Halisstra und Ryld spielten zwei Partien auf einem kleinen Reisespielbrett, das der Waffenmeister in einer Gürteltasche mit sich trug. Ryld gewann beide Partien, jedoch setzte ihn Halisstra im Spiel schwer unter Druck. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Sava gehabt, doch sie merkte früh, daß sie es mit einem Meister des Spiels zu tun hatte. Viele Stunden verstrichen in der Dunkelheit, ohne daß es ein Zeichen dafür gab, daß die Lamien ihr Versteck ausfindig gemacht hatten.
Ich kann nicht glauben, daß sie uns nicht gefolgt sind, merkte Halisstra nach dem Ende der zweiten Partie an.
Ich vermute, wir haben viele ihrer liebsten Untergebenen getötet. Die Lamien sind sehr sorglos mit dem Leben ihrer Sklaven umgegangen. Vielleicht haben sie nicht mehr genug, um die Stadt gründlich nach uns zu durchsuchen. Ryld lächelte. Wir haben auch einige Lamien getötet. Vielleicht sind sie gar nicht versessen darauf, uns zu finden.
Hauptsache, sie lassen uns in Ruhe, erwiderte Halisstra.
Als sie keine Lust mehr hatte, Sava zu spielen, wurde ihr bewußt, daß sie entsetzlichen Hunger hatte. Vor Sonnenaufgang hatten sie ein Frühstück zu sich genommen, das aus den wenigen aus Ched Nasad mitgenommenen Vorräten bestand, doch Halisstra war sicher, daß sich der Tag dem Ende näherte. Drow konnten Entbehrungen besser als die meisten anderen Lebewesen aushalten, doch ein schwerer Kampf gefolgt von stundenlangem Wachen hatte sie körperlich erschöpft.
Ich verhungere, bedeutete sie Ryld. Es scheint alles ruhig zu sein. Ich werde zum Lager zurückhuschen und Vorräte holen. Bleibt wachsam.
Ryld nickte und flüsterte: »Beeilt Euch.«
Halisstra erhob sich und zog ihren Piwafwi eng um sich. Im Gang war es ruhig und finster, so wie schon seit Stunden. Sie schlich so lautlos wie möglich zurück in den Saal, in dem die anderen darauf warteten, daß Pharaun seine Zauber vorbereitete. Von vorn drangen Stimmen zu ihr. Quenthel und Danifae unterhielten sich.
Eine düstere Vorahnung huschte wie ein finsterer Schatten über Halisstras Herz, denn als sie einen Augenblick darüber nachdachte, fiel ihr kaum etwas ein, worüber sich Danifae und Quenthel unterhalten konnten.
Ich hätte sie nicht allein lassen sollen, schalt sie sich. Ich ließ mich von Quenthel herumkommandieren wie ein Mann!
Langsam schlich sie weiter, ein lautloser Schatten in der Finsternis. Sie sah Pharaun, der in eine Decke gewickelt dasaß, vertieft in seine Träumerei, gegen die Wand gelehnt und die Augen halb geschlossen. Quenthel und Danifae saßen dicht zusammen, ein wenig von Pharaun abgewandt, womit sie sich in der Nähe des Gangs aufhielten, in dem Halisstra stand und lauschte.
»Was glaubst du, was du tun wirst, wenn wir nach Menzoberranzan zurückkehren? Glaubst du, dort wartet auf deine Herrin ein hoher Posten?« fragte Quenthel mit verächtlichem, spöttischem Tonfall.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Danifae nach einer Weile. »So weit habe ich nicht gedacht.«
»Unsinn! Du denkst intensiv nach, seit ich dich zum ersten Mal im Audienzsaal des Hauses Melarn sah. Ich wage sogar zu raten, was in diesem Augenblick in deinem Kopf vorgeht! Du fragst dich, wie du es schaffen kannst, mit Halisstra Melarn als deine Kriegsgefangene ins Haus Yauntyrr in Eryndlyn zurückzukehren.«
»Ich würde nie wagen, so etwas zu denken ...«
Quenthel lachte gehässig. »Spar dir deine unschuldigen Proteste für jemanden, der leichtgläubiger ist als ich. Du hast noch immer nicht meine Frage beantwortet. Warum sollte ich dich und deine Herrin nach Menzoberranzan mitnehmen?«
»Meine Hoffnung ist«, sagte Danifae mit versagender Stimme, »daß ich eine Gelegenheit bekomme, Euch zu zeigen, von welchem Nutzen ich für Euch sein kann, damit Ihr entscheidet, mir die Chance zu geben, Euch zu dienen.«
»Wie ich sehe, antwortest du diesmal nicht für deine Herrin«, schnaubte Quenthel. »Ich soll deine treulose Anmaßung also damit belohnen, dich im Haus Baenre zu schützen, wenn ich doch weiß, daß du nichts weiter bist als eine opportunistische Natter, die ihre Herrin in dem Moment im Stich läßt, wenn ihr der Sinn danach steht?«
»Ihr urteilt falsch«, sagte Danifae. »Die Tradition, die besten und nützlichsten Adligen eines besiegten Hauses aufzunehmen, ist bei meinem Volk eine Lebensart. Meine Herrin und ...«
In diesem Moment zischten und zuckten die Vipern an Quenthels Peitsche dicht vor Danifaes Gesicht und brachten sie zum Schweigen.
»Ich glaube«, entgegnete Quenthel, »ich urteile richtig. Du bist ein einfältiges Kitz, dem es an der Kraft fehlt, sich davor zu bewahren, die Sklavin einer anderen zu werden. Du bist für mich nichts weiter als nutzloser Schmuck – oder aber du bist eine sehr geduldige und geschickte kleine Speichelleckerin, womit du für mein Haus auch nicht von Nutzen wärst.« Sie lehnte sich zurück und grinste Danifae an. »Vielleicht sollte ich Halisstra von dieser Unterhaltung in Kenntnis setzen. Ich bezweifle, daß deine Herrin erfreut wäre zu erfahren, was du alles in ihrem Namen annimmst. Es geziemt sich nicht.«
»Das ist Euch vorbehalten, Herrin«, sagte Danifae und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an. »Ihr könnt mit mir verfahren, wie Ihr wollt. Ich kann mich Euch nur zur Verfügung stellen.« Sie hob den Kopf und leckte sich die Lippen. »In meiner Gefangenschaft habe ich verstehen gelernt, was es bedeutet, Macht über einen anderen auszuüben. Wenn ich nicht selbst solche Macht ausüben kann, dann bleibt mir nur, mich in die Obhut einer Frau zu begeben, die diese Dinge auch versteht. Halisstra Melarn ist meine Herrin, aber nur, solange Ihr wollt. Wenn der Zeitpunkt kommt, da Ihr über diese Angelegenheit entscheiden wollt, dann bete ich dafür, daß Ihr mir Gelegenheit gebt, Euch meine Nützlichkeit zu demonstrieren und als Eure Sklavin zu leben. Ihr versteht es weit besser als meine Herrin, Macht auszuüben.«
»Hör auf mit deinen sinnlosen Schmeicheleien, Mädchen«, fuhr Quenthel sie an, erhob sich und baute sich bedrohlich und mit einem Lächeln auf den Lippen vor der Dienerin auf. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich sehe, was sich hinter deinem schönen Gesicht abspielt. Außerdem ist die Wertschätzung des Schweigens die einzige Tugend, die ich bei denen als angenehm empfinde, die ich unter meine Obhut nehme.«
»Ich flehe Euch an, Herrin«, murmelte Danifae. Sie beugte sich vor, um das Gesicht an Quenthels Oberschenkel zu schmiegen, und schlang mit geschlossenen Augen die Arme um die Knie der Baenre. »Ich täte alles, um Eure Gunst zu erlangen. Ich flehe Euch an.«
Quenthels schlangenköpfige Peitsche wand sich und vergrub sich in Danifaes silbernem Haar. Die Herrin der Akademie stand schweigend da und lächelte noch immer kühl. Als sie nach unten griff und mit einer Hand sanft Danifaes Kinn anhob, beugte sie sich zugleich vor und sah ihr tief in die Augen.
»Hör zu«, flüsterte Quenthel. »Ich weiß genau, welches Spiel du spielst, aber du wirst nicht gewinnen. Die Frauen des Hauses Baenre sind aus härterem Zeug gemacht als die des Hauses Melarn. Genieße jeden Herzschlag, dummes Mädchen, denn in dem Augenblick, in dem ich dich nicht mehr amüsant finde, endet dein Leben.«
Quenthel löste sich aus der Umklammerung und entfernte sich, um wieder ungeduldig in der Kammer auf und ab zu gehen. Danifae erhob sich und kehrte dorthin zurück, wo sie sich befunden hatte, als Halisstra gegangen war. Sie kniete sich huldvoll hin und sammelte sich, um zu warten.
Halisstra atmete im Schatten des Gangs langsam aus und zwang ihre Gliedmaßen, wieder Ruhe zu finden. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie sich angespannt hatte.
Was soll ich damit anfangen? überlegte sie.
Mehr als einmal hatte sie sich in den vielen Jahren Danifaes Schönheit bedient, um sich eine Gunst zu sichern. Wenn sie Danifae zur Rechenschaft zog, wieso sie es gewagte hatte, in Halisstras Abwesenheit auf Quenthel zuzugehen, dann konnte sie sich die Antwort schon jetzt denken. Danifae würde behaupten, sie habe nur herausfinden wollen, wie Quenthel zu Halisstra stehe, indem sie die bröckelnde Loyalität zum Haus Melarn vortäuschte – eine plausible Entschuldigung, um sich Quenthel unter diesen Umständen zu nähern. Danifae konnte darauf beharren, sie habe Quenthel nur gesagt, was sie hatte hören wollen, um in Erfahrung zu bringen, ob es für sie und ihre Herrin einen Platz im mächtigen Haus der Priesterin gab. Wahrscheinlich würde sie dann eine ganze Reihe unterwürfiger Entschuldigungen folgen lassen und Halisstra bitten, sie zu töten, wenn ihr Handeln aus irgendeinem Grund den Mißfallen ihrer adligen Herrin erregt haben sollte.
Aber war auch anzunehmen, daß Danifae sich nicht unter falschen Voraussetzungen Quenthel genähert hatte? Wenn die Dienerin einen Weg fand, sich von dem Bindezauber zu befreien, der sie zur Gefangenen machte, dann würde sie dafür Quenthels Zustimmung benötigen, da sie ansonsten die Freiheit womöglich auf Kosten ihres Lebens erlangte. Es war durchaus möglich, daß nur die tödliche Launenhaftigkeit einer hochgeborenen Priesterin Danifae davon abhielt, um die Auflösung ihrer Unterwerfung zu bitten. Sollte Danifae ihre Freiheit erlangen und darauf hoffen, daß Quenthel ihr diese Freiheit weiterhin garantierte, dann konnte es durchaus sein, daß die Baenre sich entschied, die Frau allein wegen dieser Anmaßung zu vernichten. Jeder Drow wäre es ein Vergnügen, den Träumen einer Sklavin Nahrung zu geben, um sie dann in einem Augenblick finsterer Lust zu zerschmettern.
Noch vor einem Tag hätte Halisstra Danifae als ihren kostbarsten Besitz bezeichnet. Sie war nicht nur zu unerschütterlicher Loyalität verpflichtet, sondern sie diente sogar als Vertraute, vielleicht sogar als ihre Freundin – auch wenn ihre Treue bloß die Folge eines Zaubers war. Sie hatten vieles geteilt und gemeinsam zahlreiche Intrigen geplant. Danifae war ihr bereitwillig in ihr selbstauferlegtes Exil gefolgt, hatte freiwillig ihre Leiden mitgetragen und ihren Dienst fortgesetzt. Natürlich hätte sie einen schrecklichen Preis dafür gezahlt, wenn sie nach Halisstras Flucht im Haus Melarn geblieben wäre. Aber war sie ihr etwas zu bereitwillig gefolgt?
»Hier stehe ich und habe Angst davor, meine Dienerin zur Rede zu stellen oder zu disziplinieren«, hauchte Halisstra. »Lolth hat mich wahrhaft tief sinken lassen.«
Halisstra hatte die Kälte in ihrem Herzen wieder unter Kontrolle und kehrte behutsam zu Ryld zurück. Der Appetit war ihr vergangen, doch sie durfte keinen Verdacht aufkommen lassen. Also machte sie erneut kehrt und begab sich ins Versteck der Gruppe, wobei sie sich ein leises Schlurfen ihrer Stiefelsohlen auf dem sandbedeckten Steinboden erlaubte, das sich in der Totenstille der Kammer fortpflanzte. Quenthel und Danifae sollten glauben, daß sie nichts mitbekommen hatte, doch von nun an würde sie die beiden noch genauer im Auge haben.
Nimor Imphraezl war auf seinem Weg durch die prachtvollen Paläste und zerklüfteten Stalagmiten von Qu’ellarz’orl, hatte den Piwafwi eng um sich gezogen und die Kapuze hochgeschlagen. Er trug das Abzeichen eines Kaufmanns und gab sich als wohlhabender Bürgerlicher aus, der geschäftlich auf dem Hochplateau der hochmütigsten Adelshäuser Menzoberranzans unterwegs war. Es war keine gute Tarnung, denn jeder, der seine selbstbewußte Gangart und sein schmissiges Auftreten aufmerksam beobachtete, würde ihn auf Anhieb als einen adligen Drow erkennen. Diese Art der Verkleidung war bei hochwohlgeborenen Männern nichts Ungewöhnliches, wenn sie unerkannt bleiben wollten. Mit dem einen oder anderen ihm zur Verfügung stehenden Zauber hätte er so gut wie jedes Aussehen annehmen können, das ihm in den Sinn kam, doch Nimor hatte schon vor langer Zeit entdeckt, daß die einfachsten Tarnungen oft die besten waren. Die meisten Drow-Häuser wurden durch Verteidiger bewacht, die sofort merkten, wenn sich ihnen jemand näherte, der den Schleier einer Illusion um sich gelegt hatte. Eine gewöhnliche Tarnung zu durchschauen, erforderte dagegen einen weltlichen Scharfsinn, den manche Drow vergessen hatten.
Zwei Soldaten der Baenre kamen ihm entgegen und betrachteten ihn neugierig und mit einem gewissen Argwohn. Nimor verbeugte sich tief und sprach einen gefälligen Gruß. Die beiden sahen noch ein- oder zweimal über die Schulter nach ihm, doch dann widmeten sie sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten. Junge Baenre-Männer waren zögerlich geworden, wenn es darum ging, einen Streit vom Zaun zu brechen, es sei denn, sie waren sich ihrer Sache wirklich sicher. Nimor machte auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel noch einen Umweg, damit er sichergehen konnte, daß sie nicht auf die Idee gekommen waren, ihn zu verfolgen. Nach einem letzten scharfen Knick, mit dem er jeden Verfolger abschütteln würde, wandte er sich dem von hohen Mauern umgebenen Palast zu, der nahe dem Zentrum der Hochebene stand, und näherte sich dem festungsähnlichen Tor.
Agrach Dyrr, das fünfte Haus Menzoberranzans, erstreckte sich in und um neun nadelgleiche Felstürme, die am Rand eines großen Grabens gelegen waren. Jeder spitz aufragende Fels war mit seinem Nachbarn durch eine elegante Wand aus mit Diamantspat verstärktem Stein, die unglaublich schlank und extrem fest war, verbunden. Schwebende Strebepfeiler, die Klingen glichen und hübsch anzusehen waren, bildeten eine Verbindung zwischen den natürlichen Türmen und jenen von Drow-Hand geschaffenen, eine dicht gedrängte Ansammlung von Minaretten und Spitzen inmitten der Anlage, die sich viele hundert Meter über der Ebene in die Höhe erstreckte. Eine Brücke ohne Geländer überspannte in einem einzigen eleganten Bogen die Kluft, die das Bauwerk umgab.
Nimor erklomm die Brücke und näherte sich gut sichtbar. Am anderen Ende versperrten ihm mehrere Schwertkämpfer und zwei kompetent wirkende Magier den Weg.
»Halt«, rief der Mann am Tor. »Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«
Der Assassine blieb stehen. Er spürte die unzähligen Mordwerkzeuge, die auf ihn gerichtet waren, als könnte er auf die Idee kommen, irgendeine völlig unangemessene Antwort zu geben.
»Ich bin Reethk Vaszune, Händler in magischen Ingredienzen und Reagenzien«, erklärte er und verbeugte sich, während er seine Arme ausbreitete. »Ich bin vom Alten Dyrr bestellt worden, um über einen Kauf meiner Waren zu sprechen.«
Der Hauptmann am Tor wurde gelassener und sagte: »Der Meister hat uns Euer Kommen angekündigt. Kommt.«
Nimor folgte dem Hauptmann durch eine Reihe ausladender Empfangssäle und hoher, ein deutliches Echo werfender Räumlichkeiten bis ins Herz des Schlosses von Agrach Dyrr. Dort wies der Hauptmann auf einen kleinen Warteraum, der mit exotischen Korallen und Kalkstein kunstvoll ausgestattet war, die alle an die Motive der Kuo-toa angelehnt waren, jener Fischwesen, die in manchen Seen des Unterreiches lebten. Der Raum, der exotisch genug war, um den Reichtum und Geschmack des Hauses zu belegen, strahlte Arroganz aus.
»Ich bin darüber informiert, daß Meister Dyrr in Kürze zu uns stoßen wird«, sagte der Hauptmann der Wache.
Im nächsten Moment öffnete sich lautlos eine Geheimtür in der gegenüberliegenden Wand, dann tauchte der Alte Dyrr auf. Der uralte Magier war wahrhaft alt und auch altersschwach, ein Anblick, wie man ihn von einem Elf nicht gewöhnt war, von einem Drow ganz zu schweigen. Er stützte sich auf einen Stab aus schwarzem Holz, und seine ebenso schwarze Haut schien so dünn und empfindlich wie Pergament. In den Augen des Mannes brannte ein heller, kalter Funke, der andeutete, daß Ehrgeiz und Lebenskraft trotz des hohen Alters noch immer in vollem Umfang vorhanden waren.
»Wir sind erfreut, Euch so schnell wiederzusehen, Meister Reethk«, erklärte der alte Drow mit rauher Stimme. »Hattet Ihr Gelegenheit, die Dinge zu erwerben, über die wir gesprochen haben?«
»Ich denke, Ihr werdet zufrieden sein, Meister Dyrr«, antwortete Nimor.
Er sah den Hauptmann an, der wiederum seinen Blick auf den alten Magier gerichtet hatte, um sicher sein zu können, daß er wegtreten durfte. Dyrr schickte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung fort, dann beschrieb der Magier eine andere Geste und sprach ein arkanes Wort, woraufhin der Raum von einer Sphäre aus wabernder Schwärze umgeben wurde, die wie ein Lebewesen leise fauchte und stöhnte.
»Ich hoffe, du wirst mir vergeben, daß ich Vorkehrungen treffe, um sicherzustellen, daß unsere Unterhaltung unter uns bleibt, Junge«, keuchte der alte Drow. »Lauschen scheint uns in die Wiege gelegt zu sein.«
Er schlurfte zu einem kunstvoll geschnitzten Stuhl und setzte sich langsam hin, wobei es ihm nichts auszumachen schien, daß er damit Nimor sein ungeschütztes Genick als Ziel bot.
»Eine sinnvolle Maßnahme«, sagte Nimor.
Der Alte stellt für mich keine Gefahr dar, dachte der Assassine. Entweder vertraut er mir – was eher unwahrscheinlich ist –, oder er ist sich seiner Sache sehr sicher. Wenn seine Zuversicht so groß ist, daß er sich mit mir hier einschließt, dann hat er keine Vorstellung von meiner Kraft, oder aber ich schätze ihn völlig falsch ein.
»Es ist Zuversicht, Junge«, erklärte der Alte plötzlich, »und du schätzt mich völlig falsch ein, weil wir beide mehr sind, als es den Anschein hat.« Dyrr lachte feucht und rasselnd. »Ich kenne deine Gedanken. Ich bin nicht durch Sorglosigkeit so alt geworden. Nun setz dich. Wir lassen die Spiele bleiben und kommen zum Geschäft.«
Nimor spreizte in einer Geste der Fügung die Hände und nahm gegenüber dem Alten Platz. Sorgfältig ordnete er seine Gedanken und versteckte seine dunkleren Geheimnisse an einem Ort, mit dem er sich nicht befassen würde, solange Dyrr bei ihm war und seine Gedanken las. Statt dessen konzentrierte er sich ausschließlich auf die anstehende Angelegenheit.
»Ihr habt zweifellos vom unerfreulichen Ende der Muttermatrone des Hauses Faen Tlabbar gehört«, sagte der Assassine, »und von ihrer Tochter Sil’zet.«
»Es ist mir nicht entgangen. Die Tlabbars beklagten sich lautstark beim Rat. Was haben sie nur erwartet, zu welcher Reaktion sie die anderen Muttermatronen würden veranlassen können?«
»Vielleicht war die Trauer übermächtig«, gab Nimor zurück.
Langsam griff er in eine Tasche an seiner Seite – so langsam, daß der Magier auf diese Bewegung aufmerksam werden konnte – und holte eine Platinbrosche hervor, die das doppelt geschwungene Symbol Faen Tlabbars aufwies und mit einem dunklen Rubin geschmückt war. Nimor legte sie auf den Tisch.
»Das Hausemblem der Muttermatrone, das ich für Euch als Andenken an mich nehmen konnte. Ich hoffe, Ihr seid gegen jede Ausspähung gut abgeschirmt, Meister Dyrr. Zweifellos werden die Tlabbar all ihre Magie einsetzen, um dieses Emblem zu finden.«
»Dumme Kinder, die im Dunkeln tappen«, murmelte Dyrr. »Vor fünfhundert Jahren hatte ich mehr über die Kunst vergessen, als all deren Magier in ihrer Ausbildung hinweg über Jahre haben entziffern können.«
Er streckte eine fast skelettartige Hand aus und nahm die Brosche an sich.
»Ich bin sicher, Ihr habt Mittel und Wege, um die Echtheit dieser Brosche zu bestätigen.«
»Ich glaube dir auch so, Assassine. Ich glaube nicht, daß du mich betrogen hast, doch werde ich mich zur Sicherheit später noch damit befassen.«
Der Magier legte die Brosche wieder weg und lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten. Nimor wartete geduldig, während Dyrr es sich bequem machte und mit einem seiner langen, schmalen Finger auf seinen Stab klopfte und zufrieden lächelte.
»Nun«, sagte der Alte schließlich. »Bei unserem letzten Treffen verlangte ich von dir, unter Beweis zu stellen, wie lang und wie stark der Arm deiner Bruderschaft ist, indem du einen Feind meines Hauses aus dem Weg räumst, und ich darf annehmen, daß du exakt das getan hast. Jetzt hast du meine Aufmerksamkeit. Was also wollen die Jaezred Chaulssin von Haus Agrach Dyrr?«
Nimor rutschte auf seinem Platz umher und warf dem Magier einen stechenden Blick zu. Dyrr war tatsächlich sehr gut informiert, wenn er diesen Namen kannte. Nur wenigen außerhalb Chaulssins war er bekannt, und Nimor hatte sogar ganz gezielt vermieden, ihn ins Spiel zu bringen, als er mit dem alten Fürsten zum ersten Mal Kontakt aufgenommen hatte. Er fragte sich, welche Hinweise der Magier hatte entschlüsseln können. Auch fragte er sich, ob Dyrr im Besitz dieses Wissens sein durfte.
»Sei nicht voreilig«, warnte Dyrr ihn. »Du hast nichts verraten, was ich nicht schon längst wußte. Ich bin mir schon lange des Hauses der Schatten bewußt.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte Nimor.
»Im Gegenteil, du glaubst, ich prahlte, ohne etwas zu wissen«, widersprach Dyrr kühl lächelnd. »Ich neige nicht zum Bluffen oder Raten. Es ist lange her, daß ich zum ersten Mal auf ein Muster an Aktivitäten aufmerksam wurde, das eine große Anzahl an Städten unserer Rasse einbezog und das auf die Existenz einer geheimen Liga zwischen nur scheinbar schwachen, da niederen Häuser schließen ließ, von denen jedes für das Geschick seiner Assassinen bekannt ist und über die behauptet wird, sie würden von Männern geführt, die alle untereinander heimliche Verbündete sind. Diese Familien, die normalerweise von ihren ehrgeizigen matriarchalischen Rivalen geschluckt worden wären, konnten durch den praktischen, brutalen Tod eines jeden auftauchenden Feindes überleben. Allerdings empfinde ich es als ironisch, daß jedes Haus der Jaezred Chaulssin per Definition von der Stadt, die das Pech hat, es zu beherbergen, als übelste Sorte von Verrätern betrachtet werden muß. Das eigene Haus über die eigene Stadt zu stellen, ist keine besonders ungeheuerliche Sünde. Aber es ist eine andere Sache, wenn man einem Haus in einer anderen Stadt seine Loyalität einräumt, findest du nicht auch?«
Nimor achtete darauf, daß ihm keine unpassenden Gedanken durch den Kopf gingen, als er sagte: »Ihr scheint all unsere Geheimnisse zu kennen.«
Eindringlich betrachtete er Dyrr, während er versuchte, nichts von den Berechnungen erkennen zu lassen, mit denen er sich auf andere Gedanken brachte.
»Nicht alle«, erwiderte Dyrr. »Ich gäbe viel dafür zu erfahren, wie deine Bruderschaft in ihren Häusern für Ordnung sorgt, wo eure wahre Stärke liegt und wer über euren Bund herrscht. Ihr nennt euch nach der Stadt Chaulssin, über die sich vor vielen hundert Jahren ein Schatten legte. Ich frage mich, welche Bedeutung euer Name hat.«
Er weiß mehr, als wir zulassen können, dachte Nimor und sah auf. Ihm wurde bewußt, daß Dyrr diesen Gedanken bemerkt haben mußte. Der Alte betrachtete ihn einfach mit seinem trüben Blick und nickte. Der Assassine bekam seine Gedanken wieder unter Kontrolle und entschied, das Thema zu wechseln.
»Um unserer Freundschaft willen gebe ich mit allem nötigen Respekt zu bedenken, daß es am besten für alle Beteiligten wäre, wenn Ihr mit Eurem Wissen nichts unternehmt, was irgend jemanden aufmerksam werden lassen könnte. Wir sind der festen Überzeugung, daß unsere Geheimnisse am besten das bleiben, was sie sind – geheim.«
»Ich werde tun, was ich will. Jedoch möchte ich mir nicht eure Feindschaft einhandeln. Ich glaube, es wäre unangenehm, die Jaezred Chaulssin zum Feind zu haben.«
»Es wäre nicht unangenehm. Es wäre tödlich.«
»Vielleicht. Jedenfalls werde ich eure Geheimnisse wahren.«
Dann lachte der Alte leise und umklammerte mit seinen ausgezehrten Händen den Stab. »Nun gut, kommen wir zum Geschäft, Junge. Du und deine Freunde, ihr habt mit dem Mord an Muttermatrone Tlabbar, der Feindin meines Hauses, bewiesen, wozu ihr fähig seid. Ich bin beeindruckt. Was wollt ihr?«
»Ich brauche einen Verbündeten in Menzoberranzan, Meister Dyrr, und ich habe den starken Verdacht, daß Ihr dieser Verbündete sein könntet.« Nimor beugte sich vor und grinste. »Es spielen sich Dinge in dieser Stadt ab, die zum Niedergang der Häuser über Euch führen werden. Wenn Ihr Euch entscheidet, daran teilzuhaben, dann werdet Ihr sehen, daß sich dem Haus Agrach Dyrr die große Gelegenheit bietet, weitestgehend so über die Stadt zu herrschen, wie es Euch beliebt. Wir glauben, Ihr könnt uns helfen, Menzoberranzan durch die schwierigen Zeiten zu steuern, die vor uns liegen.«
»Was, wenn wir uns weigern? Werden wir dann sterben?«
Nimor zuckte die Achseln.
»Angesichts der derzeitigen ungewissen Lage«, sagte Dyrr, »habe ich Vorbehalte, mich einer Sache zu verschreiben, über die ich kaum etwas weiß.«
»Verständlich. Ich werde es Euch erklären, doch ich hoffe, daß Ihr es in solch ungewissen Zeiten als weise erachten werdet, aggressiv und entschlossen vorzugehen, um die Gewißheit zu erreichen, an der Euch gelegen ist. Stellt Eure Visionen über die Ereignisse, anstatt zuzulassen, daß die Ereignisse Eure Phantasie einengen.«
»Leicht gesagt, Junge, aber schwierig in die Tat umzusetzen«, meinte Dyrr.
Der Alte versank für eine ganze Weile in tiefes Schweigen und betrachtete mit haßerfülltem, starrem Blick sein Gegenüber. Nimor hielt dem Blick stand, doch er stellte sich abermals die Frage, über welche verborgene Kraft dieser Magier verfügen mochte. Wieder lächelte Dyrr, da er Nimors Gedanken gelesen hatte.
»Nun, Prinz von Chaulssin. Ihr habt meine Neugier geweckt. Erklärt mir präzise, was Ihr meint und was Ihr plant, und dann werde ich Euch sagen, ob das Haus Agrach Dyrr sich hinter Eure mutigen Aktionen stellen kann oder nicht.«
»Kommt zusammen, werte Freunde«, verkündete Pharaun mit einer ausholenden Geste, »dann werde ich Euch einige Dinge erklären, die Ihr besser nicht vergessen solltet, wenn wir uns in den Schatten bewegen.«
Der Magier stand in der Mitte des Raums, die Arme gefaltet, und ließ nach der verzweifelten Flucht des nahezu abgelaufenen Tages keine Spur von Erschöpfung oder Hoffnungslosigkeit erkennen. Er war kurz vor Sonnenuntergang aus seiner Träumerei erwacht und hatte fast eine Stunde damit zugebracht, Dutzende von Zaubern aus seinen gesammelten Bänden vorzubereiten.
Zwar machte sich keiner der Anwesenden die Mühe, sich zu nähern, dennoch richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Pharaun grinste erfreut darüber, daß jeder von ihm Notiz nahm. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, als würde er irgendwelchen Schülern in Sorcere einen Vortrag halten, und begann: »Sobald wir bereit sind, werde ich uns auf einen Weg führen, der am Rand entlangführt – dem Rand der Ebene der Schatten. Wir werden zügig reisen, und kleinere Hindernisse wie verschneite Gebirge, hungrige Monster und dickköpfige Menschen werden kein Thema sein. Ich gehe davon aus, daß wir zehn bis zwölf Stunden marschieren müssen, ehe wir Mantol-Derith erreichen, vorausgesetzt natürlich, ich verlaufe mich nicht und führe Euch alle in ein grausiges Ende auf einer wilden Ebene weit weg von Faerûn.«
»Deine Worte machen mir keinen Mut, Pharaun«, seufzte Ryld.
»Oh, ich habe mich noch nie im Tiefschatten verirrt, und ich kenne auch keinen Magier, dem das je widerfahren ist. Natürlich würde man auch nie wieder von einem Kollegen hören, dem etwas Derartiges widerfährt, daher kann es natürlich sein, daß sich durch einen Fehltritt beim Schattenwandeln das Verschwinden eines jungen Magiers erklären ließe, den ich mal kannte und der ...«
»Zur Sache«, herrschte Quenthel ihn an.
»Gut. Es gibt zwei wichtige Dinge, an die diejenigen unter uns denken müssen, für die dieses Unternehmen eine Herausforderung darstellt. Erstens: Zwar müssen wir uns nicht vor Schwierigkeiten fürchten, während wir uns durch diese Welt bewegen, doch wir genießen keinen speziellen Schutz vor den Gefahren auf der Ebene der Schatten. Es gibt dort Dinge, die sich gegen unsere Durchreise aussprechen werden, wenn sie auf uns stoßen. Ich begegnete selbst einer solchen Kreatur, als ich das letzte Mal auf diese Weise reiste – und fast wäre es für mich das letzte meiner wunderbaren Abenteuer geworden.«
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Zweitens, und das ist das wichtigste überhaupt: Verliert mich nie aus den Augen. Bleibt dicht hinter mir und folgt genau meinem Weg. Wenn Ihr den Kontakt zu mir verliert, während wir uns auf der Ebene der Schatten bewegen, werdet Ihr wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit durch diese düstere Einöde wandern – oder solange, bis Euch irgend etwas Schreckliches verspeist, was wahrscheinlich eher passieren wird. Ich muß mich die ganze Zeit über völlig darauf konzentrieren, den Zauber aufrechtzuerhalten und am Rand entlangzugehen. Also macht Ihr es mir bitte nicht allzuleicht, Euch zu verlieren – es sei denn, ich kann einen von Euch nicht leiden. Dann steht es Euch frei, Euch nach Belieben in Tiefschatten umzusehen.«
»Wird es den Lamien möglich sein, uns zu folgen?« fragte Ryld, der nach wie vor den Gang im Auge hatte, der zu den Ruinen über ihnen führte.
»Nein, es sei denn, sie hätten einen so erfahrenen und netten Magier wie mich, der zudem noch einen Zauber kennt, mit dem es ihm möglich ist, Schattenwandler aufzuspüren – einen Zauber also, der mir nicht bekannt ist.« Pharaun lächelte. »Du wirst in der Lage sein, den Staub von deinen Stiefeln zu schütteln, Freund Ryld. Sorge dich nicht mehr um die Gefahren an diesem Ort hier, sondern spar dir deine Bedenken für das auf, was uns am Rand begegnen könnte.« Pharaun sah sich um und nickte zufrieden. »Nun denn. Faßt Euch an der Hand – ja, das ist gut, Jeggred, du kannst alle gleichzeitig festhalten, nicht wahr? – und wahrt Ruhe, während ich den Zauber wirke.«
Pharaun hob die Hände und murmelte eine Reihe arkaner Silben, als er seinen Zauber durchging.
Halisstra stand zwischen Danifae und Valas Hune und hielt sie an den Händen. Der große unterirdische Gang wurde auf eine seltsame Weise noch finsterer, wenn so etwas in einem unbeleuchteten Raum unter der Erde überhaupt möglich sein konnte. Drow konnten auch in der tiefsten Finsternis noch gut sehen, doch Halisstra kam es vor, als hinge eine Art Nebel in der Luft. Auf den ersten Blick sah es aus, als wäre es Pharaun gerade mal gelungen, die Gruppe mit einem düsteren Schein zu umgeben, doch als sie ihre Umgebung genauer betrachtete, erkannte sie, daß sie sich nicht länger auf Faerûn befand. Ein unnatürlicher Schauder lief über ihre Haut, der von dem kalten Staub unter ihren Füßen ausging. Die hohen, runenüberzogenen Säulen, die den Raum gesäumt hatten, waren zu Zerrbildern geworden, die bizarr über die Kammer hinaus nach oben ragten.
»Seltsam«, murmelte sie. »Ich hatte erwartet, es würde irgendwie ... anders sein.«
»So ist der Schatten, werte Dame«, erwiderte Pharaun. Seine Stimme klang tonlos und weit entfernt, obwohl er keine zwei Meter von ihr entfernt stand. »Die Ebene besitzt keine eigene Substanz. Sie besteht aus den Echos unserer eigenen Welt und denen anderer, fremdartigerer Orte. Wir stehen im Schatten der Ruinen über uns, aber es sind nicht die gleichen Ruinen, durch die wir erst vor kurzem noch gereist sind. Die Lamien und ihre Diener existieren hier nicht. Nun denkt daran, was ich gesagt habe: Bleibt zusammen und verliert mich nicht aus den Augen.«
Der Magier machte sich auf den Weg durch den Gang, der an die Oberfläche führte. Halisstra blinzelte. Er machte nur einen kleinen Schritt, als er sich von der Gruppe wegdrehte, doch im nächsten Moment stand er schon am anderen Ende des Raums, und ein weiterer Schritt brachte ihn bedenklich weit in den Gang davor. Sie beeilte sich, zu ihm aufzuschließen, mußte aber feststellen, daß ein Schritt genügte, um den Raum in Dunkelheit verwischen zu lassen. Sie stand im gleichen Augenblick so dicht vor Pharaun, daß sie sich zwingen mußte, nicht zurückzuweichen und so den Abstand zu ihm nur wieder zu vergrößern.
Pharaun lächelte angesichts ihrer Verwirrung und sagte: »Ich fühle mich von dieser Aufmerksamkeit geschmeichelt, meine Dame, aber Ihr müßt nicht ganz so dicht bei mir bleiben.« Er lachte. »Macht einfach nur dann einen Schritt, wenn ich einen mache, dann werdet Ihr leichter in meiner Nähe bleiben.«
Er machte einige langsame, gemäßigte Schritte und hielt sich zurück, bis der Rest der Gruppe allmählich den Dreh fand. Augenblicke später gingen sie bereits unter einem kalten und sternenlosen Himmel durch die staubigen Straßen von Hlaungadath. Jeder Schritt schien Halisstra zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter auf dem düsteren Gelände voranzubringen. Die schwarzen Umrisse der Ruinen starrten sie an und streckten sich ihnen von allen Seiten entgegen, sie waren dicht über die Straße gebeugt, als wollten sie die Reisenden einschließen, um dann beim nächsten vorsichtigen Schritt zu schwarzen Flecken zu verwischen.
Als sie die Ruinen hinter sich gelassen hatten, hielt Pharaun kurz an, um einen Blick auf die Gruppe zu werfen. Mit einem Nicken deutete er auf die Wüste, die sich im Westen bis zu den eisigen Bergen erstreckte, dann begann er rasch zu marschieren und legte ein Tempo vor, das sein erschöpftes Verhalten und seine Abneigung gegen die Mühen des Reisens Lügen strafte. Halisstra, die nun endlich Gelegenheit bekam, ihre Beine zu strecken, bekam allmählich ein Gefühl dafür, wie schnell sie vorankamen. Nach fünf Minuten hatten sie die nesserische Stadt, die nur noch ein dunkler Fleck in der düsteren Sandlandschaft war, bereits kilometerweit hinter sich gelassen. Nach einer halben Stunde ragten die Berge, die kurz zuvor noch wie ein ferner Zaun aus schneebedeckten Spitzen ausgesehen hatten, wie ein nächtlicher Wall vor ihnen auf. Das Schattenwandeln erleichterte auch die Bewältigung jedes noch so unwegsamen Geländes auf ihrem Weg. Ohne zu zögern machte Pharaun einen Schritt über eine steile Schlucht, als gäbe es sie gar nicht. Die Magie seines Zaubers und die seltsame Ebene, auf der sie sich bewegten, sorgten dafür, daß er seinen Fuß sicher auf die andere Seite des Hindernisses setzen konnte. Die zerklüfteten Hänge zu bezwingen, die hinauf zu den Bergen führten, war nicht mühsamer, als würde man von Stein zu Stein springend einen Fluß überqueren.
»Sagt, Pharaun«, fragte Quenthel nach einer Weile, »warum sind wir Kilometer um Kilometer durch das gefährliche Unterreich gekrochen, um nach Ched Nasad zu gelangen, wenn Ihr mit diesem Zauber unsere Reise deutlich hättet verkürzen können?«
Trotz der Finsternis entlang des Randes des Schattens fühlte Halisstra den Zorn in der Stimme, den die Baenre nur schwer bändigen konnte.
»Aus drei Gründen, liebe Quenthel«, erwiderte Pharaun, ohne seinen Blick von dem unsichtbaren Pfad abzuwenden, dem er folgte. »Erstens habt Ihr mich nicht gebeten, etwas in dieser Art zu machen. Zweitens hatten die Magier Ched Nasads gewisse Vorkehrungen gegen ein Eindringen auf diese oder ähnliche Weise getroffen, und wie ich eben bereits erklärte, ist der Rand ein gefährlicher Ort. Ich habe dies hier erst vorgeschlagen, nachdem wir alle der Meinung waren, ein monatelanger Marsch über die von der Sonne beschienene Oberfläche sei eine noch unerfreulichere Aussicht.«
Quenthel schien über die Antwort Pharauns nachzudenken, während die Berge rasch hinter ihnen zurückfielen und um sie herum verdrehte schwarze Bäume auftauchten.
»In Zukunft«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths, »erwarte ich von Euch, daß Ihr nützliche Informationen oder Vorschläge zu einem früheren Zeitpunkt preisgebt. Euer Widerwille, Ideen mitzuteilen, kann uns das Leben kosten. Ist das das billige Vergnügen wert, das Ihr dabei habt, etwas zu wissen, was wir nicht wissen?«
Die Zähne des Meisters Sorceres leuchteten in seinem dunklen Gesicht, während er weiterging, ohne auf diese Bemerkung einzugehen. Eine Weile richtete er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, sich entlang des Randes zu bewegen. Unter normalen Umständen war Pharaun der geschwätzigste der Gruppe, doch da er sich völlig auf seinen Zauber konzentrieren mußte, verfielen alle Dunkelelfen, die ihm folgten, in ein ungewöhnliches Schweigen. Aufmerksam marschierten sie hinter ihm her und bildeten eine lange Schlange, die dem Magier folgte, während sich die unermeßliche Reise durch die Finsternis dahinzog und Stunden oder gar Tage dauern mochte. Halisstra begann, sich dem sonderbaren Gedanken zu widmen, dies hier sei die wirkliche Welt, die wahre Substanz aller Dinge, und die fade Starrheit ihrer eigenen Welt sei die eigentliche Illusion. Sie stellte fest, daß der Gedanke sie in keiner Weise berührte.
Viel Zeit verstrich, ehe Pharaun die Hand hob und die Gruppe anhalten ließ. Sie befanden sich auf einer kleinen grauen Steinbrücke, die eine tiefe Schlucht überspannte, durch die ein düsterer, gurgelnder Strom verlief. In der Nähe ragten die schwarzen Zinnen einer verlassenen Stadt in den lichtlosen Himmel, ein Ort, der mehr nach einer Festung als nach einer Stadt aussah und dessen massive Mauern von mit Türmen besetzten Toren unterbrochen wurden.
»Wir haben etwa die Hälfte der Strecke bis zu unserem Ziel zurückgelegt«, sagte Pharaun. »Ich schlage vor, wir ruhen eine halbe Stunde aus und nehmen vielleicht eine Mahlzeit zu uns, wenn unsere Vorräte die noch hergeben. Es sollte möglich sein, unsere Vorräte aufzufüllen, wenn wir Mantol-Derith erreichen.«
Ryld wies auf die verlassene Burg und fragte: »Was ist das?«
»Das?« Pharaun warf einen Blick über seine Schulter. »Wer weiß? Vielleicht das Echo einer Stadt an der Oberfläche unserer Welt, vielleicht aber auch der Widerschein einer völlig anderen Wirklichkeit. So ist der Schatten.«
Die Gruppe kauerte sich an die niedrige Steinmauer der Brücke und stellte aus den schwindenden Vorräten ein bemitleidenswertes Mahl zusammen. Die unablässig zu spürende Kälte dieses Ortes entzog Halisstras Körper die Wärme, als verzehrten sich die Steine unter ihren Füßen nach ihrer Lebensenergie. Die Finsternis schlug ihnen allen aufs Gemüt und machte jeden Versuch einer Unterhaltung zunichte. Es war kaum möglich, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Als der Zeitpunkt gekommen war, sich wieder aufzumachen, war Halisstra überrascht, welche völlige Lethargie von ihren Gliedmaßen Besitz ergriffen hatte. Sie wollte sich nur noch zu Boden sinken lassen und einfach von Schatten eingehüllt liegenbleiben. Nur eine gezielte Willensanstrengung machte es ihr möglich, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Sie waren wieder auf dem Weg durch die niemals endende Nacht und hatten die alte Brücke schon weit hinter sich gelassen, als Halisstra spürte, daß sie verfolgt wurden. Zuerst war sie sich nicht sicher. Was immer es war, das ihnen folgte, bewegte sich klammheimlich, und der fehlende Widerhall des Schattens ließ sie nicht sicher sein, ob sie tatsächlich etwas gehört hatte. Etwas schien in der Finsternis zu flüstern und zu kichern, eine Präsenz, die sich mit einer Bewegung der reglosen Luft ankündigte, das leise Rauschen des Windes irgendwo hinter ihnen. Sie wandte sich um und betrachtete den Weg, den sie gegangen waren, um nach dem Verfolger Ausschau zu halten, konnte aber dort nichts weiter sehen als die müden Gesichter ihrer Gefährten.
Valas Hune bildete die Nachhut der Gruppe und sah Halisstra an, als er zu ihr aufschloß.
Spürt Ihr es auch? signalisierte er.
»Was ist es?« fragte Halisstra. »Welche Art von Dingen lebt an einem solchen Ort?«
Der Späher zuckte mit den Schultern. »Irgend etwas, das Pharaun Anlaß gibt, sich zu fürchten, was mich wiederum mit Sorge erfüllt.« Er streckte den Arm und drehte Halisstra um, damit sie den Rest der Gruppe sehen konnte. Entsetzt stellte sie fest, wie weit die anderen sich in den wenigen Augenblicken entfernt hatten, die sie stehengeblieben war. »Kommt, wir wollen nicht zurückgelassen werden. Vielleicht ist das, was uns jagt, damit zufrieden, uns zu verfolgen.«
Sie beeilten sich, um zu den anderen aufzuschließen – und da schlug ihr Verfolger zu. Aus den Schatten hinter ihnen schälte sich eine gewaltige Gestalt, die hoch aufragte und aus reiner Finsternis geschaffen war: ein schwarzer, gesichtsloser Riese, der mehr als sechs Meter groß war. Trotz dieser Größe bewegte er sich schnell und leise auf sie zu. Zwei leuchtende silberne Ovale kennzeichneten die Augen, und lange, spinnenähnliche Klauen griffen nach Halisstra und Valas. Das zischende Flüstern erfüllte die Köpfe der beiden mit gräßlichen Dingen, als würden sich fette, bleiche Würmer durch verwesendes Fleisch fressen.
»Pharaun!« rief Halisstra.
Sie tastete nach ihrem Streitkolben, während sich der Riese näherte. Neben ihr stieß Valas einen Fluch aus und zog seine Klingen, während er die geduckte Haltung eines Kämpfers einnahm. Von der Kreatur ging ein Übelkeit erregender, greifbar kalter Hauch aus, so wie die Kälte, die die gesamte Ebene durchdrang, jedoch war sie in der Gegenwart des Monsters weitaus konzentrierter und boshafter. Der finstere Riese schimmerte und nahm ein fast öliges Aussehen an, dann machte er abrupt einen Satz nach vorn.
Noch ehe Halisstra den anderen eine Warnung zurufen konnte, schickte ein Schlag mit der ausladenden Klauenhand sie zu Boden. Die Kreatur wandte sich ab und richtete ihre fahlen Augen auf Valas. Der Späher von Bregan D’aerthe schrie vor Entsetzen auf und wandte seinen Blick ab, ließ einen Kukri fallen und die Hand sinken, in der er die zweite seiner beiden Klingen hielt.
Jeggred stieß eine Warnung aus und näherte sich mit ausgefahrenen Krallen dem Monster, das aber nur einen einzigen Schlag seiner langen schwarzen Hand benötigte, um den Halbdämon zu Boden gehen zu lassen. Der Draegloth stand sofort wieder auf und sprang vor, um tiefe schwarze Furchen in Oberschenkel und Bauch des Riesen zu schneiden, versuchte, die Kreatur auszuweiden, doch sobald die Klauen des Draegloth sich ein Stück weit in das Fleisch des Dings geschnitten hatten, schlossen sich die Wunden wieder.
»Zurück!« schrie Pharaun. »Es ist ein Nachtwandler. Ihm kann man nur mit mächtiger Magie schaden.«
Der Magier setzte zu einem Zauber an, dann nahm ein greller grüner Lichtblitz Gestalt an und schoß auf die Kreatur zu, um ihren Torso möglichst weit oben zu treffen, doch die verderbliche Energie glitt von der glatten schwarzen Haut der Kreatur ab und fügte ihr keinen Schaden zu.
Deine Zauber sind nutzlos, flüsterte eine finstere, entsetzliche Stimme in Halisstras Kopf. Deine Waffen sind nutzlos. Du gehörst nur, dumme Drow.
»Das werden wir sehen«, knurrte Halisstra.
Sie raffte sich auf und stürmte mit erhobenem Streitkolben vor. Die Waffe war mit einem Zauber belegt, und Halisstra hoffte, sie sei stark genug, um der Kreatur Schaden zuzufügen. Der lange Arm mit den todbringenden Krallen schlug nach ihr, doch Halisstra tauchte unter dem Griff des Monsters weg und hieb auf das Knie des Nachtwandlers. Von einem durchdringenden Krachen und einem Aufblitzen aktinischen Lichts begleitet detonierte die Waffe mit der Gewalt eines Donnerschlags. Der Nachtwandler gab keinen Laut von sich, doch sein Knie gab nach, und er begann zu taumeln.
Quenthels Peitsche schnitt durch die Luft und schnappte nach dem Gesicht der Kreatur. Die Vipern fraßen sich in das finstere Fleisch und rissen große, blutende Wunden. Dennoch schien das Ungeheuer von dem tödlichen Gift, das die Waffe absonderte, nicht angegriffen zu werden. Offenbar konnte selbst das stärkste Gift dem Schattengewebe nichts anhaben.
Ryld wirbelte umher und schlug mit seinem Zweihänder nach der Kreatur. Der Nachtwandler versuchte, ihm die Klinge zu entreißen, doch der Meister Melee-Magtheres tänzelte nach hinten und schlug dem Geschöpf mit einem Hieb die halbe Hand ab. Der Nachtwandler schrie tonlos auf, der erzürnte Schrei schnitt sich durch den Kopf eines jeden in der Gruppe. Die Kreatur nahm von keinem anderen mehr Notiz, sondern richtete ihren haßerfüllten Blick auf Ryld und beschwor aus dem schwarzen Boden unter ihnen einen furchterregenden dunklen Rauch herauf, der jegliche Sicht nahm.
Halisstra tastete sich durch den Nebel zurück und suchte nach dem Monster. Der Rauch brannte wie Vitriol in ihrer Nase und gab ihren Augen das Gefühl, in Flammen zu stehen. Dennoch kämpfte sie sich weiter, bis sie fühlte, daß der Riese vor ihr aufragte. Sie hob den Streitkolben und schlug erneut mit aller Kraft gegen das Bein der Kreatur. Neben sich hörte sie Quenthels Peitsche, hörte, wie sich die Vipern in finsteres Fleisch fraßen. Riesige Krallen schnitten sich durch den Rauch, zerrten an Halisstras Schild und drückten sie zu Boden.
»Hier!« rief sie in der Hoffnung, die anderen mit in den Kampf zu holen, doch die ätzenden Dämpfe brannten wie ein Feuer in ihrer Kehle.
Sie kniff die Augen zusammen und schlug blindlings nach der Kreatur. Der boshafte Wille des Nachtwandlers legte sich wie ein Tuch aus Wahnsinn über sie und versuchte, sie jeglicher Vernunft zu berauben, doch sie widersetzte sich diesem neuerlichen Angriff und schlug weiter nach ihrem Widersacher.
Rylds Schwert schnitt wie eine weiße Rasierklinge durch den Nebel und fügte dem Leib der Schattenkreatur verheerende Wunden zu. Schwarze Flüssigkeit spritzte wie Gift umher, und das Flüstern des Nachtwandlers in den Gedanken der anderen erhob sich zu einem höllischen geistigen Kreischen, das Halisstra an den Rand des Wahnsinns brachte – und dann war mit einem Mal alles ruhig.
Sie spürte, wie sich das Ding abrupt von ihr löste, wie der Leib explodierte und zu einem schwarzen, übelriechenden Nebel wurde, der sich in den Schatten ringsum verflüchtigte.
Halisstra, die wegen der giftigen schwarzen Dämpfe, die von der Kreatur aufgewirbelt worden waren, immer noch nach Luft rang, taumelte aus der Wolke und ging zu Boden. Ihre Brust brannte, als hätte sie Schwefel getrunken. Als sie endlich wieder die Augen öffnen und ihre Umgebung wahrnehmen konnte, stellte sie fest, daß es den anderen nicht viel besser ergangen war.
Ryld hatte sich gegen einen Stein sinken lassen, Splitter ruhte mit der Spitze auf dem Boden vor ihm, und er stützte sich erschöpft auf das Heft. Quenthel stand nur ein kleines Stück von ihm entfernt und hatte die Hände auf den Knien abgestützt, während sie erbärmlich hustete.
Als die Hohepriesterin endlich wieder durchatmen konnte, sah sie zu Pharaun und fragte: »Einem solchen Ding seid Ihr schon zuvor begegnet?«
Der Magier nickte und keuchte: »Nachtwandler. Sie halten sich am Rand auf. Kreaturen aus untoter Finsternis, das personifizierte Böse. Wie Ihr gesehen habt, können sie ein hervorragender Gegner sein.«
Die Herrin der Akademie richtete sich auf und steckte die Peitsche zurück an den Gürtel.
»Ich glaube, ich verstehe, warum Ihr bis jetzt gezögert habt, diese Methode der Fortbewegung vorzuschlagen«, sagte sie dann.
Obwohl der Magier abgekämpft war, strahlte er.
»Vorsicht«, spottete er. »Um ein Haar hättet Ihr meinen Nutzen anerkannt.«
Die Hohepriesterin kniff die Augen zusammen und drückte den Rücken durch. Offenbar gefiel es ihr nicht, Gegenstand eines Witzes aus dem Mund des Magiers zu sein. Pharaun, der scheinbar nichts von Quenthels zornigem Blick mitbekam, machte eine ausladende Geste und zeigte auf die formlose Finsternis, die vor ihnen lag.
»Unser Weg führt uns nun in den Schatten unseres Unterreiches«, erklärte er. »Ich schlage vor, wir verstärken unsere Anstrengungen und kommen schnellstmöglich ans Ende unserer Reise, denn es können weitere Nachtwandler auf uns lauern.«
»Ein verdammt aufmunternder Gedanke«, brummte Ryld. »Wie lange werden wir unterwegs sein?«
»Kaum mehr als ein oder zwei Stunden«, antwortete Pharaun.
Der Magier wartete, bis die Drow sich erhoben hatten und ihm wieder dichtauf folgten. Ryld und Valas, die beiden aus der Gruppe, die dem Blick des Nachtwandlers ausgesetzt gewesen waren, wirkten vor Erschöpfung grau im Gesicht und machten den Eindruck, als könnten sie sich kaum auf den Beinen halten.
»Kommt«, sagte Pharaun. »Mantol-Derith ist nicht Menzoberranzan, aber es wird der zivilisierteste Ort sein, den wir seit Tagen gesehen haben, und niemand dort wird uns töten wollen ... jedenfalls nicht auf der Stelle.«