass eine Einheit funktionierte.

Duree war ihr jedoch so lästig, dass sie bei ihr diesen guten Rat fast immer vergaß. Kristoff hingegen war die rechte Hand der Lady. Deshalb schob Lorena ihre intensive Abneigung gegen diesen Mann beiseite und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht.

»Ja, Kämmerer, ich habe einen Bericht für die Lady, sobald sie eintrifft.«

Kristoff lächelte. Es war das falscheste Lächeln, das Lorena jemals gesehen hatte und das, obwohl sie Jahre damit verbracht hatte, die Burg von Kul Tiras zu bewachen, wo es große Rivalitäten gab. »Ihr könnt Euren Rapport auch bei mir ablegen, und ich versichere Euch, dass ich seinen Inhalt an Lady Proudmoore weiterleiten werde.«

»Ich ziehe es vor, auf die Lady zu warten, Sir, wenn Ihr erlaubt.«

»Sie ist in offiziellen Angelegenheiten unterwegs.« Kristoff zog die Luft scharf ein. »Es könnte länger dauern.«

Der Oberst schenkte dem Kämmerer nun ihrerseits ein falsches Lächeln und meinte: »Die Lady ist eine Magierin. Wenn die Angelegenheit erledigt ist, wird sie innerhalb kürzester Zeit zurückkehren. Und sie wünschte, meine Meldung persönlich von mir zu erhalten.«

»Oberst...«

Was immer Kristoff sagen wollte, wurde von einem Geräusch übertönt, das die Ankunft von Lady Proudmoore ankündigte und von der Luft erzeugt wurde, die ihr materialisierender Körper verdrängte.

Besonders beeindruckend sieht sie nicht aus, dachte der Oberst wie stets, wenn es zu einer Begegnung kam. Aber Lorena hatte früh gelernt, dass man Magier nicht nach ihrem äußeren Erscheinungsbild beurteilen durfte. Sie selbst hatte sich ihr ganzes Leben lang darum bemüht, so männlich wie möglich auszusehen. Sie hielt ihr Haar kurz geschnitten, ließ die Beine unrasiert und trug Unterkleider, die ihre Brüste verbargen. Und trotzdem war sie mehr als einmal ob ihres Frauseins herabgewürdigt worden. Deshalb erstaunte es Lorena umso mehr, wie diese kleine dünne Frau mit dem goldenen Haar und den tiefblauen Augen es geschafft hatte, den Respekt so vieler zu erringen.

Teilweise, so nahm sie an, lag es an der Art, wie sie sich bewegte. Sie wirkte immer wie die größte Person, wo und neben wem sie auch gerade stehen mochte. Und das, obwohl sie objektiv und nüchtern betrachtet oft die Kleinste war. Ihre Kleidung war fast immer komplett weiß gehalten: Schuhe, Blusen, Hose, Umhang. Noch erstaunlicher aber war, dass diese Sachen weiß blieben.

Es nahm eine Woche jedes Jahres im Leben eines Soldaten in Anspruch, die weißen Verzierungen auf dem Brustpanzer davon abzuhalten, braun oder grau zu werden. Und die meisten hatten keinen Erfolg damit. Aber Lady Proudmoores Kleidung strahlte immer wie neu.

Lorena vermutete, dass das einer der positiveren Nebeneffekte eines Lebens als mächtige Magierin war.

»Oberst, Ihr seid zurück.« Lady Proudmoore redete, als wäre sie die ganze Zeit im Raum gewesen. »Bitte berichtet.«

Kurz und prägnant schilderte Lorena ihr und dem Kämmerer, was sie und ihre Leute in Northwatch erfahren hatten.

Kristoff schürzte die Lippen. »Ich habe noch niemals von diesem Flammenden Schwert gehört.«

»Ich schon.« Die Lady hatte ihre Kapuze zurückgeworfen, sodass ihr goldenes Haar offen herabfallen konnte. Sie saß an ihrem Tisch, während Lorena Bericht erstattete, und legte einen Finger an ihr Kinn. »Es gab einen Orc-Clan dieses Namens, aber er wurde vernichtet. Und einige Leute meiner Leibwache haben eine solche Gruppierung erwähnt.«

Lorena gefiel nicht, was sie hörte: Es war eine Sache, dass Strov davon gehört hatte. Aber wenn Gerüchte über diese Organisation die Leibwache der Lady erreichten, dann stimmte etwas nicht. »Das waren Orcs, Ma'am, davon bin ich überzeugt.«

»Oder sie sollten wie Orcs aussehen«, sagte Lady Proudmoore. »Sie benutzten offensichtlich Magie, was irritierend genug ist. Und deshalb könnten sie sich auch verkleidet haben. Immerhin, ein unprovozierter Angriff auf Menschensoldaten durch Orcs würde viel dazu beitragen, unser Bündnis zu destabilisieren.«

»Es ist genauso möglich«, warf Kristoff ein, »dass es Orc-Aufrührer sind, die den Namen dieses ausgestorbenen Clans für ihre eigenen Zwecke missbrauchen.«

Lorena schüttelte ihren Kopf. »Das erklärt nicht, warum Strovs Bruder davon in einer Taverne in Theramore hörte.«

Die Lady nickte so tief in Gedanken versunken, als hätte sie vergessen, dass sich auch noch andere im Raum aufhielten. Lorena kannte nicht viele Zauberer, aber sie alle hatten die Tendenz, hin und wieder in tranceartige Zustände zu verfallen.

Doch anders als andere Magier, die oft einen Schlag auf den Kopf benötigten, um die Welt um sich her wieder wahrzunehmen, war Lady Proudmoore meist in der Lage, sich selbst zurück in die Realität zu holen.

Das tat sie gerade und stand dabei auf. »Oberst, ich möchte, dass Ihr diese Vereinigung namens Flammendes Schwert auskundschaftet. Wir müssen wissen, wer dahintersteckt, wie sie operiert und ganz besonders, ob sie Magie einsetzt. Wenn Orcs dafür rekrutiert wurden, warum sollten sie sich dann noch mit Menschen abgeben? Geht dem auf den Grund, Lorena. Setzt ein, was immer Ihr für nötig erachtet.«

Lorena richtete sich auf und salutierte zackig. »Jawohl, Ma'am.«

»Kristoff, ich fürchte, ich muss sofort abreisen. Donnerechsen sind aus Thunder Ridge entkommen und bedrohen die Drygulch Klamm.«

Ärgerlich sagte der Kämmerer. »Ich verstehe nicht, inwieweit das uns kümmern müsste – oder Euch.«

»Ein Teil des Waldes, der die Echsen auf Thunder Ridge hält, wurde bis zum Stumpf abgeholzt. Orcs tun so etwas nicht.«

»Wie könnt Ihr da so sicher sein?« Kristoff klang ungläubig.

Das gleiche Gefühl überkam Lorena angesichts der törichten Frage des Kämmerers. »Es können unmöglich Orcs gewesen sein!«, platzte es aus ihr heraus.

Ihr wurde bewusst, dass es ihr nicht zugestanden hatte, etwas zu äußern, deshalb suchte sie den Blickkontakt zu Lady Proudmoore. »Es tut mir Leid, Ma'am.«

Lächelnd sagte die Lady: »Ist schon in Ordnung. Bitte, fahrt fort.«

Lorena sah wieder Kristoff an und erklärte: »Selbst unter dem Bann der Brennenden Legion hätten Orcs so etwas niemals getan. Orcs haben eine tiefe Ehrfurcht vor dem Land, so tief, dass sie manchmal, mit Verlaub, schon ans Psychotische grenzt.«

Lady Proudmoore schmunzelte. »Eigentlich würde ich eher sagen, die menschliche Neigung, die Natur zu missbrauchen, grenzt ans Psychotische. Aber der Oberst hat einen guten Punkt angesprochen. Orcs sind einfach nicht in der Lage, so etwas zu machen. Besonders, wenn man überlegt, was die Donnerechsen anrichten könnten. Also bleiben nur die Trolle, die sich jedoch selbst Thralls Herrschaft unterworfen haben, die Gnome, die aber neutral sind – und wir, die Verbündeten von Durotar.« Sie seufzte. »Dazu kommt, dass es keine Spur von dem Holz gibt. Es müsste irgendwie transportiert worden sein. Aber es gibt keinerlei Berichte über Transporte zu Wasser, zu Lande oder durch die Lüfte. Was auf Magie hindeutet.«

»Nachdem ich Euren Bericht gehört habe, Oberst, tendiere ich sehr in diese Richtung, und darüber möchte ich mehr von Euch erfahren.«

Kristoff verschränkte seine spindeldürren Arme vor der schmalen Brust. »Ich verstehe nicht, warum Ihr deshalb Theramore verlassen müsst.«

»Ich habe Thrall versprochen, dass ich das persönlich untersuche.« Sie lächelte schief. »Im Moment bin ich eine der Hauptverdächtigen, weil ich sehr wohl dazu in der Lage wäre, die Bäume abzuholzen und nach sonst wohin zu teleportieren. Welchen besseren Weg, meine Unschuld zu beweisen, gäbe es, als selbst die Wahrheit herauszufinden?«

»Mir fielen mehrere Wege ein«, meinte Kristoff säuerlich.

Lady Proudmoore ging zur anderen Seite des Tisches und stand ihrem Kämmerer gegenüber. »Es gibt noch einen anderen Grund. Es kann gut sein, dass fremde Magie dahintersteckt. Machtvolle Magie. Wenn es Magie von dieser Stärke auf Kalimdor gibt, dann muss ich wissen, wer sie ausübt. Und herausfinden, warum sich der betreffende Zauberer versteckt hält.«

»Wenn Magie dahintersteckt.« Kristoff klang gereizt, weshalb Lorena ihn leidenschaftlich gern verprügelt hätte. Doch dann atmete er tief aus und senkte seine Arme. »Dennoch ist es ein legitimer Einwand. Und der muss untersucht werden. Ich ziehe meine Einsprüche zurück.«

»Ich bin froh, dass Ihr zustimmt, Kristoff, sagte die Lady spröde. Sie ging zu ihrem Tisch und durchsuchte den Stapel Schriftrollen. »Ich werde am Morgen abreisen. Kristoff, Ihr werdet Euch um alles kümmern, so lange ich weg bin, weil ich nicht weiß, wie lange ich fort bleiben werde. Ihr seid ermächtigt, in meinem Namen zu handeln, bis ich wieder da bin.« An Lorena gewandt ergänzte sie: »Viel Glück, Oberst. Ihr seid entlassen.«

Lorena salutierte, drehte sich um und ging. Als sie hinaustrat, hörte sie Kristoff etwas sagen, aber die Lady unterbrach ihn. »Ich habe gesagt, Ihr seid entlassen, Kämmerer.«

»Selbstverständlich, Ma'am.«

Der Oberst musste angesichts des verärgerten Tons des Kämmerers lächeln.


Es gab Zeiten, in denen es Jaina Proudmoore hasste, Recht zu behalten. Falsch zu liegen war nie etwas, das sie gestört hatte. Dafür machte sie vor allem Antonidas verantwortlich. Ihr Mentor hatte ihr vom ersten Moment ihrer Lehrzeit an eingebläut, dass Arroganz die größte Sünde des Magiers und die am leichtesten zu begehende war.

»Mit so viel Macht unter den Fingerspitzen wie du sie besitzt, ist man leicht versucht, sich für allmächtig zu halten«, hatte der alte Magier gesagt. »Die meisten Zauberer erliegen dieser Versuchung irgendwann. Das ist einer der Gründe, warum ich nicht müde werde, dich zu warnen. Ich spreche aus leidvoller eigener Erfahrung.« Letzteres hatte er mit einem leichten Lächeln gesagt.

»Ihr seid nicht gefährdet«, hatte Jaina bemerkt.

»Doch, doch«, war die Antwort des Magiers gewesen. »Niemand bleibt davon unbeeindruckt. Der Trick dabei, um dem zu widerstehen, ist, den Makel in dir selbst zu erkennen und daran zu arbeiten.«

Später hatte ihr Mentor von Magiern aus alten Tagen erzählt. Solchen wie Aegwynn und Medivh, den letzten beiden Wächtern von Tirisfal. In beiden Fällen hatte Arroganz ihren Untergang besiegelt. Jahre später sollte Jaina mit Medivh zusammenarbeiten und erkennen, dass zumindest er sich davon losgesagt hatte. Seine Mutter, Aegwynn, hatte weniger Glück. Sie war die erste weibliche Wächterin, eine Frau, die Jaina über weite Strecken ihres Lebens bewundert hatte. Ihr einziger Fehler in all den Jahrhunderten als Wächterin war es gewesen zu glauben, Sargeras allein besiegt zu haben. Tatsächlich zerstörte sie nur seinen Avatar und erlaubte es dem Dämon, sich in ihrer Seele zu verstecken. Der blieb dort jahrhundertelang, bis Aegwynn Medivh gebahr. Dann wechselte Sargeras in diesen über.

Medivh war das Medium für Sargeras Invasion gewesen und verantwortlich für die Anwesenheit der Orcs in dieser Welt. Und das alles nur, weil Aegwynn arrogant genug gewesen war zu glauben, dass sie Sargeras allein besiegen könnte...

Jaina hatte sich diese Worte zu Herzen genommen und immer ihre eigene Selbstsicherheit angezweifelt. Sie bewunderte Aegwynn immer noch. Ohne sie als Wegbereiterin wäre die einzige Antwort auf Jainas Versuch, Magie zu studieren, Gelächter gewesen, statt der Skepsis, die sie vorfand.

Und sie hatte Antonidas beeinflusst.

Manchmal hatten die Selbstzweifel gegen sie gearbeitet. Sie hatte länger, als es gut gewesen war, nicht ihrem Instinkt vertraut, dass Arthas dem Bösen verfallen war. Wenn sie Arthas' Niedergang bedachte, fragte sie sich immer noch, ob alles anders gekommen wäre, hätte sie nur früher gehandelt. Aber meistens hatten sie ihr gut geholfen. Sie machten sie auch, das hoffte sie zumindest, zu einer weisen Herrscherin von Theramore.

Als Thrall ihr von der Zerstörung des Waldes von Thunder Ridge berichtet hatte, hatte sie sofort gewusst, dass Magie im Spiel war – und zwar mächtige Magie. Aber sie hatte auch gehofft, dass sie falsch mit ihrer Annahme lag.

Was sich als trügerische Hoffnung erwiesen hatte.

Sie war geradewegs von ihrer Kammer in Theramore zu dem betreffenden Wald gegangen. Sobald sie materialisierte, konnte sie die Magie förmlich riechen. Und selbst ohne ihre besonderen Fähigkeiten hätte sie wissen müssen, dass hier Zauberei wirkte.

Vor ihr befand sich ein Feld von Baumstümpfen, das sich so weit erstreckte, wie ein Mensch sehen konnte, bevor es sich über dem Hügel verlor, der hinunter zum Gebirgskamm führte. Jeder Stumpf zeigte eine perfekte Schnittfläche.

Es war, als wäre eine riesige Sense durch alle Bäume auf einmal gefahren. Mehr noch, die Schnitte waren allesamt gleich – ohne Risse oder Brüche. Solch einen Grad an Perfektion konnte man nur mit Magie erreichen.

Jaina kannte die meisten Magier, die noch lebten. Und die wenigen, die außer ihr zu so etwas in der Lage waren, befanden sich nicht auf Kalimdor. Außerdem fühlte sich diese Magie anders als jede an, die sie kannte.

Jeder Magier verwendete seine Kräfte auf ureigene Art und Weise. Wenn man sensibel genug war, konnte man die Unterschiede zwischen den Zaubern erkennen. Und diese Magieform hier rief leichten Ekel in Jaina hervor, was sie vermuten ließ, dass es sich um Dämonenmagie handelte. Das Ekelgefühl war zwar kein eindeutiges Indiz dafür, aber auch die Zauberei der Brennenden Legion hatte Jaina immer krank gemacht. Doch das hatte auch die Magie von Kel'Thuzads, als Antonidas sie in Jainas drittem Lehrjahr einführte. Und das war zu einer Zeit gewesen, als der Erzmagier einer der besten Zauberer von Kirin Tor war (lange bevor er zur Nekromantie wechselte und ein Vasall des Lich-Königs wurde).

Allerdings war die Quelle der Zerstörung weniger wichtig als deren Auswirkungen. Donnerechsen streiften nun durch Drygulch – und möglicherweise noch viel weiter. Jaina musste einen entlegenen Ort finden, wohin sie sie bringen konnte, damit sie nicht über die Farmen und Städte der Orcs herfielen.

Sie griff unter ihren Umhang und zog eine Karte hervor – eine der beiden Sachen, die sie aus der Unordnung auf ihrem Schreibtisch gefischt hatte. Sie hatte sich für das Hochland von Bladescar als idealem Exil entschieden, um die Echsen umzusiedeln. Im südlichen Bereich von Durotar gelegen, östlich von Ratchet, war das Hochland weit genug entfernt und vom restlichen Land durch Berge getrennt, die den Donnerechsen das Entkommen schwer machen würden. Außerdem gab es genügend Gras zum Weiden, Platz, um nach Herzenslust herumzulaufen und einen Gebirgsfluss, der fast so groß war wie der Fluss, an den sie in Thunder Ridge gewöhnt waren. Die Echsen würden sicher sein und ebenso die Bevölkerung von Durotar.

Zuerst hatte sie sie noch weiter fortschaffen wollen. Zum Beispiel nach Feralas auf die andere Seite des Kontinents. Aber selbst Jainas Fähigkeiten waren Grenzen gesetzt. Sie selbst konnte sich mit Leichtigkeit dorthin teleportieren. Aber zusammen mit Hunderten von Echsen war das mehr, als selbst sie über eine solche Distanz zu schaffen vermochte.

Dann zog sie den anderen Gegenstand aus ihrem Umhang: eine Schriftrolle, die einen Spruch enthielt, der es ihr ermöglichen würde, die Gedanken von jeder Donnerechse auf dem Kontinent zu erspüren.

Sie murmelte die Beschwörung, und ließ dann ihre Sinne wandern. Anders als die meisten Reptilien besaßen Donnerechsen einen Herdentrieb wie Rinder. Deshalb blieben sie meist zusammen, selbst wenn sie ihre Heimat verließen.

Schnell fand sie eine Herde grasend an dem Fluss, der die Drygulch-Klamm mit Wasser versorgte. Sie waren gerade in einer friedlichen Stimmung, was Jaina das Leben merklich erleichterte. Sie war auch darauf vorbereitet, sie magisch in diesen Zustand zu versetzen, falls es nötig werden sollte. Donnerechsen waren entweder absolut friedfertig oder sie randalierten. Zwischen diesen beiden Extremen gab es nichts. Und es wäre sehr viel problematischer geworden, sie zu teleportieren, während sie gerade außer Rand und Band waren.

Generell zog sie es vor, die Tiere nicht mehr als nötig in ihrer Routine zu stören, aber das schloss nicht aus, dass sie heilfroh war, sie gerade im kooperativeren Zustand anzutreffen.

Im Allgemeinen hieß es, ein Zauberer benötige Blickkontakt mit dem »Passagier«, wenn er ihn bei der Teleportation mitnehmen wollte. So stand es in den Schriftrollen, die es zum Thema gab. Aber Antonidas hatte Jaina beigebracht, dass es auch funktionierte, wenn man einen Gedankenkontakt herstellte. Dazu musste die Magierin den Geist derer berühren, die sie auf ihrem Sprung begleiten sollten. Was bedeutend riskanter war, da es etliche Geschöpfe gab, deren Geist zu berühren schwierig oder gar gefährlich war. Andere Magier oder Dämonen hatten sich dagegen geschützt, und selbst einige besonders willensstarke Menschen wären in der Lage, Widerstand zu leisten.

Im Fall der Donnerechsen bestand diese Gefahr jedoch nicht. Momentan waren ihre Gedanken auf drei existentielle Dinge beschränkt: essen, trinken oder schlafen. Abgesehen von der Paarungszeit waren dies zugleich die Aktivitäten, die das Denken der Donnerechsen die meiste Zeit ihres Lebens ausfüllten.

Trotzdem benötigte Jaina mehrere Stunden, um mit ihrem Geist über den vernichteten Wald zu tasten auf der Suche nach jeder Donnerechse, die sich in Drygulch herumtrieb, und ebenso jedem Nachzügler, der sich auf Razor Hill zu bewegte.

Gras. Wasser. Augen schließen. Ausruhen. Kauen. Schlucken. Schlürfen. Schlafen. Atmen.

Für einen Moment verlor sie sich fast im Wust der Impressionen. Die Gedanken der Echsen waren nicht sonderlich komplex, aber es gab Hunderte, und Jaina bemerkte, dass sie von deren instinktiven Bedürfnissen – essen, trinken, schlafen – förmlich überrollt wurde.

Sie biss die Zähne zusammen und behauptete ihr eigenes Ich gegen das von Hunderten von Donnerechsen. Dann begann sie, die Beschwörung für den Teleportspruch zu murmeln.

Qual!

Sengender, glühend heißer Schmerz durchtobte Jainas Schädel, als sie die letzte Silbe des Spruchs über ihre Lippen brachte. Der zerstörte Wald schmolz vor ihr wie in einer Implosion zusammen... und eruptierte im nächsten Moment wieder zu seiner alten Form zurück.

Ein milderer Schmerz pflanzte sich durch Jainas linkes Knie, und erst da erkannte sie, dass sie zu Boden gestürzt war. Ihr Knie war auf einen Baumstumpf geprallt.

Schmerz. Verletzt. Verletzt. Verletzt. Laufen. Laufen. Laufen. Laufen. Kein Schmerz mehr. Laufen, kein Schmerz.

Schweiß perlte von ihrer Stirn. Jaina widerstand dem Drang, durch den Wald zu rennen. Irgendetwas war mit dem Teleportspruch schief gegangen, aber Jaina hatte nicht die Zeit, herauszufinden, was passiert war. Denn die Schmerzen, die der fehlgeschlagene Spruch auslöste, wurden über die mentale Verbindung auf die Donnerechsen übertragen.

Ein Reiz, stark genug, um sie aus ihrer Friedfertigkeit zu reißen und in Berserker zu verwandeln!

Jaina musste die Tiere stoppen, bevor sie neuerlich Amok durch Drygulch liefen.

Jeder Instinkt in ihr forderte, dass sie die Verbindung augenblicklich abbrach. Die Aussicht, die wie tollwütig gewordenen Echsen aufzuhalten und wieder zu besänftigen, lagen fast bei Null. Aber die einzige Chance, sie zu beruhigen, bestand darin, die Verbindung aufrecht zu halten.

Sie schloss die Augen und zwang sich zur Konzentration. Dann sagte sie einen Spruch auf, von dem Antonidas behauptet hatte, er sei speziell für bockende Reittiere geschrieben worden. Sie ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass sie fürchtete, ihre Fingernägel würden in die Handballen eindringen. Gleichzeitig brachte sie so viel wie möglich von sich selbst in den Spruch ein, um sicherzustellen, dass alle Echsen erreicht wurden.

Augenblicke später schliefen sie ein. Jaina schaffte es kaum, die geistige Verbindung zu lösen und drohte selbst einzunicken. Dazu hätte fast schon ihre eigene Erschöpfung ausgereicht, der magischen Rückkopplung hätte es gar nicht bedurft...

Ihre Glieder und ihre Augen wurden schwer. Teleportsprüche waren selbst unter günstigsten Voraussetzungen kräftezehrend. Und sowohl die schiere Menge dessen, was sie bewegen wollte, als auch die Störung des Spruchs verschlechterten die Bedingungen zusätzlich. Jaina wollte nichts anderes mehr als sich hinlegen und wie die Echsen einschlafen. Aber das konnte sie sich nicht leisten. Der Spruch würde die Echsen lediglich für sechs Stunden beruhigen. Vielleicht sogar weniger, da der Zauber so breit gefächert worden war. Sie musste herausfinden, was in Bladescar verhindert hatte, dass sie den Spruch ordentlich hatte beenden können.

Sie setzte sich und überkreuzte die Beine. Ihre Arme hingen an der Seite herab, und sie kontrollierte ihren Atem. Dann sandte sie wieder ihre Sinne aus, diesmal Richtung Bladescar, zu dem kleinen Gebiet im Herzen der bergigen Region.

Es dauerte nicht lange, bis sie fand, wonach sie suchte.

Jemand hatte magische Barrieren im gesamten Hochland errichtet. Jaina konnte die Art der hier angewandten Magie nicht exakt bestimmen, aber die Hindernisse eigneten sich perfekt, um Teleportsprüche zu stören und um das, was auch immer jenseits von ihnen liegen mochte, zu schützen.

Jaina stand auf und sammelte sich. Sie setzte zum Teleportzauber an, der sie nach Bladescar bringen würde, doch dann hielt sie inne. Sie griff in den kleinen Beutel, der an ihrem Gürtel befestigt war, und holte etwas zu essen heraus. Eine weitere von Antonidas frühesten Lektionen war die Ermahnung gewesen, dass Magie den Körper verzehrte, und der einzige Weg, um ihn wieder zu regenerieren, der war, gehaltvolle Nahrung zu sich zu nehmen. »Viele Zauberer,« hatte er gesagt, »sind gestorben, weil sie so beschäftigt mit der Erforschung der Wunder der Magie waren, dass sie schlicht vergaßen, sich zu ernähren

Ihr Gebiss schmerzte vom Kauen auf dem harten getrockneten Fleisch. Dann wirkte die erfrischte, ausgeruhte Jaina einen Spruch, der sie knapp vor einer der Barrieren absetzte, die über das Hochland verteilt waren.

Der einzige Nachteil ihres Plans, etwas zu essen, bevor sie teleportierte, war das Grummeln im Magen. Ein Nebeneffekt, der sich mit unverdauter Nahrung in ihrem Bauch noch viel stärker bemerkbar machte als mit gar keiner. Aber sie schob die Gedanken daran beiseite, während sie sich an der Grenze zum Hochland umsah. Hinter ihr ragte eine scharfe Klippe auf, vor ihr lag ein Steilhang. Es gab kaum genug Platz zum Stehen.

Natürlich waren die magischen Barrieren für das normale Auge unsichtbar. Aber Jaina konnte sie fühlen. Sie waren nicht besonders stark, aber das mussten sie auch nicht sein. Wenn ihre Aufgabe tatsächlich darin bestand, etwas oder jemanden zu verbergen – wovon Jaina inzwischen überzeugt war –, war es das Beste, die Barrieren auf einem niedrigen Niveau zu halten. Wären sie zu stark gewesen, hätten sie auf andere Magier wie ein Leuchtfeuer gewirkt.

Aus der Nähe erkannte Jaina auch die Charakteristik der Magie, die diese Barrieren erzeugt hatte. Das letzte Mal hatte sie dergleichen in der Begleitung von Medivh gespürt, während des Krieges. Das war die Magie der Tirisfalen. Aber alle Wächter waren tot, Medivh eingeschlossen, der der letzte gewesen war.

Nun, da sie wusste, wo sie sich befanden, bedurfte es nur einer Geste, um die Barrieren zu entfernen. Danach schritt sie weiter und begann, das Hochland zu erforschen. Dann machte sie eine kurze Pause, um einen Unsichtbarkeitszauber für sich selbst zu wirken und sich unerkannt bewegen zu können.

Anfangs war es genauso, wie sie es erwartet hatte: Grasland, gesprenkelt mit Früchte tragenden Büschen und dem üblichen Baumbestand. Wind wehte von der Großen See her, kanalisiert von den Bergen. Jainas weißer Umhang bauschte sich auf. In Thunder Ridge war es wolkig gewesen, aber das Hochland lag über den Wolken. Deshalb war es hier hell und sonnig. Jaina schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück, damit sie die Sonne genießen konnte, die ihr ins Gesicht schien.

Schnell entdeckte sie ersten Spuren desjenigen, der sich hier versteckt hielt: Von mehreren Büschen waren erst kürzlich Früchte gepflückt worden.

Als sie weiter bergauf ging, fand sie einen Brunnen und etwas Feuerholz gestapelt daneben. Auf der anderen Seite eines großen Baumes sah sie eine Hütte. Ordentliche Reihen von Nutzpflanzen, meist Gemüse und einige Kräuter, wuchsen hinter der Hütte.

Einen Augenblick später kam eine Frau in Sicht. Sie trug nur ein abgetragenes hellblaues Leinenkleid und lief barfuß. Ihr Gang war fest. Als sie den Brunnen erreichte, sah Jaina, dass sie ungewöhnlich groß für eine Frau war. Auf jeden Fall größer als Jaina. Außerdem war sie unzweifelhaft alt. Falten und tiefe Furchen verunstalteten ihr Gesicht, das, wie Jaina bemerkte, einst schön gewesen sein musste. Die Frau hatte weißes Haar, das von einem silbernen Diadem gehalten wurde, und die grünsten Augen, die Jaina jemals gesehen hatte. Sie passten zu dem beschädigten Jade-Anhänger, der um ihren Hals hing.

Plötzlich stellten sich Jainas Nackenhaare auf, weil sie die Frau zu erkennen glaubte. Sie hatten sich nie getroffen, aber während ihrer Lehrzeit hatte Jaina Beschreibungen über sie gelesen. Und alle Quellen erwähnten ihre Größe, ihr blondes Haar, das von einem einfachen Silberdiadem gehalten wurde, ihre Augen. Jeder erwähnte diese Augen.

Wenn sie es wirklich war, erklärte das die Barrieren.

Obwohl man doch davon ausging, dass sie schon vor langer Zeit gestorben war...

Die Frau stemmte ihre Fäuste in die Hüften. »Ich weiß, dass Ihr hier seid, deshalb braucht Ihr auch nicht weiter den Unsichtbarkeitszauber zu verschwenden.« Sie schüttelte den Kopf, als sie zum Brunnen ging und einen Eimer hinabließ, indem sie ein Seil Hand über Hand abwickelte. »Gütiger, sie bringen Euch jungen Magiern heute gar nichts mehr bei. Die Violette Zitadelle ist vor die Hunde gegangen, so viel steht fest.«

Jaina beendete den Zauber. Die Frau reagierte kaum, außer das sie ein Tsss von sich gab, während sie das Seil abließ.

»Mein Name ist Lady Jaina Proudmoore. Ich regiere Theramore, die Menschenstadt auf diesem Kontinent.«

»Schön für Euch. Wenn Ihr zurück zu diesem Theramore kommt, übt den Unsichtbarkeitszauber. Ihr könntet Euch, so wie Ihr ihn momentan beherrscht, nicht mal vor einem erkälteten Bluthund verstecken.«

Jaina schwindelte, als ihr klar wurde, dass diese Frau unmöglich eine andere sein konnte als diejenige, für die sie sie hielt. So unmöglich das auch immer sein mochte. »Magna, es ist mir eine Ehre, Euch zu treffen. Ich habe gedacht, Ihr wärt...«

»Tot?« Die Frau schnaufte, als sie das Seil zurückzog. Ihr verkniffener Mund verriet die Anstrengung, die es kostete, einen mit Wasser gefüllten Eimer emporzuhieven. »Ich bin tot, Lady Jaina Proudmoore von Theramore. Oder doch wenigstens so nah dran, dass es keinen Unterschied mehr macht. Und nennt mich nicht mehr ,Magna'. Das war eine andere Zeit und ein anderer Ort, und ich bin nicht mehr diese Frau.«

»Diesen Titel kann man nicht verlieren, Magna. Und ich kann Euch nicht anders nennen.«

»Papperlapapp. Wenn Ihr mich schon irgendwie nennen müsst, tut es bei meinem Namen. Ich bin Aegwynn.«

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