Die schmerzlichste Qual der Kerkerhaft, so überlegte Halisstra, war schlicht die Langeweile. Wie die meisten Angehörigen ihres außergewöhnlich langlebigen Volkes nahm die Priesterin kaum wahr, wie Stunden, Tage oder sogar Zehntage verstrichen, wenn sie ihren Geist beschäftigen konnte. Doch aller Weisheit und Geduld zum Trotz, die sie sich in über zweihundert Jahren zu eigen gemacht hatte, kamen ihr wenige Stunden Gefangenschaft in einer kargen Zelle aus Stein schlimmer vor als die monatelange rauhe Disziplinierung, die sie in ihrer Jugend erduldet hatte.
Die endlosen Stunden des Tages krochen regelrecht dahin, während sich ihr Leib nach Ruhe und Erholung sehnte, auch wenn durch das eine verfluchte Fenster der schmerzhafte Sonnenschein fiel. Ihre Gedanken bewegten sich derweil sprunghaft, und mal betete sie, ihre Kameraden möchten kommen und sie einfach nur retten, dann wieder malte sie sich die abscheulichsten und brutalsten Foltermethoden für jeden einzelnen von ihnen aus, weil sie nichts dagegen unternommen hatten, daß sie in Gefangenschaft geriet.
Schließlich versank sie in tiefe Trance, der Geist wurde von den Plänen, die sie schmiedete, und von den alten Erinnerungen befreit. Ihr Bewußtsein war dabei so entrückt, daß man ihren Zustand durchaus als Schlaf hätte bezeichnen können. Die Erschöpfung übermannte sie letztlich doch – nicht nur die rein körperliche Ermattung als Folge vieler Zehntage Reisen und Gefahren in der Wüste, in den Schatten, im Unterreich und im Wald, sondern auch geistige Ermüdung. Die hatte ihre Ursache in der tiefen Trauer über den Verlust des Hauses, über das sie hätte herrschen sollen. Halisstra hatte sich nicht gestattet, für Ched Nasad auch nur eine Träne zu vergießen, doch die unheilvolle Wahrheit ihrer Misere kehrte immer wieder in ihre Gedanken zurück und vergiftete sie mit einem kalten, hoffnungslosen Unglauben, der sich nur schwer verdrängen ließ. Die vielen Stunden der Gefangenschaft gaben ihr Gelegenheit, die verhaßte Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen und über den Verlust an Status, Reichtum und Sicherheit nachzudenken, bis ihre schreckliche Faszination in gewisser Weise gesättigt war.
Als das Abendrot kam, brachten die Wachen ihr frisches Essen, das aus einem faden, aber nahrhaften Eintopf und einem weiteren halben Brotlaib bestand. Halisstra stellte fest, daß sie hungrig war, und stürzte sich auf das Essen, ohne allzuviel darüber nachzudenken, ob man es mit Gift oder Drogen versetzt haben könnte. Nachdem sie gegessen hatte, wurde die Tür zu ihrer Zelle wieder geöffnet, und Seyll Auzkovyn kam abermals zu ihr.
Die Priesterin hatte den langen, schweren Mantel abgelegt und trug nun das elegante Reitgewand einer Dame, das aus einer bestickten grünen Jacke und einem knielangen Rock, dazu eine cremefarbene Bluse und hohe Stiefel, die zur Jacke paßten, bestand. Der Anblick einer Drow-Priesterin, die als vornehme Oberflächen-Elfe gekleidet war, wirkte auf Halisstra abstoßend.
»Hat der Oberflächenfürst Euch so angezogen?« zischte sie die Verehrerin Eilistraees an. »Ihr wirkt fast wie eine völlig hilflose Edeldame der verfluchten Sonnenelfen.«
»Wie anders sollte ich mich kleiden?« erwiderte Seyll. »Ich bin hier unter Freunden und muß keine Rüstung tragen. Außerdem habe ich festgestellt, daß die Schädel- und Spinnenmotive meiner bisherigen Kleidung das Oberflächenvolk zu beunruhigen schien.« Sie gab den Wachen ein Zeichen, dann wurde die Tür hinter ihr geschlossen. »Abgesehen davon«, fuhr sie fort, »gibt es hier keine Sonnenelfen.«
»Für mich sind sie alle gleich«, sagte Halisstra.
»Wenn Ihr sie besser kennengelernt habt, werdet Ihr auch in der Lage sein, sie besser zu unterscheiden.«
»Ich hege nicht den Wunsch dazu.«
»Seid Ihr Euch da sicher? Es ist von Vorteil, wenn man seine Feinde kennt. Vor allem, wenn sie gar keine Feinde sein müssen.«
Seyll kniete sich neben Halisstra und sammelte sich. Sie war jung, kaum über hundert, und auf ihre Art war sie hübsch. Doch ihre Haltung war ... falsch. Ihren Augen fehlte es an dem begierigen Ehrgeiz und dem kalten Taxieren – Eigenschaften, die Halisstra sonst im Gesicht aller Elfen gesehen hatte, von denen sie umgeben gewesen war. Seylls geduldiger Ausdruck konnte sehr leicht mit Unterwürfigkeit verwechselt werden, einem fehlenden Willen, sich durchzusetzen, und doch strahlte sie eine ruhige Gelassenheit aus, die darauf hinzudeuten schien, daß sie sich bestens unter Kontrolle hatte.
Halisstras Blick fiel auf Seylls Hände, als die Priesterin ihre Kleidung glattstrich. Sie waren kräftig und schwielig, wie es sonst bei einem Waffenmeister der Fall war.
»Ich hatte heute Gelegenheit, mich mit den Wappen auf Euren Waffen zu beschäftigen und mir die Objekte in Ruhe anzusehen. Melarn ist ein führendes Haus in Ched Nasad, nicht?«
»Das war es«, gab Halisstra zurück.
Augenblicklich verdammte sie sich für ihre Nachlässigkeit. Wenn die Bewohner der Oberfläche nichts vom Schicksal Ched Nasads wußten, dann war es wohl kaum notwendig, Informationen leichtfertig zu verschenken. Sie mußte für alles, was sie preisgab, eine Gegenleistung fordern.
»Ihr wurdet in einem internen Krieg der Häuser besiegt?«
Seylls Mutmaßung war nachvollziehbar. Wenn Häuser der Drow untergingen, ihren Status verloren oder auf andere Weise unbedeutend wurden, waren dafür normalerweise Aktionen anderer Häuser verantwortlich.
»Nicht ganz«, antwortete sie.
Seyll wartete eine ganze Weile, ob Halisstra ins Detail gehen würde, doch als das nicht geschah, schlug die Priesterin Eili-straees eine andere Taktik ein.
»Ched Nasad ist weit weg. Mindestens tausend oder zwölfhundert Kilometer, und die große Wüste Anauroch und die Gestürzten Länder, wo die Phaerimm lauern, liegen zwischen dort und hier. Fürst Dessaer möchte mehr über die Umstände erfahren, wieso es eine hochrangige Tochter eines mächtigen Hauses aus Ched Nasad in das Land seines Volks verschlägt. Wenn ich ehrlich bin, bin ich auch neugierig.«
»Ist das Eure Verhörmethode?« fragte Halisstra. »Ihr leiht mir mitfühlend Euer Ohr, damit ich aus scheinbarer Freundschaft Fragen beantworte?«
»Ich muß etwas über den Grund Eurer Anwesenheit in Cormanthor erfahren, ehe Fürst Dessaer Euch in meine Obhut entläßt. Wenn Euer Grund tatsächlich so harmlos ist, wie Ihr behauptet, gibt es keine Veranlassung, Euch noch länger hier festzuhalten.«
»Mich entlassen?« Halisstra lachte leise. »Wie ich sehe, habt Ihr trotz Eurer Abkehr von Lolth nicht Euren Sinn für Grausamkeit verloren. Haben Eure Freunde von der Welt hier oben Euch gebeten, mit den Hoffnungen Eurer Gefangenen zu spielen, indem Ihr ihr die Freilassung vorgaukelt, wenn sie mit Euch zusammenarbeitet? Oder habt Ihr diese Taktik selbst vorgeschlagen? Glaubt Ihr wirklich, ein Tag in dieser verfluchten Zelle würde genügen, um mich so sehr verzweifeln zu lassen, daß ich auf ein leeres Versprechen hereinfalle?«
»Die Hoffnung, die ich Euch mache, ist kein leeres Versprechen«, sagte Seyll. »Sagt uns, was Ihr hier tut. Zeigt uns, daß Ihr keine Feindin unseres friedliebenden Volkes in Cormanthor seid. Dann werdet Ihr Eure Freiheit zurückerhalten.«
»Ihr könnt nicht erwarten, daß ich Euch das glaube.«
»Nun, ich bin hier, oder?« gab Seyll zurück. »Offenbar können doch einige von uns lernen, mit den Bewohnern der Oberflächenwelt in Frieden zusammenzuleben.«
»Ihr habt auch nichts von diesen Bewohnern zu befürchten«, erwiderte Halisstra. »Eure tanzende Göttin ist zu schwach, um ihnen gefährlich zu werden.«
»Wie ich schon sagte, war ich eine Priesterin Lolths, bevor man mich gefangennahm«, erklärte Seyll. Sie beschrieb mit den Händen eine flehende Geste, eine zeremonielle Haltung, die Halisstra bestens vertraut war. In der Sprache der Ebenen des Abgrundes, wo Lolth zu Hause war, setzte Seyll zu einem hohen, geheimen Gebet an: »Große Göttin, Mutter der Dunkelheit, gib mir das Blut meiner Feinde zu trinken und laß mich ihr lebendiges Herz verspeisen. Gib mir die Schreie ihrer Kinder für meine Gesänge, und gib mir die Hilflosigkeit ihrer Männer für meine Befriedigung, gib mir den Reichtum ihrer Häuser, damit ich gut schlafe. Mit diesem unwürdigen Opfer ehre ich dich, Königin der Spinnen, und erbitte von dir die Kraft, um meine Gegner zu vernichten.«
Die infernalischen Worte schienen vor finsterer Macht zu knistern. Jede der rauhen Silben war mit böser Energie erfüllt, die sich wie ein Gift in der Zelle ausbreitete. Seyll beschrieb mit einer Hand die Art und Weise, wie das Messer zu führen war, dann hockte sie sich wieder hin.
Sie wechselte zurück in die Sprache der Elfen und sagte mit geschlossenen Augen: »Viele unglückliche Seelen sind durch meine Klinge gestorben, doch hier konnte ich Buße tun und Frieden finden. Ob dich das auch erwartet, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Doch ich biete mich dir als Beweis dafür an, daß du dich in diesen Ländern in Frieden bewegen kannst, wenn du das wünschst.«
Halisstra starrte Seyll an, als sehe sie sie zum ersten Mal. Sie hatte die Priesterin erneut als schwächliche Versagerin verdammen wollen, als eine Verräterin an der einen, wahren Göttin. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Einzig eine Priesterin von hohem Status konnte dieses Ritual erlernt haben, und doch hatte sich Seyll von Lolth abgewandt. Aber nicht nur das – sie lebte auch noch und schien mit ihrer Entscheidung zufrieden zu sein. Natürlich war Halisstra über viele Jahre hinweg indoktriniert worden, damit sie Ketzerei und Abkehr von Lolth als die schlimmsten vorstellbaren Verbrechen ansah. Doch in all der Zeit der Aufopferung und Erniedrigung vor dem Altar Lolths war sie niemals einer echten Abtrünnigen begegnet. Sicher, sie hatte immer wieder einmal ihren Rivalinnen unterstellt, sie würden sich von Lolth abwenden, doch tatsächlich jemandem gegenüberzustehen, der wirklich diesen größten Verrat an der Göttin begangen hatte und der – bislang jedenfalls – überlebt hatte, um anderen davon zu berichten ...
»Ich möchte Euch zu etwas herausfordern«, sagte Seyll. »Ich glaube, Ihr habt dafür die nötige Intelligenz und Phantasie, aber das werden wir schon sehen. Stellt Euch für einen Moment vor, Ihr könntet an einem Ort leben, an dem es Euch möglich wäre, durch die Straße zu gehen, ohne Angst zu haben, ein Assassine könnte Euch einen Dolch in den Rücken jagen. Stellt Euch vor, Eure Freunde – echte Freunde – wollen von Euch nichts weiter als Eure Gesellschaft, Eure Schwestern loben Euch für Eure Leistungen, anstatt Euch Euren Erfolg abzusprechen, und Eure Kinder werden nicht ermordet, weil sie ohne eigene Schuld versagt haben. Stellt Euch vor, Euer Geliebter liebt Euch Euretwegen, nicht wegen Eures Status oder Eures Einflusses. Stellt Euch vor, Eure Göttin will mit Euch Eure Freude feiern, nicht Eure Angst.«
»Es gibt keinen solchen –«
»Ihr antwortet zu schnell. Ich bat Euch, Euch das vorzustellen, wenn Ihr könnt«, sagte Seyll. Sie stand auf und entfernte sich, wobei sie Halisstra den Rücken zuwandte. »Ich werde warten.«
»Ich kann mir solchen Unsinn nicht vorstellen. Es ist eine leere Phantasie, die nichts bedeutet. Wir sind dafür nicht bestimmt; niemand ist das, weder Drow noch Lichtelfen, nicht einmal die banalen Menschen. Nur ein Narr lebt in Träumen.«
»Aber wäre es nicht dennoch angenehm?« fragte Seyll über die Schulter nach hinten. »Ihr müßt ständig unmögliche Träume haben. Jedes denkende Wesen hat sie. Vielleicht habt Ihr davon geträumt, Macht über Eure Feinde zu haben. Oder Ihr habt von einem unerreichbaren Liebhaber geträumt. Oder davon, den Status zu erlangen, der Eurer gerecht wird.«
Halisstra schnaubte gereizt und zerrte an ihren Fesseln.
»Wenn Ihr Euch vorstellen könnt, all Eure Feinde auf einen Schlag zu vernichten, dann könnt Ihr Euch auch vorstellen«, bohrte Seyll nach, »daß Ihr treue Freunde habt und daß eine Göttin sich mit Eurer Loyalität zufriedengibt und nicht noch Opfer verlangt.«
»Alle Götter verlangen Opfer. Ihr macht Euch etwas vor, wenn Ihr glaubt, Eilistraee sei anders. Vielleicht ist Eurer Wille einfach nur zu schwach, um zu verstehen, wie Ihr an sie gebunden seid.« Halisstra sah weg und fügte hinzu: »Ihr habt es geschafft, mich zu langweilen. Ihr dürft gehen.«
Die Priesterin schritt zur Tür und klopfte auf das rostige Eisen, während sie sich wieder Halisstra zuwandte. »Was, wenn ich Euch zeigen kann, daß Ihr irrt?« fragte sie leise. »Morgen nacht tanzen wir im Wald zu Eilistraees Freude. Ich werde Euch hinbringen, dann könnt Ihr mit eigenen Augen sehen, was unsere Göttin von uns verlangt.«
»Ich werde das nicht mitmachen«, herrschte Halisstra, die inzwischen so verärgert war, daß sie völlig vergessen hatte, eine Wendung hin zum Glauben der Bewohner der Oberfläche vorzutäuschen.
»Ist Euer Glaube an Lolth so schwach, daß Ihr es nicht ertragen könnt, uns tanzen zu sehen?« fragte Seyll. »Hört es Euch an, seht es Euch an, und dann fällt Euer Urteil. Mehr verlange ich nicht von Euch.«
Der nicht abreißende schwarze Luftstrom, der durch die vertikalen Straßen des in Ruinen liegenden Chaulssin fegte, begrüßte Nimors Rückkehr mit einem Sperrfeuer aus heftigen Windstößen, die solche Kraft besaßen, daß er einen Moment lang ringen mußte, um nicht umgerissen zu werden. Sein weißes Haar peitschte wie ein wirrer Heiligenschein um seinen Kopf, und die Gesalbte Klinge blieb einen Augenblick stehen, bis die Böe vorüber war.
Er konnte nicht lange in der Stadt der Wyrmschatten bleiben, schon gar nicht, wenn die Armee Menzoberranzans marschierte und das Kontingent von Agrach Dyrr mit ihr unterwegs war. Doch andererseits war er auch nicht so in Eile, daß er nicht für einen kurzen Moment in der verborgenen Zitadelle seines geheimen Hauses hätte verweilen können. Nimor Imphraezl war immerhin Prinz von Chaulssin, und die großartige Ruine war sein Reich. Er war hier nicht geboren, und er hatte in der von Schatten heimgesuchten Stadt auch nicht die Jahre seiner Kindheit verbracht. Dieser Ort war für ein Kind viel zu gefährlich, darum brachten die Jaezred Chaulssin ihre Prinzen in einem Dutzend niederer Häuser in vielen Städten im Unterreich unter. Als Nimor aber erwachsen geworden war und sein uraltes Erbe angetreten hatte, hatte er die stürmische Ruine als seinen Palast angesehen.
Die Böe ließ nach, jedenfalls in dem Maß, in dem der Wind schwächer wurde, der unablässig durch die schwarze Schlucht rings um die Stadt fegte. Nimor ging weiter. Über die Schattenebene war Menzoberranzan kaum mehr als eine Stunde entfernt, so daß es für Nimor ein leichtes gewesen war, einen Vorwand zu finden, um sich von der marschierenden Kolonne zu lösen: Er mußte sich einer »persönlichen Angelegenheit« widmen. Auch wenn Andzrel Baenre die Hauptleute der Häuser plötzlich zu einem Kriegsrat einberufen sollte, während Nimor unterwegs war, stellte seine Abwesenheit kein ernstes Problem dar. Die Armee rückte so schnell vor, wie man es erwartete, doch niemand würde Verdacht schöpfen, wenn ein Adliger für kurze Zeit in der Stadt zurückblieb, um sich später wieder den Truppen anzuschließen.
Er erreichte die große Wendeltreppe, die ins Herz des Berges von Chaulssin gehauen worden war, und nahm zwei Stufen auf einmal. Im großen Saal am Kopf der Treppe fand er die Vaterpatrone wieder versammelt vor, die in Zweier- und Dreiergruppen zusammenstanden, um Neuigkeiten auszutauschen und Pläne zu schmieden, wie sie das Haus durch die anstehende, bemerkenswerte Gelegenheit voranbringen wollten. Großvater Mauzzkyl drehte sich um und warf Nimor seinen gefürchteten wütenden Blick zu, als der Assassine eintrat.
»Wieder laßt Ihr uns warten«, sagte er.
»Ich bitte um Verzeihung, verehrter Großvater«, erwiderte Nimor. Er stellte sich zu den anderen in den Kreis und verbeugte sich knapp. Aus der Ferne hörte sich das Heulen des Windes noch unheimlicher an. »Ich wurde zu einem Kriegsrat gerufen, und es wäre nicht klug gewesen, ihm fernzubleiben.«
»Das könnte man auch über diese Versammlung sagen«, stellte Vaterpatron Tomphael fest.
Nimor zwang sich zu einem Lächeln und erwiderte: »Ich habe einige Zeit und Mühe investiert, um eine Identität zu wahren und bei den Verteidigern Menzoberranzans ein gewisses Maß an Verantwortung zu erlangen, Tomphael. Diese Bemühungen sollten nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Solange der verehrte Großvater mich nicht anderweitig instruiert, werde ich Euch immer dann warten lassen, wenn es notwendig ist, unseren Plan vor Günstlingen Lolths zu schützen und ...«
»Das reicht, Nimor«, polterte Mauzzkyl. »Wie kommt Ihr voran?«
»Bestens, verehrter Großvater. Kronprinz Horgar Stahlschatten aus Gracklstugh marschiert mit einer Armee von fast fünftausend Duergar auf Menzoberranzan. Die Muttermatronen haben beschlossen, sich den Duergar auf dem Schlachtfeld zu stellen, statt es auf eine Belagerung ankommen zu lassen. Sie fürchten die Kriegslust anderer Domänen des Unterreichs. Ich habe aber dafür gesorgt, daß sich die Armee des Kronprinzen heimlich auf Menzoberranzan zubewegt, und ich habe das Kommando über ein Truppenkontingent, das im richtigen Moment umschwenken wird, um den gewünschten Ausgang dieses Konflikts sicherzustellen. Außerdem konnte ich den Cambion-Kriegsherrn Kaanyr Vhok davon überzeugen, mit seiner Armee aus Tanarukks ebenfalls gegen Menzoberranzan zu ziehen, allerdings bin ich mir bei der Geknechteten Legion nicht so sicher. Kaanyr Vhok taucht vielleicht nicht auf, und wenn doch, hat er wenig Grund, sich uns verpflichtet zu fühlen.«
»Ihr wollt also die Streitkräfte Menzoberranzans vernichten«, stellte Patron Xorthaul fest. Der Priester in der schwarzen Rüstung strich sich übers Kinn. »Was, wenn die Menzoberranzanyr sich als widerstandsfähiger erweisen, als Ihr es erwartet habt? Was, wenn sie die Duergar vernichtend schlagen? Oder sich Kaanyr Vhok als unzuverlässig entpuppt? Es wäre besser gewesen, eine kleinere Streitmacht in Eure Falle zu locken. Euer Spiel ist zu riskant.«
»Hätte ich die Duergar nicht als Gefahr dargestellt, dann wären die Muttermatronen kaum versucht gewesen, etwas anderes zu tun als sie zu ignorieren. Wie die Sache nun liegt, gibt es drei mögliche Ausgänge für den Kampf zwischen Gracklstugh und Menzoberranzan. Die Duergar könnten gewinnen, es könnte zu einem Patt kommen, oder die Drow siegen. Wir tun, was wir können, um die Armee Menzoberranzans in die Hände des Kronprinzen fallen zu lassen. Doch selbst wenn es ihm nicht gelingen sollte, die Menzoberranzanyr vernichtend zu schlagen, stehen die Chancen gut, daß die Duergar den Anhängern Lolths schwere Verluste zufügen werden. In dem Fall könnten die Duergar unseren Feind genügend schwächen, damit wir ihn selbst niederringen können. Im schlimmsten Fall, wenn also Gracklstugh ausgelöscht wird, dann ... nun, dann würde unser Plan zwar scheitern, aber wir würden wenig verlieren.«
»Vergeßt nicht, Xorthaul, unsere Strategie gegen Menzoberranzan ist die des Zermürbens«, fügte Mauzzkyl an. »Die Stadt ist zu stark, um sie in einem Zug zu nehmen, also müssen wir ihr Dutzende von Wunden zufügen, damit sie ausblutet.«
»Die Magier von Menzoberranzan werden sicher mit einem Erkenntniszauber von der Existenz einer so großen Armee unmittelbar vor den Toren der Stadt erfahren«, warf Patron Tomphael ein, der selbst Magier war. »Die Muttermatronen werden ihre Armee zurückbeordern oder statt dessen Euren Hinterhalt gegen die Duergar wenden.«
»Unsere Verbündeten in Agrach Dyrr haben uns in diesem Punkt geholfen«, sagte Nimor. »Gromph Baenre ist verschwunden. Die Meister Sorceres prüfen nun natürlich gegenseitig ihre Entschlossenheit und Fähigkeiten, um festzustellen, wer von ihnen der neue Erzmagus sein soll.«
»Es gibt viele mächtige Magier, die den Häusern der Stadt dienen«, erwiderte Tomphael. »Sie werden sich nicht ablenken lassen, nur weil sich in Sorcere eine Gelegenheit zum Aufstieg ergibt.«
Nimor reagierte mit einem bedauernden Nicken, dann sagte er: »Richtig. Aber wir wissen auch, daß Hausmagier dazu neigen, viel Zeit damit zu verbringen, die Schwächen der anderen Häuser auszuspionieren. Bisher ist offenbar niemand vorgetreten, um meine Version der Ereignisse anzufechten, die ich dem Rat vortrug.«
»Es wäre schlichtweg klug, von vornherein von der Annahme auszugehen, daß Euer Plan zum ungünstigsten Zeitpunkt aufgedeckt wird«, sagte Patron Xorthaul. »Was werdet Ihr tun, wenn ein neugieriger Schüler in einem zweitrangigen Haus ausspäht, daß die Armee des Kronprinzen im Anmarsch ist? Was, wenn die Muttermatronen daraufhin ihre Truppen zurückziehen? Sie könnten einer Belagerung bis in alle Ewigkeit standhalten.«
»Jetzt seht Ihr«, erwiderte Nimor geduldig, »warum ich soweit ging, Agrach Dyrr eine Allianz vorzuschlagen und entschied, das Risiko einzugehen, Kaanyr Vhok zu einem Teil der Gleichung zu machen. Wir brauchen das Fünfte Haus, um dieser Eventualität vorzubeugen, damit Horgars Armee – oder die Geknechtete Legion – in die Stadt eingelassen werden, sollte dieser Fall eintreten.«
Mauzzkyl verschränkte die Arme und senkte den finsteren Blick.
»Wir werden sie in jedem Fall in der Hand haben«, sagte der verehrte Großvater und gestattete sich ein zufriedenes, finsteres Lächeln. »Wenn Vhok Euch verrät, könnt Ihr auf Agrach Dyrr zurückgreifen, wenn Agrach Dyrr Euch verrät, habt Ihr immer noch den Cambion. Ich nehme an, Dyrr und Kaanyr Vhok wissen nichts voneinander?«
»Ich hielt es für das beste«, antwortete Nimor, »für jeden meiner Verbündeten mindestens noch eine Überraschung in petto zu haben, verehrter Großvater. Es schien mir ratsam sicherzustellen, daß mir so viele Optionen wie möglich zur Verfügung stehen, während ich den Angriff auf die Stadt entwickelte.«
»Hervorragend. Wie können wir Euch unterstützen?«
Der Mann, der die Gesalbte Klinge genannt wurde, dachte darüber nach. Er fühlte sich versucht, jede Unterstützung abzulehnen, damit er allen Ruhm für den bevorstehenden Sieg für sich beanspruchen konnte. Doch der Zeitpunkt rückte näher, an dem die Rolle, die er an der Spitze der Armee Menzoberranzans spielte, es ihm immer seltener erlauben würde, sich nach Belieben von hier nach dort zu bewegen. Außerdem benötigte er Hilfe, um Vhok in Schach zu halten, und wenn sich der Zepterträger als unzuverlässig erweisen sollte, dann konnte er demjenigen daran die Schuld geben, der zu dem Kriegsherrn entsandt worden war.
»Wir sollten unsere Kräfte bündeln und bereit sein, zuzuschlagen, wenn unsere Verbündeten ihre Rolle bei der Dezimierung der Verteidiger Menzoberranzans übernehmen«, sagte er.
»Wir verfügen über keine großen Streitkräfte, Gesalbte Klinge«, wandte Mauzzkyl ein, »und ich werde nicht die Jaezred Chaulssin in eine offene Schlacht schicken.«
»Ich verstehe, verehrter Großvater.« Selbst wenn sie ihre Kräfte zusammenschlossen, würde das geheime Haus es zahlenmäßig nicht einmal mit einem der unbedeutenden Häuser von Menzoberranzan aufnehmen können – auch wenn die Jaezred Chaulssin eine Wirkung erzielen konnte, die in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl stand. »Einer unserer Brüder muß sich zu Kaanyr Vhok und dessen Geknechteter Legion begeben, um den Kriegsherrn in die richtige Richtung zu dirigieren. Meine Verantwortung in der Armee Menzoberranzans und meine Bemühungen, Horgar Stahlschatten und die abtrünnigen Agrach Dyrr zu lenken, lassen es nicht zu, daß ich in dem Maß ein Auge auf Vhok habe, wie es mir lieb wäre.«
Mauzzkyl nickte und sagte: »Nun gut. Zammzt, für Euch gibt es in Ched Nasad nichts mehr zu tun. Ich will, daß Ihr Euch zu Kaanyr Vhok begebt und in seinem Lager für uns sprecht. Tut, was erforderlich ist, um seine Armee gegen Menzoberranzan eingestellt zu belassen, aber Rechenschaft müßt Ihr Nimor ablegen.«
»Natürlich, verehrter Großvater«, erwiderte der Assassine mit dem glatten Gesicht. Er sah zu Nimor, ließ sich aber nicht anmerken, was ihm durch den Kopf ging.
»Ich habe mich Kaanyr Vhok über seine Gefährtin Aliisza genähert«, ließ Nimor Zammzt wissen. »Sie ist ein Alu-Scheusal und eine recht begabte Hexenmeisterin. Sie weiß, daß ich eine Vereinigung oder einen Orden vertrete, daher sollte es sie nicht überraschen, wenn an meiner Stelle ein anderer auf sie zukommt.«
Auch wenn ich bezweifle, daß sie dich genauso willkommen heißen wird wie mich, dachte er insgeheim.
»Wann erwartet Ihr das erste Aufeinandertreffen der Menzoberranzanyr und der Armeen Horgars?« fragte Mauzzkyl.
»In vier Tagen, schätze ich.«
»Tut, was Ihr könnt, um Uneinigkeit und Unsicherheit zu säen, Gesalbte Klinge«, wies Mauzzkyl ihn an. »Die Zeit für Heimlichkeiten geht ihrem Ende entgegen. Die Jaezred Chaulssin treten aus dem Schatten und ergreifen die Initiative. Vernichtet die Armee der Muttermatronen und bringt Eure Duergar-Verbündeten so schnell wie möglich nach Menzoberranzan. Wir werden uns dort treffen und feststellen, ob der maskierte Gott uns gnädig ist oder nicht.«
Nimor verbeugte sich wieder, dann wandte er sich ab und verließ die Vaterpatrone. Irgend etwas bei seinem Plan würde schiefgehen – es mußte einfach dazu kommen. Niemand konnte ein so komplexes Aufeinandertreffen so vieler verschiedener Streitmächte initiieren, ohne daß scheinbare Nebensächlichkeiten übersehen wurden. Soweit er es aber zu sagen vermochte, waren die Jaezred Chaulssin gut vorbereitet. Je länger er die todbringenden Manöver seiner Verbündeten und seines Hauses geheimhalten konnte, desto größer waren seine Erfolgsaussichten.
Vielleicht sollte ich Andzrel ermutigen, mich zum Führer der Späher dieser Expedition zu machen, überlegte Nimor. Immerhin war es unnötig, den Baenre mit unnötigen Berichten über Armeen auf dem Vormarsch zu behelligen.
Die Dunkelelfen des Hauses Jaelre erwiesen sich als mißtrauische und unhöfliche Gastgeber. Ryld hatte erwartet, man würde sie in irgendeine Art von Audienzsaal führen, wo sie mit der Matriarchin des Clans zusammengetroffen wären, um sie zu bestechen, zu bedrohen oder einfach zu überreden, ihnen ein Gespräch mit Priester Tzirik zu gestatten. Nichts dergleichen war geschehen. Da sie sich weigerten, ihre Waffen abzulegen, drängten die Jaelre-Drow die Gruppe in einen kleinen, nicht mehr benutzten Wachraum, von dem aus einst das Haupttor der Burg überwacht worden war.
»Ihr werdet hier warten, bis Tzirik beschließt, Euch zu empfangen«, erklärte die Frau, die die Wache befehligte. »Wenn Ihr versucht, diesen Raum zu verlassen, dann werden wir das als Zeichen von feindseligen Absichten werten und Euch sofort angreifen.«
»Wir sind Abgesandte einer mächtigen Stadt«, konterte Quenthel. »Daß Ihr uns so schlecht behandelt, kann für Euch gefährlich werden.«
»Ihr seid Sklaven Lolths, und wahrscheinlich seid Ihr auch Spione und Saboteure«, gab die Frau zurück. »Lolth hat hier keine Macht, spinnenküssendes Miststück.«
Sie schloß und verriegelte die eiserne Tür, ehe Quenthel eine angemessene Erwiderung einfiel, obwohl die wilde Erregung der Schlangenköpfe ihrer Peitsche erkennen ließ, wie groß ihre Wut war.
»Sollen wir hier eingeschlossen bleiben wie Pöbel, der im Schuldturm einsitzt?« knurrte Jeggred. »Ich hätte Lust ...«
»Noch nicht, Jeggred«, konterte Quenthel.
Sie ging wütend auf und ab, ihr Mund bewegte sich in lautloser Wut. Es war der blanke Zorn, der Quenthel diese Energie verlieh. In einem kleinen Raum eingeschlossen zu sein, ohne daß sie ihrer Wut freien Lauf lassen konnte, würde für sie alle schwierig werden.
Danifae sah ihr einen Moment lang zu, dann legte sie beschwichtigend die Hand auf den Arm der Baenre.
»Was willst du?« herrschte die Priesterin sie an.
»Euer Eifer ist bewundernswert«, sagte Danifae. »Aber ich bitte Euch. Wir müssen geduldig sein.« Sie schirmte ihre Hände ab, so gut es ging, und fügte an: Wir könnten beobachtet werden.
»Das ist ein wichtiger Punkt, Quenthel«, stimmte Pharaun ihr bei. »Ihr wollt sicher keinen Kampf mit den Leuten beginnen, derentwegen wir gekommen sind. Eure schroffen Worte und Euer stolzes Gehabe machen sich in Arach-Tinilith besser als vor der Haustür einer anderen Göttin.«
Quenthel wirbelte so hastig herum, um Pharaun einen eisigen Blick zuzuwerfen, daß Danifae sie festhalten mußte. Danifae selbst sah Pharaun giftig an, Verachtung verzerrte ihre hübschen Züge.
»Still, Pharaun«, herrschte die Kriegsgefangene ihn an. »Eure Arroganz und endlosen Sticheleien sind in Sorcere besser aufgehoben. Wenigstens hat die Herrin die Kraft ihrer Überzeugung. Ihr dagegen habt nur Euren Zynismus.«
Danifae betrachtete Quenthels Gesicht und lächelte.
»Spart Euch Eure Wut für später auf«, redete die Kriegsgefangene leise auf sie ein. »Sicher wird die Göttin zufriedener sein, wenn Ihr die Ungläubigen zur Rechenschaft zieht, nachdem sie ihren Nutzen verloren haben, anstatt die Werkzeuge zu zerstören, die nötig sind, um ihr zu dienen.«
Quenthel entspannte sich. Sie atmete tief durch, dann nahm sie an einem Holztisch Platz, auf dem ein Krug mit Wasser stand.
»Nun gut«, hauchte sie. »Wir werden warten, was geschieht.«
Aus Rylds Erfahrung kam Quenthels Verhalten dem Eingeständnis, daß sie im Irrtum war, so nahe, wie es nur möglich war. Da sonst nichts zu tun war, ließ sich die Gruppe nieder, um darauf zu warten, was die Jaelre mit ihnen vorhatten.
Stunden verstrichen. Die Nacht wich einem bedeckten Morgen, der nahtlos in einen grauen, regnerischen Nachmittag überging.
Ryld betrachtete aufmerksam die Teile der Burg, die er durch die schmalen Schlitzen gleichen Fenster sehen konnte, und kam zu dem Schluß, daß die Minauth-Feste nicht halb so heruntergekommen war, wie es zunächst ausgesehen hatte. Die Jaelre hatten einen Großteil des alten Baus wiederhergestellt, allerdings das Erscheinungsbild unverändert gelassen.
Als das Warten schließlich unerträglich wurde, lehnte sich der Waffenmeister im Schneidersitz an eine Wand der Kammer und ließ sich in eine leichte Trance gleiten. Splitter lag – aus der Scheide gezogen – quer auf seinem Schoß, damit die Klinge griffbereit war, sollte er sie dringend benötigen.
Die Nacht setzte bereits wieder ein, als er aus seiner Trance gerissen wurde, da dreimal so kräftig gegen die Eisentür geschlagen wurde, daß es in der kleinen Kammer dumpf widerhallte. Dann wurde aufgeschlossen, und die Hauptmännin vom Abend zuvor kam herein, gefolgt von mehreren Jaelre-Wachleuten.
»Hohepriester Tzirik will Euch sehen«, erklärte sie. »Ihr sollt Eure Waffen ablegen. Der Magier muß einverstanden sein, daß ihm die Daumen zusammengebunden werden, und der Draegloth muß Fesseln tragen.«
»Das werde ich nicht«, knurrte Jeggred. »Wir sind keine Gefangenen, die in Ketten vor Euren Herrn gezerrt werden. Warum sollten wir das für Euch tun, wenn Euch die Kraft fehlt, uns dazu zu zwingen?«
»Ihr kamt zu uns, Dämonenbrut«, sagte die Hauptmännin.
»Herrin?« flüsterte Danifae.
Ohne den Blick vom Gesicht der Befehlshaberin abzuwenden, zog Quenthel ihre Peitsche. Sie wog sie einen Moment lang in der Hand, als überlege sie, was sie tun sollte. Dann aber warf sie sie in die Ecke.
»Yngoth, bewache unsere Waffen«, sagte sie zu einer der Vipern. »Töte jeden, der sich in unserer Abwesenheit mit unseren Sachen befassen will. Jeggred, du läßt dich fesseln. Pharaun, Ihr auch.«
Ryld seufzte und legte Splitter auf den Boden, um die Klinge dann weit genug zu treten, daß sie in Reichweite von Quenthels Vipern landete. Valas legte seine Kukris ab, während Pharaun das Gesicht verzog, vortrat und die Hände ausstreckte. Ein Jaelre band seine Daumen mit fester Kordel zusammen, eine Vorsichtsmaßnahme, die es ihm sehr schwierig machen würde, jene komplexen Gesten und Bewegungen zu beschreiben, die für viele seiner Zauber notwendig waren. Jeggreds große obere Arme, die in den geschwungenen Klauen ausliefen, wurden aneinandergekettet, während man seine kleineren, humanoiden Arme nicht band.
Der Draegloth knurrte.
»Still, Neffe«, sagte Quenthel, dann wandte sie sich der Jaelre-Hauptmännin zu. »Bringt uns zum Priester.«
Die Frau nickte ihren Männern zu, die ihre Schwerter zogen und eine enge Phalanx rings um die Menzoberranzanyr bildeten. Vom Wachraum aus wurden sie tiefer in die Feste geführt und in einen großen Saal gebracht, der als Schrein für Vhae-raun, den maskierten Gott, eingerichtet worden war. Ryld sah sich interessiert den Tempel an, da er noch nie einen Ort besucht hatte, der einer anderen Gottheit als Lolth gewidmet war. Am anderen Ende des Saals, gegenüber dem Eingang, hing eine große Halbmaske von der Größe eines Turmschilds an der Wand. Das Symbol war aus Kupfer geschaffen, zwei schwarze Scheiben stellten die Augen dar.
Zwei Männer warteten auf sie. Der eine war jung und trug eine schwarze Rüstung, die seine muskulöse Brust betonte. An seinem Gürtel hing ein geschwungenes Kukri, um seinen Arm war eine kleine grüne Natter geschlungen. Sein linkes Bein war mit Eisen und Leder geschient, und er bewegte sich steif. Der andere war ungewöhnlich klein und stämmig, hatte breite Schultern und einen kahlen Kopf. Er trug einen Brustpanzer aus schwarzem Mithral und einen zeremoniellen Schleier aus schwarzer Seide.
»Die Besucher, Herr«, sagte die Hauptmännin.
Der verschleierte Priester betrachtete sie eingehend, doch was in ihm vorging, blieb ungewiß, da der dünne Stoff verhinderte, daß man sein Mienenspiel sehen konnte.
»Valas! So wahr ich lebe und atme«, rief er dann. »Das nenne ich eine Überraschung. Wir haben uns bestimmt seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen!« Einen Moment lang zögerte er, dann trat er vor und klopfte dem Späher von Bregan D’aerthe auf die Schulter. »Es ist viel zu lange her, alter Freund. Wie geht es?«
»Tzirik«, sagte Valas Hune und erwiderte das Lächeln. Auf seinem sonst so mürrischen Gesicht zeichnete sich plötzlich eine völlig ungewohnte Freude ab. Er nahm die Hand des Priesters und schüttelte sie. »Wie ich sehe, hast du doch noch diese Rückkehr erreicht, von der du immer gesprochen hast!« sprach er und sah sich im Saal um. »Was deine Frage angeht, wie es mir geht, nun, dazu werden einige Erklärungen erforderlich sein.«
Tzirik betrachtete die Versammelten.
»Ein Meister Sorceres«, sagte der Priester, »und ein Meister Melee-Magtheres.«
»Pharaun Mizzrym, ein erfahrener Magier«, erklärte Valas, »und Meister Ryld Argith, ein Waffenmeister mit großem Geschick.«
»Meine Herren, wenn Valas für Euch bürgt, dann seid Ihr in der Minauth-Feste willkommen«, erklärte er, doch seine Miene verhärtete sich, als sein Blick zu den anderen weiterwanderte.
»Der Draegloth ist Jeggred«, sagte Valas Hune, »ein Sproß des Hauses Baenre. Die niedere Priesterin ist Danifae Yauntyrr, eine hochwohlgeborene Dame von Eryndlyn, jüngst eine Kriegsgefangene. Die Führerin unserer Gruppe ist ...«
»Hohepriesterin Quenthel Baenre«, fiel sie ihm ins Wort. »Herrin Arach-Tiniliths, Meisterin der Akademie, Meisterin Tier-Breches, erste Schwester des Hauses Baenre aus Menzoberranzan.«
»Ah«, meinte Tzirik. »Wir haben selten mit solchen von Eurem Glauben zu tun, und erst recht nicht mit einer Priesterin, die so viele beeindruckende Titel besitzt.«
»Ihr werdet feststellen, daß ich mehr als nur Titel besitze, Priester«, erwiderte Quenthel.
Tziriks Gesicht war mit einem Schlag wie versteinert.
»Lolth mag in Euren vergrabenen Städten herrschen«, sagte er, »aber hier in der Nacht der Oberflächenwelt ist Vhaeraun der Herr.« Er wandte sich um und wies auf den verkrüppelten Mann hinter ihm. »Im Interesse der gegenseitigen Höflichkeit möchte ich Euch meinen Vetter vorstellen, Jezz aus dem Hause Jaelre.«
Der jüngere Mann kam angehumpelt.
»Ihr seid weit weg von zu Hause, Menzoberranzanyr«, sagte er heiser. »Das hat Euch das Leben gerettet. Die Spinnenküsser, mit denen wir streiten, kommen aus Maerimydra, ein paar Kilometer südlich von hier. Aber Menzoberranzanyr sind wir schon seit langem nicht mehr begegnet.«
Er lachte leise, da er offenbar irgend etwas als sehr witzig empfand. Auch Tzirik lächelte, doch seine Augen zeigten, daß er nicht amüsiert war.
»Jezz bezieht sich auf die Ironie der Tatsache, daß wir selbst auch Menzoberranzanyr sind oder es vor langer Zeit zumindest einmal waren. Vor fast genau fünfhundert Jahren befahl die weise und gütige Matrone Baenre, unser Haus solle zerstört werden, weil wir uns gleich zweier Perversionen schuldig gemacht hatten, weil unser Haus von Männern geführt wurde und weil wir den maskierten Gott anbeteten. Viele meiner Verwandten starben schreiend in den Verliesen der Burg Baenre. Von denen, die die Flucht wagten, starben viele mehr in den langen und entbehrungsreichen Jahren des Exils in den einsamen Weiten des Unterreichs. Ihr müßt verstehen, wie ironisch es ist, daß sich ausgerechnet eine Baenre in unsere Hände begibt. Auch wenn sich sonst nichts aus der Angelegenheit ergibt, die dich hergeführt hat, Valas, werde ich dir dafür dankbar sein.« Er kam näher und verschränkte die kräftigen Arme. »Warum seid Ihr hier?«
Quenthel verzog keine Miene. »Ihr müßt für uns mit Vhae-raun in Verbindung treten und Eurem Gott einige Fragen für uns stellen. Wir sind bereit, gut zu bezahlen.«
Tzirik hob die Brauen.
»Ist das wahr? Warum sollte Vhaeraun wollen, daß ich das für Euch mache?«
»Ihr werdet erfahren, was uns zu Euch gebracht hat, und Ihr werdet erfahren, was Euer Gott darüber weiß.«
»Ich könnte Euch auch einige Jahre lang foltern und würde es auch so erfahren«, erwiderte Tzirik. »Oder ich könnte mich einverstanden erklären, Eure Fragen an den maskierten Gott weiterzuleiten, Euch aber nicht die Antworten sagen.«
»Das mag sein«, gab Quenthel zurück. »Allerdings glaube ich, Euch zeigen zu können, daß wir alles andere als wehrlos sind, auch wenn wir unsere Waffen nicht bei uns tragen. Ehe wir es darauf ankommen lassen, sollten wir doch versuchen, eine Einigung zu erzielen.«
»Sie blufft«, bemerkte Jezz. »Warum sollen wir uns mit diesen geifernden Kreaturen abgeben? Verschont Euren Freund, aber tötet die Priesterin.«
»Geduld, Jezz. Dafür haben wir später noch Zeit«, erklärte Tzirik, ging ein Stück weiter und sah dann wieder zu Quenthel. »Was wollt Ihr wissen?«
Quenthel straffte die Schultern und sah dem Priester in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wir wollen wissen, was mit Lolth geschehen ist«, antwortete sie dann. »Die Göttin verweigert uns unsere Zauber, und das nun schon seit Monaten. Da wir nicht auf die Magie zurückgreifen können, mit der sie uns normalerweise versorgt, fehlen uns die Möglichkeiten, sie direkt zu fragen.«
»Eure Göttin stellt Euch auf die Probe«, sagte Tzirik und begann zu lachen. »Sie hält Eure Zauber zurück, um zu sehen, wie lange Ihr ihr treu bleibt.«
»Das dachten wir auch«, fuhr Quenthel fort. »Aber das währt nun schon fast vier Monate, und wir können nur zu dem Schluß kommen, daß wir die Antwort selbst suchen sollen.«
»Warum wollt Ihr das einen Priester Vhaerauns fragen?« warf Jezz ein. »Die Priesterinnen einer benachbarten Stadt sollten sich dazu überreden lassen nachzuforschen.«
»Auch sie haben den Kontakt zur Göttin verloren«, antwortete Danifae. »Ich kam aus Ched Nasad, wo wir das gleiche Schweigen der Göttin erfuhren wie die Priesterinnen Menzoberranzans. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich alle Drow-Städte des Unterreichs mit der gleichen Situation konfrontiert sehen. Lolth spricht zu niemandem, weder zu Drow noch zu niederen Rassen.«
»Das würde erklären, warum sich die Maerimydra zurückzogen«, sagte Jezz leise. »Wenn ihre Priesterinnen machtlos sind, dann dürften sie mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt sein, daß sie uns unbehelligt lassen.«
»Die Fakten würden passen«, erwiderte Tzirik, der sich Pharaun zuwandte. »Was ist mit Euren vielgepriesenen Magiern? Konnten sie nicht Dämonen und Teufel in Scharen rufen, damit sie die Frage nach dem Schweigen Lolths beantworteten? War kein Erkenntniszauber möglich?«
»Wir mußten feststellen, daß die infernalischen Mächte kaum mehr wußten als wir«, erwiderte Pharaun. »Wie es scheint, hat Lolth den Kontakt zu benachbarten Ebenen des Abgrunds unterbrochen und die Grenzen ihres Reiches gegen andere Kräfte geschlossen.« Er hob die Hände und beschrieb eine knappe, sich selbst herabwürdigende Geste. »Jedenfalls entnahm ich das den Berichten meiner Kollegen, die sich mit der Sache befaßten. Ich konnte es persönlich nicht, weil der Erzmagier mich angewiesen hatte, keine solchen Wesen heraufzubeschwören, da mir ansonsten ein besonders grotesker und dementsprechend schmerzhafter Tod droht.«
Tzirik studierte die Menzoberranzanyr, dann schritt er hinüber zu Jezz, um sich mit ihm zu beraten. Die beiden Jaelre unterhielten sich leise, während die Menzoberranzanyr warteten. Ryld beobachtete verstohlen die Wachen, die in der Nähe standen, und überlegte, wie er eine von ihnen entwaffnen konnte, um selbst in den Besitz einer Waffe zu gelangen, wenn die Umstände das erfordern sollten. Er trug nach wie vor seinen von Zwergen geschaffenen Brustpanzer und war recht sicher, daß es ihm gelingen würde, einem der Wachleute die Hellebarde zu entreißen, ehe man ihn durchbohren konnte. Es mochte allerdings sinnvoller sein, mit dem Messer, das in seinem Gürtel steckte, Pharauns Fesseln durchzuschneiden, ehe er andere Schritte unternahm.
Er wurde in seinen Überlegungen gestört, als Tzirik und Jezz zur Gruppe zurückkehrten.
»Ich werde für Euch Vhaeraun anrufen«, erklärte der Hohepriester der Jaelre, »nicht zuletzt auch, weil ich selbst wissen will, was Lolth plant. Allerdings dürfte es nur gerecht sein, wenn ich dafür eine Gegenleistung erwarte. Immerhin habt Ihr Euch an mich gewandt. Daher werde ich mich erst an Vhaeraun wenden, wenn Ihr Eure Aufgabe erfüllt habt.«
»Gut«, murrte Quenthel. »Was wollt Ihr?«
»Drei Tage westlich von hier befinden sich die Ruinen Myth Drannors, einst die Hauptstadt des Elfenreichs Cormanthyr«, sagte Tzirik. »Im Verlauf unserer Erkundung dieser Ruinen sind wir zu der Ansicht gelangt, daß ein Buch mit geheimem und dementsprechend mächtigem Wissen – das Geildirion von Cimbar – in der geheimen Bibliothek des Turms eines Magiers verborgen sein muß, der nur noch eine Ruine ist. Wir benötigen das Wissen, das sich im Geildirion befindet, denn es wird uns helfen, die alten magischen Schutzzeichen zu beherrschen, die unsere seit langem verschwundenen Vettern von der Oberfläche über ihr Reich gelegt haben. Bedauerlicherweise werden die Ruinen der Stadt von Dämonen, Teufeln und Scheusalen aller Art heimgesucht, und der Turm selbst ist das Zuhause eines ungewöhnlich starken Betrachter-Magus. Wir haben zwei Expeditionen zum Turm entsendet, doch der Betrachter vernichtete oder vertrieb unsere Späher völlig mühelos. Ich will nicht noch mehr Leben aus meinen eigenen Reihen aufs Spiel setzen, dennoch wäre ich sehr gern im Besitz dieses Buches. Da Ihr offenbar das Beste seid, was Menzoberranzan zu bieten hat, könnt Ihr vielleicht dort erfolgreich sein, wo unsere Krieger bislang scheiterten. Bringt mir das Geildirion, und ich werde Vhaeraun fragen, was es mit Lolths Schweigen auf sich hat.«
»Wird erledigt«, erklärte Quenthel. »Gebt uns einen Führer, der uns den Weg weist, dann holen wir Euch das Buch.«
Jezz lachte. »Ihr würdet vielleicht nicht so schnell Euer Einverständnis geben, wenn Ihr wüßtet, wie gefährlich der Betrachter wirklich ist. Ihr werdet selbstverständlich Unterstützung bekommen.«