7

Als Halisstra und Danifae in das Kalte Gießhaus zurückkehrten, stellten sie fest, daß Quenthel einen der größeren Flügel des Gasthauses gemietet hatte. Es handelte sich um ein freistehendes Gebäude mit eigenem kleinen Gemeinschaftsraum und acht Zimmern, die sich auf zwei Stockwerke verteilten. Der gesamte Flügel schien in einer Art und Weise gebaut und dekoriert worden zu sein, von der die Duergar glaubten, Drow fänden sie komfortabel. Die Einrichtung war auf Gäste von der Größe eines Drow, nicht eines Duergar, ausgelegt, überall lagen Teppiche und Läufer, und alle Türen waren mit Schlössern versehen. Drow benötigten anders als die niederen Rassen nicht unzählige Stunden Schlaf, aber die wenigsten Drow verspürten ein Gefühl der Sicherheit oder des Komforts, wenn sie in ihre tiefe Trance versanken, solange sie sich nicht in einem Raum einschließen konnten.

Der Rest der Truppe – nur Pharaun fehlte – ruhte sich auf Teppichen aus oder saß am Tisch im Gemeinschaftsraum und ließ sich ein üppiges Mahl schmecken, zu dem auch silberne Kannen mit Wein gehörten. Rüstungen und Gepäck waren gegen die Wände gelehnt worden, während die Waffen in Reichweite lagen.

Halisstra hob erstaunt eine Braue, als sie das Bankett betrachtete, das auf dem Serviertisch ausgebreitet worden war. Ein großes Stück Rothé-Braten, mehrere Räder edler Käsesorten und Teller voll mit dampfenden gedünsteten Pilzen erinnerten sie daran, wie lange sie schon auf eine anständige warme Mahlzeit hatte verzichten müssen.

»Das Essen ist unbedenklich?« fragte sie.

Quenthel schnaubte. »Haltet Ihr uns für dumm? Natürlich haben wir das überprüft. Zuerst schickte uns der Wirt ein Faß mit Wein, der mit Betäubungsmitteln versetzt war, aber wir haben uns beschwert ...«, Jeggred sah auf und lächelte so breit, daß seine Reißzähne gut zu sehen waren, womit Halisstra eine deutliche Vorstellung davon hatte, wie die Beschwerde ausgefallen war, »... und als Wiedergutmachung haben wir dieses Bankett bekommen. Genießt es.«

Halisstra untersuchte dennoch selbst noch einmal den Tisch, wobei sie sich auf den magischen Ring an ihrem Finger verließ. Adlige Drow waren im Umgang mit Giften so vertraut, daß man eine Mahlzeit nicht von vornherein als unbedenklich ansehen durfte. Schließlich war sie beruhigt, legte sich auf und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Auch Danifae bediente sich und nahm auf einem flachen Sofa neben Quenthel Platz.

»Wie ich sehe, ist Pharaun noch nicht zurück. Hattet Ihr wenigstens Erfolg?« fragte Halisstra an Valas gerichtet, während sie aß.

Der Späher saß im Schneidersitz auf dem Boden neben der Tür. Den Gürtel mit seinem Messer hatte er zwar gelockert, aber nicht abgelegt. Er trank heißen Wein aus einem Krug und kaute gedankenverloren auf einem Stück Brot.

»Geht so«, antwortete er. »Ryld und ich stießen zwar nirgends auf übermäßige Feindseligkeit, aber wir sind nicht so weit gekommen, wie es mir recht gewesen wäre, obwohl wir den Duergar zu verstehen gaben, daß die Zeit drängt.« Er klopfte auf den Beutel voller Münzen an seinem Gürtel. »Ich weiß nicht, ob das ein Zeichen dafür ist, daß etwas Ungewöhnliches geschieht, doch Kohlenhauer hat es nicht gefallen.«

»Wo ist der Zwerg?« fragte Danifae.

»Er versucht, auf anderen Wegen an Dokumente zu kommen.«

»Vertraut Ihr ihm?«

»Nicht ganz, aber das ist etwas, was wir nicht so ohne weiteres selbst erledigen können.« Valas verzog das Gesicht und fuhr fort: »Es ist nicht so leicht, mit den Duergar-Clans auf eine einigermaßen direkte Art zu verhandeln. Wenn man mich erwischen würde, wie ich mich nach gefälschten Pässen umsehe, würde man mich sehr wahrscheinlich für einen Spion halten, und diesen Schluß würde man auf Euch alle übertragen.«

»Echte Spione würden sich doch Gracklstugh auf eine ganz ähnliche Weise nähern, wie wir es gemacht haben«, warf Ryld von seinem Platz in einer Ecke ein. Splitter lehnte in Reichweite an der Wand.

»Stimmt, aber vergiß nicht, daß Kohlenhauer selbst eine Art Schmuggler ist. Er wird kein Interesse daran haben, den Kronprinz auf uns aufmerksam zu machen«, gab Valas Hune zurück. »Auf jeden Fall haben Ryld und ich uns dazu entschlossen, unsere Vorräte aufzustocken, so daß wir bereit sind, sofort aufzubrechen, sobald Kohlenhauer uns die Papiere bringt.«

»Sieht aus, als hätten wir alles in unserer Macht Stehende getan«, stellte Halisstra fest. »Ich habe genug von gleißend hellen Wüsten, von Schattenreichen, die die Seele angreifen, und von kahlen Höhlenböden. Wenn wir in Kürze in die karge, unbequeme Wildnis zurückkehren, dann will ich jetzt alles genießen, was die Zivilisation zu bieten hat.«

Halisstra hielt ihren Kelch Danifae hin, damit die Kriegsgefangene ihn auffülle.

»Trinkt, wenn Ihr wollt, aber laßt Eure Sinne nicht zu sehr benebeln«, warnte Quenthel sie. »Wir sind nicht unter Freunden.«

»Wann ist denn irgend jemand von uns jemals wirklich unter Freunden?« warf Ryld schnaubend ein.

Halisstra lachte leise und sagte: »Wohl wahr. Aber wenigstens können wir heute unbesorgt ruhen, weil wir wissen, daß keiner von uns dem anderen über den Weg traut und daß ganz in der Nähe der Feind lauert, der uns sofort vernichten würde, wenn er könnte. Wäre es uns lieb, wenn es anders wäre?«

Danifae brachte Quenthel die Kanne. Sie ignorierte das schwache Zucken der Schlangenpeitsche, senkte den Blick und schenkte der Priesterin nach.

»Wir müssen jedes Vergnügen wahrnehmen, das sich uns bietet«, fügte Danifae an. »Ist das nicht der Sinn und Zweck der Macht?«

Halisstra nippte an ihrem Wein und beobachtete die Szene. Danifae hatte unter dem Kettenhemd kein Unterhemd angelegt, obwohl sie das schwarze Mithral-Hemd ohne die übliche Lederpolsterung erworben hatten. Selbstverständlich hatte Halisstra ihr längst angeboten, ihr eines von ihren zu geben, und sie war auch sicher, daß Danifae das Angebot am Morgen annehmen würde. Doch bis dahin war zwischen den Gliedern des Kettenhemdes die vollkommene dunkle Haut der jungen Frau zu sehen, und ihre vollen, runden Brüste wogten verlockend unter dem Stahl hin und her, als sie sich vorbeugte, um Quenthels Kelch aufzufüllen. Die Männer im Raum konnten sich nicht von dem Anblick losreißen, so sehr sie sich auch bemühten. Selbst die vierarmige, massige Bestie namens Jeggred schien von Anmut und Schönheit der Frau verzaubert worden zu sein. Valas Hune runzelte die Stirn und begann, seine Kukris zu ölen. Offenbar erkannte er die Gefahr des Augenblicks und ließ seine übliche Vorsicht walten. Ryld dagegen ...

Ryld sah zu Halisstra. Sie achtete darauf, daß ihr ihre Überraschung nicht anzusehen war, als ihre Blicke denen des Waffenmeisters begegneten. Sein Gesichtsausdruck schien begierig, eindringlich, und Halisstra wußte, daß Danifaes Auftreten ihm nicht entgangen sein konnte. Doch er starrte nicht die Frau im Kettenhemd an, sondern ihre Herrin.

Ryld lächelte flüchtig und signalisierte mit einer Handbewegung: Interessantes Spiel.

Ich kann Euch nicht folgen, erwiderte Halisstra, sah Ryld aber an, daß der genau wußte, daß sie ihm sehr wohl folgen konnte.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Danifae zu, die dicht neben Quenthel kniete und Wein trank. Die Gruppe wurde allmählich schweigsam, und Ryld holte sein Sava-Brett hervor, um mit Valas eine Partie zu spielen, während die anderen es genossen, einen Moment lang keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt zu sein.

Schließlich kehrte Pharaun zurück, unter einem Arm eine Handvoll Schriftrollen. Nach ein paar halbherzigen Bemerkungen, mit denen er Rylds Konzentration stören wollte, zog er sich in sein Zimmer zurück. Ryld gewann ohnehin, auch wenn der Späher aus Bregan D’aerthe sich gut schlug.

»Es war ein langer Tag«, sagte Quenthel. »Ich gehe auf mein Zimmer. Jeggred und Valas teilen sich heute die Wache, morgen halten zwei andere Wache.«

Sie stand auf und streckte sich, dann sah sie Danifae an.

»Ich werde wohl das gleiche tun«, erklärte Danifae.

Die Kriegsgefangene sah zu Halisstra und lächelte, dann eilte sie Quenthel nach. Ryld packte sein Sava-Brett weg, während Valas und Jeggred eine Münze warfen, wer die erste Wache übernehmen sollte. Halisstra stand auf, schlang ihren Piwafwi um sich und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Vor Quenthels Tür blieb sie stehen und lauschte lange genug, um ein Geräusch zu hören, das ein leises Keuchen oder das Rascheln von Kleidung sein mochte. Sie mußte weitergehen, weil sie sicher war, daß Quenthels Schlangen sofort Meldung machen würden, sobald sie merkten, daß jemand an der Tür horchte.

Cleveres Mädchen, dachte Halisstra. Auf Quenthel zuzugehen war ein scharfsinniger und wagemutiger Zug zugleich gewesen.

In Ched Nasad hatte Halisstra Danifae mehr als einmal losgeschickt, um eine Rivalin zu verführen. Selbst die pragmatischste Priesterin hatte ihre Vorlieben, und manchmal ließ sich eine kühle, berechnende Frau auf dem Umweg über ihre geheimen Gelüste manipulieren. Halisstra bezweifelte, daß Danifae echten Einfluß auf Quenthel würde gewinnen können, doch im schlimmsten Fall gab sie der Meisterin Arach-Tiniliths immer noch einen Grund an die Hand, Halisstra und ihre Dienerin nicht aus einer Laune heraus zu verstoßen. Sollten sich Danifaes Dienste allerdings für Quenthel als zu wertvoll erweisen, dann konnte es passieren, daß die Baenre auf die Idee kam, Danifae für sich zu beanspruchen. Dieses Risiko ging Halisstra bereitwillig ein.

Selbst wenn Danifae die Baenre ermutigte, genau das zu tun, war Halisstra nach wie vor Herrin über das Silbermedaillon um den Hals der jungen Frau. Sie lächelte. Wenn es Danifae nicht gelang, sich von dem Bindezauber zu lösen, konnte sie keinen noch so kleinen Schritt in diese Richtung unternehmen, denn Halisstras Tod würde unweigerlich ihr eigenes Ende nach sich ziehen. Für den Moment konnte Halisstra sich daher Danifaes Loyalität weitestgehend gewiß sein.

Halisstra ging in ihr Zimmer, zog sich für die Nacht um, packte ihre Rüstung auf eine kleine Truhe und legte ihren Streitkolben so ab, daß sie ihn mühelos greifen konnte.

Sie driftete in eine Trance ab, während sie darüber nachdachte, daß Quenthel und Danifae in diesem Moment zusammen waren.


Aliisza bewegte sich in einer eisernen Sänfte durch die Straßen Gracklstughs, gezogen von vier Ogern und eskortiert von einem Dutzend Tanarukk-Kriegern. Die Tanarukks trugen Rüstungen aus poliertem Eisen und Zweihänder mit gefährlichen Widerhaken. Einer von ihnen hielt ein gelbes Banner mit Vhoks Symbol hoch: ein Zepter, das von einer behandschuhten Hand umschlossen wurde. Die doppelte Anzahl Grauzwerg-Krieger begleitete das Gefolge, die Blicke mißtrauisch auf die schwarze Sänfte und ihre Insassin gerichtet. Das Alu-Scheusal genoß die Aufmerksamkeit von allen Seiten. Allein wäre Aliisza viel schneller vorangekommen, doch ein großer Auftritt in der Stadt der Grauzwerge konnte die Duergar leichter dazu bringen, sie ernst zu nehmen. Außerdem machte das hier Spaß.

Die Reise hierher war weder besonders schnell noch glatt verlaufen. Aliisza und ihre Krieger hatten sich fünf Tage lang auf den alten Zwergenrouten um ein hohes Tempo bemüht, um schnellstmöglich den Dunkelsee zu erreichen. Doch dort angekommen mußten sie drei weitere Tage warten, ehe sich ein Duergar-Boot fand, das sie befördern konnte. Sie war es allmählich leid, sich auf Geheiß Kaanyr Vhoks mal in diese, mal in jene Ecke des Unterreiches zu begeben. Andererseits stellte sie so ihre Nützlichkeit für den Kriegsherrn dämonischer Abstammung unter Beweis, und es war vielleicht gar nicht so schlecht, daß die Umstände ihr Grund gaben, sich von Zeit zu Zeit von ihm zu entfernen. Es regte ihren Appetit auf ihre Rückkehr an und gab ihr manchmal Gelegenheit, ihrer Vorliebe für ... Abwechslung zu frönen.

Gracklstugh schien eine einzige große Schmiede zu sein, eine Stadt voller fauchender Schmelzöfen und übelriechenden Rauchs. Aliisza fand, sie hätte Ähnlichkeit mit der Gießhalle in den Ruinen Ammarindars, auch wenn Vhoks Schmiede nur einen Bruchteil dessen ausmachte, was die Duergar vorweisen konnten.

Was für ein häßlicher Ort, dachte Aliisza. Doch das Ausmaß an Arbeiten, die um sie herum erledigt wurden, hatte eine überwältigende Wirkung auf sie. Immer wieder entdeckte sie Bauteile für Belagerungseinheiten von unglaublicher Größe, die in den Werkstätten montiert wurden. Ched Nasad mochte elegant und listig gewesen sein, doch Gracklstugh war stark. Geschick und Zielstrebigkeit der Zwerge schienen der Magie und Grausamkeit der Drow gewachsen zu sein.

Die Duergar eskortierten sie zu einer großen Festung, die in einen gewaltigen Stalagmiten eingelassen war. Steinwälle und eiserne Türme bewachten die abfallende Seite der Duergar-Burg. Als die Oger sie durch das offene Tor zum Palast des Königs trugen, konnte Aliisza nicht anders, als einen Blick auf die mächtigen Fallgitter und tödlichen Vorrichtungen zu werfen, die jeden Angriff abschmettern sollten. Sie selbst verfügte über verschiedene Methoden der Flucht, doch von ihren Kriegern würde niemand mit dem Leben davonkommen, sollten die Grauzwerge zu dem Schluß kommen, sie nicht gehenzulassen.

Die Prozession kam in einem großen, freudlosen Saal zum Stehen, dessen Boden man mit poliertem Stein ausgelegt hatte.

»Sieht aus, als sei ich da«, sagte sie zu sich selbst.

Sie klopfte gegen die Seite der Sänfte, woraufhin die Oger die Sänfte vorsichtig abstellten. Das Alu-Scheusal wartete, bis die Bewegungen abgeschlossen waren, dann stieg Aliisza aus, reckte sich und drückte ihre Flügel durch.

Ein Duergar-Offizier in einem schlichten schwarzen Überwurf über seiner Rüstung kam auf sie zu.

»Ihr wolltet den Kronprinzen sehen«, erklärte er.

»So bald es ihm recht ist«, erwiderte Aliisza. Sie hatte diese Unterhaltung an diesem Tag schon etliche Male mit verschiedenen Leutnants und Hauptmännern der Duergar geführt.

»Wer seid Ihr noch gleich?«

»Ich bin Aliisza, eine Gesandte Kaanyr Vhoks, des Zepterträgers, Fürst von Ammarindar und Meister der Höllentorfeste. Ich bin der Überzeugung, daß die Nachricht meines Herrn es wert ist, von Eurem Kronprinzen gehört zu werden.«

Der Offizier runzelte zweifelnd die Stirn.

»Die bleiben hier«, sagte er und wies mit dem Kopf auf Aliiszas Gefolge. »Folgt mir.«

Aliisza sah zum Führer ihrer Eskorte, einem mitgenommenen, alten Tanarukk-Kämpfer, dem ein Stoßzahn fehlte, und sagte: »Du und deine Krieger, ihr wartet hier. Es kann eine Weile dauern.«

Sie folgte dem Duergar-Hauptmann tiefer in die Festung und wurde links und rechts von einem weiteren halben Dutzend Duergar-Soldaten flankiert. Sie beschloß, den Trupp als Ehrengarde zu betrachten.

Über eine breite, geschwungene Treppe – die beeindruckend hätte sein können, wenn sich die Grauzwerge die Mühe gemacht hätten, sie auch nur im mindesten zu schmücken – ging es weiter bis in einen Thronsaal, dessen hohe gewölbte Decke von einer Vielzahl riesiger Steinsäulen getragen wurde.

Am anderen Ende des Saals stand eine Gruppe Duergar. Nach der Art, wie sie sich bewegten, und nach den kühlen Blicken zu urteilen mußte es sich um hochrangige Berater und Adlige des Reiches handeln, allerdings ließ ihre Kleidung nicht erkennen, daß sie höher standen als andere Duergar. In ihrer Mitte stand der bislang einzige Vertreter dieser Rasse, an dem Aliisza schmückende Elemente erkennen konnte. Der stämmige Kerl trug unter einem bestickten schwarz-goldenen Überwurf eine Halsberge aus schimmernden Kettengliedern. Ein goldenes Diadem ruhte auf seinem kahlen Schädel, und die Zöpfe seines Bartes wurden von goldenen Ringen zusammengehalten.

Der Hauptmann, der Aliisza begleitete, bedeutete ihr, stehenzubleiben und ging weiter, um dem Kronprinzen etwas ins Ohr zu flüstern. Der Herrscher der Duergar warf Aliisza einen Blick zu, dann trat er vor und verschränkte seine dicken Arme vor der Brust.

»Willkommen in Gracklstugh«, sagte er, doch sein abweisender Blick schien das genaue Gegenteil zu sagen. »Ich bin Horgar Stahlschatten. Was will Vhok?«

Kein Freund von Höflichkeitsfloskeln, stellte Aliisza fest.

Andererseits hatte sie auch noch nie einen Grauzwerg kennengelernt, der sich anders verhielt. Sie beschloß, ohne Um-schweife und Schmeicheleien sofort auf den Punkt zu kommen, da solche Bemühungen beim Herrscher von Gracklstugh offenbar keine Wirkung erzielen konnten. Sie verbeugte sich, dann richtete sie sich wieder auf.

»Kaanyr hat mich geschickt, um einige Fragen zu dem zu stellen, was sich in Ched Nasad abgespielt hat, und vielleicht auch einige andere Themen anzusprechen«, sagte sie und sah die anderen Duergar an. »Genießt jeder hier Euer Vertrauen?«

Horgar kniff die Augen zusammen und murmelte etwas auf Zwergisch, woraufhin sich einige Berater und Adlige zurückzogen und sich wieder ihren Aufgaben widmeten. Zwei schwer gerüstete Wachen in schwarzen Überwürfen blieben stehen, ferner ein wichtig aussehender Duergar, ein narbiger Kerl in Rüstung, der einen mit einem roten Symbol versehenen Wappenrock trug.

»Meine Steinwachen bleiben hier«, erklärte Horgar und wies dann auf den narbigen Zwerg. »Dies ist Clansherr Borwald Feuerhand, Marschall der Armee von Gracklstugh.«

Borwald erwiderte mit finsterem Blick Aliiszas Kopfnicken. Sie zuckte die Achseln und kam sofort auf das eigentliche Thema zurück, um seiner Direktheit mit Direktheit zu begegnen.

»Ein Duergar-Clan – Xornbane, wenn ich nicht irre? – griff die Drow-Stadt Ched Nasad an und leitete deren Zerstörung ein. Kaanyr Vhok fragt sich, ob Ihr den Clan geschickt habt.«

»Clan Xornbane besteht aus Söldnern«, antwortete Borwald. Seine Narbe, die einer tiefen Furche glich, erstreckte sich an der Seite seines Kopfes vom Wangenknochen bis weit hinter das Ohr. »Welchen Auftrag sie in Ched Nasad ausgeführt haben, berührt den Bereich des Handels, nicht der Politik des Tiefenkönigreiches. Ihr solltet diese Frage mit ihnen besprechen.«

»Das würde ich, aber ist schwierig, Überlebende ausfindig zu machen«, gab Aliisza zurück. »Soweit wir das sagen können, saßen sie in der Stadt, die sie in Brand steckten, selbst in der Falle.« Sie sah wieder Horgar Stahlschatten an und fragte: »Also? Zerstörten sie Ched Nasad mit Eurem Segen?«

»Mit meinem Segen?« Der Duergar-Prinz dachte einen Moment lang nach, dann erwiderte er: »Ich bin nicht unglücklich, daß Ched Nasad fiel, allerdings habe ich Clan Xornbane nicht beauftragt, diese Arbeit zu erledigen. Khorrl Xornbane wurde von einer Muttermatrone aus Ched Nasad angeheuert, um ihr bei der Zerstörung der Häuser zu helfen, die über ihr standen. Ich beschloß, mich nicht in Xornbanes Angelegenheiten einzumischen.«

»In dem Fall erscheint die gewählte Taktik unklug. Immerhin bescherten sie ihrem Auftraggeber eine brennende Ruine und erlitten selbst massive Verluste«, merkte Aliisza an.

»Ich fürchte, für diese Entwicklung bin ich zum Teil verantwortlich«, kam eine melodisch klingende Stimme von einer Seite.

Aus dem Schatten einer der vielen Säulen trat eine schlanke Gestalt hervor, ein schmissiger Drow von kleiner Statur, der aber die Anmut einer Katze besaß. Er war ein gutaussehender Kerl, der gepflegte Kleidung in Schwarz und Grau trug, dazu an der Hüfte ein passendes Rapier sowie einen Dolch.

»Im Auftrag meiner Kameraden«, sagte der Fremde, »sorgte ich dafür, daß Khorrls Truppen mit den Steinbrandbomben ausgerüstet wurden, die beim Sklavenaufstand in Menzoberranzan so gute Dienste geleistet hatten. Natürlich hatte ich nicht erwartet, daß sie Ched Nasad komplett zerstören könnten.«

Aliisza zog eine Augenbraue hoch und sagte: »Ich hätte nicht erwartet, einen Dunkelelfen anzutreffen, der das Vertrauen des Prinzen der Duergar genießt.«

»Ich bin eine Art Mittelsmann«, erwiderte der Drow. »Mein Auftrag ist es, in einer Reihe von Häusern in Ched Nasad und Menzoberranzan Veränderungen zu bewirken.« Er lächelte flüchtig, was sich aber nicht in seinen Augen widerspiegelte. »Nennt mich Nimor.«

»Nimor«, wiederholte Aliisza. »Was immer Euer Anliegen ist, in Ched Nasad habt Ihr sehr durchgreifend für Veränderungen gesorgt. Was plant Ihr für Menzoberranzan?«

Horgar trat nervös von einem Fuß auf den anderen und fragte: »Warum interessiert sich Vhok dafür?«

»Wenn wir gewußt hätten, daß jemand Ched Nasad angreifen würde, dann hätten wir demjenigen womöglich unsere Unterstützung angeboten«, erwiderte Aliisza. »Mein Herr wittert eine Gelegenheit, wenn die Drow von Problemen heimgesucht werden. Wenn jemand vorhat, mit ähnlichen Mitteln gegen Menzoberranzan vorzugehen, könnten wir willens sein, Partner bei unseren Geschäften aufzunehmen.«

Borwald höhnte: »Ich bezweifle, daß das Tiefenkönigreich Verwendung für ein paar Hundert Rabauken hat, die in aus Pilzen gewachsenen Ruinen hausen.«

Aliisza unterdrückte ihren Ärger.

Es sind Duergar, sagte sie sich. Sie sind schroff und unhöflich. So sind sie eben.

»Eure Geheiminformationen sind etwas überholt«, sagte sie. »Mein Herr befehligt mehr als zweitausend kampferprobte Tanarukks, jeder von ihnen mindestens so stark wie ein Oger und dreimal so intelligent. Wir haben Schmieden und Waffenfabriken gebaut, die vielleicht nicht so großartig sind wie die in Gracklstugh, aber ausreichend, um unsere Soldaten mit Waffen und Rüstungen auszustatten. Wir befehligen zudem weitere Truppen – Grottenschrate, Oger, Giganten und ähnliche –, die zahlenmäßig unsere Tanarukk-Legion übertreffen.« Wieder sah sie zu Borwald und fügte an: »Wir verfügen nicht über die Stärke des Tiefenkönigreiches, Feuerhand, aber wir könnten uns einer Armee aus Duergar entgegenstellen, die doppelt so groß ist, und ihnen das Leben schwermachen. Ihr schmäht Kaanyr Vhoks Geknechtete Legion auf eigene Gefahr.«

»Mir ist bewußt, daß Kaanyr Vhok an Stärke gewinnt«, murmelte Horgar und zupfte an seinem Bart. »Sprecht frei. Was will er?«

Wirklich keine Umschweife, beklagte sich Aliisza innerlich. Kaanyr hätte ebensogut einen dummen Oger schicken können, damit er die Nachricht überbringt.

»Kaanyr Vhok will wissen, ob Ihr beabsichtigt, gegen Menzoberranzan zu marschieren. Wenn ja, dann will er sich Euch anschließen. Wie ich bereits sagte, glaube ich, daß die Geknechtete Legion eine wertvolle Verbündete sein könnte.«

»Wir wollten Euch vielleicht gar nicht als Verbündete, wenn wir eine solche Absicht verfolgten«, sagte Horgar. »Wir könnten glauben, stark genug zu sein, um unser Ziel zu erreichen, ohne die Beute teilen zu müssen.«

»Das könntet Ihr glauben«, stimmte Aliisza zu. »Wenn Ihr damit recht hättet, dann wären die Dunkelelfen Menzoberranzans gut beraten, sich nach Verbündeten gegen Euch umzusehen. Ich frage mich, an wen sie sich wenden könnten.«

»Ich würde Kaanyr Vhok zermalmen, wenn er etwas so Dummes versuchte«, knurrte Horgar. »Geht zurück zu dieser Dämonenbrut, die Euer Herr ist, und sagt ...«

»Moment, Prinz«, unterbrach Nimor ihn und trat zwischen Horgar und das Alu-Scheusal. »Wir sollten nichts überstürzen. Wir sollten über die von der Dame Aliisza überbrachte Botschaft sorgfältig nachdenken, ehe wir eine Antwort darauf geben.«

Horgar fauchte: »Ihr schreibt mir nicht vor, wie ich in meinem Königreich die Dinge handhabe, Drow!«

»Natürlich nicht, mein Prinz, aber ich würde diese Frage sehr gerne ausführlicher mit Euch besprechen.« Nimor drehte sich zu Aliisza um und fragte: »Darf ich annehmen, daß Ihr gewillt seid, als Gast des Kronprinzen zu verweilen, während wir über das Angebot Eures Herrn reden?«

Aliisza lächelte. Sie ließ ihre Blicke über die schlanke Statur des Drow wandern. Wenn sich die Gelegenheit ergäbe, dann wäre es ihr sicher möglich, ihm den Nutzen ihres Vorschlags anschaulich zu machen. Dennoch spürte sie, daß dieser Nimor weit mehr war, als man auf den ersten Blick meinen mochte. Leider waren Horgar und sein Marschall wohl nicht so leicht von ihren besonderen Talenten zu überzeugen. Sie konnte durchaus ein oder zwei Tage warten, um zu sehen, ob Nimor erfolgreich darin war, ihre Argumente für sie arbeiten zu lassen.

Der Duergar-Prinz sah sie an und dachte nach. Dann lenkte er ein.

»Ihr könnt so lange bleiben, wie ich über Euer Angebot nachdenke. Ich werde dem Hauptmann auftragen, für ein Quartier für Euch im Palast zu sorgen. Eure Soldaten werden derweil in einer Kaserne bei meinen Wachen untergebracht werden. Ihnen ist der Zutritt zur Burg untersagt.«

»Ich brauche einige Bedienstete.«

»Ihr könnt zwei von ihnen mitnehmen, wenn Ihr wollt. Der Rest geht.«

Horgar warf einen Blick ans Ende des Saals und gestikulierte, woraufhin sein Hauptmann angetrottet kam.

»Wir sprechen uns wieder, wenn ich mich entschieden habe«, erklärte er.

»In diesem Fall werde ich mich für Euch bereithalten«, sagte sie zu Horgar, doch ihre Blicke galten Nimor.


»Heute geht es nicht«, sagte Thummud von Clan Muzgardt zu Ryld, Valas und Kohlenhauer. Der fette Duergar stand mit einem Holzhammer in der Hand da und verschloß soeben ein frisches Faß Pilz-Bier. »Versucht es in ein oder zwei Tagen noch mal.«

Kohlenhauer fluchte, während die beiden Drow argwöhnische Blicke austauschten. Es war Ryld nicht entgangen, daß sich ganz in der Nähe der Stelle, an der Thummud stand, über ein Dutzend Duergar-Brauer aufhielten, die in ihre Arbeit vertieft waren und daß bei vielen von ihnen unter der Kleidung unverkennbar Metall aufblitzte. Der Braumeister pflegte scheinbar keine Risiken einzugehen.

»Das habt Ihr gestern auch gesagt«, sagte Ryld. »Die Zeit drängt.«

»Nicht mein Problem«, erwiderte Thummud. Als er den Deckel festgeklopft hatte, legte er den Hammer auf das Faß. »Ihr müßt warten, ob es Euch paßt oder nicht.«

Valas seufzte und griff nach dem Geldbeutel an seinem Gürtel. Er ließ ihn auffällig klimpern und legte ihn neben sich.

»Darin findet Ihr Edelsteine, die mehr als das Doppelte dessen wert sind, worauf wir uns geeinigt haben«, sagte der Späher. »Sie gehören Euch, wenn wir noch heute die Papiere bekommen.«

Thummud kniff die Augen zusammen. »Jetzt frage ich mich doch, was Ihr wirklich vorhabt«, erwiderte er. »Keine ehrlichen Absichten, da bin ich sicher.«

»Betrachtet es als persönliche Dreingabe«, erklärte Ryld ruhig. »Euer Herr erwartet 200 Goldstücke pro Kopf, und Ihr werdet dafür sorgen, daß er das auch bekommt. Wenn etwas übrigbleibt, muß er davon nichts erfahren, oder?«

»Ich muß Euch sagen, daß Ihr zu jeder anderen Zeit bekämt, was Ihr wollt«, räumte Thummud mit einem Achselzucken ein. »Aber mein Herr hat mir in dieser Angelegenheit klare Vorgaben gemacht. Wenn ich ihn hintergehen würde, indem ich diesen Handel mit Euch mache, würde der alte Muzgardt dafür meinen Kopf fordern.« Der Brauer überlegte einen Moment, dann fügte er an: »Ich glaube, Ihr solltet besser in drei oder vier Tagen wiederkommen. Die Freunde des Kronprinzen treiben sich überall herum, und sie müssen nicht sehen, wie Ihr jeden verdammten Tag herkommt.«

Der stämmige Zwerg wuchtete sich das Faß auf die Schulter und stampfte davon, während die beiden Drow zusammen mit Kohlenhauer inmitten der finster dreinblickenden Brauer zurückblieben.

»Was jetzt?« fragte Ryld an Valas gewandt.

»Geht zurück in Euer Gasthaus«, murmelte Kohlenhauer. »Wenn Ihr hierbleibt, wird sich auch nichts ändern. Kommt in ein paar Tagen wieder.«

»Das wird Quenthel nicht gefallen«, meinte Ryld immer noch zu Valas gewandt.

Valas konnte nur die Achseln zucken.

Die beiden Drow und ihr Führer verließen die Muzgardt-Brauerei, wobei jeder seinen eigenen Gedanken nachging. Sie gingen, bis die Brauerei ein Stück weit hinter ihnen lag.

»Allmählich beginne ich mich zu fragen, ob wir uns nicht einfach selbst einen Passierschein ausstellen sollten«, flüsterte Valas. »So lange würden wir dafür auch nicht brauchen.«

»Keine gute Idee«, wandte Kohlenhauer ein. »Ihr könnt vielleicht einen Schein fälschen, der echt aussieht, aber Ihr benötigt Muzgardts Segen. Wenn man Euch anhält, werdet Ihr warten müssen, bis man überprüft hat, ob Ihr auch den Segen des Clansherrn habt. Den werdet Ihr erst haben, wenn Muzgardt ihn Euch gewährt.«

»Verdammt«, murmelte Valas.

Ryld dachte über ihre Situation nach und versuchte, sie zu analysieren. Entweder hatte Kohlenhauer sie absichtlich in eine Sackgasse gelockt, oder es war tatsächlich so schwierig, die Pässe zu erhalten. Was die erste Möglichkeit anging, so sah Ryld keinen Grund, warum Kohlenhauer die Gruppe in Gracklstugh festhalten sollte. Vielleicht wollte der Zwerg sie in eine Falle locken, doch dann hätte er schon genügend Gelegenheiten gehabt, um ihnen die Überraschung zu präsentieren, die auf sie wartete. Wenn aber andererseits Kohlenhauer und Thummud nicht bei einem ausgefeilten Täuschungsmanöver zusammenarbeiteten, warum sollte der Kronprinz den Besuch der Gruppe in Gracklstugh zum Anlaß nehmen, gegen Fremde vorzugehen, die durch sein Reich reisten?

Weil er etwas hat, was Fremde nicht sehen sollen, folgerte Ryld. Was konnte das sein, was Außenstehende nicht sehen durften?

Ryld blieb stehen. Valas und Kohlenhauer gingen ein paar Schritte weiter, ehe sie sich umdrehten.

»Was ist?« wollte Valas wissen.

»Wir müssen etwas erledigen«, sagte Ryld zu Valas, dann sah er ihren Führer an. »Kommt morgen ins Gasthaus.«

Kohlenhauer runzelte die Stirn.

»Gut«, sagte er. Der Duergar wandte sich um ging die Straße entlang davon, wobei er vor sich hingrummelte: »Gebt nicht mir die Schuld, wenn Ihr für das, was auch immer Ihr vorhabt, festgenommen werdet. Ich werde mich nicht für Euch einsetzen. Ich bin auf meinem Boot, wenn Ihr mich braucht.«

Was ist? fragte Valas, nachdem der Zwerg in den Schatten der Straße verschwunden war.

Der Kronprinz schränkt die Bewegungsfreiheit fremder Kaufleute und Reisender ein, antwortete Ryld. Er will nicht, daß Nachrichten aus der Stadt gelangen. Ich glaube, Gracklstughs Armee wird bald marschieren.

Valas blinzelte und signalisierte: Das glaubst du?

»Es ist das, was ich täte«, sagte Ryld. »Die Frage ist, wie können wir eine Bestätigung bekommen?«

Er sah sich um und stellte fest, daß wie üblich jeder Duergar in Sichtweite die beiden Dunkelelfen mit unverhohlener Feindseligkeit anstarrte.

Wenn wir versuchen, deinem Verdacht auf den Grund zu gehen, dann macht uns das zu der Sorte Fremde, nach denen die Soldaten des Kronprinzen Ausschau halten, signalisierte Valas. Hüne legte nachdenklich die Stirn in Falten. Was mußt du sehen, um deine Befürchtung bestätigt zu finden?

Einen Versorgungstrupp, antwortete Ryld sofort. Wagen, Packechsen, so etwas. So etwas würde man nur zusammenstellen, wenn man losmarschieren will, und es dauert Tage, um das zu bewerkstelligen. Außerdem braucht man dafür Platz.

Stimmt, pflichtete Valas ihm bei.

Valas überlegte und zupfte gedankenverloren an den verschiedenen Talismanen und Marken, die er an seiner Kleidung trug.

Sollen wir das Risiko eingehen? fragte Hune.

Ryld sah sich um. Thummud hatte sie recht direkt wissen lassen, daß sich für einige Tage nichts ändern würde, und das würde Quenthel nicht gefallen. Wenn Gracklstugh im Begriff war, Menzoberranzan anzugreifen, dann wollte er das wissen, ehe sich die Duergar-Armee in Bewegung setzte. Sie würden einen Weg zu finden versuchen, die Heimat zu warnen. Die Duergar waren kein Sklavenmob, der nach Lust und Laune der großen Häuser zerschlagen werden konnte. Die Armee aus Gracklstugh würde groß, stark und diszipliniert sein – und für einen Angriff auf die Drow würde sie sich gut bewaffnen. Ryld gefiel die Vorstellung nicht, was eine solche Armee in seiner Heimatstadt anrichten konnte.

Laß uns keine Zeit vergeuden, erwiderte er.

Valas nickte und machte sich mit Ryld auf den Weg. Statt in das Viertel am See und damit zum Kalten Gießhaus zurückzukehren, begaben sie sich tiefer ins Herz der Höhle. Sie durchstreiften die übelriechenden Straßen und finsteren Gassen, durchquerten Handelsbezirke, in denen Kunsthandwerker und Kaufleute in beengten Gebäuden aus Feldstein ihre Geschäfte hatten. Es war schon spät, und der Verkehr auf den Straßen der Zwergenstadt schien allmählich nachzulassen. Die beiden Drow erreichten schließlich eine Straße, die am Rand einer tiefen Spalte entlang verlief, die die höheren, schwieriger zugänglichen Bezirke der Stadt von der zum See hin gelegenen armen Gegend abtrennte. Zahlreiche Brücken überspannten den Spalt, die auf der anderen Seite in enge Gassen mündeten. Ein Trupp wachsamer Duergar-Soldaten hielt sich am Fuß einer jeden Brücke auf und verhinderte jedes Überqueren der Felsspalte.

Der Späher zog Ryld in den Schatten einer Gasse und deutete auf das Hindernis und die Brücken, die es überspannten.

Ladaguers Furche, signalisierte er ihm. Auch bekannt als die Spalte. Was sich auf der westlichen Seite befindet, ist für Fremde tabu. Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es eine Reihe großer Nebenhöhlen, die für einen Truppenaufmarsch geeignet sein könnten. Dort wäre sicher, daß ein zufälliger Beobachter sie nicht zu Gesicht bekommt.

Ryld sah den Späher aus Bregan D’aerthe nachdenklich an und wunderte sich, wieso der so viel über diesen Teil der Stadt wissen konnte, wenn dieser doch tabu sein sollte.

Ich nehme an, du bist schon mal hiergewesen? fragte Ryld.

Ich habe Gracklstugh ein paarmal durchquert.

Ich frage mich, ob es irgendeinen Ort gibt, an dem Valas noch nicht gewesen ist, wunderte sich Ryld. Er veränderte seine Position im Schatten leicht, um die bewachten Brücken besser überblicken zu können. Er war gut darin, nicht gesehen zu werden, wenn es darauf ankam, doch ihm gefielen die Möglichkeiten nicht, die diese schmalen Brücken ohne Geländer boten. Es gab keinerlei Schutz, wenn sie erst einmal eine der Brücken betreten hatten.

Wie kommen wir hinüber? wollte er wissen.

Valas machte seine Knoten fertig und trat dicht an Ryld heran, stellte den rechten Fuß in eine der unteren Schlaufen und schob den rechten Arm durch die oberste.

»Bleib während des Abstiegs dicht am Stalagmiten«, sagte er. »Wir brauchen die Deckung.«

Ryld nickte und griff beiläufig nach oben, um das Emblem zu berühren, das er auf Brusthöhe trug. Es wies ihn als einen Meister Melee-Magtheres aus, und wie die Schnallen und Broschen vieler Adelshäuser war es durch einen Zauber mit der Macht der Levitation belegt worden. Valas war sicher, daß Ryld lange und hart hatte kämpfen müssen, um das Recht zu erlangen, das Emblem zu tragen.

Wie erhofft erwies sich der Zauber als kraftvoll genug, um Rylds Gewicht ebenso zu tragen wie das des Mannes aus Bregan D’aerthe. Mühelos stiegen sie auf in den Rauch und die Düsternis der oberen Regionen Gracklstughs, bis der dicke Schleier die Straßen unter ihnen verhüllte. Von der obersten Stelle der Höhle aus wirkte es so, als sei der Boden in Dunst und Rauchwolken gehüllt, in dem helles Feuer Hunderte von Kreisen aus rotglühendem Nebel entstehen ließen.

»Das ist besser, als ich erwartet hatte«, sagte Valas. »Der Rauch gibt uns Schutz.«

»Er treibt mir aber auch die Tränen in die Augen«, entgegnete Ryld. Er erreichte die Höhlendecke und stellte fest, daß sie rauh und rissig war. »Wohin?«

»Nach rechts. Genau.«

Valas wies mit einer Kinnbewegung auf die nördliche Wand der Stadt, während er darauf achtete, daß er weder mit dem Fuß noch mit dem Arm den Halt in den Steigbügeln aus Seil verlor, die er hergestellt hatte. Langsam drehte sich Ryld um, um der Decke gleichmäßiger zugewandt zu sein, dann hangelte er sich Hand über Hand voran, als erklimme er eine vertikale Felswand. Der Späher verlagerte sein Gewicht etwas, um seinen Halt zu wahren, während er den Blick auf den Höhlenboden gerichtet hielt und dem Waffenmeister immer wieder die Richtung ansagte.

»Ein Grauzwerg-Magier mit einem Aufhebungszauber könnte uns jetzt gründlich den Tag verderben«, bemerkte Ryld. »Macht dich diese Methode der Fortbewegung nicht zumindest ein wenig nervös?«

»Mit großen Höhen kam ich schon immer gut zurecht, aber reden wir nicht mehr davon.«

Ryld mußte lachen. Tagelang war ihre Reise ereignislos und trübsinnig verlaufen. Die taktische Herausforderung, im Herzen der Duergar-Stadt zu spionieren, war für sie beide eine fesselnde Abwechslung.

»Etwas mehr nach links«, sagte Valas und unterbrach seine Gedankengänge. »An der Höhlenwand verläuft ein kleiner Vorsprung in die Richtung, in die wir müssen.«

Ryld setzte die Anweisung um, dann folgten die beiden weiter dem abfallenden Höhlendach, bis es so steil verlief, daß es die Wand der Höhle bildete. Dort verlief eine alte verwitterte Fuge ähnlich den Traufen einer Taverne. Der Waffenmeister betrachtete sie zweifelnd, doch als sie näherkamen, löste sich Valas von ihm und sprang leichtfüßig los, um sich wie eine dürre Spinne darauf zu hocken.

Ryld folgte ihm, wenn auch etwas ungelenk. Er schaffte es nur mit Mühe, doch er hatte das Glück, sich auf die Magie seines Emblems verlassen zu können, sollte er keinen Halt finden.

Valas bewegte sich sicher weiter und folgte der Fuge, die steil abfiel und hinter einer scharfen Biegung verschwand, die eine Seitenhöhle überragte.

Ryld krabbelte hinter ihm her hinab und fluchte leise, als er einige lockere Steine lostrat, die an der klippenartigen Wand nach unten stürzten. Die Schmieden und Hämmer von Gracklstugh übertönten das Geräusch zum Glück, und sie befanden sich immer noch über Ladaguers Furche, so daß die Steine in die Schlucht fielen und verschwanden.

Valas sah sich um.

Vorsicht, bedeutete er. Komm her, sieh dir das an.

Ryld huschte an die Seite des Spähers und legte sich auf den Bauch, um auf dem Vorsprung nicht den Halt zu verlieren. Die Naht verlief in eine Seitenhöhle und beschrieb einen scharfen Knick. Von ihrer Position gut dreißig Meter über dem Boden aus konnten sie eine Höhle von beträchtlicher Größe erkennen, die hundert bis hundertzwanzig Meter lang und in etwa halb so breit war. In die Wände waren Kasernenräume geschlagen worden, die einer großen Zahl Soldaten Platz boten, doch der Boden war plan und weitläufig und eignete sich bestens als Truppenübungsplatz.

Die gesamte Höhle war voller Wagen und Packechsen, und Hunderte von Duergar schwärmten dazwischen umher, machten an den häßlichen Reptilien große Kiepen fest, beluden Wagen und bereiteten Belagerungseinheiten für den Transport vor. Der Gestank von den Gießereien der Stadt genügte nicht, um den stechenden Geruch von Tierexkrementen in der weitläufigen Höhle zu überdecken. Zudem war die Luft erfüllt vom Zischeln und Krächzen der Echsen.

Valas begann, Wagen und Packtiere zu zählen, um das Heer schätzen zu können, das abmarschbereit zu sein schien. Nach Minuten wandte er den Blick ab.

Zwischen zwei- und dreitausend? fragte Ryld.

Der Späher zog die Brauen hoch und erwiderte: Ich glaube, mehr. Vielleicht viertausend. Aber in anderen Höhlen können sich weitere Züge gesammelt haben.

Gibt es Grund zu der Annahme, daß sie nicht nach Menzoberranzan marschieren? fragte Ryld.

Wir sind nicht ihre einzigen Feinde. Dennoch mißfällt mir der Zeitpunkt.

»Ich glaube auch nicht an Zufälle«, flüsterte Ryld. Er begann, vorsichtig von der Felskante zurückzurobben und achtete darauf, nicht noch mehr Steine zu lockern. »Ich würde ja vorschlagen, daß wir die anderen Höhlen aufsuchen, ob dort noch mehr Soldaten sind. Aber ich glaube, wir haben schon jetzt mehr gesehen, als es den Duergar recht sein kann, und ich möchte unser Glück nicht herausfordern. Am besten machen wir uns auf den Rückweg und berichten den anderen davon.«

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