10

»Das hätte ich jetzt nicht erwartet«, bemerkte Pharaun.

Der Magier seufzte und setzte sich auf einen Felsen, während er sein Gepäck auf den mit Moos bewachsenen Boden fallen ließ. Die Gruppe stand an der Öffnung einer niedrigen Höhle, von der aus sie einen Wald an der Oberfläche überblicken konnten, der in helles Tageslicht getaucht war. Das Portal der Jaelre lag einige hundert Schritt hinter ihnen in einer feuchten, gewundenen Höhle, die zu einem großen, steil abfallenden Schlundloch mit von Flechten überzogenen Findlingen und Rinnsalen aus kaltem Wasser, das vom Hügel darüber herablief, führte.

Der Himmel war wolkenverhangen, und es regnete leicht. Die geschlossene Wolkendecke und die leichte Düsternis des Waldes trugen maßgeblich dazu bei, die unerträglich grelle Sonne abzuschwächen. Es war hier nicht so gleißend hell wie vor Zehntagen in der wolkenlosen Wüste Anauroch, doch für Augen, die seit Ewigkeiten an die völlige Lichtlosigkeit im Unterreich gewohnt waren, war der trübe Schein immer noch so grell wie ein Blitz, der die Nacht erhellte.

»Sollten wir weiterziehen?« fragte Ryld, der zwar Splitter in die Scheide zurückgesteckt hatte, die er sich auf den Rücken gebunden hatte, aber dennoch die Armbrust im Anschlag hielt und mit zusammengekniffenen Augen in das Grün der weit aufragenden Bäume spähte. »Die Minotauren werden nicht lange brauchen, um herauszufinden, wo wir sind.«

»Es ist egal, ob sie dahinterkommen«, erwiderte Pharaun. »Das Portal war so eingerichtet, daß es nur von Drow benutzt werden kann. Unsere Freunde im Labyrinth werden nur eine nackte Steinwand vorfinden – eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme von Seiten der Jaelre. An ihrer Stelle hätte ich allerdings wohl nicht ausgeschlossen, auch von meinesgleichen angegriffen zu werden.«

»Seid Ihr da sicher?« fragte Quenthel.

Pharaun nickte. »Ich habe mir das Portal aufmerksam angesehen, ehe wir es durchschritten. Blindlings durch Portale zu springen ist eine schlechte Angewohnheit, die man sich nur für die gravierendsten Situationen vorbehalten sollte, beispielsweise für die lebensrettende Flucht aus einer Stadt, die im Begriff ist, zerstört zu werden, und bevor sich jemand die Mühe macht zu fragen – ja, wir können den gleichen Weg zurückgehen. Das Portal arbeitet in beide Richtungen.«

»Ich habe es nicht eilig, in das Labyrinth zurückzukehren. Lieber die sonnenbeschienene Oberfläche als das«, murmelte Halisstra.

Sie schritt bedächtig über den Grund des Schlundlochs und betrachtete den Wald über ihnen. Die Luft war kühl, und sie sah, daß die Bäume in unmittelbarer Nähe überwiegend Nadelbäume waren, die – wenn sie sich recht erinnerte – in der Winterzeit nicht ihr Laub abwarfen. Ein Stück weiter standen einige kahle Bäume, die zu einer anderen Art gehörten, Bäume mit schmalen weißen Stämmen und nur noch einer Handvoll verschrumpelter rotbrauner Blätter in der Krone. Tot? überlegte sie. Oder einfach während des Winters kahl? Sie hatte vieles über die Welt an der Oberfläche gelesen, über die Bewohner, die grünen Pflanzen und die Tiere, die wechselnden Jahreszeiten, doch es war ein gewaltiger Unterschied, ob man über etwas las oder es aus erster Hand erfuhr.

»Wo sind wir?« fragte Quenthel.

Valas betrachtete die Bäume, und nach einiger Zeit kniff er die Augen zusammen, um zu den schwach leuchtenden Wolken zu blicken, die sich vor die Sonne geschoben hatten. Dann drehte er sich langsam im Kreis, um sich die Hügellandschaft ringsum anzusehen, schließlich kniete er sich hin und betastete das weiche grüne Moos auf den Steinen am Höhleneingang.

»Nordfaerûn«, sagte er. »Es ist Winteranfang, so wie es sein sollte. Man kann die Sonne nicht gut genug sehen, um ihre Position am Himmel zu bestimmen, aber ich kann sie so gut spüren wie wohl jeder von uns. Wir befinden uns in etwa auf dem gleichen Breitengrad wie die Länder über Menzoberranzan – wohl höchstens einige hundert Meilen nördlich oder südlich davon.«

»Also irgendwo im Hochwald?« fragte Danifae.

»Möglicherweise ja. Ich bin nicht sicher, ob die Bäume so aussehen, wie sie sollten. Ich bin durch die Länder an der Oberfläche gewandert, die sich in der Nähe unserer Stadt befinden. Das Laub sieht anders aus als das, was ich aus dem Hochwald in Erinnerung habe. Wir könnten weit von Menzoberranzan weg sein.«

»Großartig«, murmelte Pharaun. »Wir reisen durchs Unterreich nach Ched Nasad, müssen ein Portal durchschreiten, das uns Hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt an die Oberfläche verschlägt, dann reisen wir durch Schatten und Gefahr zurück ins Unterreich, benutzen ein zweites Portal und landen wieder an der Oberfläche, möglicherweise noch weiter weg von zu Hause. Da stellt sich doch die Frage, ob wir nicht einfach von Hlaungadath hierher hätten reisen können, ohne den Umweg über die Schattenebene zu machen, ohne die Gastfreundschaft Gracklstughs in Anspruch zu nehmen und ohne einen reizenden Spaziergang durch ein von Minotauren bevölkertes Labyrinth zu unternehmen.«

»Deine Laune muß sich gebessert haben, Pharaun«, stellte Ryld fest. »Du hast zu deinem Sarkasmus zurückgefunden.«

»Eine schärfere Waffe als Splitter, mein Freund, und genauso verheerend, wenn sie richtig eingesetzt wird«, sagte der Magier. Er strich sich über den Oberkörper und zuckte zusammen. »Ich bin halbtot. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, wollte mich eine stierköpfige Gestalt mit einer Axt in zwei Teile schlagen oder mich durchbohren. Dürfte ich Euch um eines Eurer heilenden Lieder angehen, werte Dame?« fragte er Halisstra.

»Heilt ihn nicht«, herrschte Quenthel sie an. Sie stand noch immer da, eine Hand auf den Oberkörper gedrückt. Blut lief zwischen den Fingern hindurch. »Niemand ist tödlich verletzt. Spart Eure Magie auf.«

»Das ist genau die Art ...«, begann Pharaun, sah sie finster an und erhob sich.

»Hört auf!« ging Halisstra dazwischen. »Ich habe all meine Gesänge aufgebraucht, also ist es völlig egal. Wenn ich meine magische Kraft wiedererlangt habe, werde ich jeden heilen, der es nötig hat, weil es dumm wäre, wenn wir uns in unserer Verfassung noch weiterschleppen würden. Bis dahin werden wir uns alle auf eine gewöhnliche Heilung verlassen müssen. Danifae, hilf mir, die Wunden zu verbinden.«

Die Kriegsgefangene wandte sich Jeggred zu und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Sie nahm den Rucksack ab und begann, nach Verbandszeug und Salben zu suchen. Der Draegloth widersprach nicht, ein deutliches Zeichen dafür, wie erschöpft er war.

Halisstra sah sich die anderen an und entschied, daß der Magier von allen am dringendsten versorgt werden mußte. Nachdem sie ihn zurück auf den Findling gedrückt hatte, holte sie ihren eigenen Vorrat an Verbandszeug heraus. Sie betrachtete Pharauns Oberarm, wo Jeggreds Klauen sich durch das Fleisch geschnitten hatten, dann trug sie eine Salbe auf, die sie wie einige andere in Gracklstugh erworben hatte.

»Das wird stechen«, sagte sie sanft.

Pharaun stieß einen Fluch aus und machte einen Satz, als hätte man ihn mit einem Messer traktiert, während er vor Schmerz aufschrie.

»Das habt Ihr absichtlich getan!« sagte er.

»Natürlich«, erwiderte Halisstra.

Während sie und Danifae die anderen versorgten, klomm Valas einen schmalen Weg hinauf, der an der Wand des Schlundlochs verborgen war. Aufmerksam studierte er den Boden und blieb immer wieder stehen, um nachdenklich in den Wald zu blicken.

Halisstra sah zu ihm auf und rief: »Habt Ihr etwas Interessantes gefunden, Meister Hune?«

»Es gibt hier einen Pfad, der hinauf zum Höhleneingang führt«, erwiderte der Mann von Bregan D’aerthe. »Aber ich kann nicht sagen, wohin die Jaelre gegangen sind. Es führen mehrere Trampelpfade von hier weg, doch keiner von ihnen scheint von einer größeren Zahl Wanderer benutzt worden zu sein.«

»Im Jaelre-Palast im Labyrinth sagtet Ihr, Ihr hättet deutliche Zeichen dafür entdeckt, daß sie das Portal benutzt haben. Wie kann es dann auf dieser Seite keine geben?« wollte Quenthel wissen.

»Der Staub und Schmutz im Unterreich kann Spuren, die zeigen, daß jemand einen bestimmten Weg genommen hat, viele Jahre lang konservieren, doch an der Oberfläche ist das nicht so einfach. Es regnet, es schneit, Pflanzen wachsen schnell genug, um Pfade zu überwuchern, die seit einiger Zeit nicht mehr benutzt wurden. Wären die Jaelre in den letzten ein oder zwei Zehntagen in großer Zahl hier entlanggegangen, könnte ich wohl noch Hinweise darauf entdecken. Wenn sie aber vor fünf oder zehn Jahren hier waren, dann gibt es keine Zeichen mehr zu lesen.«

»Sie werden sich nicht weit an der Oberfläche bewegt haben«, überlegte Quenthel. »Sie können nicht weit gekommen sein.«

»Vermutlich ist das richtig«, erwiderte Halisstra. »Die Jaelre dürften zweifellos vorgezogen haben, bei Nacht zu wandern und am Tag unter den Bäumen Schutz zu suchen. Wenn es sich um einen sehr großen Wald wie den Hochwald oder Cormanthor handelt, dann könnten sie einige hundert Kilometer entfernt sein.«

»Welch aufmunternder Gedanke«, murmelte Pharaun. »Was um alles in der Welt hat die Jaelre überhaupt hier heraufgeführt? Haben sie nicht die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß die Oberflächenbewohner sie genauso bereitwillig abschlachten könnten wie die Minotauren?«

»Als ich sie vor vielen Jahren besuchte, sprachen Tzirik und seine Gefährten von Zeit zu Zeit davon, eines Tages an die Oberfläche zurückzukehren«, sagte Valas. Er wandte sich vom Wald ab und sprang leichtfüßig zurück in die Höhlenöffnung. »Die Welt an der Oberfläche zurückzuerobern ist Teil der Doktrin des Maskierten Fürsten, und die Hauptmänner und die Herrscher des Hauses Jaelre fragten sich, ob der sogenannte Rückzug unserer lichtblinden Verwandten an der Oberfläche nicht womöglich eine Einladung war, die Länder zu beanspruchen, die von den dortigen Elfen aufgegeben wurden.«

»Konnte Euch nicht in Ched Nasad einfallen, daß Eure ketzerischen Freunde ihrem Wunsch gefolgt sein und jenen finsteren, von Dämonen heimgesuchten Ort verlassen haben könnten, den sie ihr Zuhause nannten?« fragte Quenthel. »Ist Euch nicht bewußt gewesen, daß Ihr uns in diesem Labyrinth in eine Sackgasse führen könntet?«

Der Späher aus Bregan D’aerthe wich Quenthels Blick nervös aus und erwiderte: »Ich sah keine bessere Alternative, Herrin. Jedenfalls nicht, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen wollen.«

»Du bist so sehr darauf aus, das Rätsel zu lösen, warum die Spinnenkönigin schweigt, daß du einfach blind darauf vertraust, deinen Freund Tzirik noch im Labyrinth anzutreffen, obwohl du wußtest, daß sein Haus schon seit Jahren die Flucht plante?« fragte Ryld. »Wir sind in der Stadt der Duergar große Risiken eingegangen und haben viel Schmerz im Reich der Minotauren erduldet, nur damit du deine Neugier befriedigen konntest!«

»Vielleicht hatten wir diesen Tzirik ohnehin nie finden sollen«, gab Quenthel zu bedenken. »Vielleicht hat Meister Hune uns über viele Zehntage hinweg von unserer Mission abgehalten, und vielleicht geschah das nicht mal zufällig.«

»Als wir über die Frage nachdachten, ob wir nach Menzoberranzan zurückkehren sollten«, warf Jeggred ein, »hat der Bregan D’aerthe darauf gedrängt, daß wir uns auf die Suche nach diesem Priester Tzirik machen – einem ketzerischen Priester, von dem außer Valas noch niemand etwas gehört hatte.« Der Draegloth kniff die Augen zusammen, stand auf und ballte die vier Hände zu Fäusten, während er Danifae aus dem Weg schob. »Nun wird alles klar. Unser Führer ist ein vhaeraunitischer Ketzer, der dem Maskierten Fürsten gut gedient hat, indem er uns tagelang endlosen Gefahren ausgesetzt hat.«

»Das ist lächerlich«, protestierte Valas. »Ich hätte wohl kaum die Bregan D’aerthe zur Verteidigung Menzoberranzans geführt, wenn ich ein Feind der Stadt wäre.«

»Ja, aber das ist das klassische Täuschungsmanöver«, wandte Danifae ein. »Macht Eure Opfer mit dem Agenten vertraut, den Ihr zu ihrer Vernichtung ausgewählt habt, damit sie einen Grund bekommen, ihm zu trauen. In Eurem Fall wurde dieser Plan offenbar meisterhaft ausgeführt.«

»Selbst wenn«, konterte Valas. »Warum habe ich Euch dann nicht an die Duergar ausgeliefert? Oder Euch den Minotauren überlassen? Ich hätte Euren Tod arrangieren können, statt lediglich dafür zu sorgen, daß Ihr Eure Zeit vergeudet. Wäre ich Euer Feind, dann könntet Ihr sicher sein, daß ich exakt so vorgegangen wäre.«

»Vielleicht wärst du selbst in Gefahr geraten, wenn du uns in Gracklstugh oder im Labyrinth hintergangen hättest«, überlegte Pharaun. »Dennoch hast du einen wichtigen Punkt zu deiner Verteidigung vorgebracht.«

»Nichts als die geschickten Lügen eines Verräters«, zischte Jeggred und sah zu Quenthel. »Gebt mir Euren Befehl. Soll ich ihm die Gliedmaßen ausreißen?«

Valas legte die Hände auf die Hefte seiner Kukris und leckte sich die Lippen. Er war grau vor Angst, doch in seinen Augen funkelte der Zorn. Alle sahen Quenthel an, die noch immer gegen einen Findling gelehnt stand, die Peitsche reglos an der Taille. Sie sagte nichts, während der Regen sich seinen Weg durch das Blätterdach bahnte und in der Ferne Vögel sangen.

»Ich werde mich für den Augenblick eines Urteils enthalten«, sagte sie und betrachtete Valas. »Wenn Ihr loyal seid, dann brauchen wir Euch, um Tzirik zu finden – vorausgesetzt, dieser Vhaeraun-Priester existiert überhaupt –, aber Ihr wärt gut beraten, uns die Jaelre und ihren Hohepriester schnell zu präsentieren, Meister Hune.«

»Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhalten«, erwiderte Valas. »Ihr könnt mich ebensogut sofort verdammen und Euch auf die Reaktion Bregan D’aerthes gefaßt machen.«

Quenthel warf Jeggred einen kurzen Blick zu, woraufhin der Draegloth lächelte. Seine nadelgleichen Fangzähne leuchteten in seinem dunklen Gesicht.

Halisstra wußte nicht, was sie von alldem halten sollte. Sie hatte den Späher vor etwas mehr als einem Zehntag kennengelernt, daher wußte sie nichts darüber, was sich in Menzoberranzan abgespielt hatte, ehe sich die Menzoberranzanyr auf den Weg nach Ched Nasad gemacht hatten. Ihr war aber klar, daß sie alle es noch bedauern sollten, wenn Quenthel Valas töten ließ und sich anschließend herausstellte, daß seine Dienste weiter benötigt wurden oder daß seine mächtige Söldnergilde sich für den Tod ihres Spähers rächen würde.

»Was wäre die beste Methode, von hier aus den Aufenthaltsort der Jaelre ausfindig zu machen?« fragte Halisstra, die hoffte, so die Unterhaltung in eine ungefährlichere Richtung zu lenken.

Valas zögerte, dann sagte er: »Wie Herrin Quenthel schon sagte, sie sind wohl kaum allzuweit gekommen. Wir können in einem sich ausdehnenden Spiralmuster suchen, bis wir aufbessere Informationen stoßen.«

»Ein Plan, der ermüdend und langwierig klingt«, warf Pharaun ein. »Ziellos durch diesen gleißend hellen Wald zu laufen sagt mir nicht zu.«

»Wir könnten uns einen Bewohner der Oberflächenwelt vornehmen und ihm Informationen entlocken«, gab Ryld zu bedenken. »Vorausgesetzt, einer von ihnen hält sich in der Nähe auf und weiß etwas über den Verbleib des Hauses Jaelre.«

»Auch in dem Fall müßten wir umhermarschieren, um einen solchen Bewohner zu finden, da sich niemand von selbst präsentieren dürfte«, meinte Pharaun. »Dein Plan unterscheidet sich nur unwesentlich von dem Meister Hunes.«

»Was schlagt Ihr vor?« fragte Quenthel mit eisiger Stimme.

»Gestattet mir, zu ruhen und meine Zauberbücher zu konsultieren. Morgen werde ich einen Zauber vorbereiten, der enthüllen könnte, wo sich das verschwundene Haus ketzerischer Ausgestoßener befindet.« Er hob eine Hand, um dem Protest der Baenre zuvorzukommen, und fügte an: »Ja, ich weiß. Ihr wollt jetzt weiterziehen, aber wenn ich mit einem Erkenntniszauber das Ziel unserer Suche ausfindig machen kann, ersparen wir uns vermutlich viele Stunden Wanderung in die falsche Richtung. Diese Pause wird auch der reizenden Dame von Melarn Gelegenheit geben, ihre Kräfte aufzufrischen und vielleicht die ärgsten unserer Wunden zu heilen.«

»Euer Zauber könnte vielleicht nichts brauchbares ergeben«, sagte Quenthel. »Magie dieser Art ist bekannt für ihre Unzuverlässigkeit.«

Pharaun sah sie nur an.

Quenthel blickte zum Himmel auf und blinzelte in das erbarmungslose graue Licht, das durch die Wolken droben drang. Sie seufzte und sah einen nach dem anderen an, wobei sie besonders lange bei Danifae verharrte. Die Kriegsgefangene nickte so minimal, daß Halisstra nicht sicher war, ob sie diese Bewegung wirklich gesehen hatte.

»Also gut«, sagte die Herrin Arach-Tiniliths schließlich. »Es wäre wohl weise, wenn wir auf den Schutz der Dunkelheit warten. Also werden wir in der Höhle unser Lager aufschlagen, wo uns die verfluchte Sonne nicht so sehr zu schaffen machen kann. Meister Hune, Ihr werdet Euch in meiner Nähe aufhalten, bis wir diesen Tzirik gefunden haben.«


Nimor Imphraezl bewegte sich zügig auf dem breiten Vorsprung voran, passierte zur Rechten eine lange Reihe marschierender Duergar, während er genügend Abstand zum Rand des schwarzen Abgrunds zu seiner Linken hielt. Eine mehrere tausend Mann starke Armee auf den finsteren, lichtlosen Wegen durch das Unterreich zu führen war eine gewaltige Herausforderung, zumal viele der direkteren Routen nicht in der Lage waren, so immens viele Soldaten zu fassen. Damit blieben nur die geräumigeren Höhlen und Tunnel, die ihrerseits durch manch gefahrvolle Region führten, die man auf den verstohleneren Wegen meiden konnte.

Der Weg verlief entlang der Schulter einer großen unterirdischen Schlucht, die sich fünfundsechzig Kilometer von Gracklstugh entfernt durch die Finsternis zog. An diesem Tag waren sie erst gut zwei Stunden marschiert, doch die Armee aus Grauzwergen hatte bereits eine voll beladene Packechse sowie fünf Soldaten – die das Pech hatten, sich in der Nähe der Bestie aufzuhalten – verloren, als ein Schwarm hungriger Yrthaks sie attackiert hatte.

Zwar war es kein nennenswerter Verlust, doch Nimor hatte längst erkannt, daß jeder Tag ein neues Mißgeschick oder einen neuen Unfall mit sich brachte und die Armee Stück für Stück aufgerieben wurde. Dem Assassinen der Jaezred Chaulssin war bis dahin nie wirklich klar gewesen, welch gewaltiges Unterfangen es darstellte, eine große und gut ausgerüstete Armee über hundertfünfzig Kilometer weit durch das Unterreich zu führen. Er war es gewohnt, mit wenig Gepäck allein oder in der Gesellschaft einer kleinen Gruppe von Söldnern oder Spähern die düsteren Pfade zu bereisen und dabei geheime Wege und bekannte Zufluchten zu nutzen, die abseits der Hauptrouten lagen. Nachdem er nun aber mehrere Tage an der Seite einer Armee gereist war und ausreichend Gelegenheit bekommen hatte, kleinere Rückschläge, Schwierigkeiten und Herausforderungen mitzuerleben, die er sich nie hätte vorstellen können, wußte er den Umfang dieser Expedition um so mehr zu schätzen. Die Duergar waren wirklich interessiert, einem in Nöten befindlichen Nachbar einen tödlichen Schlag zu versetzen, wenn sie bereit waren, die riesigen Zahlen an Bestien, Soldaten und Gerätschaft aufzufahren, die erforderlich waren, um eine Armee in eine Schlacht ziehen lassen zu können.

Der Assassine folgte dem Verlauf einer riskanten Kurve und erreichte die Kutsche des Kronprinzen: eine schwebende Hülle aus Eisen, gut neun Meter lang und drei Meter breit, so mit Zaubern belegt, daß sie nicht nur über dem Boden schwebte, sondern sich auch so bewegte, wie die Grauzwerge es wollten, die das Objekt kontrollierten. Die gräßliche schwarze Form war mit Dornen besetzt, um Angreifer abzuwehren, und durch Schlitze in der gepanzerten Hülle konnte jeder, der sich in der Umgebung des Dings aufhielt, mit Geschossen oder tödlichen Zaubern angegriffen werden. Die Kutsche säumte eine Reihe großer, mit Läden versehener Fenster. Die Läden waren aufgestellt, und durch sie konnte Nimor einen Blick auf die ruhige Gruppe aus Duergar-Anführern und ihren Assistenten werfen. Das gesamte Konstrukt diente als Kommandoposten sowie als Schlafgemach für den Kronprinzen, der mit seiner Armee in die Schlacht zog. Es verkörperte auf perfekte Weise, wie Zwerge die Dinge angingen, dachte Nimor, ein Werk, das von hoher handwerklicher Kunst und mächtiger Magie zeugte, aber weder Anmut noch Schönheit aufwies.

Mit einem knappen Satz sprang er auf das Trittbrett der Kutsche und duckte sich durch eine dicke Eisentür. Drinnen verbreiteten blaue Kugeln ein dämmriges Licht und beleuchteten einen großen Tisch, auf dem sich eine Darstellung der Tunnel und Höhlen zwischen Gracklstugh und Menzoberranzan befand. An diesem Tisch beobachteten die Fürsten und Hauptmänner der Duergar, wie die Armee vorankam, und dort planten sie auch die kommenden Schlachten. Mit einem raschen Blick nahm der Assassine zur Kenntnis, welche Offiziere und Diener anwesend waren, dann wandte er sich dem erhöhten zentralen Bereich der Kutsche zu. Der Fürst der Stadt der Klingen saß mit seinen wichtigsten Beratern an einem Tisch hoch über den anderen und verfolgte die Planungen, die unterhalb von ihm abliefen.

»Gute Neuigkeiten«, verkündete Nimor und trat in den Kreis aus Hauptmännern und Wachleuten, von denen Horgar Stahlschatten umgeben war. »Mir ist bekannt geworden, daß der Erzmagus von Menzoberranzan, Gromph Baenre persönlich, vom Sava-Brett unserer kleinen Partie entfernt worden ist. Die Muttermatronen ahnen noch nichts von unserem Vordringen in ihr Territorium.«

»Wenn Ihr meint«, gab der Duergar-Fürst schroff zurück. »Im Umgang mit Dunkelelfen habe ich gelernt, daß es ratsam ist, so lange die Präsenz eines Erzmagus nicht auszuschließen, solange ich ihn nicht von meinem eigenen Hammer erschlagen vor mir sehe.«

Die um Horgar versammelten Duergar nickten zustimmend und sahen Nimor mit unverhohlenem Argwohn an. Ein Drow-Überläufer mochte in einem Krieg gegen Menzoberranzan ein nützlicher Verbündeter sein, doch hieß das nicht zwangsläufig, daß sie in Nimor einen verläßlichen Partner sahen.

Nimor entdeckte eine goldene Karaffe, die auf dem hohen Tisch stand, und schenkte sich großzügig Dunkelwein in einen Kelch ein.

»Gromph Baenre ist nicht der einzige begabte Magier in Menzoberranzan«, knurrte Borwald Feuerhand. Der Marschall, der sogar für einen Grauzwerg klein und stämmig war, packte mit großen, starken Händen die Tischkante und beugte sich vor, um dem Assassinen einen stechenden Blick zuzuwerfen. »Deren verdammte Magierschule ist voller begabter Magier. Eure Verbündeten haben voreilig gehandelt, Drow. Wir sind noch fünfzehn Tage von Menzoberranzan entfernt, und Gromphs Tod wird sie warnen.«

»Eine verständliche Überlegung, aber nicht zutreffend«, erwiderte Nimor und trank einen tiefen Schluck aus seinem Kelch, während er den Augenblick auskostete. »Gromph wird sicher bald gesucht werden. Doch statt den arkanen Blick auf das Unterreich zu werfen, ob sich von dort der Feind nähert, wird jeder Meister Sorceres ergebnislos nach dem Erzmagier suchen und dabei gegen seine Kollegen arbeiten. Während sich die Armee des Kronprinzen nähert, ist der Blick der mächtigsten Magier der Stadt starr auf die eigenen Reihen gerichtet, und mancher von ihnen wird danach streben, Kollegen zu töten, wenn so die Chance entsteht, den frei gewordenen Platz des Erzmagiers einzunehmen.«

»Die Meister Sorceres werden sicherlich ihren Ehrgeiz zurückstellen, wenn ihnen klar wird, in welcher Gefahr sie schweben«, sagte der Kronprinz und hielt Nimor mit einer knappen Geste davon ab, etwas zu erwidern. »Ja, ich weiß, Ihr werdet sagen, daß ihnen das womöglich gar nicht klar ist. Dennoch wären wir gut beraten einzukalkulieren, daß wir auf eine organisierte und gut geführte magische Verteidigung in der Stadt stoßen könnten. Trotz allem war das ein guter Schlag.«

Er erhob und schob sich zwischen den Gutsherrn und Wachen hindurch zum Kartentisch, wobei er Nimor bedeutete, ihm zu folgen. Der Assassine begab sich auf die andere Seite des Tisches, um von dort den Ausführungen des Duergar-Herrschers zuzuhören. Mit einem Finger zeichnete Horgar ihre Route nach.

»Wenn die Magier Menzoberranzans unser Herannahen nicht bemerken«, sagte Horgar, »dann erhebt sich die Frage, an welchem Punkt ihnen klar wird, daß ihnen Gefahr droht.«

Gutsherr Borwald drängte sich an eine Seite des Tisches vor und wies auf eine Stelle, an der zwei Höhlen zusammentrafen.

»Angenommen, wir begegnen nirgends einer Drow-Patrouille, dann ist diese Höhle, die den Namen Rhazzts Dilemma trägt, der Punkt, an dem wir zum ersten Mal auf den Feind treffen werden. Die Menzoberranzanyr haben dort schon vor langer Zeit einen Außenposten eingerichtet, um den Weg im Auge zu behalten, da er als einer von nur wenigen einer Armee genug Platz bietet. Unsere Vorhut sollte in fünf Tagen dort ankommen. Danach gabelt sich unser Weg, und wir müssen die erste Entscheidung treffen. Wir können nach Norden zwischen den Säulen des Leids hindurchziehen oder sie westlich umgehen, was unseren Marsch mindestens um sechs Tage verlängert. Die Säulen werden wahrscheinlich gegen uns gerichtet werden und könnten uns auf unbestimmte Zeit aufhalten.«

»Die Säulen des Leids ...«, sagte Horgar und zog an seinem eisengrauen Bart, während er die Karte betrachtete. »Wenn die Drow erfahren, daß wir auf dem Weg sind, werden sie zweifellos mehr Truppen nach dort verlegen und den Paß gegen uns verteidigen. Daher taugt dieser Weg nichts. Wir werden in westlicher Richtung weiterziehen müssen, um uns seitlich zu nähern. Es läßt sich nicht vermeiden, daß durch diese Vorgehensweise unser Marsch länger dauert.«

»Ich bin der Meinung, Ihr solltet den direkteren Weg nehmen«, warf Nimor ein. »Der Weg durch die Säulen des Leids spart Euch sechs Tage, und wenn Ihr Euch erst einmal auf der anderen Seite befindet, werdet Ihr vor der Tür nach Menzoberranzan stehen. Der Weg über die westlichen Pässe führt durch weit unwegsameres Gelände.«

Der Duergar-Fürst schnaubte verächtlich und gab zurück: »Womöglich seid Ihr dort noch nicht gereist. Ihr habt einen schwierigen Weg gewählt, wenn es Euer Plan ist, Euch durch die Säulen des Leids zu kämpfen. Die Schlucht wird dort eng und führt steil nach oben. Zwei mächtige Säulen versperren das obere Ende, zwischen ihnen führt nur ein schmaler Weg hindurch. Selbst eine kleine Drow-Streitmacht kann es beliebig lange halten.«

»Ihr könnt vor den Menzoberranzanyr bei den Säulen sein«, sagte der Assassine. »Ich werde Euch den Außenposten bei Rhazzts Dilemma ausliefern. Wir werden den Verteidigern dieses Außenpostens Gelegenheit geben zu melden, daß eine Duergar-Streitmacht vorrückt. Doch noch während die Nachricht den Muttermatronen überbracht wird, wird Eure Streitmacht voreilen, um bei den Säulen des Leids eine tödliche Falle vorzubereiten. Dort werdet Ihr die Armee vernichten, die von den Herrschern dorthin geschickt wird, um die schmale Öffnung zu verteidigen.«

»Wenn Ihr uns den Außenposten ausliefern könnt, warum wollt Ihr dann den Soldaten dort Gelegenheit geben, eine Warnung weiterzugeben?« brummte Borwald. »Es ist doch besser, wenn wir so lange wie möglich unentdeckt bleiben.«

»Das Wesen der Täuschung«, erklärte Nimor, »besteht nicht darin, dem Gegner Informationen vorzuenthalten, sondern ihm zu zeigen, was er zu sehen erwartet. Auch wenn wir einen erfolgreichen Schlag gegen die Magier der Stadt geführt haben, werden sie früher oder später merken, daß wir uns der Stadt nähern. Daher ist es am besten, wenn wir die Kontrolle darüber haben, unter welchen Umständen von der Armee des Kronprinzen berichtet wird, da wir so ihre Reaktion einschätzen können.«

»Das klingt faszinierend. Fahrt fort«, forderte Horgar ihn auf.

»Die Soldaten Menzoberranzans erwarten, daß jede Armee, die sich auf diesem Weg nähert, durch das Bemühen aufgehalten werden muß, Rhazzts Dilemma einzunehmen, was der Stadt Zeit gibt, diesen neuralgischen Punkt an den Säulen des Leids ausreichend zu besetzen, damit jeder weitere Angriff unterbunden wird. Ich schlage vor, Ihr gestattet dem Außenposten, Meldung zu machen und die Herrscher Menzoberranzans vor Eurer Armee zu warnen. Ehe die Muttermatronen eine Armee aufstellen können, die gegen Euch marschiert, werden wir Rhazzts Dilemma bereits im Sturm eingenommen haben. Dann warten wir ab, um den Aufmarsch der Drow bei den Säulen des Leids zu stoppen.«

»Euer Plan weist zwei grundlegende Schwachpunkte auf«, grinste Borwald verächtlich. »Erstens geht Ihr davon aus, daß der Außenposten eingenommen werden kann, wann immer wir das wünschen. Zweitens scheint Ihr zu denken, die Muttermatronen würden sich entschließen, eine Armee zu entsenden, statt sich auf eine Belagerung einzurichten. Es würde mich interessieren, wie Ihr diese beiden Meisterleistungen vollbringen wollt.«

»Ganz einfach«, erwiderte Nimor. »Der Außenposten wird fallen, weil ein Großteil der Garnison in die Stadt verlegt wurde, um dort für Ordnung zu sorgen. Von den Soldaten, die verblieben sind, gehören viele zu den Agrach Dyrr. Darum dränge ich darauf, diesen Weg zu nehmen, um anzugreifen. Der Außenposten wird an Euch verraten werden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«

»Ihr wußtet davon, noch bevor wir aufgebrochen sind«, stellte Horgar fest. »In Zukunft werdet Ihr mich derlei früher wissen lassen. Was wäre geschehen, wenn Ihr während des bisherigen Marschs irgendeinen Unfall erlitten hättet? Wir müssen genau wissen, welche Art von Hilfe wir von Euch bekommen und wann das jeweils der Fall sein wird.«

Nimor lachte. »Es wäre für die weitere Dauer unserer Freundschaft gut, Prinz Horgar, wenn Ihr Euch von Zeit zu Zeit darüber wundert, wie hilfreich ich sein kann.«


Halisstra erhob sich aus ihrer Trance und stellte fest, daß sie durchgefroren und naß war. Über Nacht hatte sich eine dünne Schicht aus ekligem Stoff über den Wald gelegt, bei dem es sich wohl um Schnee handelte. Auch auf den Zweigen lag diese nasse, kalte Masse, die so leuchtend weiß war, daß sie fast so blendete wie die Sonne. Das Erstaunen über diese Entdeckung ließ aber rasch wieder nach, nachdem ihr klar geworden war, daß es dieser Schnee war, der ihre Kleidung und sogar ihren Piwafwi naß und eiskalt hatte werden lassen. Echter Schnee entpuppte sich für sie als ein weit weniger ansprechendes Phänomen, als es die Bücher in der Bibliothek ihres Hauses dargestellt hatten.

Hoch über ihr war der Himmel wieder grau verhangen, aber etwas heller als am Vortag – und damit wieder so hell, daß er den Drow in den Augen schmerzte. Da Quenthel nicht darauf bestanden hatte, noch im Sonnenschein loszuziehen, hatte Pharaun Zeit genug, sich zu erholen und sich seinen Zaubern zu widmen. Die meiste Zeit des Tages verbrachten sie abgeschirmt vom Sonnenschein in der Höhle, die ein Stück vom Eingang entfernt lag. Erst am späten Nachmittag machte sich die Gruppe zum Weitermarschieren bereit, als die Sonne bereits wieder unterging.

»Erinnert mich daran, daß ich mich später mit Methoden befasse, wie man diesen infernalischen Himmelskörper auslöschen kann«, meinte Pharaun und blinzelte zu den Wolken, die weiteren Schnee versprachen. »Er ist immer noch irgendwo da oben hinter diesen segensreichen Wolken und verbrennt meine Augen.«

»Ihr seid nicht der erste unserer Art, der das Licht als schmerzhaft empfindet«, gab Quenthel zurück, »und je länger Ihr Euch beklagt, um so mehr macht es mir zu schaffen. Also hört auf zu jammern und widmet Euch lieber Eurem Zauber.«

»Natürlich, beeindruckendste aller Herrinnen«, sagte Pharaun in bissigem Tonfall.

Er wandte sich ab und eilte hinüber zu den schneebedeckten Felsen und Findlingen, ehe Quenthel eine angemessene Erwiderung einfiel. Die Baenre murmelte halblaut einen finsteren Fluch und wandte sich auch ab, um Danifae zuzusehen, die Quenthels Matte und Decken in ihrem Rucksack verstaute. Die anderen schwiegen und gaben sich mit dem Zusammenpacken beschäftigt, um vorzugeben, sie hätten von dem Wortwechsel zwischen Quenthel und Pharaun und von Quenthels Verhalten gegenüber der Kriegsgefangenen nichts mitbekommen.

Halisstra nahm ihr Gepäck und folgte Pharaun durch das Schlundloch auf den verborgenen Pfad entlang der Mauer, der bis auf Waldniveau anstieg. Als sie auf der Lichtung stand, die jene tiefer gelegene Stelle umgab, an der der Höhleneingang unter dem Fels hervorkam, wurde ihr bewußt, wie dicht und erdrückend der Wald wirkte. Wohin sie auch sah, standen Bäume und Büsche dicht an dicht und bildeten eine grüne Mauer, die überall gleich aussah. Nichts markantes war zu sehen, kein ferner Gebirgszug, an dem sie sich orientieren konnte, kein geordnetes System aus sandbedeckten Straßen, auf denen man sich fortbewegen konnte. Selbst in den verwinkeltsten Höhlen des Unterreiches gab es nur eine Handvoll Richtungen, in die man sich bewegen konnte – vor oder zurück, links oder rechts, aufwärts oder abwärts. Im Wald dagegen konnte man jede beliebige Richtung einschlagen und kam immer irgendwo an. Das war ein ungewohnter Gedanke, der ihr Unbehagen bereitete.

Nachdem sie den bewaldeten Hügel betrachtet hatte, wandte sie sich zu Pharaun um. Auch der Rest der Truppe stand oder hockte da und sah ihn an.

»Wenn ich etwas sage«, erklärte Pharaun, der den Blick auf die Bäume gerichtet hatte und über die Schulter zu den anderen sprach, »ganz gleich was, dann merkt es Euch gut, denn es kann sein, daß ich nicht genau verstehe, was ich sehe.«

Er breitete die Arme aus, schloß die Augen und wiederholte unablässig schroffe Silben arkaner Macht, während er sich langsam im Kreis drehte.

Das geisterhafte Gefühl wirkender Magie erfaßte Halisstra. Es war so nah, daß es fast greifbar schien, zugleich war es unendlich weit entfernt. Ein seltsamer kalter Wind kam auf, wehte seufzend durch die Baumwipfel, die sich mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung bogen, und wurde abrupt stärker. Schnee löste sich von den Ästen und Zweigen und fiel zu Boden, während der befremdliche Wind laut heulend zum wütenden Sturm anschwoll. Halisstra schirmte mit einer Hand ihre Augen gegen den umherwirbelnden Staub und Schmutz ab und hörte, wie Pharauns Stimme tiefer und gewaltiger wurde, da der Zauber ein Eigenleben zu entwickeln begann und sich aus seiner Kehle zu reißen schien. Sie verlor den Halt und rutschte weg, bis sie sich auf ein Knie stützen und wieder Halt finden konnte. Ihre Haare peitschten um ihren Kopf wie ein Lebewesen mit eigenem Willen.

Die Magie von Pharauns Erkenntniszauber trug ihn in die Lüfte. Mit nach wie vor ausgestreckten Armen drehte er sich im Wind, der ihn umgab. Seine Augen waren leer und schimmerten silbern, sein Blick war gen Himmel gerichtet. Ein Nimbus aus grüner Energie begann sich um Pharauns Körper zu bilden, und er stieß ein lautes Geheul aus. Blitze aus smaragdenem Feuer brachen aus dem ihn umgebenden Lichtkranz hervor und bohrten sich Rapieren gleich in die Felsen ringsum, als seien sie aus zartem Fleisch. Im nächsten Augenblick barsten sie unter ohrenbetäubendem Lärm. Dort, wo die grünen Blitze eingeschlagen waren, hatte sich im zertrümmerten Stein eine schwarze Rune oder ein Symbol gebildet, als sei es mit Säure eingebrannt worden. Allein ihr Anblick ließ Halisstras Augen schmerzen, und von hoch oben über dem Boden der Lichtung begann Pharaun in einer gräßlichen Stimme zu sprechen, die Wind und Donner übertönte.

»Fünf Tage westlich von hier gibt es einen kleinen Fluß«, sprach der Magier. »Wendet Euch nach Süden und folgt dem dunklen, schnellen Wasser stromaufwärts für einen weiteren Tag, bis Ihr an die Tore der Minauth-Feste gelangt. Der Diener Vhaerauns lebt dort. Er wird Euch helfen und Euch betrügen, doch keines von beidem so, wie Ihr erwartet. Jeder von Euch bis auf einen wird Verrat begehen, ehe Eure Reise beendet ist.«

Der Zauber war vorüber. Der Wind legte sich, die grüne Energie verflog, und Pharaun sackte so schnell zu Boden, als sei er von einem Dach gestürzt. Der Magier traf ungelenk und hart auf dem Grund auf und landete mit dem Gesicht im Schnee. Als der Nachhall der Gewalt seines Zaubers sich im verschneiten Wald verlor, verblaßten auch die in den Stein gebrannten Runen und Symbole und zerfielen zu winzigen schwarzen Staubflocken, die im nächsten Moment verschwunden waren.

Die anderen in der Gruppe warfen einander finstere Blicke zu.

»Jetzt verstehe ich, warum er diesen Zauber so ungern wirkt«, kommentierte Ryld. Er trat einen Schritt vor und packte Pharauns schwach winkenden Arm, drehte ihn auf den Rücken und untersuchte ihn auf äußerlich erkennbare Verletzungen. Pharaun sah auf und brachte ein flüchtiges Grinsen zustande.

»Gute und schlechte Nachrichten, würde ich sagen«, meinte er. »Tzirik scheint noch zu leben.«

»Die Anweisungen waren eindeutig«, sagte Valas. »Ich glaube, ich kann uns in eine ausreichend westliche Richtung führen.«

»Was habt Ihr mit den letzten Worten gemeint?« wollte Jeggred wissen, der von Valas keine Notiz nahm. »Was den Verrat angeht?«

Der Draegloth ballte die Fäuste.

»Daß jeder von uns jemanden verraten wird? Da könnte ich nur raten«, sagte Pharaun. Er hustete und setzte sich auf. Mit einer Handbewegung bedeutete er Ryld, daß er keine weitere Hilfe benötigte. »Es liegt in der Art dieser Magie, derart kryptische Vorhersagen zu machen, bedrohliche kleine Rätsel, bei denen man kaum hoffen kann, sie zu lösen, bis einem auf einmal bewußt wird, daß das gefürchtete Ereignis bereits hinter einem liegt.« Er stieß ein trockenes Kichern aus. »Wenn nur einer von uns in nächster Zeit keinen schockierenden Verrat zu begehen vorhat, dann wüßte ich gerne, wer da so nachlässig ist. Er wird unseren Ruf schädigen, wenn er nicht aufpaßt.«

Halisstra betrachtete den Rest der Gruppe, sah die ausdruckslosen Gesichter und die nachdenklichen Blicke. Danifae reagierte mit einem flüchtigen Lächeln und ließ ihre Augen für einen winzigen Moment zu Quenthel zucken. Es war eine so winzige und verstohlene Geste, daß niemand außer Halisstra sie wahrnehmen konnte.

Auch wenn der Magier die exakten Worte seines Erkenntnis-Zaubers wie beiläufig abtat, war sie nicht erfreut über die Aussicht, daß jeder ihrer Gefährten in nächster Zeit irgendeinen Verrat begehen würde. Oder jeder bis auf einen. Nur weil Halisstra im Moment nicht vorhatte, jemanden zu verraten, bedeutete das nicht zwangsläufig, daß sie nicht doch eine Gelegenheit nutzen würde, die sich ihr bieten mochte. Schließlich hatte sie es bis zur Ersten Tochter des Hauses Melarn geschafft, weil sie einen erbarmungslosen Instinkt für solche Dinge besaß. Wäre Ched Nasad nicht zerstört worden, wäre zweifellos irgendwann der Augenblick gekommen, an dem sie einen Plan gegen ihre Mutter geschmiedet hätte, um die Führung des Hauses für sich zu beanspruchen. Matrone Melarn hatte auf die gleiche Weise und aus dem gleichen Motiv vor Jahrhunderten den Platz von Halisstras Großmutter eingenommen. Es war Lolths Art.

»Nun«, sagte Pharaun und erhob sich noch immer zitternd. Der Magier nahm sehr behutsam von Ryld sein Gepäck entgegen. »Wie es scheint, habe ich ein Ziel vorgegeben. Wo ist Westen, Meister Hune?«

Valas wies mit einem Kopfnicken zu einer Seite der Lichtung und erwiderte: »Es gibt eine Reihe von Wildfährten, die mehr oder weniger der untergehenden Sonne folgen.«

»Kommt«, sagte Quenthel. »Je eher wir aufbrechen, desto früher kommen wir an. Ich will keine Stunde mehr als nötig in diesem vom Licht versengten Land zubringen. Meister Hune, Ihr werdet Euren gewohnten Platz als unser Führer einnehmen. Meister Argith, Ihr begleitet ihn. Halisstra, Ihr bildet die Nachhut und achtet darauf, daß uns niemand folgt.«

Halisstra zog die Brauen zusammen und trat von einem Fuß auf den anderen. Was sie tun sollte, schien ihr eher eine Aufgabe für einen Mann zu sein. In den letzten Tagen hatte Jeggred die Nachhut gebildet. Ihr entging nicht, daß Jeggred durch die neue Marschordnung nun dicht bei Quenthel war, um die Baenre bei einem Angriff zu beschützen. Ebenso war ihr aufgefallen, daß Quenthel sowohl Valas als auch Ryld mit »Meister« angesprochen hatte, während sie selbst von ihr nur »Halisstra« genannt worden war.

Natürlich wäre es sinnlos gewesen, Protest einzulegen, also wartete sie, bis sich die Gruppe aufgestellt hatte, um Valas zu folgen. Sie nahm die Armbrust von der Schulter und stellte sicher, daß sie sofort einsatzbereit war. Nachdem die Gruppe gut fünfzig Schritt zurückgelegt hatte, machte sich Halisstra daran, den anderen zu folgen.

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