11

Die Waldlandschaft an der Oberfläche entpuppte sich als ein fremdartiger und beunruhigender Ort. Als sich die Gruppe vom Rand der Lichtung entfernte, wich das dichte Unterholz einer schier endlosen Halle aus runden Stämmen, die sich bis hinauf zum Laubdach erstreckten und wie die Säulen einer düsteren Elfenhalle in den Ländern unter ihnen wirkten. Umgestürzte Bäume lagen kreuz und quer und waren von leuchtend grünem Moos überzogen. Manche von ihnen waren so groß, daß die Gruppe einen großen Umweg machen oder sich unter dem Hindernis hindurchzwängen mußte. Schnee hatte sich seinen Weg durch das dichte Laub gebahnt, und von den Zweigen hoch über ihnen tropfte ständig kaltes Wasser auf sie herab. Anders als die leblose Abgeschiedenheit Anaurochs war der Wald nicht nur voller Bäume und Sträucher, sondern wurde auch von allen möglichen kleinen Tieren und Vögeln bevölkert. Nachdem sie mehrmals erschrocken stehengeblieben war, hatte Halisstra es schließlich geschafft, etliche der leisen Vogelrufe und der anderen Geräusche zu identifizieren. Das befähigte sie, sie ins Reich der Bedeutungslosigkeit zu verbannen.

Anfangs hatte sie befürchtet, sie könnte die Gruppe vor ihr allzuschnell aus den Augen verlieren. Doch abgesehen vom dichteren Laub an den vereinzelten Lichtungen bestand das Unterholz vorwiegend aus Farnen und anderen Grünpflanzen, die nur selten über Hüfthöhe hinausgingen. Als sich die Nacht über den Wald herabsenkte, konnte Halisstra sofort wieder besser sehen und fühlte sich mit zunehmender Finsternis wohler.

Die Drow marschierten die ganze Nacht hindurch, und erst kurz vor Tagesanbruch schlugen sie ihr Lager in der Ruine eines alten Turms auf, dessen geborstener weißer Stein von Moos überzogen war. Der Turm ließ eine bemerkenswert elegante Form erkennen, in den Sturz der seit langem fehlenden Tür war ein Muster aus Ranken und Blüten eingraviert – eindeutig das Werk von Elfen, die an der Oberfläche gelebt hatten. Nachdem Pharaun die Lagerstatt auf verbliebene Zauber abgesucht hatte, die ihnen gefährlich werden konnten, aber auf nichts Verdächtiges gestoßen war, ließen sie sich nieder, um die schmerzhaft grellen Stunden des Tages abzuwarten. Quenthel wies Jeggred und Pharaun an, Wache zu halten, während die anderen den Schatten und die Sicherheit genossen, die die zum Teil erhalten gebliebenen Decken und die eleganten Mauern ihnen boten.

Als die Sonne unterging, aßen sie, bauten ihr Lager ab und machten sich auf. Sie behielten die gleiche Marschordnung bei und marschierten wieder die ganze Nacht hindurch. Die folgenden zwei Tage und zwei Nächte vergingen im gleichen Rhythmus. Valas gelang es sogar, ein kleines Huftier zu erlegen, kurz bevor die dritte Nacht ihrer Reise endete. Halisstra nahm überrascht zur Kenntnis, wie zart und saftig das Fleisch dieses Tiers war, das besser schmeckte als eine junge Rothé.

Gegen Ende des Tages zogen wieder Wolken auf, dunkler und dichter als zuvor, und als das Tageslicht verschwunden war und sich die Drow für ihren vierten Marsch durch die Welt an der Oberfläche bereitmachten, begann es erneut zu schneien. Diesmal waren es schwere, nasse Flocken. Im Wald wurde es so ruhig, daß die Stille etwas Beängstigendes hatte. Es war, als hielte der Wald den Atem an, um den Augenblick nicht zu stören. Halisstra sah sich immer wieder um, machte ein Dutzend Schritte nach vorn und blieb dann stehen, um zu beobachten, ob ihnen jemand folgte. Zeitweise ging sie sogar für Minuten rückwärts und sah nur in kurzen Abständen nach vorn, um sicher zu sein, daß nichts ihren Weg versperrte. Wenn Pharauns Erkenntniszauber zutraf, dann würden sie am Ende dieser oder der nächsten Nacht den Fluß erreichen, was bedeutete, daß das Haus Jaelre und der Vhaeraun-Priester nur noch einen Tag entfernt sein konnten.

Nun, da das Ziel ihrer langen Reise plötzlich zum Greifen nah war, wurde Halisstra klar, daß sie nicht wußte, warum der Ketzer ihnen helfen sollte. Valas mochte ein alter Bekannter von ihm sein, doch kein Kleriker des Maskierten Gottes würde Priesterinnen Lolths einfach aus purer Güte heraus helfen. Daß dafür ein Preis gezahlt werden mußte, war klar, doch welcher? überlegte Halisstra. Würde Reichtum genügen? Quenthel und ihre Gefährten führten wertvolle Edelsteine mit sich. In der Wildnis des Unterreichs war es die einfachste und platzsparendste Methode, um Vermögen zu transportieren. Halisstra hatte unmittelbar vor der Flucht aus Ched Nasad auch ihre Taschen vollgepackt. Dennoch bezweifelte Halisstra, daß sich ein so mächtiger Vhaeraunit derart leicht kaufen lassen würde.

Zwang war eine andere Möglichkeit, vielleicht würden sie ihm aber auch irgendeinen Dienst erweisen müssen. Danifae war bei solchen Vereinbarungen gelegentlich recht nützlich. Jeder Drow hatte mindestens einen Feind, dem er etwas heimzahlen wollte.

Sie merkte, daß sie ein Stück zurückgefallen war, also beschleunigte sie ihre Schritte, um wieder ihre Position hinter der Gruppe einzunehmen. Mühelos eilte sie durch den Wald, wobei ihre Stiefel sie immer wieder ein Stück durch den Schnee rutschen ließen. Dann endlich sah sie Jeggreds hünenhafte Gestalt und die kleineren Begleiter bei ihm. Halisstra wurde langsamer und warf einen erneuten Blick über die Schulter.

Jemand befand sich hinter ihr.

Von allen Seiten hörte sie Schritte, die kaum lauter als ein Flüstern waren, bis sie abrupt einer völligen Stille wichen, die nur magischen Ursprungs sein konnte.

Halisstra stieß einen Warnruf aus, konnte aber nichts hören. Sie hob die Armbrust. Auf dem Weg direkt vor ihr kam ein schlaksiger Elf herangestürmt, dessen Haut so weiß wie Schnee war. In einer Hand hielt er eine wundervoll geschwungene Streitaxt, in der anderen eine Handaxt. Seine Augen funkelten in der Nacht wie grüner Tod.

»Achtung!« schrie sie, um ihre Gefährten zu warnen, doch wieder durchdrang kein Laut die vollkommene Stille.

Ohne zu zögern wirbelte sie herum und feuerte ihre Armbrust auf Jeggred ab, der wie der Rest der Gruppe gut fünfzig Schritte vor ihr war. Beim Abfeuern bewegte sie die Waffe ausreichend vom Ziel weg, um ihn nicht zwischen den Schulterblättern zu treffen, sondern den Bolzen in einen Baum neben dem Kopf des Halbdämons zu jagen, wo er zitternd steckenblieb. Der Draegloth machte einen Satz und schrie auf – jedenfalls vermutete sie das, denn hören konnte sie ihn noch immer nicht. Entscheidend war jedoch, daß er sich umdrehte, um zu sehen, was sich hinter ihm abspielte. Dabei entdeckte er die Oberflächen-Elfen, die sich von hinten anschlichen.

Im nächsten Augenblick hatte der elfische Axtkämpfer Halisstra erreicht und wirbelte seine beiden geschwungenen Klingen in einem tödlichen Muster aus funkelndem Stahl durch die Luft. Er schrie etwas, womöglich ein Kriegsgeheul. Halisstra wehrte mit ihrer feingearbeiteten Armbrust den ersten Hieb der Streitaxt ab, machte einen Satz nach hinten, um der kleineren Klinge auszuweichen, und zog dann hastig ihren Streitkolben, während sie zugleich den Schild von ihrer Schulter nahm. Der blasse Elf sprang vor, damit er wieder angreifen konnte. Die beiden umkreisten einander und ließen schnelle Hiebe auf den jeweils anderen niederregnen, die aber allesamt nicht ihr Ziel trafen.

Halisstra sah weitere grüngepanzerte Schemen durch den Wald in ihre Richtung huschen. In der Finsternis blitzten Schwerter und Speere auf. Sie verstärkte ihre Anstrengungen und drängte den Kämpfer mit den zwei Äxten in die Defensive. Sie hoffte, seine Verteidigung durchbrechen zu können, ehe sie von den übrigen Gegnern umzingelt war.

Hinter ihr auf dem Pfad blitzte ein gleißendes Leuchten auf, das den finsteren Wald mit blendender Helligkeit erfüllte. Das letzte, was sie sah, bevor das Licht ihr die Sicht nahm, war eine Gruppe von Oberflächen-Elfen und menschlichen Kriegern, die sich in das Getümmel stürzten.

Jetzt konnte Halisstra nur noch eines tun. Sie hob den Schild, um Zeit zu schinden, dann duckte sie sich, nahm eine Handvoll Schmutz und getrocknete Blätter vom Boden auf und erfüllte sie mit magischer Finsternis. Über diese Fähigkeit verfügten alle Drow. Ein kraftvoller und auch weiterhin lautloser Schlag traf ihren Schild. Rasch wich sie zurück, blieb dicht am Boden und tastete, wohin sie ging. Einige ihrer Feinde warteten zweifellos darauf, daß sie aus der undurchdringlichen Finsternis hervortrat – zumindest hätte Halisstra das an ihrer Stelle getan. Am sinnvollsten war es daher, so lange wie möglich in der Finsternis zu verharren und darauf zu hoffen, daß die Bewohner der Oberfläche über keine Magie verfügten, die angetan war, ihren Kreis aus Dunkelheit aufzuheben.

Wie jede adlige Drow, die mit dem Kämpfen bestens vertraut war, wußte auch Halisstra, wie lange die Dunkelheit um sie herum Bestand haben würde. Sie konnte die magische Schwärze für fast drei Stunden aufrechterhalten. Wenn sie lange völlig ruhig blieb, würden die Angreifer vielleicht glauben, sie sei ihnen doch irgendwie entkommen. Zumindest war sie zuversichtlich, daß ihr Zauber länger anhalten würde als der Stillezauber, der sich über die Umgebung gelegt hatte. Sobald sie wieder hören konnte, würde sie besser überlegen können, was sie als nächstes machen sollte.

Mit dem Streitkolben in der Hand tastete sie sich an einen großen Baum heran, lehnte sich einen Moment gegen den Stamm und ließ sich dann nieder, um einfach nur abzuwarten.


Nimor stand geduldig im Gang vor dem Ratssaal, ließ gezielt die Schultern hängen und setzte eine schlaffe Miene auf. Er sollte müde und erschöpft sein dürfen. In der Uniform eines Offiziers der Hauses Agrach Dyrr hatte er sich vorgeblich den Weg aus der Schlacht bei Rhazzts Dilemma freigekämpft, um die Nachricht von diesem Angriff den Muttermatronen zu überbringen. Natürlich hatte die Garnison von Agrach Dyrr den Außenposten längst an die Armee aus Gracklstugh übergeben, doch das mußten die Muttermatronen noch nicht wissen.

Es fiel ihm schwer, im angemessenen Verhältnis abgekämpft, verzweifelt und unerschrocken zugleich zu wirken, zumal sein Herz vor Begeisterung raste und sein Körper vor freudiger Erwartung kaum zu bändigen war. Seit langem gehegte Pläne wurden in die Tat umgesetzt und liefen auf ein schreckliches Ziel hinaus. Durch seine Anstrengungen war es ihm gelungen, das Schicksal gleich zweier großer Städte zu beeinflussen und zu verändern. Beide bewegten sie sich langsam, aber unausweichlich auf eine schreckliche Kollision zu, die er sich schon vor Monaten ausgemalt hatte, und mit jeder Stunde, die verstrich, nahmen die Ereignisse einen immer schnelleren Verlauf, der es ihm ermöglichte, nur hin und wieder lenkend eingreifen zu müssen. Bald würde sein Werk getan sein. Dann konnte er abtreten und sich darauf vorbereiten, die Früchte seiner Arbeit zu emten.

Um sich etwas abzulenken, während er darauf wartete, vom Rat in den Saal nebenan gerufen zu werden, betrachtete Nimor aufmerksam die Halle. Immerhin konnte niemand sagen, ob nicht eine halb vergessene Tür und ein anderer Fluchtweg den Unterschied zwischen Leben und Sterben ausmachen würde. Der sogenannte Raum der Bittsteller bildete den Eingangsbereich zum geheimen Ratssaal der Muttermatronen. Die hochwohlgeborenen Damen selbst durchschritten selten diesen Raum, da sie über diverse geheime und magische Möglichkeiten verfügten, die Strecke von ihren Palästen und Burgen nach hierher zurückzulegen. Statt dessen war der Raum der Bittsteller der Raum, in dem sich alle einfanden, die etwas mit dem Rat zu besprechen hatten und darauf warteten, von den Muttermatronen empfangen zu werden. Natürlich war der Saal fast leer.

Jeder Drow, der etwas benötigte, erbettelte es sich von einer der Muttermatronen, und das erledigte er auf behutsamste und respektvollste Art und Weise. Nur die Drow, die vor den Rat zitiert wurden, warteten in dieser Halle, und selbst in diesen Fällen hatte praktisch jeder, der herbestellt wurde, zuvor einer Muttermatrone Bericht erstattet. Für gewöhnlich war der Saal ein praktischer Ort für all jene, die für den Rat von Interesse waren. Hier hatten sie zu warten, bis sie gerufen wurden, um ihre Berichte abzuliefern, eine Bitte vorzutragen oder um einen Fall vorzutragen und ein Urteil zu hören.

Sechzehn stolze Krieger und Magier standen im Saal verteilt, zwei von jedem der Häuser, deren Muttermatronen dem Rat angehörten. Sie waren vorgeblich als Wache für den Rat aufgestellt, aber in Wahrheit verbrachten sie die meiste Zeit damit, die Männer der rivalisierenden Häuser zu beobachten, damit die keinen heimlichen Angriff starteten.

Der Boden aus poliertem schwarzen Marmor wurde von Goldadern durchzogen und schimmerte im schwachen Schein der Feenlicht-Kugeln, die hoch oben an der Decke hingen. An den Wänden erzählten große Friese die Geschichte von der Gründung Menzoberranzans.

Mehrere unbedeutende Beamte eilten durch die Halle und verbeugten sich vor allen, denen diese Form der Unterwürfigkeit entgegenzubringen war, während alle anderen, denen kein Respekt entgegengebracht werden mußte, ignoriert wurden. In seiner Uniform eines Unteroffiziers des Hauses Agrach Dyrr fiel Nimor zwischen diese beiden Kategorien.

Zu seiner großen Überraschung ließ man ihn nur vierzig Minuten warten, bis ein Haushofmeister zu ihm kam und auf die Tür wies.

»Der Rat erwartet Euren Bericht«, sagte er.

Nimor folgte ihm in den Ratssaal und verbeugte sich vor den hohen Sitzen der acht Muttermatronen. Jede von ihnen fand sich in der Begleitung von ein oder zwei Töchtern, Nichten oder anderen Lieblingen. Ein großer Torbogen zu einer Seite des Saals führte zu einer Reihe kleinerer Schreine und Räume, die an den Ratssaal angrenzten und in die die Begleiter der Muttermatronen oder die Sekretäre geschickt werden konnten, wenn Dinge zu besprechen waren, die vertraulich zu behandeln waren.

»Muttermatronen, Hauptmann Zhayemd von Hause Agrach Dyrr«, verkündete der Haushofmeister.

Nimor verbeugte sich erneut und verharrte in dieser Haltung, während er heimlich die Muttermatronen beobachtete.

Triel Baenre saß natürlich auf dem wichtigsten Platz des Rates. Sie war klein, zierlich und hübsch und wirkte viel zu jung für einen solchen Ehrenplatz, auch wenn sie natürlich Hunderte von Jahren alt war. Mez’Barris Armgo vom Haus Del’Armgo saß gleich neben ihr, dann folgte der Platz, auf dem bislang die Muttermatrone des Hauses Faen Tlabbar gesessen hatte. Nimor verkniff sich ein Lächeln, ließ jedoch seinen Blick einen Moment länger auf der jungen Frau ruhen, die nun Ghennis Platz einnahm – Vadalma, die fünfte Tochter des Hauses. Entweder hatten sich die anderen vier im Ringen um den Platz ihrer Mutter gegenseitig ausgelöscht, oder Vadalma war weitaus erfahrener als sie aussah.

Gegenüber der neuen Matrone Faen Tlabbars hatte Yasraena Dyrr ihren Platz, die anmutig und gewandt war und sich auf dem Stuhl sehr wohl zu fühlen schien, der ihr nach Auro’pols Tod zugefallen war.

»Wie ich sehe, ist mein Hauptmann eingetroffen«, sagte Yasraena zu ihresgleichen. »Willkommen. Ihr habt heute viel erduldet, doch ich fürchte, ich muß Euch noch einer weiteren Qual aussetzen, ehe Ihr Euch zur Ruhe begeben könnt. Sagt dem Rat, was Euch zu mir geführt hatte.«

»Wie Ihr wollt, verehrte Matrone«, sagte Nimor. Er sah zu den anderen hochwohlgeborenen Frauen rings um ihn und täuschte eine Spur von Angst vor. »Muttermatronen, ich komme aus der Garnison bei Rhazzts Dilemma. Wir wurden von einer großen Streitmacht aus Duergar und ihren Verbündeten angegriffen, darunter Derro, Durzagons, Riesen und viele Sklaventruppen. Wir gehen davon aus, daß wir sie allenfalls noch so lange zurückschlagen können, bis die Duergar ihre Belagerungseinheiten ins Spiel bringen.«

»Ich kenne diese Stelle«, sagte Mez’Barris Armgo. »Sie liegt drei oder vier Tagesreisen südlich der Stadt. Ist Eure Nachricht so alt? Warum haben unsere Zauberkundigen uns nicht per Magie gewarnt, statt Euch persönlich vorsprechen zu lassen?«

»Unser Magier wurde beim ersten Angriff getötet, Matrone Del’Armgo. Er hatte das Pech, eine Streife außerhalb unserer Verteidigungsanlagen anzuführen. Dabei fiel er den herannahenden Duergar zum Opfer. Als Herrin Nafyrra Dyrr – die Befehlshaberin unserer Einheit – erkannte, daß wir keine andere Möglichkeit hatten, um eine Warnung zu überbringen, schickte sie mich sofort los, um die Kunde nach Menzoberranzan zu bringen.«

»Ihr habt nur eine der von mir gestellten Fragen beantwortet, Hauptmann«, stellte die Muttermatrone des Hauses Barrison Del’Armgo fest. »Rhazzts Dilemma wurde heute morgen angegriffen, doch der Außenposten ist mehr als fünfzig Kilometer südlich von hier gelegen, was einer Reise von mehreren Tagen entspricht.«

Nimor zögerte kurz, dann sah er zu Yasraena Dyrr, als erwarte er ihre Hilfe. Die Muttermatrone nickte nur knapp.

»Ich benutzte ein unzuverlässiges Portal, um meine Reise von mehreren Tagen auf einige Stunden zu verkürzen, Matrone Del’Armgo«, sagte er. »Es liegt zwei oder drei Kilometer vom Außenposten entfernt und ist nur schwer zu entdecken, da es nur zeitweise funktioniert. Es öffnet sich in eine unbenutzte Höhle im Dunklen Reich. Mein Haus weiß seit einiger Zeit von diesem Portal, doch wir haben seiner Magie nicht genügend vertraut, so daß wir es nur im äußersten Notfall einzusetzen bereit waren.«

»Ich zweifle nicht daran, daß Barrison Del’Armgo von ähnlichen Portalen in und um die Stadt weiß«, erklärte Yasraena Dyrr. »Verzeiht, wenn wir bis heute versäumt haben, die Existenz dieses einen Portals zu erwähnen.«

»Das Portal ist unwichtig«, gab Triel Baenre zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Hauptmann ist gekommen, um Bericht zu erstatten, nur das zählt. Sagt mir, was Ihr bei dieser Armee aus Duergar beobachten konntet.«

»Ich würde ihre Zahl auf drei- bis viertausend Duergar schätzen, dazu eine Reihe von Sklavensoldaten – vorwiegend Orks und Oger. Wir konnten beim Angriff die Banner von acht Kompanien zählen, und viele weitere bildeten ihre Reserve. Es könnten noch viele mehr sein, es sei denn, die Duergar haben bewußt versucht, uns zu täuschen, indem sie mit falschen Bannern in die Schlacht zogen.«

»Ein Überfall«, murmelte Prid’eesoth Tuin aus dem Haus Tuin’Tarl. »Man testet nur die Stärke Eures Außenpostens, Hauptmann.«

Nimor trat von einem Fuß auf den anderen und gab sich redlich Mühe, entschlossen, ernsthaft und angemessen unterwürfig dreinzublicken.

»Herrin Nafyrra ist nicht dieser Ansicht, Matrone«, gab Nimor zurück. »Wir haben bei zahlreichen Gelegenheiten Duergar-Angriffe zurückgeschlagen, doch nichts kam je dem Ansturm von heute morgen gleich. Wenn wir nicht von der gesamten Armee Gracklstughs belagert werden, dann sind wir diesem Zustand aber sehr nahe.«

»Wie stark ist Eure Garnison?« fragte Yasraena.

»Unsere Garnison zählt fast achtzig Krieger, zudem haben wir eine hervorragende Verteidigungsposition, Matrone. Wir können uns einige Tage halten, doch der Außenposten wird fallen, wenn die Duergar ihre Belagerungseinheiten aufbauen oder die richtige Art von Magie ins Spiel bringen.«

»Es würde mich nicht wundern, wenn diese Duergar-Attacke nichts weiter ist als ein besonders großer und aggressiver Überfall«, meinte Vadalma von Faen Tlabbar. »Ich bin sicher, Matrone Dyrr hat berichtet, was ihre Männer als Tatsache ansehen. Doch vielleicht sollte der Sache nachgegangen werden, ehe wir in blinder Panik reagieren. Zumindest sollte es eine Bestätigung des Berichts geben. Wenn wir dann das Ausmaß der Bedrohung beurteilen können, kann der Rat über die am besten geeigneten Gegenmaßnahmen beratschlagen.«

»Unter den meisten Umständen wäre unsere junge Schwester gut beraten, eine gründlichere Untersuchung der Situation zu empfehlen«, sagte Yasraena. Sie war gut vorbereitet worden, Nimor mußte den Blick senken, um zu verhindern, daß man sein Lächeln bemerkte. »Jedoch empfehlen meine Offiziere mir, daß wir, wenn wir die Duergar-Armee außerhalb der Stadt abfangen wollen, uns ihnen bei den Säulen des Leids stellen, die zwischen hier und Rhazzts Dilemma gelegen sind. Eine starke Truppe, die schnell entsandt wird, kann die Säulen gegen jeden denkbaren Angriff verteidigen. Doch wenn wir zu lange zögern, werden die Duergar sie vor uns erreichen. Wir würden damit einen sehr entscheidenden Vorteil verspielen. Wir sollten uns den Bericht bestätigen lassen, doch in der Zwischenzeit wäre es angeraten, daß sich unsere Soldaten aufmachen.«

»Sollten wir nicht einfach hier in der Stadthöhle in Verteidigungsstellung gehen?« fragte Mez’Barris Armgo. »Wir können ohne Schwierigkeiten die Zugangswege befestigen, und die Duergar-Armee hätte dadurch Probleme, die Stadt einzukreisen, während unsere eigene intakte Armee in unseren Reihen bleibt.«

»Wenn wir den Grauzwergen erlauben, die Stadt zu infizieren«, wandte eine anderen Muttermatrone ein, »dann werden als nächstes Armeen der Illithiden, Abolethen und der Humanoiden vor unseren Toren stehen. Wir haben viele Feinde. Denkt daran, was in Ched Nasad geschehen ist.«

Die acht Hohepriesterinnen warfen einander finstere Blicke zu.

»Auf jeden Fall muß der Rat schnell zu Entscheidungen kommen«, brach Triel Baenre ihr Schweigen. »Uns bleibt nicht viel Zeit, wenn wir die Duergar außerhalb der Stadt stellen wollen. Daher befehle ich, daß sich die Hälfte der Baenre-Truppen abmarschbereit macht. Ich rate Euch, es nicht anders zu machen. Wenn wir uns entscheiden, die Stadthöhle zu verteidigen, können wir unsere Soldaten immer noch stoppen. Doch wenn wir uns zum Marsch entschließen, müssen wir in der Lage sein, damit in nächster Zeit zu beginnen.«

»Ich bin für eine energische und aggressive Verteidigung der Stadt«, sagte Yasraena. »Ein hartes Vorgehen kann weitere Angriffe verhindern. Ich werde die Hälfte der Streitkräfte des Hauses Dyrr mobilisieren.« Sie sah nachdenklich die anderen Matronen an und ergänzte: »Vorausgesetzt, einige andere Häuser sind bereit, das Risiko mit uns zu teilen und uns zu unterstützen. Entweder erklären wir uns alle zu einem gemeinsamen Vorgehen bereit oder gar nicht.«

»Haus Baenre garantiert Agrach Dyrr bis zur Rückkehr der Expedition«, sagte Triel brüsk.

Nimor nickte vor sich hin. Er hatte damit gerechnet, daß die Führerin des stärksten Hauses in Menzoberranzan entscheiden würde, in dieser Situation mit gutem Beispiel voranzugehen. Unter anderem verwandelte das jegliche räuberische Absicht der anderen Häuser in eine nach außen gerichtete Aktivität, von wo aus man die Baenre als die sah, die zu drastischen Maßnahmen griff, um die Sicherheit der Stadt zu gewährleisten. Triel mußte dringend etwas in dieser Richtung unternehmen.

Sie sah zu den Wachen, Beratern und Gästen im Ratssaal und verkündete: »Die Muttermatronen müssen darüber beraten, wie diesem hinterhältigen Angriff begegnet werden kann. Geht.«

»Hauptmann Zhayemd«, sagte Yasraena. »Es wäre mir recht, wenn Ihr den Befehl über das Agrach Dyrr-Kontingent übernähmt und sofort mit den entsprechenden Vorbereitungen begännet. Ich weiß, Ihr habt einen gefahrvollen Weg hinter Euch, doch Ihr seid mit dem Schlachtfeld bestens vertraut, und ich setze volles Vertrauen in Euch.«

»Ich werde Euch nach Kräften dienen«, erwiderte Nimor. »Mit Lolths Hilfe werde ich dieses Territorium von den Feinden unserer Stadt säubern.«

Er verbeugte sich wieder tief vor den Muttermatronen, dann zog er sich lautlos zurück.


Die Geräusche des Waldes kehrten schlagartig zurück, der Stillezauber hatte seine Wirkung verloren. In den Baumwipfeln seufzte der Wind, in der Nähe war das Murmeln eines kleinen Baches zu hören, raschelnde Geräusche drangen einem Flüstern gleich durch die Finsternis, als sich rund um die schwarze Sphäre kleinere Kreaturen durch den Wald bewegten – oder aber größere Kreaturen, die es verstanden, fast unbemerkt zu bleiben. Lange lauschte Halisstra einfach nur in der Hoffnung, einen Beweis dafür zu hören, daß sich die an der Oberfläche Lebenden zurückgezogen hatten oder daß ihre Kameraden in der Nähe ein Gefecht austrugen. Doch weder das Klirren von Schwertern, die aufeinandertrafen, noch das Dröhnen von Zaubern, die gewirkt wurden, drangen an ihre Ohren. Sie hörte nichts, was keinen Schluß darüber zuließ, ob ihre Gegner gegangen waren oder einfach stumm außerhalb der Dunkelheit darauf warteten, daß sie wieder zum Vorschein kam. Halisstra konnte geduldig sein, wenn ihr danach war, und sie war Entbehrungen und Gefahren gewöhnt, doch die nervliche Anspannung, jeden noch so winzigen Laut zu identifizieren und nach seiner Gefährlichkeit für sie einzuordnen, sorgte bald dafür, daß ihr der Schweiß auf der Stirn stand.

Wenn Quenthel und die anderen in der Nähe wären, würde ich sie hören, überlegte sie. Der Kampf mußte sie weit weggeführt haben.

Ihr Herz raste, als ihr der Gedanke kam, sie könnte in den endlosen Wäldern ganz allein zurückgeblieben sein – sie, ein schändlicher Feind für jedes Geschöpf, das auf der Welt an der Oberfläche lebte.

Es ist besser, beim Versuch zu sterben, wieder zu ihnen zu stoßen, entschied Halisstra. Wenigstens weiß ich, wohin sie gehen, wenn ich es schaffe, meinen Kurs beizubehalten.

Zunächst einmal mußte sie aus der Finsternis entkommen, die ihr Schutz bot. Sie wollte die magische Finsternis nicht auflösen, sondern sie weiter bestehen lassen, bis sich ihre Wirkung erschöpft hatte. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß ihre Gegner schweigend darauf warteten, bis sich die Finsternis von selbst auflöste, statt den Versuch zu unternehmen, in die Schwärze vorzudringen. Halisstra griff in ihre Gürteltasche und zog einen schmalen Elfenbeinstab hervor. Sie betastete ihn sorgfältig, weil sie sicher sein wollte, ob es der Stab war, den sie brauchte. Als sie davon überzeugt war, den richtigen Gegenstand in Händen zu halten, tippte sie den Stab gegen ihre Brust und flüsterte ein Wort.

Auch wenn es in der magischen Finsternis keine Möglichkeit gab, es nachzuprüfen, hatte der Stab sie unsichtbar gemacht. Sie stand so leise wie möglich auf und zuckte bei jedem noch so leisen Rascheln und Rasseln ihres Kettenhemdes zusammen.

Halisstra verließ die magische Schwärze eher als erwartet. Es schien, als hätte sie nur etwa zwei Meter vom Rand entfernt gesessen. Überzeugt von ihrer Unsichtbarkeit richtete sie sich auf und sah sich um. Der Wald sah unverändert aus, abgesehen davon, daß von ihren Gefährten ebensowenig etwas zu sehen war wie von den Waldmenschen und den Oberflächen-Elfen, die sie angegriffen hatten. Der Mond ging gerade auf und tauchte den Waldboden in ein strahlend silbernes Licht. Sie machte sich auf den Weg in eine Richtung, von der sie hoffte, es sei Westen, wobei sie sich so schnell und leise wie möglich vorwärts bewegte.

Nach kurzer Zeit erreichte sie den Schauplatz eines heftigen Kampfes, wenn sie die Zeichen richtig deutete. Von mehreren großen, schwarzen Kreisen auf dem Waldboden stieg noch Rauch auf. An anderer Stelle lagen die Leichen eines guten halben Dutzends Oberflächen-Elfen sowie in Grün gekleideter menschlicher Krieger, die allesamt Verletzungen aufwiesen, die von Streitkolben, Schwertern oder Klauen zu stammen schienen. Von den Drow war nichts zu sehen.

Halisstra versuchte, sich an das zu erinnern, was sie von den fahlen Elfen und ihren menschlichen Verbündeten gesehen hatte und befand, es könnten bis zu fünfzehn oder zwanzig gewesen sein.

»Ich frage mich, wo eure Kameraden sind«, fragte sie die gefallenen Krieger, ehe sie weiterzog.

Halisstra kam nur einen knappen Kilometer weit durch den vom Mond beschienenen Wald, als sie in einen Hinterhalt geriet. Im einen Moment lief sie noch schnellen und sicheren Schrittes durch den Wald, angetrieben von dem Wunsch, sich dem Rest ihrer Gruppe anzuschließen und wieder Teil der vertrauten Gefahren ihrer Verbindung zu sein, aber im nächsten Augenblick wurde sie von einem Elfenmagier überrascht, der einfach aus einem Baum hervortrat und ihr einen Zauber entgegenschleuderte, indem er gestikulierte und Worte von arkaner Macht ausstieß.

»Schnell!« rief er. »Wir haben sie!«

Ihre Unsichtbarkeit versagte sofort, gebannt von dem Magier von der Oberfläche, und aus dem Laub und den Baumstämmen ringsum tauchte ein Dutzend fahler Elfen und grüngewandeter Menschen auf, die Waffen kampfbereit in der Hand. Sie sprangen sie mit einem mörderischen Ausdruck in den Augen an, während der Wald von ihrem lauten Kriegsgeheul erfüllt wurde.

Angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation knurrte Halisstra, um ihrem Zorn freien Lauf zu lassen, dann stürmte die Drow den Kriegern der Oberflächenwelt entgegen. Sie war entschlossen, ihnen den Sieg nicht leichtzumachen.

Der erste Gegner, der ihr im Weg stand, war ein massiger Mensch mit einem kurzen schwarzen Bart, der mit einem Paar Kurzschwertern kämpfte. Er wirbelte herum, um sie anzugreifen und zielte mit einer Klinge auf ihre Augen, damit sie den Schild hob, während er mit der anderen versuchte, ihr den ungeschützten Bauch aufzuschlitzen. Halisstra wich einfach zur Seite aus und schlug mit dem Streitkolben nach seinem Arm. Sie traf ihn mit solcher Wucht, daß sie den Knochen brechen hörte. Die Klinge flog dem Mann aus der Hand. Er stöhnte vor Schmerz, attackierte sie aber weiter, während er widerwillig Schritt um Schritt zurückwich und gleichzeitig versuchte, sie mit seinem anderen Schwert zu treffen.

Drei seiner Kameraden kamen von allen Seiten auf Halisstra zu und drängten sie in die Defensive. Sie war gezwungen, mit dem Schild Speer und Klinge abzuwehren, zugleich wehrte sie mit dem magischen Streitkolben Angriffe von der anderen Seite ab. Das Geräusch von Metall auf Metall hallte durch den Wald.

»Ergreift sie lebend, wenn ihr könnt«, rief der Magier. »Fürst Dessaer will wissen, wer diese Neuankömmlinge sind und woher sie gekommen sind.«

»Leichter gesagt als getan«, schnaufte der erste Schwertkämpfer, der sich der trotz des Verlustes einer Klinge immer noch tapfer hielt. »Sie scheint an einer Kapitulation nicht interessiert zu sein.«

Halisstra knurrte frustriert und wandte sich abrupt dem Elfen zu ihrer Linken zu, wich der Klinge seines Speers aus und stürmte auf ihn zu. Der Mann wich zurück und wollte seine Waffe heben, doch sie war schneller.

Mit einem eisigen Lächeln rammte sie ihm den Streitkolben zwischen die Augen, die Waffe traf von einem häßlichen Knacken begleitet und zerschmetterte den Schädel ihres Opfers, das in sich zusammensackte.

Den Preis für ihren aggressiven Zug bezahlte sie einen Lidschlag später, als der Elf hinter ihr die Spitze seines Schwertes in ihr linkes Schulterblatt jagte – und das, wo sie noch versuchte, ihm blitzschnell auszuweichen. Stahl kratzte über Knochen, und Halisstra stieß einen Schmerzensschrei aus, als die Kraft aus dem Arm wich, mit dem sie den Schild hielt. Einen Augenblick später bohrte sich der zitternde Pfeil eines Bogenschützen in ihre rechte Wade und ließ das Bein unter ihr wegknicken.

»Jetzt haben wir sie, Jungs!« rief der elfische Schwertfechter.

Er hob die Klinge, um einen weiteren Schlag zu führen, doch Halisstra ließ sich zu Boden fallen, rollte unter seiner Verteidigung hindurch und zerschmetterte ihm mit einem Schlag ihres Streitkolbens die Hüfte. Der Elf schrie vor Schmerz und eilte davon, um ein Stück weiter im Schnee zusammenzubrechen.

Halisstra versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, doch der Magier feuerte einen so mächtigen Lichtblitz auf sie ab, daß die Wucht des Zaubers sie hochriß und durch die Luft wirbelte, bis sie in einem schmalen und eiskalten Fluß in der Nähe landete. Ihr ganzer Leib zuckte und schmerzte als Folge der magischen Energie, und dann roch sie den markanten Geruch verbrannten Fleisches – ihres eigenen Fleisches.

Sie stützte sich mit einem Arm ab und konterte mit einem Bae’qeshel-Gesang, einem tödlichen, durchdringenden Akkord, der die Borke von den Bäumen riß und der den Schnee zu einem weißen, stechenden Sturm aufsteigen ließ. Der Elfenmagier fluchte und schützte sich mit seinem Mantel, schirmte die Augen ab und ließ das todbringende Lied über sich ergehen.

Halisstra stimmte ein weiteres Lied an, doch die Krieger eilten durch den Schnee zu ihr, und der stämmige Mensch mit dem Bart brachte sie mit einem Tritt gegen den Kiefer zum Schweigen, der so heftig war, daß sie zu Boden geschleudert wurde. Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen, und als sie wieder etwas sah, waren gleich vier todbringende Klingen auf sie gerichtet. Der Schwertkämpfer sah sie über die Spitze seines Schwertes finster an.

»Macht ruhig weiter, wenn Ihr wollt«, forderte er sie verächtlich auf. »Unsere Kleriker können ebensogut Eure Leiche befragen.«

Halisstra wollte sich von dem rasenden Kopfschmerz und dem Dröhnen in ihren Ohren befreien. Als sie sich umsah, entdeckte sie in den Augen aller, die sie umstellt hatten, nur den puren Tod.

Ich kann meine Kapitulation vortäuschen, sagte sie sich. Quenthel und die anderen müssen wissen, daß ich verschwunden bin und werden Anstrengungen unternehmen, mich zu finden.

»Ich gebe auf«, sagte sie in der plumpen Sprache der Menschen.

Halisstra ließ den Kopf nach hinten ans Ufer des Stroms sinken und schloß die Augen. Sie spürte, wie sie hochgezerrt wurde, ihr Kettenhemd wurde ihr vom Leib gerissen, dann band man ihr brutal die Hände auf den Rücken. Die ganze Zeit über ignorierte sie die Männer, in deren Gewalt sie geraten war; zugleich mied sie es, über ihre Situation nachzudenken, indem sie sich auf Lolths gewaltigen Katechismus konzentrierte, den sie als Novizin hatte auswendiglernen müssen.

»Sie muß jemand wichtiges sein. Seht euch die Rüstung an, ich glaube nicht, daß ich so was schon mal gesehen habe.«

»Hier haben wir eine Leier und ein paar Stäbe«, murmelte der Waldläufer mit der gebrochenen Hand, der ihre Habseligkeiten durchging. »Seid vorsichtig, Jungs, sie könnte eine Bardin sein. Wir sollten sie knebeln.«

»Bringt mir schnell den Heiltrank, Fandar liegt im Sterben.«

Halisstra sah zu dem Elfen, dessen Hüfte sie zerschmettert hatte. Mehrere seiner Gefährten knieten neben ihm im Schnee und Matsch und versuchten, ihn zu beschwichtigen, während er sich vor Schmerzen wand. Blut hatte den Schnee ringsum rot gefärbt. Sie beobachtete die Szene, doch im Geist war sie tausend Kilometer oder mehr entfernt.

»Verdammte Drow-Hexe. Den Göttern sei Dank, daß nicht alle so verbissen kämpfen wie sie.«

Der Elfenmagier baute sich vor ihr auf, seine Miene war angespannt und wütend.

»Zieht ihr eine Kapuze über, Leute«, wies er die anderen an. »Sie muß nicht wissen, wo sie ist.«

»Wohin bringt Ihr mich?« fragte Halisstra.

»Unser Herr will einige Dinge erfahren«, erwiderte der Magier. Sein Lächeln war so frostig wie der Schnee ringsum, seine Blicke durchbohrten sie, als handle es sich um Klingen. »Meiner Erfahrung nach sind die meisten Drow so boshaft, daß sie lieber an ihrem eigenen Blut ersticken, statt etwas Sinnvolles und Nützliches zu tun. Ich gehe nicht davon aus, daß du anders bist. Fürst Dessaer wird dir ein paar Fragen stellen, du wirst ihn auf unflätige Weise beschimpfen, dann bringen wir dich wieder nach draußen und weiden dich aus wie einen Fisch. Das ist besser als das, was ihr unseresgleichen antut, wenn wir euch in die Hände fallen.«

Die Kapuze wurde Halisstra übergezogen und so fest zugeschnürt, daß sie kaum atmen oder schlucken konnte.

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