Halisstra konnte nicht im entferntesten sagen, wie lange sie brauchten, um die Astralebene zu durchqueren. Ihr war zuvor nie bewußt gewesen, in welchem Ausmaß die routinemäßigen Abläufe des Körpers das Verstreichen der Zeit bestimmten. Ihre Astralform wurde weder müde noch hungrig, sie kannte keinen Durst und keine anderen Dinge, auf die sie achten mußte. Ohne die kleinen Dinge, die man erledigte, um den Bedürfnissen des Körpers nachzukommen – ein Schluck aus einem Wasserschlauch, wenn man durstig war; ein kurzer Halt während eines Marsches, um etwas zu essen; ein Stop, um in Trance zu versinken und die grellen Stunden des Tages hinter sich zu bringen –, verlor die Zeit schlicht ihre Bedeutung.
Von Zeit zu Zeit erhaschten sie kurze Blicke auf andere Phänomene als die endlosen perlmutternen Wolken oder die grauen Wirbel, die sich ringsum über den Himmel zogen. Sonderbare Fetzen Materie trieben durch die Astralsee, gelegentlich entdeckten sie Findlinge, Felsstücke oder Erdhaufen, die wie winzige Welten im Raum schwebten. Manche hatten fast die Größe von Bergen, andere maßen nur ein paar Schritt. Die größeren von ihnen zierten eigenartige Ruinen, die das Heim von Astralreisenden oder von vor langer Zeit fortgegangenen Bewohnern zu sein schienen. Das Sonderbarste, was ihnen begegnete, waren wirbelnde Farbteiche, die sich langsam im astralen Medium drehten. Die Farbtöne reichten von hellem, glänzendem Silber bis zum tiefsten Nachtschwarz, durch das sich purpurne Streifen zogen.
»Kommt diesen Teichen nicht zu nahe«, hatte Tzirik sie gewarnt. »Wenn Ihr dort eindringt, werdet Ihr auf eine andere Existenzebene gebracht, und ich habe kein Interesse, mich in fremde Welten zu begeben, nur weil jemand zu sorglos reist.«
»Woher wissen wir, welcher uns zum Abyss führt?« fragte Valas.
»Keine Sorge, mein Freund. Der Zauber, den Vhaeraun mir gewährte, sorgt auch für eine bestimmte Tendenz hin zu unserem Ziel, die ich empfing, als ich meinen Geist auf diese Ebene brachte. Ich führe uns alle mehr oder weniger direkt zum nächsten Farbteich, der unseren Zwecken dienen wird.«
»Wie lange müssen wir noch reisen?« fragte Quenthel.
»Wir kommen näher«, antwortete Tzirik. »Es ist schwer zu sagen, aber ich würde annehmen, daß wir noch vier oder fünf Stunden von unserem Ziel entfernt sind. Wir sind inzwischen fast zwei Tage gereist.«
Zwei Tage? Halisstra kam es nicht annähernd so lang vor.
Sie fragte sich, was wohl in den letzten beiden Tagen in Faerûn geschehen sein mochte. Wachte Jeggred noch über ihre reglosen Körper? Er konnte seine Aufgabe nicht nachlässig erfüllt haben, da sie noch lebten, doch wie viele Tage mochten noch vergehen, ehe sie ihr endgültiges Ziel erreicht, die Göttin um eine Audienz ersucht und die Rückkehr in ihre eigentliche Ebene geschafft hatten?
Gedankenversunken verbrachte sie die Reise schweigsam, bemerkte dabei aber kaum, daß ihre Gefährten sich nicht anders verhielten. Um so mehr überraschte es sie, als Tzirik seinen mühelosen Flug verlangsamte und dann reglos verharrte. Vor ihm befand sich ein schwarzer Wirbel mit silbernen Streifen, der nicht weit von den Reisenden entfernt langsam durch das Astralmedium peitschte.
»Der Eingang zur sechsundsechzigsten Ebene des Abyss«, erklärte der Priester Vhaerauns. »Bislang ist unsere Reise ohne jegliche Zwischenfälle verlaufen, doch sobald wir uns in Lolths Reich begeben, wird sich das ändern. Wenn Ihr Zweifel an Eurer Mission habt, Herrin Baenre, dann wäre dies ein guter Zeitpunkt, sie zu äußern.«
»Ich habe keinen Grund, den Abgrund der Dämonennetze zu fürchten«, gab Quenthel zurück. »Ich beabsichtige zu tun, wofür ich hergekommen bin.«
Ohne auf Tzirik zu warten, schoß sie vor und tauchte in den wirbelnden, pechschwarzen Klecks. Von einem Augenblick auf den anderen wurde ihre strahlende Astralform von dem Mahlstrom geschluckt.
»Sie ist ungeduldig, nicht?« merkte Tzirik an.
Er zuckte kurz die Achseln und begab sich selbst in den Farbteich. Wie Quenthel verspürte auch Halisstra in diesem Moment Gewißheit, und sie wollte sich nicht von irgendwelchen Zweifeln von ihrem beabsichtigten Kurs abbringen lassen. Sie drang in den Teich aus wirbelnder schwarzer Nacht ein, kaum daß Tzirik dort verschwunden war, die Zähne trotzig gefletscht.
Zunächst spürte sie überhaupt nichts, auch wenn der Pfuhl ihr im Augenblick des Eintauchens gänzlich die Sicht nahm. Das Medium schien sich von der Astralebene nicht zu unterscheiden – ein schwereloses, kühles, vollkommenes Nichts –, doch mit einem Mal erfaßte die wirbelnde Strömung des Teiches sie, zog an ihr mit einer befremdlichen, nicht-dimensionalen Beschleunigung, die ihre stoffliche Form in eine Richtung zerrte, die sie nicht einmal annähernd verstand. Es schmerzte nicht, aber es fühlte sich so fremdartig an, so verwirrend, daß Halisstra entsetzt und gequält nach Luft rang und unter der Umklammerung durch den astralen Mahlstrom heftig erbebte.
Lolth, hilf mir! flehte sie stumm in ihrem Geist, während sie mit den Armen ruderte und versuchte, sich aus der wirbelnden Masse zu befreien. Die unbeschreibliche Bewegung hielt noch einen Moment lang an, dann ...
... hatte sie es geschafft.
Halisstra taumelte wie trunken, als die Schwerkraft zurückkehrte, und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, daß sie auf etwas Silbergrauem lag, einer steilen Rampe oder Mauer, die vor ihr bis ins Unendliche abfiel. Die anderen standen ganz in ihrer Nähe und sahen sich schweigend um, während sie sich nervös die Gliedmaßen rieben oder nach ihren Waffen tasteten.
Ringsum gab es nur schwarze, erdrückende Leere, die dunkler und unheilvoller war als die schwärzeste Schlucht im Unterreich. Ein übler, beißender Geruch erfüllte ihre Nasenlöcher, und ein leise murmelnder Luftzug bewegte sich unablässig von unten nach oben. Halisstra sah in den Abyss zu ihrer Linken und sah dort etwas schimmern, einen mattsilbernen Faden, der mehrere Kilometer entfernt war und sich durch die Finsternis zog. Kleinere Fäden kreuzten ihn in unregelmäßigen Abständen, und als sie ihnen mit den Augen folgte, sah sie, daß sie sich langsam nach oben bewegten und mit der Rampe zusammentrafen, auf der sie stand. Die heiße, stinkende Brise wurde stärker und schaffte es dann, den gewaltigen Faden sanft schwingen zu lassen.
»Es ist ein Spinnennetz«, murmelte Ryld. »Ein riesiges Spinnennetz.«
»Überrascht dich das?« erwiderte Pharaun zynisch lächelnd.
Danifae ging ein paar zaghafte Schritte auf dem Faden. Das Ding hatte einen Durchmesser von dreißig oder vierzig Schritt, doch da die Oberfläche rund war, empfand sie es als unangenehm, wenn sie sich mehr als ein Dutzend Schritte vom hochsten Punkt des Fadens bewegte. Sie kniete sich hin und strich mit der Hand über die Oberfläche des Fadens, dann verzog sie das Gesicht.
»Klebrig, aber nicht gefährlich. Außerdem scheint es so, als seien wir wieder vollkommen stofflich.« Sie richtete sich auf und reckte sich ausgiebig. »Habe ich nun zwei Körper? Einen hier und einen in der Jaelre-Burg?«
»Genaugenommen ist das so«, antwortete Tzirik. »Wenn man die Astralsee verläßt und sich auf eine andere Ebene begibt, dann baut der reisende Geist sich den stofflichen Körper, den er erwartet. Man könnte sagen, Euer Geist müsse sich einer Art Verdichtung unterziehen, um auf einer anderen Ebene eine physische Existenz anzunehmen. Wenn Ihr diesen Ort verlaßt, wird Euer Geist auf die Astralebene zurückkehren, während die Hülle, die Ihr für Euch geschaffen habt, verblaßt.«
»Ihr scheint mit den Unbilden der Reisen auf andere Ebenen gut vertraut zu sein«, stellte Halisstra fest.
»Vhaeraun hat mich schon mehrfach in die Ebenen jenseits Faerûns geschickt«, räumte Tzirik ein. »Ich war auch schon hier im Abgrund der Dämonennetze. Alle Götter unserer Rasse sind hier zu Hause, jeder in seinem eigenen Reich innerhalb dieser großen Netzspalte. Mein vorangegangener Auftrag führte mich nicht in Lolths Reich, und er liegt auch schon viele Jahre zurück.«
Quenthel warf ihm einen finsteren Blick zu. »Der gesamte Abgrund der Dämonennetze ist Lolths Reich, Ketzer. Sie ist die Königin über diese Ebene des Abyss, während die anderen sogenannten Götter unseres Volkes hier nur mit ihrer Duldung existieren.«
»Ich bin sicher, daß Ihr korrekt nachgeplappert habt, was Euch Euer Glaube in dieser Angelegenheit vorschreibt, daher werde ich mit Euch nicht über diesen Punkt streiten, Priesterin Lolths. Für unsere Zwecke ist das genaue Verhältnis der Gottheiten untereinander in diesem Pantheon nicht wichtig.«
Tzirik wandte Quenthel den Rücken zu und betrachtete den schwarzen Abgrund rings um die Gruppe. Mit der Hand beschrieb er eine wischende Bewegung.
»Irgendwo unter uns werden wir eine Art Tor oder Grenze finden, die die Stelle markiert, an der sich der Zugang zu Lolths Reich öffnet – das, soweit ich weiß, dem übrigen Abgrund der Dämonennetze recht ähnlich ist, das aber ihren Launen unterworfen ist.«
»Wenn die Ebene unendlich ist, dann könnte der Punkt, den wir suchen, unendlich weit entfernt sein«, merkte Pharaun an. »Wie sollen wir von hier nach dort gelangen?«
»Wenn wir einfach an einem beliebigen Punkt in dieser Ebene materialisiert wären, hättet Ihr recht«, gab Tzirik zurück. »Doch die Astralprojektion ist keine zufällige Reisemethode. Wir sind nicht weit von dem Ort entfernt, den wir suchen – ein Marsch von einer Stunde, höchstens von einem Tag, aber nicht viel weiter. Da wir wissen, daß Lolths Reich am Nadir dieses Ortes gelegen ist, würde ich vorschlagen, daß wir nur an diesem Faden hinabsteigen und an jeder weiteren Verzweigung wiederum den Weg nach unten wählen. Unterwegs sollten wir aber wachsam sein.«
»Es wird noch andere geben«, fügte Quenthel an. »Die Seelen der jüngst Verstorbenen. Wenn Ihr jemanden seht, den Ihr als Verehrer Lolths erkennt, dann werden wir ihm folgen.«
Sofern Lolth sie noch zu sich ruft, dachte Halisstra.
Den anderen schien der gleiche Gedanke durch den Kopf zu gehen.
Der Priester nahm seinen Streitknüppel in die Hand, korrigierte den Griff um seinen Schild, dann machte er sich mit gestrafften Schultern auf den direkten Weg nach unten, den titanenhaften grauen Faden entlang. Die Menzoberranzanyr sahen einander kurz an, folgten Tzirik dann aber auf der steilen Netzsäule.
Die Oberfläche des Fadens entpuppte sich als angenehm begehbar. Sie war uneben, nicht wirklich klebrig und bestand aus rauhen Fasern, die guten Halt für die Füße boten. Zugleich federte die Oberfläche genügend, um die schweren Schritte während des steil nach unten führenden Abstiegs zu dämpfen.
Auf den ersten Blick glaubte Halisstra, dieser Ort sei genauso leer wie die silbrige See der Astralebene, denn die gewaltigen Abstände zwischen den Fäden verliehen dieser Ebene ein Gefühl völliger Leere. Doch je weiter sie kamen, desto bewußter nahm sie eine haßerfüllte Atmosphäre wahr, als beobachte die gesamte Ebene ihr Eindringen und koche vor Wut. Ein fremdartiges, rauhes Rascheln und sonderbar insektenartige, kichernde Geräusche stiegen mit dem übelriechenden Luftzug empor, das Geräusch ferner, kriechender Bewegungen und Aktivitäten, die eine Aura der Gefahr in sich trugen.
Manchmal machte Halisstra an einem benachbarten Faden eine Bewegung aus, auch wenn die durchhängenden schwarzen Stränge kilometerweit entfernt waren. Hier und da bemerkte sie hektische Aktivität, doch die dafür verantwortlichen Kreaturen oder Objekte waren so weit entfernt, daß es unmöglich zu erkennen war, um was es sich bei ihnen handelte. Mehr als einmal spürte sie eine Präsenz in der luftigen Leere rings um ihren Faden, langsame, üble Dinge, die auf den geräuschvollen Luftstößen trieben, die unablässig von unten kamen und sich den reisenden Drow immer wieder näherten, als wollten sie sehen, ob sie sich für eine Zwischenmahlzeit eigneten.
In unregelmäßigen Abständen kamen sie an Leichen vorüber, alptraumhaften Kadavern, die das schlimmste von Spinnen und Dämonen vereinten. Große Stücke waren aus dem Chitinpanzer der Monster gerissen, Glieder waren verdreht, hier und da war ein haariger Brustkorb eingedrückt worden, aus dem eine säuerlich riechende, grüne Masse austrat. Geflügelte Aasdämonen lagen in Haufen aus schmutzigen Federn, die gräßlichen Schnäbel im Tod aufgerissen. Aufgeblähte, froschartige Dinge hingen in den Fasern des großen Fadens und bewegten sich leicht im üblen, heißen Luftzug. Einige Dämonen klammerten sich noch an ihr Leben, doch sie konnten kaum mehr machen, als zu zucken oder zu schnarren. Manche von ihnen stießen verzweifelte Drohungen aus, sobald die Drow sie passierten.
»Dieser Ort ist ein Beinhaus der Teufel«, murmelte Ryld, der sich eine Hand vor Mund und Nase hielt. »Ist es hier immer so?«
»Bei meinem letzten Besuch sah ich nichts dergleichen«, erwiderte Tzirik. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich weiß nur, daß ich nicht dem Ding begegnen möchte, das Dämonen in Stücke reißen kann.«
»Ich kann mich daran auch nicht erinnern«, sagte Quenthel. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, ihre Stimme war leise und angestrengt. »Veränderung ist das Wesen des Chaos, und Chaos ist ein Aspekt Lolths.«
»Wahrhaftig«, sagte Pharaun. Der Magier hielt sich ein Taschentuch vor die Nase und bahnte sich seinen Weg um den Kadaver einer riesigen Spinne, deren knolliger Unterleib aufgeplatzt war und dessen gräßlicher Inhalt sich über den Faden verteilt hatte. »Es ist möglich, daß sie sich das gegenseitig angetan haben. Wenn eine starke, befehlende Präsenz fehlt, wenden sie sich oft gegeneinander.«
»Wenn sie fehlt ...« , wiederholte Halisstra und betrachtete das Gemetzel genauer. »Ich sehe nirgends tote Drow.«
Nachdem sie ein beträchtliches Stück zurückgelegt hatten, rückten die benachbarten Fäden allmählich näher, außerdem stießen sie immer häufiger auf Querfäden. Halisstra sah, daß an den Fäden ringsum weitere zerschmetterte Kadaver klebten. Ganz gleich, welcher Kampf hier getobt haben mochte, er mußte sich über Dutzende von Fäden und unzählige Kilometer schwarzer Leere erstreckt haben.
»Die Spinnenkönigin ...«, sagte Halisstra. »Sie ließ die Bewohner ihrer eigenen Ebene im Stich, so wie sie uns im Stich ließ, und so, wie wir einander in Ched Nasad gegenseitig auslöschten, haben die Dämonen ihres Reiches das auch gemacht.« Sie schloß die Augen und versuchte, den Anblick zu verdrängen. Der Gestank schlug ihr auf den Magen, ihr war schwindlig. »Lolth, warum nur?« murmelte sie.
»Die Spinnenkönigin wird sich erklären, wenn sie es für richtig hält«, gab Quenthel zurück. »Wir können nur um die Wiederherstellung ihrer Gunst bitten und darauf vertrauen, daß wir in ihren Augen würdig sind.«
»Wir können uns auch etwas schneller voranbewegen, anstatt dumm zu glotzen«, rief Valas. Er bildete den Schluß der Gruppe und hatte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens gelegt. Der Späher stand da und sah mit besorgter Miene den Faden entlang nach oben. »Verzeiht die Unterbrechung, aber wir bekommen Gesellschaft. Wir werden verfolgt.«
Halisstra folgte dem Blick des Spähers nach oben und schwankte leicht, da sie das Gleichgewicht verlor. Ihr wurde erst klar, wie weit sie inzwischen gereist waren, als sie sah, daß der Faden sich über eine gewaltige Distanz hinauf bis in Dunkelheit erstreckte. Etwas folgte ihnen, eine kriechende Horde aus kleinen, spinnenartigen Gestalten, die sich um den Faden auf sie zubewegten, ohne davon Notiz zu nehmen, was in den Fasern festhing. Sie waren zwar noch viele hundert Schritte entfernt, doch selbst auf diese große Entfernung konnte Halisstra sehen, daß es sich um Monstrositäten von Oger-Größe handelte. Der Eifer, mit dem sie ihre Verfolgungsjagd betrieben, konnte nichts Gutes bedeuten.
»Das gefällt mir nicht«, meinte Ryld.
»Mir auch nicht«, pflichtete Quenthel ihm bei. »Pharaun, habt Ihr einen Zauber, der ihnen das Vorankommen verwehrt?«
Der Meister Sorceres schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nicht ohne Gefahr zu laufen, daß der Faden durchtrennt wird. Und dieses Risiko will ich aus unerfindlichen Gründen lieber nicht eingehen. Ich könnte statt dessen einen Flugzauber wirken, der genügen sollte, damit wir diesen Faden verlassen und zum nächsten überwechseln können. Allerdings könnten wir auch einfach zum nächsten Faden unter uns schweben.«
Er wies auf einen schmalen, fast dünnen Strang, der ein Stück weit unter ihnen ein wenig seitlich versetzt verlief.
»Spart Euch Eure Magie«, entschied Quenthel. »Der Faden wird genügen. Pharaun, Ryld, ihr tragt Valas und Danifae.«
Sie glitt an dem großen Faden entlang, auf dem sie standen, dann stieß sie sich ab. Einer nach dem anderen folgte ihr. Halisstra wagte einen letzten Blick auf den Schrecken, der sich ihrer Position näherte, dann folgte sie rasch der Baenre-Priesterin, indem sie sich an den Rand des gewaltigen Strangs herabließ und dann den Sprung in die Dunkelheit machte.
Drei Tage waren seit dem Sieg bei den Säulen des Leids vergangen, und über dreißig Kilometer waren sie inzwischen näher an Menzoberranzan. Nimor stand im Schatten an der Mündung Lustrums, einer wundersam reichen Mithral-Mine. Nahe dem Eingang reichte ein keilförmiges Gewölbe Hunderte von Metern in die Höhe, das breiter wurde, je höher man sich befand. Am Höhlenboden war es beengt und mit den Bruchstücken gewaltiger Findlinge übersät. Die Minenarbeiter – Sklaven und Soldaten des Hauses Xorlarrin, zumindest glaubte er das – hatten ihr Werkzeug weggeworfen und ihr Zuhause verlassen, als sich ihnen die Duergar-Armee näherte, wobei sie aber noch so viel Mithral-Erz mitgenommen hatten, wie sie tragen konnten. Nimor sah hinauf in den schmalen schwarzen Riß.
Die Mithral-Mine war interessant anzusehen, doch sie war nicht der einzige Grund, weshalb er hier war. Das Lustrum befand sich zwischen der Armee aus Gracklstugh und der Armee Kaanyr Vhoks. Die Duergar hielten sich auf der linken Seite und näherten sich Menzoberranzan aus Südwesten, während die Tanarukks den Weg zur Rechten zurücklegten und von Südosten auf die Stadt zumarschierten. Die Drow-Armee zog sich zurück, auf dem Weg in die trügerische Sicherheit ihrer Heimatstadt. Menzoberranzans Mantel – der große Kranz aus verschlungenen Höhlen und Passagen, der sich um die ganze Stadt zog – bot der einfallenden Armee tausend Wege, um sich der Stadt zu nähern.
Natürlich hatten die Muttermatronen ihre entlegeneren Ländereien nicht ungeschützt gelassen. Nimor sah zu Boden auf die grünen Scherben einer der berüchtigten Jadespinnen der Stadt, riesige, magisch angetriebene Automaten aus Stein, die die Randbereiche der Stadt bewachten. Aus den Überresten dieses Objekts zu seinen Füßen stieg noch der beißende schwarze Rauch der Brandbomben auf, mit denen es vor wenigen Stunden zerstört worden war. Es handelte sich um raffinierte, todbringende Werkzeuge, doch ohne Heerscharen von Priesterinnen, die sie mit allen möglichen Zaubern unterstützten, waren die Jadespinnen kein ausreichendes Mittel, um die beiden vorrückenden Armeen aufzuhalten.
Wie lange noch, bis die großen Burgen von Menzoberranzan genauso am Boden liegen wie dieses Ding? überlegte Nimor.
Die Gesalbte Klinge wurde in ihren Gedankengängen unterbrochen, als das Stampfen von Zwergenstiefeln und das häßliche Kratzen von Eisen auf Stein ertönte. Die gepanzerte Kutsche Kronprinz Horgar Stahlschattens näherte sich, eskortiert von einer doppelten Kolonne von Steinwachen des Duergar-Fürsten. Nimor zuckte zusammen, als er das dröhnende Gellen der Duergar-Soldaten hörte.
Man sollte meinen, sie hätten in ihrer eigenen Stadt schon genug Lärm und Hammerschläge, dachte er.
Er klopfte Schmutz von seinem Waffenrock, dann begab er sich nach unten, um mit seinen Verbündeten zusammenzutreffen.
»Seid gegrüßt. Ich freue mich, daß Ihr meiner Bitte um ein Gespräch nachgekommen seid.«
Der Duergar-Fürst stieß die gepanzerte Tür an der Seite seines eisernen Wagens auf und trat hinaus auf den Höhlenboden. Marschall Borwald folgte mit einem Schritt Abstand, ein großer Eisenhelm verbarg die Narben in seinem Gesicht.
»Ich habe Euch gesucht, Nimor Imphraezl«, erwiderte Horgar. »Ihr seid einfach verschwunden, nachdem Ihr unsere Vorhut in dieses Labyrinth aus Tunneln geführt hattet. Was hattet Ihr anderswo zu tun, das wichtiger sein könnte als unser Angriff auf Menzoberranzan? Das würde mich interessieren.«
Der Sieg hatte den sauertöpfischen Pessimismus des Kronprinzen in einen unbändigen Hunger nach weiteren Triumphen verwandelt, und Horgars Gutsherren spiegelten die Einstellung ihres Herrschers wider. Wo zuvor der Anblick des Assassinen dazu geführt hatte, daß man finstere Miene machte und sich Übles zuflüsterte, waren die Gutsherren von Gracklstugh nun an einem Punkt angelangt, da sie seine Anwesenheit mit schroffem Kopfnicken und unverhohlenem Neid auf seine Erfolge quittierten.
»Aber wieso? Mein kurzer Ausflug betraf ausschließlich den bevorstehenden Angriff«, gab Nimor mit einem Lachen zurück. Er trat gegen eine Jadescherbe des vernichteten Konstrukts. »Nachdem ich Euren Männern gezeigt hatte, wie man diese Dinge unschädlich macht, war ich der Ansicht, Eure Armee habe die Sache bestens im Griff. Daher nahm ich mir die Freiheit, meinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten und mich zugleich etwas umzutun, wie es in der Stadt aussieht.«
Der Duergar-Prinz runzelte die Stirn und zog nachdenklich die Brauen zusammen.
»Ihr nahmt Euch die Freiheit, mit der Tanarukk-Armee ein großes Wagnis einzugehen«, sagte Horgar. »Sie hätte sich ebensogut gegen uns wie gegen die Menzoberranzanyr wenden können, und das wißt Ihr!«
»Unter normalen Umständen vielleicht, doch man kann die Chance förmlich riechen, die in der Luft hängt. Ich kann sie riechen, Kaanyr kann sie riechen, und ich glaube, daß Ihr sie auch riechen könnt. Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem viele große Ereignisse in eine andere Richtung gelenkt werden könnten.«
»Leere Platitüden, weiter nichts, Nimor«, brummte der Duergar.
Er verschränkte seine dicken Arme und starrte ins Nichts, während er wartete. Nach kurzer Zeit drang ein Scharren und Schnauben durch die Finsternis, gefolgt von schnellen, schweren Schritten.
Eine Schar Tanarukks kam in die Höhle, die auf ihren haarigen Schultern eine eiserne Sänfte von der Größe einer kleinen Kutsche trugen. Die Augen der Bestien glühten rot vor Haß, in den kraftvollen Fäusten hielten sie Äxte und Streitkolben. Die Duergar und die Ork-Dämonen warfen sich finstere Blicke zu, murmelten Unverständliches und tasteten nervös nach ihren Waffen.
Die Tür der Sänfte öffnete sich knarrend, und Kaanyr Vhok erhob sich langsam aus dem Sessel. Der halbdämonische Kriegsherr sah in seiner karmesinroten und goldenen Rüstung prachtvoll aus, und seine feingeschuppte Haut und die markanten Züge verrieten auf eine Weise Charisma, mit der Horgars ungehobelte und mißtrauische Duergar-Art nie hätte mithalten können. Das Alu-Scheusal Aliisza folgte ihm und streckte ihre Flügel, als sie heraustrat. Als letzter verließ Zammzt die Kutsche des Kriegsherrn.
»Ich bin gekommen«, sagte Kaanyr mit seiner kraftvollen Stimme. Er betrachtete die versammelten Duergar und sah auch zu Nimor. »Wir haben die Drow völlig aufgelöst in ihre Stadt zurückgetrieben. Wie setzen wir nun dem Ganzen ein Ende – und viel wichtiger: Wie teilen wir die Beute?«
»Die Beute teilen?« gab Horgar zurück. »Wohl kaum. Ihr werdet Euch nicht an meinem Lohn gütlich tun, nachdem meine Armee Schwerstarbeit geleistet hat, um die Drow bei den Säulen des Leids zu schlagen. Ihr werdet für Eure Unterstützung angemessen bezahlt werden, aber glaubt ja nicht, Ihr könntet einen Teil meines Sieges für Euch beanspruchen.«
Kaanyr zog wütend die Brauen zusammen.
»Ich bin kein Bettler, der an Eure Großzügigkeit appelliert«, sagte der Cambion. »Ohne meine Armee würdet Ihr Euch noch immer Schritt für Schritt nach Menzoberranzan vorkämpfen.«
Horgar wollte wütend etwas erwidern, doch Nimor stellte sich rasch zwischen den Halbdämon und den Duergar und hob die Arme.
»Meine Herren!« rief er. »Menzoberranzan kann Euch nur schlagen, wenn Ihr Euch gegeneinander wendet. Wenn Ihr zusammenarbeitet, wenn Ihr geschickt Eure Ressourcen bündelt, wird die Stadt fallen.«
»Das stimmt«, sagt Zammzt. Der Assassine mit dem platten, ausdruckslosen Gesicht stand in seinen dunklen Mantel gehüllt neben Vhoks Sänfte. »Es bringt wenig, über die Verteilung der Beute zu reden, solange die Stadt noch nicht eingenommen ist. Es ist noch sinnloser, mit der Diskussionen über die Verteilung der Beute zu verhindern, daß die Stadt überhaupt erst fallen kann.«
»Das mag sein«, gab Kaanyr zurück und verschränkte seine muskulösen Arme vor der breiten Brust. »Aber ich werde mich nicht übergehen lassen, wenn die Stadt geplündert wird. Ihr habt mich hergeholt.«
»Mich auch«, polterte Horgar, »und auch die Agrach Dyrr. Ich vermute, Euer geheimes Haus wird sehr unter Druck geraten, wenn es alle Versprechungen einlösen soll, die Ihr Euren Verbündeten gemacht habt. Ich frage mich, wen von uns Ihr verraten wollt.«
Zum ersten Mal mußte sich Nimor ernsthaft die Frage stellen, ob er wohl zu viele Feinde Menzoberranzans zusammengebracht hatte. So lief Diplomatie im Unterreich. Keine Allianz verlor je ihre Nützlichkeit, nicht einmal einen Herzschlag lang.
Zu seiner Überraschung kam ihm Aliisza zu Hilfe.
Das Alu’Scheusal lehnte sich gegen Kaanyr und erklärte: »Er wird bei keinem von Euch seine Versprechen einlösen können, solange die Stadt steht. Wie soll er das auch? Wenn Ihr Euch nicht einigt, werden wir alle mit leeren Händen nach Hause zurückkehren.«
Nimor nickte ihr knapp ein Danke zu, achtete aber darauf, daß sein Blick nicht zu lange auf Aliisza ruhte, solange sie so dicht neben Kaanyr stand. Er bezweifelte, daß sie ihrem Herrn jedes Detail ihres Besuchs in Gracklstugh erzählt hatte, und er wollte dem Halbdämon keinen Anlaß geben, neugierig zu werden und Fragen zu stellen.
»Die Weisheit der Dame Aliisza ist so groß wie ihre Schönheit«, sagte er. »Um einen Streit zu vermeiden, schlage ich folgendes vor: Horgar fallen fünf Zehntel des Vermögens, der Bevölkerung und des Territoriums von Menzoberranzan zu. An Kaanyr gehen drei Zehntel, und zwei Zehntel gehen an mein Haus, aus denen ich die Agrach Dyrr mit abfinden werde. Das alles bedarf natürlich noch gewisser Verhandlungen und Korrekturen, wenn Menzoberranzan in unserer Hand ist.«
»Meine Armee ist mehr als doppelt so groß wie die des Cambion. Wieso bekommt er einen größeren Anteil als die Hälfte des meinen?« fragte Horgar.
»Weil er hier ist«, gab Nimor zurück. »Nehmt Eure Armee und geht wieder nach Hause, wenn Ihr wollt, Horgar. Aber seht Euch um, ehe Ihr aufbrecht. Wir befinden uns am Lustrum, der Mithral-Mine des Hauses Xorlarrin. Menzoberranzan hat die Kontrolle über Dutzende solcher Schätze, und die Burgen und Schluchten sind mit dem Reichtum von fünftausend Jahren gefüllt. Wenn Ihr nicht kämpft, werdet Ihr keinen Anteil bekommen.«
Dies war der andere Grund, warum Nimor das Lustrum als Treffpunkt ausgewählt hatte. Es war ein verlockender Vorgeschmack auf die Beute, die sie erwartete.
Horgars Blick verfinsterte sich, doch der Duergar wandte sich ab und betrachtete die Kluft und die umliegenden klaffenden Stollen. Marschall Borwald beugte sich vor und flüsterte dem Kronprinzen etwas zu, die anderen Gutsherren tuschelten untereinander. Nach einem Moment schob er die dicken Daumen unter den Gürtel, dann räusperte er sich.
»Nun gut. Unter dem Vorbehalt abschließender Verhandlungen sind wir einverstanden. Wie wollt Ihr die Stadt bezwingen?«
»Ihr werdet Menzoberranzan zwischen Euren Armeen aufreiben«, sagte Nimor. »Angesichts Eures Sieges bei den Säulen des Leids werden die Lolthiten Euren Angriff erwarten. Doch wegen dieses Labyrinths aus Gängen rings um die Stadt kann niemand sagen, aus welcher Richtung Ihr angreifen werdet. Das bedeutet, daß die Menzoberranzanyr ihre Armee in der Stadtmitte aufstellen müssen, damit sie sich von dort an den Punkt begeben, an dem die Stadt angegriffen wird. Die Geknechtete Legion wird für diese Bedrohung sorgen, und sobald wir die Lolthiten in diesen Kampf gelockt haben, wird die Armee aus Gracklstugh den zweiten Angriff starten und in die Stadt vordringen.«
»Kein schlechter Plan«, stellte Kaanyr fest. »Doch genau das werden die Menzoberranzanyr unter den momentanen Umständen erwarten. Sie werden sehr vorsichtig sein, ehe sie ihre ganze Kraft einer einzelnen Bedrohung entgegenstellen.«
»Ja«, meinte Horgar. »Wie wollt Ihr sie in die Falle locken, nachdem sie bei den Säulen des Leids schon einmal in eine Falle gegangen sind?«
Nimor lächelte. Es war ihm nicht entgangen, daß Horgar und Kaanyr Vhok mit einem Mal das taktische Problem diskutierten, wie Menzoberranzan zu besiegen war, daß sie aber nicht mehr darüber stritten, welchen Lohn sie für ihre Bemühungen erwarteten.
»Meine Brüder und ich gehen davon aus, daß wir in dieser Hinsicht helfen können«, sagte er. »Wir sind zwar zahlenmäßig klein, aber wir sind bestens plaziert, und, meine Herren, außerdem scheint Ihr vergessen zu haben, daß wir noch Haus Agrach Dyrr haben.«
Prinz Horgar und Kaanyr Vhok nickten und lächelten, als er sie daran erinnerte.
Mach dich auf etwas gefaßt, Menzoberranzan, dachte Nimor. Ich bin auf dem Weg.
»Ich hätte mir im Leben nicht so viele Dämonen vorstellen können«, stöhnte Ryld. Er stützte sich auf Splitter und sah zu, wie eine riesige fledermausähnliche Gestalt kraftlos in die Finsternis trudelte und vergeblich zu fliegen versuchte, nachdem der Zweihänder des Waffenmeisters ihre Flügel zerfetzt hatte. Er richtete sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Es wird immer wärmer. Ich hoffe, wir sind in der Nähe dessen, was wir suchen.«
Halisstra und die anderen standen in der Nähe, schwankten wegen Schwindels oder zitterten vor Erschöpfung, da diese Umgebung ihnen alles abverlangte. Es kam ihnen vor, als seien sie schon seit Stunden damit beschäftigt, sich ihren Weg am Faden entlang freizukämpfen. Zeitweise konnten sie über viele Kilometer hinweg ungestört absteigen und fanden auf dem Faden allenfalls Leichen vor, doch immer häufiger kamen ihnen Dämonen in die Quere, die sehr lebendig und sehr hungrig waren. Die meisten dieser höllischen Kreaturen stürzten sich kopfüber in die Schlacht, als seien sie von jeglicher Vernunft verlassen, doch einige von ihnen waren immer noch intelligent genug, ihre magischen Fähigkeiten gegen die Eindringlinge zum Einsatz zu bringen.
Mit Fängen, Klauen, Stacheln und unheiliger Hexerei geißelten und bedrängten die Bewohner des Abgrunds der Dämonennetze die Drow-Gruppe. Zusätzlich erschwert wurde den Drow der Weg dadurch, daß Quenthel Pharaun angewiesen hatte, seine Zauber zu sparen, womit sie jeder neuen dämonischen Bedrohung nicht mit Magie, sondern mit Stahl begegnen mußten.
»Spart Euch Eure Worte, Meister Argith«, sagte Quenthel, die sich langsam erhob. An ihrer Peitsche klebte das Blut Dutzender Dämonen. »Wir müssen weiter.«
Die Gruppe hatte kaum mehr als vierzig Schritt zurückgelegt, als ein Schaudern durch den Faden lief. Aus der Tiefe tauchte im nächsten Moment eine unermeßlich große Klauenhand auf.
Was sich ihnen von der unteren Seite des Netzes näherte, die sie von ihrer Position aus nicht sehen konnten, war ein gewaltiger Dämon mit dem Kopf eines Büffels und stinkendem, rauhem Fell, das auf Schultern und Rücken wuchs. Er zog sich auf die obere Seite des Fadens empor und brüllte laut.
»Ein Goristro!« rief Pharaun. »Was bei allen Höllen hat das Ding hier zu suchen?«
»Zweifellos eines von Lolths Schoßtieren, das entkommen ist«, erwiderte Tzirik.
Der vhaeraunitische Priester begann, einen Zauber zu intonieren, während die anderen zur Tat schritten. Noch ehe das Monster sich aufrichten konnte, hatte ihm Valas drei Pfeile in den Leib gejagt. Die schwarzen Geschosse ragten aus seiner Schulter und seinem Hals wie Nadeln aus einem Nadelkissen. Der Goristro schnaubte vor Wut und Schmerz, und mit einer wuchtigen Klauenhand griff er nach dem Kadaver eines kleinen Spinnendämons und schleuderte ihn auf Valas, den er in dem Moment traf, als der Späher in den Köcher griff, um weitere Pfeile vorzuholen. Der Aufprall traf ihn so unerwartet, daß er den Halt verlor und seitlich wegrutschte, während er in mehreren Sprachen laute Flüche ausstieß.
Ryld stürmte los, Splitter hoch erhoben. Quenthel war an seiner Seite, gleichzeitig versuchten Halisstra und Danifae, die Bestie von einer Seite zu umkreisen, was sich auf dem schmalen Faden als schwierig erwies.
Tzirik beendete seinen Zauber und stieß ein tiefes, grollendes magisches Wort aus, woraufhin vor dem Torso des Goristro eine große, sich drehende Scheibe Gestalt annahm, deren Rand mit scharfen Klingen besetzt war. Die Scheibe traf das Monster, Blut spritzte, doch es ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Was ist nötig, um dieses Ding aufzuhalten?« rief Halisstra. »Hat es Schwächen?«
»Es ist dumm«, erwiderte Pharaun, »und kaum empfindungsfähig.«
Der Magier gestikulierte und traf das Monster mit einem leuchtend grünen Energiestrahl, der sich in dessen Brust fraß, während Tzirik Ryld und Quenthel folgte, um ihnen gegen den Goristro zu helfen. Der Waffenmeister und die Hohepriesterin schlugen nach dem Rumpf der Kreatur, mußten aber immer wieder den Hieben ihrer gewaltigen Fäuste ausweichen. Quenthel wurde getroffen und landete auf Händen und Knien, doch es gelang ihr, ein Stück wegzukriechen, ehe das Monster ihr den Rest geben konnte.
»Niiiiiicht duuuuuuuuummm!« brüllte der Goristro.
Er hob einen Huf und stampfte mit so unglaublicher Kraft auf den Faden, daß der sich über Kilometer erstreckende Strang in Schwingungen versetzt wurde, als handle es sich bei ihm um ein lebendes Wesen. Die Schockwelle wirbelte alle Drow ein Stück in die Luft, doch der Goristro hatte vergessen, die Folgen seiner Aktion für sich selbst zu bedenken. Der monströse Dämon wurde von den Schwingungen ebenfalls hochgeschleudert und landete auf der Seite, dann rutschte er ab, konnte sich aber mit seiner Klauenhand noch gerade rechtzeitig in die Oberfläche des Strangs bohren. Er begann zu zappeln und zu strampeln, machte damit die Bewegungen des Strangs aber nur noch schlimmer.
Quenthel raffte sich auf und kroch zu ihm, bis sie sich neben seinem gewaltigen Arm befand und ihm ins Gesicht schauen konnte. Dann zog sie ihre Peitsche und hielt sie ihm vor eines seiner Glubschaugen, das sich im nächsten Moment in eine blutige Masse verwandelte. Der Goristro heulte vor Schmerzen auf und zuckte zurück, wobei er den Halt verlor und in die Tiefe stürzte. Sein wütendes Bellen war noch lange zu hören und wurde nur allmählich leiser. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm nachzusehen. Sie wandte sich statt dessen dem Rest der Gruppe zu.
»Steht auf«, fauchte sie. »Wir vergeuden Zeit.«
Halisstra erhob sich und sah sich um. Valas kam von seiner gefährlichen Position am Rand des Fadens nach oben geklettert, Danifae stand wieder auf. Sie folgten Quenthel, als die Herrin Arach-Tiniliths sich ungeduldig auf den Weg machte. Halisstra war zu müde, um dieses Tempo noch lange durchzuhalten, aber sie fand auch nicht die Kraft für eine Diskussion mit der starrsinnigen Priesterin, also biß sie einfach die Zähne zusammen und ließ den Marsch über sich ergehen.
Sie hatten fast den Grund erreicht.
Seit einer Weile war ihnen aufgefallen, daß die benachbarten Stränge näher rückten, und nun sah Halisstra auch den Grund dafür. Ein großer Ring aus Netzen, der Dutzende Male dicker war als jeder der grauen Fäden, befand sich unter ihnen. Sein Umfang war so groß, daß Halisstra kaum eine Krümmung in dem immensen Ring ausmachen konnte. In seiner Mitte befand sich ... etwas – ein unglaublich gewaltiges Objekt, eine Art Insel oder etwas Ähnliches, hing mitten in dem riesigen Netz. Die Drow blieben stehen und betrachteten die Szene, bis Valas Hune die Stille brach.
»Ist es das?« flüsterte er.
»Der Eingang zu Lolths Domäne«, antwortete Tzirik, »liegt irgendwo in diesem Ring.«
»Seid Ihr sicher?« fragte Ryld.
»Ja«, antwortete Quenthel anstelle des Priesters.
Sie sah nicht zur Seite, sie zögerte nicht, sondern ging im gleichen unerbittlichen Tempo weiter.
Als der Faden sich dem Mittelring näherte, ließ das Gefälle allmählich nach, und er wurde auch ein wenig breiter. Zum ersten Mal seit ungezählten Stunden und Kilometern bewegte sich die Gruppe wieder auf einem ebenen Untergrund, anstatt sich an dem steilen Strang nach unten zu begeben. Noch mehr Leichen von Dämonen und Spinnen kamen in Sicht, manche von ihnen halb in dem Strang begraben, als seien sie aus der grenzenlosen Höhe herabgestürzt – was wahrscheinlich auch der Fall war.
Die Reisenden erreichten den gewaltigen Ring und überquerten einen weiteren Abschnitt aus wirren Netzen, dann stellten sie fest, daß das Objekt im Ring eine Art immens großer Steintempel war – ein barockes Gebäude aus glänzendem schwarzem Obsidian, das einen Durchmesser von vielen Kilometern hatte. Mit Spitzen versehene steinerne Strebepfeiler überspannten den endlos tiefen Raum und verbanden das Bauwerk mit dem Ring. Weitläufige schwarze Plätze aus glattem Stein, die groß genug waren, um ganze Städte zu verschlucken, umgaben den Tempel von allen Seiten. Wortlos machte sich die Gruppe auf den Weg zu einem der kolossalen fliegenden Pfeiler, um weiter dem Ziel entgegenzustreben.
Halisstra zitterte, aber nicht vor Erschöpfung, sondern vor Angst und Ekstase, da ihr klar war, daß sie sich schon bald leibhaftig dem prüfenden Blick Lolths würde aussetzen müssen.
Ich bin würdig, sagte sie sich. Ich muß es sein.
Die Dämonen, die sie auf dem Weg hierher geplagt hatten, schienen sich nicht um den schwarzen Tempel zu kümmern. Zumindest folgte ihnen keiner von ihnen, als sie das Netz hinter sich ließen. Lange Zeit marschierten die Drow einfach nur weiter, überquerten den immensen Vorplatz, während die Tempelmauern näher und näher kamen und ihre finsteren Details erkennbar wurden.
Quenthel orientierte sich bei ihrem Marsch an einem scharfen Bruch in der megalithischen Mauer, einer gewaltigen Spalte, die der Säulengang des Tempels gewesen sein mußte. Von Zeit zu Zeit kamen sie an sonderbaren, leblosen Gestalten großer, spinnenartiger Wesen vorbei, die aus flüssigem schwarzen Stein geschaffen zu sein schienen. Sonderbarerweise wurden diese erstarrten Formen um so kleiner, je näher sie der Spalte kamen. Halisstra verwarf es, über dieses Geheimnis nachzudenken, statt dessen konzentrierte sie sich auf das Ziel, das vor ihnen lag.
Dann endlich hatten sie die Öffnung im Tempel erreicht und sahen hinauf zu dem gewaltigen Eingang. Ein Gesicht von unglaublicher Größe starrte sie an, das Gesicht einer grausam schönen Drow, deren Gesichtszüge Ruhe ausstrahlten, als sei sie in Gedanken versunken. Vollkommen glatter Stein versperrte den Eingang von einer Seite bis zur anderen, in ihn war das Gesicht Lolths gehauen. Allein ihre halb geschlossenen Augen, die mit leerem Blick auf die winzigen Verehrer vor ihr herabsahen, kündeten von Leben. In Lolths Augen glänzte eine kochende, höllische Schadenfreude, die gänzlich auf die Gedanken oder Prozesse ausgerichtet war, die sich hinter ihnen abspielten.
Die Gruppe stand da und blickte verwundert und entsetzt zugleich nach oben. Quenthel warf sich vor dem Abbild Lolths zu Boden. Halisstra und Danifae schlossen sich ihr sofort an und knieten auf dem kalten schwarzen Stein. Selbst die Männer gingen auf die Knie, legten das Gesicht auf den Boden und wandten den Blick ab. Tzirik als Priester Vhaerauns ließ sich dazu herab, auf ein Knie niederzugehen und respektvoll den Blick zu senken. Er diente Lolth nicht, doch er und andere seines Glaubens erkannten trotzdem ihre Göttlichkeit an.
»Königin!« rief Quenthel. »Wir sind aus Menzoberranzan gekommen, um dich anzuflehen, deinen Priesterinnen wieder deine Gunst zu erweisen! Unsere Feinde nähern sich Menzoberranzan und drohen deinen Getreuen, sie zu vernichten. Wir bitten dich demütig, uns anzuweisen, was wir tun müssen, um wieder deine Gunst zu erlangen. Gib uns wieder deine heilige Macht, dann werden wir deine Feinde jagen, bis ihr Blut das Unterreich und ihre Seelen deinen Leib füllen!«
Das Gesicht reagierte nicht.
Quenthel wartete lange Zeit, immer noch am Boden liegend, dann benetzte sie ihre Lippen und sprach ein weiteres Gebet. Halisstra und Danifae stimmten in ihre Fürbitten mit ein, und gemeinsam sprachen sie jedes Gebet, jede Beschwörung und jede Litanei, die sie kannten, während sie vor der Tempeltür zu Boden krochen. Die Männer verharrten einfach nur in ihrer unterwürfigen Position. Nach einiger Zeit entfernte sich Tzirik ein Stück und setzte sich von dem Gesicht abgewandt hin, um mit Vhaeraun zu sprechen. Halisstra ignorierte ihn und widmete sich ihren Gebeten.
Nach wie vor kam keine Reaktion.
Nachdem sie einige Stunden mit Beten zugebracht hatten, stand Quenthel schließlich auf und sah in Lolths Gesicht.
»Es reicht, Schwestern«, sagte die Herrin Arach-Tiniliths. »Die Göttin ist im Moment nicht gewillt, uns zu antworten.«
»Vielleicht ist dies der falsche Ort«, wandte Pharaun ein. »Vielleicht müssen wir uns an eine andere Stelle begeben, um zu beten.«
»Es gibt keinen anderen Ort«, sagte Tzirik, der sich wieder der Gruppe anschloß. »Vhaeraun läßt mich wissen, daß dies der einzige Punkt ist, an dem man vom Abyss aus in Lolths Reich vordringen kann. Wenn sie Euch hier nicht anhören will, dann auch nirgendwo anders.«
»Aber warum ignoriert sie uns weiter?« klagte Halisstra. Sie stand auf, ihr Herz schwer vor Sehnsucht. Nach allem, was geschehen war – der Untergang ihres Hauses, die Vernichtung ihrer Stadt, die Strapazen dieser Reise –, konnte sie nicht verstehen, warum sie jetzt vor Lolths Tempel standen und ignoriert wurden. »Was sollen wir noch tun?«
Tzirik zuckte die Achseln. »Diese Frage kann ich nicht beantworten.«
»Lolth auch nicht«, gab Halisstra zurück.
Sie ignorierte den Ungemach und die Angst, die sich auf Quenthels Miene abzeichnete, und trat vor, bis sie nur noch eine Armlänge von dem riesigen Gesicht entfernt war.
»Hörst du mich?« schrie sie. »Antworte! Was haben wir getan, daß du uns mit Mißachtung strafst? Wo bist du?«
»Sprecht mit Respekt!« zischte Quenthel, die vor Entsetzen die Augen aufgerissen hatte.
Ryld zögerte, fand aber die Kraft, einige Schritte vorzutreten.
»Herrin Melarn ...«, sagte er. »Halisstra. Es ist nicht ...«
»Lolth!« schrie Halisstra lauthals. »Antworte mir, verdammt!«
Mit den Fäusten schlug sie auf das Gesicht aus kaltem Stein ein, ihr Verstand wurde von einer animalischen Wut verdrängt, die drohte, ihr jegliche Vernunft zu rauben. Sie schleuderte Lolth Flüche entgegen, sie schlug auf das desinteressierte Gesicht ein, bis ihre Hände blutig waren, aber noch immer kam keine Antwort. Nach einer Weile fand sie sich an den kalten Stein gekauert wieder, heulend, die Hände gebrochen und nutzlos. Wie ein verirrtes Kind heulte sie, weil ihr Herz so wehtat.
»Warum? Warum?« stieß sie zwischen jedem Schluchzer aus, der ihr über die Lippen kam. »Warum hast du uns verstoßen? Warum?«
»Ihr sprecht ketzerische Worte«, sagte Quenthel mit einer Stimme, die vor Mißbilligung schroff war. »Habt Ihr keinen Glauben mehr, Halisstra Melarn? Die Göttin wird sprechen, wenn sie die Zeit für gekommen hält.«
»Glaubt Ihr wirklich noch daran?« murmelte Halisstra.
Sie wandte sich ab und ließ den Tränen freien Lauf, da es sie nicht mehr kümmerte, was Quenthel, Danifae oder einer der anderen von ihr hielten. Sie wollte von Lolth eine Antwort.
»Schwach«, hörte sie Quenthel flüstern.
Tzirik, der ein Stück von der Gruppe entfernt stand, seufzte und sprach: »Das dürfte es wohl gewesen sein. Lolth hat sich nicht entschlossen, für Euch ihr Schweigen zu brechen. Nun gibt es etwas, das ich tun muß.«
Er hob die Arme und beschrieb eine komplexe Abfolge von Gesten, während er Worte der Macht sprach. Die Luft knisterte vor Energie. Als Quenthel den Zauber erkannte, den der Anhänger Vhaerauns sprach, riß sie entsetzt die Augen auf.
»Haltet ihn auf!« kreischte sie und wirbelte zu dem Priester herum.
Sie wollte loseilen und hob ihre todbringende Peitsche, doch Danifae packte ihren Arm, als sie an ihr vorbeistürmen wollte.
»Vorsicht!« zischte sie. »Unsere Körper sind immer noch in der Minauth-Feste.«
»Er öffnet ein Tor!« herrschte Quenthel sie an. »Hier!«
»Was tut Ihr da, Tzirik?« rief Pharaun beunruhigt.
Der Magier wich zurück und setzte zu einem Verteidigungs-zauber an, doch Danifaes Warnung genügte, um ihn zögern zu lassen, ehe er eingriff.
Ryld und Valas hielten sich auch zurück, da sie nicht sicher waren, was geschehen würde, wenn dem Kleriker etwas zustieß, dessen Zauber sie zu Lolth gebracht hatte. Der Waffenmeister und der Söldner zogen zwar blank, schritten aber nicht ein.
»Pharaun, was sollen wir tun?« rief Ryld.
Ehe der Magier antworten konnte, hatte Tzirik seinen Zauber gewirkt. Von einem durchdringenden, reißenden und zerrenden Geräusch begleitet entstand neben dem Jaelre-Priester mitten in der Luft ein großer schwarzer Riß.
»Ich bin hier, Herr!« rief er in den Riß. »Ich stehe vor Lolths Gesicht.«
Aus den Untiefen der Schwärze dieses Risses ertönte eine Stimme unauslöschlicher Macht und schrecklicher Stärke: »Ich komme.«
Die Schwärze schien sich zu regen, und aus dem Riß trat etwas von der Größe und Statur eines schlanken, eleganten Drow, der aber mehr war, als er zu sein schien. Er war in schwarzes Leder gekleidet, das Gesicht war von einer purpurnen Maske verdeckt, seine ganze Gestalt schien förmlich vor jener Kraft zu erzittern, die sie in sich barg. Selbst Halisstra, die mit dem Rücken zu dieser Szene saß und in ihr eigenes Leid versunken war, riß den Kopf herum, als sie die Ankunft dieses Wesens spürte. Mit gebieterischer Gelassenheit betrachtete das Wesen die Ebene aus dunklem Stein und den schwarzen Tempel.
»Es ist, wie ich es mir dachte«, sagte er zu Tzirik, der vor ihm zu Boden gesunken war. »Erhebe dich, Sohn. Du hast gute Arbeit geleistet und mich an einen Ort gebracht, von dem ich ausgeschlossen war.«
»Ich tat, was mir aufgetragen war, Maskierter Gott«, erwiderte Tzirik und erhob sich.
»Tzirik«, brachte Quenthel mit erstickter Stimme heraus. »Was habt Ihr getan?«
»Er hat mir ein Tor geöffnet«, sagte das Wesen, das nur ein Gott sein konnte, mit einem grausamen Lächeln. »Erkennst du nicht den Sohn deiner Göttin, Priesterin Lolths?«
»Vhaeraun«, keuchte Quenthel.
Der Gott verschränkte seine Arme und schwebte an der Gruppe der Menzoberranzanyr vorüber zu dem steinernen Gesicht, ohne noch einen Gedanken an die Sterblichen zu verschwenden. Mit der Linken machte er eine knappe Geste, woraufhin die noch immer zusammengekauerte Halisstra brutal zur Seite geschleudert wurde. Sie wirbelte durch die Luft und schlug mindestens dreißig Schritt weiter auf dem glatten schwarzen Stein auf, auf dem sie noch ein Stück weit rutschte.
»Mutter«, sagte Vhaeraun zu dem Gesicht. »Es war dumm von dir, dich in einen solchen Zustand zu bringen.«
Spontan begann der Gott zu wachsen, und je größer er wurde, desto intensiver wurde das Strahlen, das ihn umgab. Er übertraf schnell einen Sturmriesen an Größe, aber das genügte offenbar noch nicht für die Aufgabe, die vor ihm lag. Er streckte seine Hand aus, und aus dem Nichts nahm in ihr ein schwarzglänzendes Schattenschwert Gestalt an, das zu seiner gewaltigen Größe paßte.
Einen Speerwurf weit entfernt stöhnte Halisstra auf und hob den Blick von dem kalten Stein, auf dem sie lag. Die Menzoberranzanyr standen vor Unentschlossenheit wie gelähmt da, während Tzirik überheblich grinsend zusah, wie Vhaeraun sich in die Luft erhob, bis er Lolth direkt in die Augen sehen konnte. Langsam holte der Maskierte Gott mit seinem Schattenschwert aus, seine Maske war von Haß verzerrt ... und dann schlug Vhaeraun mit all seiner göttlichen Macht auf Lolths Gesicht ein.
Das Geräusch von Vhaerauns Schwert, das gegen die riesige steinerne Barriere hämmerte, erschütterte die gesamte Ebene. Jeder Hieb ließ den großen schwarzen Tempel im Zentrum des Netzes erzittern, als bebe die Erde. Vom Mittelpunkt aus setzten sich die Schwingungen über die gewaltigen grauen Stränge fort, die bis in die endlose Nacht ringsum reichten. Obwohl sie bei jedem Schlag wieder auf den kalten Steinboden fiel, schaffte es Halisstra, sich zu den anderen Menzoberranzanyr zu begeben, die so wie sie selbst hin und her taumelten und versuchten, sich angesichts von Vhaerauns Attacke auf den Beinen zu halten.
Tzirik stand daneben, immer noch versonnen lächelnd, weil sein Gott zu ihm gekommen war. Irgendwie gelang es ihm, den Schaden zu ignorieren, den der Maskierte Gott anrichtete, da die Schockwellen ihm überhaupt nichts ausmachten. Mit jedem Treffer schien sich das winzige Geflecht aus leuchtend grünen Rissen im Gesicht Lolths ein wenig mehr auszuweiten. Trotz der unermeßlichen Gewalt eines jeden Schlages mit der Klinge des Gottes wirkte Lolths Antlitz fast unverwundbar – fast, aber doch nicht völlig.
Lolth reagiert nicht, dachte Halisstra fassungslos. Es kümmert sie nicht.
Sie fiel auf Hände und Knie und befand sich inmitten der Gruppe ihrer Gefährten, die von ihr nichts wahrnahmen, sondern selbst nur sprachlos Vhaerauns haßerfüllte Attacke mit ansahen. Ryld kniete neben Splitter, hatte den Blick abgewandt und ließ in stoischer Ruhe einen Schlag nach dem anderen über sich ergehen. Valas tänzelte erregt umher und ruderte mit Armen und Beinen wie eine Spinne, die von einer Nadel durchbohrt worden war. Der Späher wußte nicht, ob er zusehen, fliehen oder sich verstecken sollte und schien zu versuchen, alles gleichzeitig zu tun. Pharaun schwebte ein kleines Stück über dem Boden, um sich vor den Erschütterungen zu schützen, und er hatte sich mit irgendeinem Zauber abgeschirmt, während er von seinen Gefährten zu Vhaeraun, dann zu Tzirik und schließlich zurück zu dem Gott sah. Danifae kauerte in seiner Nähe und schaffte es fast anmutig, sich auf den Beinen zu halten, während sie jeden Schlag beobachtete. Quenthel stand stocksteif da, wurde von jeder Erschütterung durchgerüttelt und hatte ihre Arme so eng um sich gelegt, als wolle sie ihre Pein in Schach halten. Sie verfolgte das Geschehen mit einer kranken Faszination, unfähig, einzugreifen.
Dann endlich löste sich Pharaun aus seiner Unentschlossenheit, ließ sich zu Quenthel treiben und faßte sie am Arm.
»Was geschieht hier?« brüllte der Magier ihr ins Ohr. »Was tut er da?«
Quenthel preßte frustriert die Kiefer zusammen.
»Ich weiß nicht«, räumte sie ein. »Hier stimmt etwas nicht. Es ist falsch, hier sind keine Seelen.«
»Was für Seelen?« fragte der Magier. »Sollen wir eingreifen?«
Ryld und Valas Hune sahen gleichzeitig erschrocken auf.
»Er ist ein Gott«, brachte Ryld heraus und übertönte den ohrenbetäubenden Lärm. »Was schlägst du vor?«
»Na gut. Aber bleiben wir und sehen weiter zu oder gehen wir? Das hier scheint kein sicherer Aufenthaltsort zu sein«, erwiderte Pharaun.
Eine weitere Schockwelle traf die Gruppe, Pharauns Schutzschild flammte hell auf.
»Ich bin nicht sicher, ob wir gehen können, selbst wenn wir es wollen«, hielt Ryld dagegen. Er sah zu Tzirik, der dem Ganzen mit finsterem Vergnügen zuzusehen schien. »Brauchen wir ihn nicht?«
»Sollten wir gehen, auch wenn wir uns selbst damit retten?« fügte Valas Hune an. »Man dürfte uns ... das hier ... vorwerfen.« Der Späher schirmte die Augen ab, um nicht Vhaerauns Treiben weiter zusehen zu müssen. »Was, wenn er in den Tempel gelangt, Herrin? Ist Lolth dort?«
Quenthel stieß einen Verzweiflungsschrei aus.
Danifae fiel Quenthel zu Füßen und fragte: »Herrin, wart Ihr schon einmal hier?«
»Ich weiß es nicht!« brüllte die Herrin Arach-Tiniliths.
Sie entriß Pharaun ihren Arm und rannte zu Tzirik, wobei ihr immer wieder der Boden unter den Füßen förmlich weggezogen wurde. Sie zerrte ihn weg vom Tempel und holte ihn abrupt aus seiner finsteren Bewunderung für Vhaeraun. Mit beiden Händen faßte sie den Brustpanzer seiner Rüstung.
»Was tut er da?« wollte sie wissen. »Was habt Ihr angerichtet?«
Tzirik blinzelte und schüttelte den Kopf, die Augen hinter seiner Maske waren noch vom Glanz seiner Vision erfüllt.
»Wißt Ihr nicht, was Ihr da mit anseht, Priesterin von Lolth?« lachte Tzirik lauthals. »Ihr habt das seltene Glück, bei der Vernichtung Eurer Göttin anwesend zu sein!« Er löste Quenthels Hände von seiner Rüstung und trat einen Schritt zurück, während seine Stimme vor Schadenfreude höher wurde: »Ihr wollt wissen, was hier vorgeht, Lolthitin? Ich will es Euch sagen. Der Maskierte Gott wird Eure Spinnenkönigin vom Thron stürzen und ihrer schwarzen Tyrannei für immer ein Ende setzen! Unser Volk wird endlich von ihrem schädlichen Einfluß befreit werden, und Ihr und der Rest Eurer parasitären Art werdet mit ihr weggespült werden!«
Quenthel knurrte ihn zornig an: »Ihr werdet nicht lange genug leben, um das mit anzusehen!«
Sie holte mit ihrer Peitsche aus, um das triumphierende Grinsen von Tziriks Gesicht zu prügeln. Doch noch ehe sie den Arm nach vorn bewegen konnte, machte Vhaeraun – der einen Pfeilschuß weit entfernt war und mit dem Rücken zu der Gruppe stand, während er unablässig auf den immer größer werdenden Riß im steinernen Gesicht einschlug – mit der linken Hand eine knappe Geste, ohne sich von dem Tor abzuwenden. Unter Quenthels Füßen schoß eine Säule schwarzer Magma in die Höhe, die sie mehrere Meter in die Luft wirbelte. Tzirik, der fast in Reichweite stand, blieb unversehrt, wohingegen die Drow in alle Richtungen davoneilten, um dem Aufprall der großen heißen Brocken aus geschmolzenem Gestein aus dem Weg zu gehen.
Vhaeraun wurde währenddessen in seinem hämmernden Rhythmus nicht für einen Moment langsamer. Er holte immer wieder aus, während Quenthel hinter ihm auf dem Pflaster des Platzes aufschlug und laut schrie, da Stücke des infernalischen Gesteins an ihrer Haut klebten und sich ins Fleisch brannten. Valas Hune und Ryld eilten ihr zu Hilfe. Danifae zuckte zusammen, konnte ihren Blick aber nicht von Vhaeraun abwenden, der in seinem zerstörerischen Bemühen nicht für einen Moment nachließ.
Pharaun betrachtete kopfschüttelnd die Szene und murmelte: »Wahnsinn.«
Mit der Hand beschrieb er eine sonderbare Geste und verschwand, vermutlich, um sich an einen Ort zu teleportieren, der sicherer war als dieser. Halisstra sah ihn verschwinden und starrte einen Moment lang auf die leere Stelle, ehe ein weiterer Treffer von Vhaerauns Schwert sie zu Boden warf. Geschlagen lag sie da, während ein Stück weiter Quenthel vor Schmerz schrie und um sich schlug.
»Ah«, hauchte Vhaeraun. Der Gott trat von dem Gesicht zurück, das durch eine leuchtend grüne Narbe gespalten war, die von der Mitte der Stirn über den Nasenrücken bis zum Kinn verlief. »Hast du noch immer nichts zu sagen? Willst du schweigend sterben?«
Das Gesicht blieb reglos, das wirbelnde Licht in den nach innen gerichteten Augen war unverändert, doch wieder schien etwas von einem schrecklichen Geräusch begleitet an der Struktur des Kosmos zu reißen. In der Luft nahe dem Gesicht entstand eine weitere schwarze Öffnung, aus der ebenfalls eine göttliche Gestalt hervortrat.
Während Vhaeraun schlank und anmutig war, besaß der Neuankömmling ein alptraumhaftes Aussehen. Er war halb Spinne, halb Drow und hielt in seinen sechs sehr muskulösen Armen schlagbereit ein ganzes Waffenarsenal an Schwertern und Streitkolben. Jedes der chitinartigen Beine lief in eine gefährliche scherenartige Klaue aus, nur sein Gesicht war perverserweise das eines attraktiven Drow.
»Geh, Maskierter«, befahl der Spinnengott mit gequälter, brummelnder Stimme. »Es ist dir verboten, hier einzudringen.«
»Wage es nicht, dich zwischen mich und meine Bestimmung zu stellen, Selvetarm!«
Der monströse Spinnengott Selvetarm wartete nicht länger, sondern schoß mit atemberaubender Geschwindigkeit vor, wirbelte alle seine Klingen in einer Angriffswelle, die innerhalb von zwei Herzschlägen ein Dutzend Giganten hätte verstümmeln können.
Vhaeraun wirbelte zur Seite und tänzelte durch den Sturm aus stählernen Klingen, als würde er Selvetarms Waffen nachjagen, nicht umgekehrt. Schläge, denen er nicht ausweichen wollte, blockte er einfach ab und parierte sie mit himmlischer Eleganz. Als die Waffen der Götter aufeinanderprallten, wurde der Grund von Donnerschlägen erschüttert.
Halisstra stemmte sich hoch und beobachtete erstaunt, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie hätte die Szene unendlich lange beobachten können, doch Ryld tauchte neben ihr auf.
»Wir brauchen Eure heilenden Gesänge«, zischte er. »Quenthel hat schwere Verbrennungen.«
Was macht das noch? fragte sich Halisstra.
Dennoch erhob sie sich und bahnte sich den Weg zu der gestürzten Priesterin. Quenthel wand sich auf dem Boden und stieß gequält den Atem aus, während sie erfolglos versuchte, den Schmerz zu kontrollieren. Ohne von dem unglaublichen Duell Notiz zu nehmen, das zwischen den beiden Göttern hin und her ging, konzentrierte sich Halisstra auf die Verletzungen der Baenre und schaffte es, zu einem Bae’qeshel-Lied anzusetzen. Sie legte ihre Hände auf Quenthels Verbrennungen und wirkte ihren Zauber, so gut sie konnte, während sie feststellte, daß die Ausübung ihres Talents sie für einen Moment zur Ruhe kommen ließ. Quenthel hörte auf, um sich zu schlagen, und öffnete die Augen. Da sie ihren Zauber gewirkt hatte, ließ Halisstra sich einfach wieder fallen und starrte zu den kämpfenden Göttern.
»Was sollen wir tun?« flüsterte sie. »Was können wir tun?«
»Ausharren«, erwiderte Ryld. Er legte die Hand in stählernem Griff um ihren Arm und sah ihr tief in die Augen. »Wartet und seht. Etwas wird geschehen.«
Auch er sah wieder zu Vhaeraun und Selvetarm.
Valas erhob sich neben Quenthel und ging gebückt, um seine Balance zu wahren, zu Tzirik.
»Tzirik! Was geschieht mit diesem Ort, mit uns, wenn Vhaeraun Selvetarm besiegt und das Gesicht zerstört? Könnt Ihr uns fortbringen?«
»Was mit uns geschieht, ist ohne Bedeutung«, gab der Priester zurück.
»Vielleicht für Euch, aber für mich ist es von großer Bedeutung«, murmelte Valas Hune. »Habt Ihr uns hergebracht, damit wir hier sterben?«
»Ich habe Euch nicht hergebracht, sondern Ihr mich«, korrigierte der Priester, schenkte Valas aber kaum Aufmerksamkeit. »Niemand außer den Priesterinnen der Spinnenkönigin könnte so nah an ihren Tempel herankommen, nicht einmal der Maskierte Gott. Was geschehen wird, wenn Vhaeraun Selvetarm besiegt, das werden wir ja sehen.«
Er konzentrierte sich wieder auf die sich duellierenden Götter.
Der Maskierte Gott und der Kämpe Lolths kämpften wie besessen. Schleim trat aus etlichen schwarzen Wunden aus dem Chitinkörper der Halbspinne, und schwarzer Schatten strömte aus einer Handvoll Schwertwunden, die dem eleganten Vhaeraun zugefügt worden waren. Während die Götter einander auf der materiellen Ebene bekämpften und mit schwindelerregender Geschwindigkeit aufeinander einschlugen, attackierten sie einander gleichzeitig auch magisch und psychisch. Sie schleuderten Zauber von entsetzlicher Macht aufeinander, die tödlicher waren als Selvetarms sechs wirbelnde Klingen. Die Blicke waren in einem unglaublichen Willenskampf aufeinander gerichtet, dessen Gewalt an dem zerrte, was Halisstra noch von ihrem Verstand geblieben war, die hundert Schritt weit entfernt war. Schläge, die ihr Ziel verfehlten, und abgewehrte Zauber sorgten rings um die Gottheiten für verheerende Schäden. In der Mauer und in den Pflastersteinen auf dem Platz klafften tiefe Krater, und mehr als einmal wären die sterblichen Zuschauer um ein Haar ausgelöscht worden.
»Hinterhältiger Schakal!« zischte Selvetarm. »Dein Verrat wird bestraft werden!«
»Einfältiger Tor. Natürlich nicht!« gab Vhaeraun zurück.
Er machte einen Satz zwischen Selvetarms wirbelnde Klingen und stach mit seinem Schattenschwert nach dem knollenförmigen Unterleib des Spinnengottes. Der Kämpe Lolths kreischte und zuckte zurück, doch im nächsten Moment bekam er Vhaerauns Knöchel mit einer seiner Scheren zu fassen und warf den Gott zu Boden. Wieselflink ließ er einen Hagel tödlicher Schläge auf den Maskierten Gott niederregnen.
Vhaeraun reagierte, indem er einen gewaltigen Schlag mit brennender Schattenmasse führte, der aus einer unglaublichen Höhe herabstürzte und beide Götter in schwarzes Feuer tauchte. Selvetarm brüllte von göttlichem Zorn erfüllt laut auf und schlug immer wieder auf Vhaeraun ein.
Ein entsetzliches, knirschendes Geräusch ertönte, das Halis-stra und den anderen bis in die Knochen fuhr, dann zerfiel der Platz unter den Kämpfenden. Die beiden Götter waren noch immer in ihren wilden Kampf verstrickt, während sie durch die große Tempelinsel fielen und in das schwarze Nichts stürzten. Irgendwo in der Tiefe war noch ein Flackern und Aufblitzen zu sehen. Minutenlang reagierten die Drow überhaupt nicht, außer daß sie aufstanden. Doch sie sagten nichts, während Tzirik die Arme verschränkte und einfach wartete.
»Haben sie einander vernichtet?« fragte Valas Hune schließlich.
»Das bezweifle ich«, entgegnete Danifae.
Nachdenklich betrachtete sie den leuchtend grünen Riß, der Lolths Gesicht spaltete, doch weiter sagte sie nichts.
»Wenn Lolth schon nicht auf Vhaerauns Angriff reagiert hat, dann glaube ich kaum, daß sie uns jetzt etwas zu sagen hat«, meinte Ryld. »Wir sollten verschwinden.«
Der Waffenmeister wandte sich zu Tzirik um, da er ihn ansprechen wollte, doch der Jaelre-Priester stand da wie gebannt und starrte ins Nichts, während sich Bewunderung auf seiner Miene zeigte.
»Ja, Herr«, flüsterte er zu niemandem. »Ich gehorche!«
Noch als Ryld zu ihm trat, um den Priester zu fragen, machte der eine Geste und sprach ein unheiliges Gebet. Ein wirbelndes Feld aus Tausenden rasiermesserscharfer Klingen entstand rings um ihn und verbarg Tzirik hinter einer zylindrischen Wand aus todbringendem Metall.
Ryld stieß einen Fluch aus und sprang zurück, um nicht mit den Klingen in Berührung zu kommen.
Tzirik ignorierte Ryld und widmete sich weiter der Aufgabe, die Vhaeraun ihm offenbar aufgetragen hatte. Mit linkischen Fingerbewegungen zog der Kleriker ein Kästchen aus seinem Gürtel und holte eine Schriftrolle heraus, rollte das Pergament auseinander und las laut die Worte eines weiteren mächtigen Zaubers ab, während seine tödliche Barriere ihn weiterhin vor den Menzoberranzanyr schützte.
Halisstra sah überrascht zu ihm und versuchte herauszufinden, welchen Zauber der Priester wirkte. Es fiel ihr ausgesprochen schwer, sich noch um irgend etwas zu kümmern.
Während sich Halisstra apathisch und verzweifelt zugleich zu Boden sinken ließ, war in Quenthel wieder der Kampfgeist erwacht. Sie richtete sich auf und griff nach ihrer Peitsche.
»Ein weiteres Tor!« schrie sie. »Er darf diesen Zauber nicht vollenden!«
Einige hundert Schritt entfernt, getarnt von Finsternis und wabernden Dämpfen, saß Pharaun im Schneidersitz auf dem harten Stein und arbeitete daran, seinen Zauber fertigzustellen. Er hatte beobachtet, wie die beiden Götter mitten im Kampf aus seinem Blickfeld verschwunden waren, aber er verfolgte einen Plan und beabsichtigte nicht, auf halber Strecke aufzuhören. Der Verständigungszauber konnte nicht schnell gewirkt werden, und wenn er sich zu sehr beeilte, würde er ihm nur mißlingen. In dem Teil seines Verstands, der nicht vollends damit beschäftigt war, die Magie zu formen, fragte er sich besorgt, ob das Allwissen der Götter sich auch darauf erstreckte, seine Gegenwart wahrzunehmen und darüber hinaus zu erkennen, daß er einen Zauber wirkte und warum er das tat – und ob sie sich dazu herablassen würden, ihn aufzuhaken. Soweit er das beurteilen konnte, waren Vhaeraun und Selvetarm so mit ihrem wütenden Kampf beschäftigt, daß sie wohl kaum auf ihn achten würden.
Er vervollständigte den Zauber und flüsterte die Botschaft, die ihn für ihn durch die unberechenbaren Weiten der Dimensionen und des Raums befördern würde. »Wir sind in Lebensgefahr. Vernichte sofort Tziriks stofflichen Leib. Wir werden zurückkehren, aber bewache uns bis dahin. Quenthel befiehlt es.«
Pharaun stand seufzend auf. Er schaute nachdenklich drein. Das Senden war normalerweise eine zuverlässige Methode, doch er konnte nicht sagen, welchen Effekt es haben würde, es von einer anderen Ebene aus zu versuchen. Ebenso vermochte er nicht zu sagen, wie lange es dauern würde, bis die Worte Jeggred in der Minauth-Feste erreichten – oder ob der Draegloth überhaupt tun würde, was ihm aufgetragen wurde, selbst wenn es in Quenthels Name geschehen sollte. Abgesehen davon war ja nicht einmal bekannt, ob der verfluchte Halbdämon noch lebte und in der Lage war, den Hohepriester zu töten.
Der Meister Sorceres hatte eine gute Vorstellung davon, was zu erwarten war, wenn alles verlief, wie er es sich erhoffte. Es war nur eine Frage der Zeit, und davon hatten sie bedenklich wenig.
»Das wäre jetzt kein guter Zeitpunkt, um obstinat zu werden, Jeggred«, murmelte Pharaun, obwohl er seine Nachricht längst geschickt hatte. »Handle dieses eine Mal bitte, ohne erst Fragen zu stellen.«
Behutsam machte er sich auf den Rückweg zu dem Riß in der massiven Mauer des Tempels.
Umgeben von seiner Mauer aus Klingen stand Tzirik neben dem Rest der Gruppe und las rasch und kundig den Text von der Schriftrolle ab. Er machte sich nicht die Mühe, den Menzoberranzanyr zu erklären, was Vhaeraun ihm aufgetragen hatte und warum er das tat. Er fuhr einfach fort, als seien sie gar nicht da, auch wenn er mit der Barriere aus Klingen eine Vorkehrung getroffen hatte, damit sie ihn nicht stören konnten.
Ryld und Valas standen vor der Wand aus umherwirbelnden Klingen und sahen hilflos mit an, wie der Priester unbeirrt weitermachte. Danifae und Quenthel waren weiter entfernt, doch auch sie wußten keinen Rat. Die Entschlossenheit, etwas zu tun, stand im krassen Gegensatz zu ihrer Unfähigkeit zu entscheiden, was sie unternehmen sollten. Halisstra stand da und beobachtete die Szene, doch sie wartete einfach, in welcher Form sie ihr eigenes Ende ereilen würde.
»Tzirik, hört auf!« rief Valas Hune. »Ihr habt uns heute schon genug in Gefahr gebracht, wir werden nicht zulassen, daß Ihr damit weitermacht.«
»Tötet ihn, Valas«, sagte Danifae. »Er wird nicht auf uns hören, und er wird auch nicht aufhören.«
Der Späher stand wie gelähmt da, während der Gesang des Priesters sich den letzten, triumphalen Noten näherte. Er ließ geschlagen die Schultern sinken, dann riß er ohne Vorwarnung den Bogen hoch und schoß.
Der erste Pfeil wurde von einer wirbelnden Klinge abgelenkt, doch der zweite kam durch und durchbohrte Tziriks Hand. Der Priester schrie vor Schmerz auf und ließ die Schriftrolle los, die unverbraucht zu Boden fiel.
Der Jaelre wirbelte zu Valas Hune herum, Haß brannte in seinen Augen, die durch seinen Helm hindurch zu sehen waren. »Seid Ihr noch immer der Laufbursche der Weibsbilder, Valas Hune? Seht Ihr nicht, daß Ihr für sie nur ein wohlerzogener Hund seid? Warum beharrt Ihr darauf, weiter der Spinnenkönigin treu zu sein, wenn Ihr den Maskierten Gott anbeten und wahre Freiheit erfahren könnt?«
»Lolth tut, was sie will«, antwortete Valas. »Ich dagegen bin Bregan D’aerthe treu, und meiner Stadt. Wir können nicht zulassen, daß Ihr oder Euer Gott uns von unserer Suche abbringt.«
Tziriks Miene verfinsterte sich. »Ihr und Eure Gefährten werdet Euch Vhaeraun nicht widersetzen. Das werde ich nicht zulassen.«
Er hockte sich hin und hob seinen Schild, während er die Worte eines anderen göttlichen Zaubers knurrte. Valas Hune schoß wieder, doch diesmal prallten seine Pfeile vom Schild ab. Tzirik vollendete seinen Zauber und preßte die verwundete Hand auf den Boden. Ein gewaltiges Zittern ging durch den Stein und erreichte die Menzoberranzanyr, die wie Marionetten umhergeworfen wurden, in der Ebene aus schwarzem Stein bildeten sich große Risse, die in die absolute Schwärze darunter führten.
Valas taumelte vor und zurück, während er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, obwohl die Steine unter ihm barsten und sich aufbäumten. Danifae brachte sich in Position und feuerte ihre Armbrust ab; der Bolzen flog zwischen den Klingen hindurch, traf Tzirik mit großer Wucht am Brustpanzer, zerbrach aber an der Rüstung des Priesters in kleine Stücke.
Quenthel gelang ein verzweifelter Sprung zur Seite, um nicht von dem klaffenden Spalt gleich unter ihr verschluckt zu werden. Sie rollte ungelenk ein Stück weit, und als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie eine Eisenrute in der Hand. Die Hohepriesterin stieß einen Befehl aus, und sofort schoß eine weiße Sphäre aus magischer, zähflüssiger Substanz auf den Priester zu. Dessen wirbelnde Klingen jedoch zerfetzten die Kugel, die in einem Regen aus klebrigen Streifen verging.
»Steht auf, Halisstra!« zischte Quenthel. »Eure Schwestern brauchen Euch!«
Kaum hatte sich Halisstra aufgerichtet, wurde sie von dem gewaltigen Beben wieder umgerissen. Sie schüttelte den Kopf und unternahm einen neuen Versuch.
Meine Schwestern brauchen mich? dachte sie. Seltsam, wo doch Lolth offenbar keine Verwendung mehr für jemanden hat, der als ihre Priesterin dient. Wenn Lolth beschließt, sich von mir abzuwenden, um meine Treue und meine Hingabe anzuspornen, kann ich mich wenigstens entsprechend revanchieren.
Ihr Leben lang hatte sich Halisstra bereitwillig mit ihren ärgsten Feinden, ihren erbittertsten Rivalen zusammengetan, wenn eine Bedrohung für die Alleinherrschaft der Dunkelelfen auftauchte, zu denen sie und die anderen Drow gehörten. Beim Blick in die endlose leere Weite des Abgrunds der Dämonennetze stellte sie fest, daß sie nicht einen einzigen Schritt mehr in Lolths Namen machen würde.
»Laßt ihn tun, was er will«, sagte sie zu Quenthel. »Lolth hat mich Gleichgültigkeit gelehrt. Wenn wir es geschafft haben sollten, heute Lolths Existenz zu retten, glaubt Ihr, sie wäre uns dankbar? Wenn ich mir das Herz aus dem Leib risse und es auf den Altar der Spinnenkönigin legte, glaubt Ihr, sie würde sich über mein Opfer freuen?«
Ein verbittertes Lachen entstieg ihrer Kehle, dem sich Halisstra hingab, während die Beben nachließen. In ihrem Herzen fühlte sie Schmerz, der die Welt in Stücke hätte reißen können, doch sie fand nicht die Stimme, die den Schmerz in Worte hätte fassen können.
Quenthel sah sie entsetzt an.
»Gotteslästerung«, flüsterte sie.
Die Herrin Arach-Tiniliths nahm ihre Peitsche und wandte sich Halisstra zu, doch ehe sie zuschlagen konnte, wirkte Tzirik einen neuen Zauber, der die Gruppe unter Schichten aus weißglühenden Flammen begrub, die auf der Steinfläche hin und her schwappten wie Wasser auf einem Teller. Halisstra warf sich zu Boden und schrie vor Schmerz, die anderen fluchten und brüllten etwas, während sie nach einer Deckung suchten, die es nicht gab.
»Laßt mich allein!« befahl Tzirik in seinem Käfig aus wirbelndem Stahl.
Er bückte sich und hob die Schriftrolle auf, gleichzeitig erhoben sich die Menzoberranzanyr von dem qualmenden Stein.
Ryld stand langsam auf, die Haut an seinen Händen und in seinem Gesicht war versengt, und sah zu dem Kleriker, der erneut begann, den Zauber zu wirken. Der Waffenmeister studierte die Klingen, die um den Priester herumwirbelten. Mit der Schnelligkeit einer Raubkatze zog er die Beine an und sprang durch die Barriere, wobei er sich so klein wie nur möglich machte. Blut spritzte umher, als die magischen Klingen die Freiräume zwischen den Einzelteilen seiner Zwergenrüstung trafen – doch dann hatte der Meister Melee-Magtheres die Barriere überwunden.
Mit einem tierischen Schmerzenslaut landete er auf den Füßen. Splitter hielt er ein wenig ungelenk in den zerschnittenen Händen, doch er konnte die Spitze seines Zweihänders tatsächlich gegen Tzirik richten. Wieder war der gezwungen, seine Schriftrolle fallenzulassen. Mit seinem Schild wehrte er den Stich ab, mit dem dornenbewehrten Streitkolben holte er nach Ryld aus.
Ryld wich aus, indem er einen Satz nach hinten machte. Dabei kam er der Barriere so nahe, daß Funken von seinen Schultern flogen, als die Klingen seine Rüstung trafen. Er ging wieder zum Angriff über und schlug mit Splitter nach Tzirik.
Valas Hune, der jenseits der wirbelnden Klingen stand, berührte den neunzackigen Stern auf seiner Brust und verschwand in einem Augenblick, um im nächsten innerhalb der Barriere hinter Tzirik wieder aufzutauchen. Er ließ seinen Bogen fallen und griff nach seinen Kukris, doch Tzirik kam ihm zuvor.
Der Kleriker wandte Ryld abrupt den Rücken zu, machte drei ausholende Schritte und rammte seinen schweren Schild in den Mann von Bregan D’aerthe, als Valas gerade seine Messer umfaßte. Mit einem wütenden Brüllen schob der Jaelre Valas Hune nach hinten gegen den Vorhang aus tödlichen Klingen und drängte den Späher hindurch, der sich drehte und schrie, als der Stahl in sein Fleisch schnitt.
Ryld ließ Tzirik dafür bezahlen, indem er nach vorn jagte, um mit einem kraftvollen, mit beiden Händen geführten Schlag nach dessen Torso auszuholen. Doch Tziriks Brustpanzer hielt dem Treffer stand. Tzirik seinerseits sprang auf Ryld zu, bis er in Reichweite des Kämpfers war, dann ließ er mit seinem Streitkolben eine Salve heftiger Schläge auf ihn niederprasseln, mit der er den Waffenmeister zurückdrängte.
Ryld machte sich für einen neuen Angriff bereit, doch in diesem Augenblick warf sich auch Quenthel durch die Klingen. Eine davon schnitt tief in ihre Wade, so daß sie den Halt verlor und auf einem Knie landete, während sie schmerzhaft nach Luft rang. Tzirik trat zurück, um außerhalb der Reichweite von Quenthels Peitsche zu sein, dann stieß er einen raschen Zauber aus, der Rylds Willen ebenso lähmte wie all seine Muskeln, so daß der Kämpfer reglos stehenblieb.
Mit der Schnelligkeit einer Schlange wandte Tzirik sich Quenthel zu und schlug sie nieder, während sie noch versuchte, auf ihrem verletzten Bein zu stehen. Tzirik wich den zischelnden Schlangenköpfen aus und trat gegen ihre Peitsche, die durch die Wucht durch die Barriere geschleudert wurde. Dann wandte er sich Ryld zu, um dessen Schädel zu zerschmettern, da der nach wie vor nicht von der Stelle weichen konnte. Tzirik holte mit dem bronzenen Streitkolben zum tödlichen Schlag aus und ... wurde von seinem beabsichtigten Opfer fortgeschleudert, als ein gewaltiger Lärm auf ihn niederging.
Halisstra, die jenseits der Barriere stand, ließ sofort einen zweiten Bae’qeshel-Gesang folgen, der den Kleriker geißelte. Für Lolth würde sie nicht wieder kämpfen, aber für ihre Gefährten und besonders für Ryld.
»Tötet Tzirik nicht«, rief sie. »Wir brauchen ihn, damit er uns nach Hause bringt!«
»Was schlagt Ihr statt dessen vor?« herrschte Danifae sie an. »Er scheint uns vernichten zu wollen!«
»In der Tat«, sagte Tzirik.
Der Jaelre-Priester erholte sich von Halisstras Zaubern und konterte mit einem Zauber, der vom schwarzen Himmel eine Säule aus kriechendem purpurnen Feuer herabrief, die Halisstra und Danifae traf. Dann wandte sich der Kleriker Quenthel zu, die im Begriff gewesen war, ihn von hinten anzuspringen, und umfaßte seinen Streitkolben.
»Es bereitet mir großes Vergnügen, Kleriker Lolths zu töten«, erklärte er. »Wenn Ihr in der Minauth-Feste erwacht, werde ich Euch dort noch einmal töten.«
Er kam näher, Haß funkelte in seinen Augen, während Quenthel humpelnd versuchte, dem unvermeidlichen tödlichen Schlag zu entgehen.
In diesem Augenblick löste sich Tziriks Brustpanzer auf. Konsterniert blieb er stehen und sah nach unten. Alle anderen Teile seiner Rüstung waren noch da, doch dann löste sich auch sein Waffenrock auf und entblößte das glänzende schwarze Fleisch seines Oberkörpers.
»Was im Namen des Maskierten Gottes soll das?« murmelte er und sah noch gerade rechtzeitig auf, um einem Bolzen auszuweichen, den Danifae auf sein Herz abgefeuert hatte, der aber den Schild des Klerikers traf. Seine Verwunderung wurde zu purem Entsetzen. »Nein!« schrie er. »N–«
Eine unsichtbare Macht riß Tziriks Brust auf und begann eine blutige Rippe nach der anderen aus dem zuckenden Leib zu brechen. Blut und Knochensplitter spritzten umher, doch blieb der Kleriker unerklärlicherweise auf den Beinen, während er vor den erstaunten Menzoberranzanyr bei lebendigem Leib in Stücke gerissen wurde.
Halisstra, die vor Lolths Altar viele schreckliche Dinge erlebt hatte, wich vor Entsetzen zurück. Der kühle, distanzierte Teil ihres Verstandes ließ sie bemerken, daß Fleisch und Knochen des Mannes einfach nach und nach verschwanden, so wie zuvor die Teile.
Das geschieht nicht hier, wurde ihr plötzlich klar. Tzirik wird ermordet, aber in der Minauth-Feste.
Als letzter obszöner Akt wurde der Inhalt von Tziriks Brustkorb gepackt und aus dem Körper gezogen. Der Jaelre sank auf die Knie und verdrehte zugleich die Augen. Aus einer unermeßlichen Entfernung tauchte ein glänzendes Silberband auf, das mit Tziriks Rücken verbunden war. Es zog sich mit solcher Wucht in den Astralleib zurück, daß es Halisstra in der Seele schmerzte. Dann war Tzirik fort, als hätte er nie existiert.
»Bei den Göttern ...«, brachte Valas heraus und stöhnte entsetzt auf.
Sie alle spürten es im gleichen Moment, ein brutales Zerren an ihrer Seele, das die Steinebene und den schwarzen Tempel in tausend silberne Scherbe zerfallen ließ.
Halisstra machte den Mund auf, um einen Entsetzensschrei auszustoßen, doch bevor sie dafür noch einmal Luft holen konnte, wurde sie ins Nichts gewirbelt.
Halisstra erwachte abrupt und saß aufrecht auf dem modrigen alten Diwan in Tziriks Geheimraum. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß sie lebte. Die Erfahrung, ihre Seele durch Tziriks Vernichtung von einem Augenblick zum nächsten aus dem Abgrund der Dämonennetze nach Faerûn zurückkehren zu lassen, war nichts, was sie noch einmal machen wollte. Sie brauchte etwas mehr Zeit, um zu erfassen, daß sie keine körperlichen Schmerzen mehr hatte.
Was allerdings schmerzte, war ihr Herz. Ein gewaltiger, sengender Schmerz pulsierte im Mittelpunkt ihres Seins, eine Trauer, die so stechend und immens war, daß Halisstra sich nicht vorstellen konnte, je davon befreit zu werden.
Sie drückte die Hand gegen ihre Brust, als könne das etwas ändern, und sah sich langsam um. Die anderen erhoben sich ebenfalls und wirkten in unterschiedlicher Weise mitgenommen. Rechts von ihr lag Tzirik auf seinem Diwan, sein Leib war in Stücke gerissen, Blut war bis an die Wände der Kammer gespritzt, blutige Organe des Klerikers lagen achtlos weggeworfen auf dem Boden. Neben dem zerfleischten Leichnam des Priesters hockte Jeggred und leckte Blut von seinem weißen Fell. Zwei Jaelre-Krieger lagen daneben, ihre Kehlen waren zerfetzt.
»Herrin?« fragte der Draegloth. »Was ist passiert? Was habt Ihr erfahren?«
Quenthel sah Tziriks Leichnam an, dann die toten Jaelre. Sie zog die Brauen finster zusammen. »Was in Lolths Namen hast du dir dabei gedacht?« fragte sie. »Warum hast du ihn getötet?«
»Die Wachen? Es schien ihnen nicht zu gefallen, was ich mit dem Ketzer tat«, antwortete Jeggred.
»Nein, nicht sie«, sagte Quenthel. »Tzirik!«
Jeggred kniff die Augen zusammen und knurrte. Der Draegloth richtete sich auf und lief um die Diwane herum zu Pharaun. »Magier, wenn Ihr mich dazu veranlaßt habt, meine Pflicht zu verletzen ...«
»Pharaun ...«, sagte Quenthel und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, was aber nicht lange dauerte. Die Erinnerung kehrte zurück, und sie starrte den Meister Sorceres aufgebracht an. »Ihr ließt uns im Abgrund der Dämonennetze im Stich, als wir Euch am nötigsten brauchten! Erklärt mir das!«
»Ich hielt es für nötig«, entgegnete Pharaun. »Wir waren in Todesgefahr, aber wir konnten ohne Tzirik nicht fliehen, und es war offensichtlich, daß er nicht vorhatte, von dort wegzugehen. Die beste Chance zur Flucht war daher die, Jeggred eine Nachricht zu schicken und ihn anzuweisen, Tziriks stofflichen Leib zu vernichten. Da der Priester den Zauber für die Astralprojektion gewirkt hatte, beendete sein Tod für uns die Reise – zwar etwas abrupter, als es mir lieb war, doch ich sah keinen anderen Ausweg. Ich sagte Jeggred, Ihr hättet es befohlen, da ich nicht sicher sein konnte, ob er den Kleriker auch umbringen würde, wenn ich allein ihn darum bat.«
»Eure Feigheit hat uns vom einzigen Ort weggeholt, an dem wir auf Antworten hatten hoffen können«, knurrte Quenthel.
»Nein«, warf Halisstra ein. »Pharauns Besonnenheit ermöglichte uns die Flucht aus einer ausweglosen Situation, und zwar auf die einzige Weise, bei der die Hoffnung bestand, daß sie funktionieren würde.«
»Welchen Sinn hat ein Entkommen, wenn wir unsere Suche nicht zu Ende führen konnten?« wollte die Baenre wissen.
»Es hätte dort keine Antworten gegeben«, erwiderte Halisstra. »Wir hätten bis zum Ende aller Zeit vor ihr zu Kreuze kriechen können, und es hätte Lolth nicht gekümmert. Die Reise war sinnlos, und es war eine Reise, derer Ihr Euch ohnehin nie gewiß wart. Oder gab es im Abyss Lagerhäuser, die Ihr hättet plündern können?«
»Im Abgrund der Dämonennetze habe ich Euch Eure Gotteslästerung und Euren Hochmut durchgehen lassen, aber das wird nicht noch einmal geschehen«, sagte Quenthel. »Wenn Ihr noch einmal so mit mir redet, lasse ich Euch die Zunge an der Wurzel herausreißen. Ihr werdet für Euren mangelnden Glauben bestraft werden, Halisstra. Lolth wird Euch dafür unvorstellbare Qualen auferlegen.«
»Wenigstens wäre das ein Zeichen, daß sie noch lebt«, erwiderte Halisstra.
Sie stand auf und begann, ihre Habe einzusammeln. In den Hallen jenseits der Kammer waren beunruhigte Rufe und eilige Schritte zu hören, doch sie nahm davon kaum etwas wahr.
»Die Jaelre kommen«, sagte Danifae. »Sie könnten etwas gegen die Ausweidung Tziriks einzuwenden haben.«
»Ich würde mir lieber nicht den Weg aus der Burg freikämpfen müssen«, erklärte Ryld. »Ich habe genug gekämpft.«
Mit einem kehligen Knurren riß sich Quenthel von Halisstra los und sah sich um. Verärgert biß sie sich auf die Lippe, als ringe sie mit einer Idee, die ihr nicht gefiel. Schließlich murmelte sie einen Fluch und sah zu Pharaun.
»Habt Ihr einen Zauber, der uns hier herausbringt?«
Pharaun verzog den Mund zu einem Grinsen, offenbar zufrieden, daß Quenthel sich so schnell wieder an ihn wenden mußte, wo sie doch gerade eben noch sein Handeln verdammt hatte.
»Es ist zwar etwas gewagt, aber ich glaube, ich kann uns alle von hier wegteleportieren«, sagte er. »Wohin wollen wir? Ich kann uns nicht ungefährdet ins Unterreich zurückbringen, aber sonst ...«
»Hauptsache weg von hier«, erwiderte Quenthel. »Wir brauchen Zeit, um über das nachzudenken, was wir gesehen und erfahren haben und müssen überlegen, was wir als nächstes tun.«
»Die Höhlenöffnung, in der wir ankamen, als wir das Labyrinth durch das Portal verließen«, sagte Valas. »Das ist mehrere Tagesmärsche von hier entfernt, und dorthin reisen nicht viele.«
»Gut«, meinte Quenthel knapp. »Bringt uns hin.«
»Dann faßt Euch an den Händen«, sagte Pharaun.
Er nahm Ryld und Halisstra an die Hand, dann sprach er einen kurzen Satz, während von außen versucht wurde, in die Geheimkammer einzudringen. Im nächsten Augenblick standen sie auf dem kalten, moosbewachsenen Boden der Höhlenöfrhung auf der Lichtung. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Der Himmel im Osten war von einem perlmutternen Grau, kalter Tau lag schwer auf dem Grund ringsum. Das Tal war kahl und freudlos wie beim ersten Mal, als die Gruppe dort ihr Lager aufgeschlagen hatte, was kaum mehr als ein Zehntag her war. Der Schnee war größtenteils geschmolzen, eisiges Wasser floß in Rinnsalen ins Schlundloch und verschwand irgendwo unterhalb des Hügels.
»Da wären wir«, verkündete Pharaun. »Wenn niemand etwas dagegen hat, werde ich mir in der Höhle da unten den bequemsten Flecken suchen und wie ein verdammter Mensch schlafen.«
Er kletterte die rutschigen Felsen nach unten, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Ruht Euch später aus, Magier«, rief Quenthel. »Wir müssen überlegen, was wir als nächstes tun. Wir müssen über die Bedeutung der Dinge reden, die wir sahen und –«
»Was wir sahen, ist ohne Bedeutung«, sagte Halisstra. »Es ist auch nicht wichtig, was wir als nächstes tun. Ich schließe mich Pharaun an.«
Sie brachte die Energie auf, leichtfüßig von Findling zu Findling zu springen, und zog sich in die angenehme und vertraute Finsternis der Höhle zurück.
Hinter ihr kochte Quenthel vor Wut, und Jeggred grollte. Doch Ryld und Valas schulterten ihr Gepäck und folgten Pharaun auch in die Höhle. Danifae wandte sich zu Quenthel um und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Wir sind alle über das beunruhigt, was wir sahen«, sagte sie. »Aber wir sind auch müde. Wir werden klarer denken können, wenn wir uns eine Weile ausruhen konnten. Vielleicht wird uns dann der Wille Lolths klarer sein.«
Widerwillig nickte Quenthel, dann folgten sie alle in die Höhle. Halisstra und Pharaun hatten es sich ein paar Dutzend Schritte vom Eingang entfernt auf dem Kiesboden der Höhle bequem gemacht. Ihr Gepäck hatten sie abgestreift und an eine Wand gelehnt. Die anderen begaben sich langsam zu ihnen und suchten sich jeder einen Platz aus, an dem sie förmlich zusammenbrachen, sobald sie aufhörten, sich zu bewegen.
Seylls blutige Rüstung lastete unerträglich schwer auf Halis-stras Schultern, und das Heft des Schwertes der Priesterin von Eilistraee drückte schmerzhaft gegen ihre Rippen, doch sie war zu müde, um sich eine bessere Schlafposition zu suchen.
»Will mir denn niemand sagen, was im Abgrund der Dämonennetze geschah?« klagte Jeggred. »Ich habe tagelang in diesem Raum gewartet und fürsorglich über Eure Körper gewacht. Ich verdiene zu erfahren, was geschehen ist.«
»Das wirst du«, antwortete Valas. »Aber später. Ich glaube, niemand von uns weiß im Moment, was er von alldem halten soll. Laß uns Zeit, um zu ruhen und nachzudenken.«
Ruhen? dachte Halisstra.
Ihr kam es vor, als könnte sie schlafen, und war zwar auf diese bewußtlose, hilflose Art, wie es die Menschen machten. Sie könnte Zehntage am Stück schlafen, und dennoch würde sie damit nicht die Erschöpfung vertreiben können, die sie empfand. Ihr Verstand weigerte sich, länger darüber nachzudenken, warum Lolth sie verstoßen hatte, doch in ihrem Herzen verspürte sie etwas, das einer genaueren Beschäftigung bedurfte. Eine Trauer, die es ihr nicht gestatten würde, in der Trance Zuflucht zu suchen, bis sie einen Weg gefunden hatte, sich von dieser Trauer zu befreien.
Seufzend zog sie ihren Rucksack zu sich und öffnete ihn, um das Lederkästchen mit ihrer Leier herauszuholen. Vorsichtig packte sie ihr Erbstück aus und strich mit den Fingern über die mit Runen versehenen Drachenknochen, berührte die Mithral-Saiten.
Wenigstens ist mir das geblieben, dachte sie.
In der Ruhe der Höhle im Wald spielte Halisstra die dunklen Lieder der Bae’qeshel und faßte ihre unerträgliche Trauer in leise Worte.