5

Für den Rest des Schattenwandelns belästigte sie nichts mehr, und kurz nach dem Angriff des Nachtwandlers traten sie am Grund einer schmalen unterirdischen Schlucht aus der Randzone wieder in die Welt der Sterblichen. Die Wände waren von Reisenden, die hier zuvor Rast gemacht hatten, für diverse Richtungssymbole und Mitteilungen an andere Reisende genutzt worden. Offensichtlich waren sie an einer häufig genutzten Lagerstatt nahe der Handelshöhle angekommen. Die Gruppe machte eine mehrstündige Pause, und jeder von ihnen kämpfte mit der Körperwärme aus seinem tiefsten Inneren gegen die heimtückische Kälte an, die in der Randzone geherrscht hatte. Schließlich machten sich die Reisenden wieder auf den Weg, verließen die Schlucht und bahnten sich ihren Weg hin zu einem langen, glattwandigen Tunnel, der sich kilometerweit durch die Dunkelheit zog und nur gelegentlich von weitläufigen Höhlen unterbrochen wurde.

Valas Hune führte die Gruppe an, da er mit dem Ziel ebenso vertraut war wie mit der Reiseroute, auf die sie geraten waren. Nach dem brennenden Himmel der vom Tageslicht beschienenen Welt an der Oberfläche und der elenden Düsternis der Schattenebene wirkten die gewohnten Gefahren des Unterreiches wie alte Bekannte. Dies war ihre Welt, der Ort, an den sie gehörten, auch wenn die meisten von ihnen zuvor kaum einmal ihre Heimatstadt verlassen hatten.

Nachdem sie gut drei Kilometer marschiert waren, ließ Valas die Gruppe anhalten und kniete sich hin, um in den Staub auf dem Höhlenboden eine grobe Skizze des vor ihnen liegenden Weges zu zeichnen.

»Mantol-Derith liegt nicht mehr als achthundert Meter von hier entfernt. Denkt daran, es ist ein Ort, an dem man zusammenkommt, um anderen Rassen zu begegnen und Handel zu treiben. Wir herrschen nicht über Mantol-Derith, und auch sonst tut das niemand. Daher ist es ratsam, zu vermeiden, bei irgend jemandem dort Anstoß zu erregen, es sei denn, Ihr habt es auf einen Streit abgesehen, der uns nur Zeit und Ressourcen kosten würde. Ich habe mir außerdem überlegt, wie wir am besten von der Handelshöhle zu den Besitztümern des Hauses Jaelre gelangen können. Ab hier muß uns unser Weg durch das Hoheitsgebiet Gracklstughs führen, die Stadt der Grauzwerge.«

»Wir werden uns unter keinen Umständen Gracklstugh nähern«, warf Quenthel ein. »Die Duergar haben Ched Nasad zerstört. Ich wüßte nicht, warum ich mich ihnen freiwillig stellen sollte.«

»Uns bleiben kaum andere Möglichkeiten«, erwiderte Valas. »Wir befinden uns nordwestlich des Duergar-Reiches, und das Labyrinth liegt mehrere Tagesreisen südwestlich der Stadt. Wir können die Stadt nicht im Süden umgehen, weil uns dort der Dunkelsee den Weg versperrt, und die Duergar patrouillieren die Wasserwege. Würden wir die Stadt im Norden umgehen, dann würde uns das mindestens zwei Zehntage kosten, außerdem hätten wir eine schwierige Reise durch Tunnel vor uns, mit denen ich nicht vertraut bin.«

»Warum haben wir uns dann die Mühe gemacht, uns hierher zu begeben?« murmelte Jeggred. »Wir hätten auch nach Menzoberranzan zurückkehren können.«

»Nun, zum einen läge Gracklstugh so oder so zwischen uns und dem Haus Jaelre, ob wir nun in Mantol-Derith oder Menzoberranzan sind«, gab Pharaun zurück und zeichnete drei Punkte in Valas’ Karte. »Die Duergar sind uns in jedem Fall im Weg. Die Frage ist nur, ob wir es wagen, Gracklstugh zu durchqueren.«

»Könnt Ihr uns nicht mit Schattenwandeln durch die Stadt bringen?« fragte Danifae.

Pharaun verzog das Gesicht, dann erwiderte er: »Ich bin in dieser Richtung noch nie weiter als bis Mantol-Derith gereist. Es würde mich nicht wundern, wenn die Duergar ihr Reich gegen Reisende aus den umliegenden Reichen gesichert haben.«

»Ist es sicher, daß die Duergar-Kaufleute etwas gegen unsere Anwesenheit hätten?« wollte Ryld wissen. »Es reisen immer wieder Kaufleute aus Menzoberranzan nach Gracklstugh, und die dortigen Händler bringen ihre Waren in den Basar Menzoberranzans. Es ist doch möglich, daß Gracklstugh überhaupt nichts mit den Duergar-Söldnern zu tun hat, die Ched Nasad angegriffen haben.«

»Mir ist nichts zu Ohren gekommen, was mich veranlassen könnte, mich nach Gracklstugh zu begeben«, sagte Quenthel. Sie beendete die Unterhaltung mit einer knappen Geste. »Ich will nicht auf die Gastfreundlichkeit der Duergar vertrauen, schon gar nicht nach dem Untergang Ched Nasads. Wir werden die Stadt im Norden umgehen und darauf bauen, daß Meister Hune uns den richtigen Weg zeigen wird.«

Halisstra sah zu Ryld und Valas Hune. Der Späher biß sich auf die Unterlippe und dachte über das sich ihm stellende Problem nach, während der Waffenmeister nur resigniert den Blick senkte.

»Wir sind nur zwei bis drei Kilometer von dieser Höhle entfernt, die als Mantol-Derith bekannt ist?« fragte Halisstra und deutete auf die Skizze.

»Ja«, antwortete Valas.

»Egal, welchen Weg wir wählen, müssen wir diesen Ort auf jeden Fall passieren?«

Der Bregan D’aerthe-Späher nickte nur bestätigend.

»Dann sollten wir sehen, was wir in der Handelshöhle erfahren können, ehe wir uns entscheiden«, überlegte Halisstra. Sie spürte Quenthels Blick auf sich ruhen, doch sie sah die Baenre nicht an. »Es könnte dort Duergar-Kaufleute geben, die auf unsere Frage eine Antwort wissen. Wenn nicht ... nun, wir müssen ohnehin unsere Vorräte auffüllen, ehe wir uns in die Weiten des Unterreiches begeben.«

»Ein vernünftiger Vorschlag«, bemerkte Pharaun. »In der Stadt der Klingen sind ein Dutzend Handelsgesellschaften angesiedelt. Spricht nicht vieles dafür, daß die Duergar, mit denen wir in Ched Nasad zu tun hatten, von einem Drow-Haus angeheuert wurden, aber keine besondere Verbundenheit zu Gracklstugh hatten?«

»Sie haben im Auftrag Gracklstughs gehandelt, als sie die Stadt zerstörten«, sprach Quenthel mit finsterem Tonfall. Sie richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften, den Blick immer noch fest auf den Boden gerichtet. Einen Moment lang überlegte sie, dann verwischte sie mit dem Fuß die Skizze. »Nun gut, wir werden ja sehen, was wir in Mantol-Derith herausfinden können. Ich glaube nicht, daß wir Zeit zu verschenken haben, und wenn wir uns einen Umweg von zwanzig oder dreißig Tagen ersparen können, dann sollten wir das auch machen. Doch sobald wir irgend etwas hören, was darauf hindeutet, daß Gracklstugh für uns tabu sein könnte, werden wir uns in die Einöde begeben.«

Valas Hune nickte und sagte: »Sehr wohl. Ich vermute, es wird uns möglich sein, Durchlaß zu erlangen, es sei denn, die Duergar liegen im Krieg mit Menzoberranzan. Ich habe schon zuvor mit Grauzwergen zu tun gehabt, und es gibt nichts, was sie nicht hergäben, wenn der Preis stimmt. Ich werde in Man-tol-Derith nach einem Duergar-Führer Ausschau halten und zusehen, was ich in Erfahrung bringen kann.«

»Nun gut«, sagte Quenthel. »Bringt uns zu den Duergar, und wir ...«

»Nein, Herrin, nicht ›wir‹«, sagte der Späher. Er stand auf und wischte sich die Hände ab. »Die meisten Duergar haben für Drow nicht viel übrig, erst recht nicht für Vertreter des Adels und vor allem nicht für Priesterinnen Lolths. Eure Anwesenheit würde alles nur unnötig komplizieren. Es wäre am besten, wenn ich allein die Verhandlungen führen würde.«

Quenthel machte eine finstere Miene.

Jeggred, der dicht hinter ihr stand, polterte: »Ich könnte ihn begleiten und ein Auge auf ihn haben.«

Kaum hatte er ausgesprochen, begann Pharaun schallend zu lachen. »Wenn schon eine Priesterin Lolths einen Grauzwerg nervös macht, was glaubst du dann, welche Wirkung du hättest?«

Der Draegloth warf sich in die Brust, aber Quenthel schüttelte den Kopf, dann sagte sie: »Nein, er hat recht. Wir werden uns einen Platz suchen, an dem wir warten und vielleicht Neuigkeiten in Erfahrung bringen können, während Valas sich um die Einzelheiten kümmert.«

Sie gingen weiter, und nach kurzer Zeit hatten sie Mantol-Derith erreicht. Der Ort war erheblich kleiner, als Halisstra es erwartet hätte – eine Höhle, die um die zwanzig Meter hoch und vielleicht doppelt so breit war, sich dafür aber über viele Hunderte Schritt durch das Gestein wand und schlängelte. Sie war den großen Canon Ched Nasads gewöhnt, und in den Geschichten, die sie über andere Zivilisationen gehört hatte, war immer von gewaltigen Höhlen die Rede, die sich über Meilen erstreckten. Mantol-Derith wäre in einer Drow-Stadt nicht mehr als eine Nebenhöhle gewesen.

Sie war auch nicht annähernd so dicht bevölkert, wie Halis-stra gedacht hatte. Auf den Marktplätzen in ihrer Heimatstadt hatte immer reges Treiben geherrscht, bürgerliche Drow und die Sklaven der Adligen waren unterwegs gewesen, um ihre Besorgungen zu machen. Der Markt einer Drow-Stadt war üblicherweise von Energie und Aktivitäten erfüllt, auch wenn diese Aspekte auf eine spezielle Weise verdreht waren, um dem ästhetischen Empfinden der Drow-Gesellschaft zu entsprechen. Mantol-Derith war dagegen ruhig und abstoßend. Hier und da saßen oder hockten kleine Gruppen von Kaufleuten in der langgestreckten Höhle, die Waren hinter ihnen sicher in Kisten und Fässern verstaut, statt sie vor sich ausgebreitet zu präsentieren. Niemand rief etwas, niemand feilschte oder lachte. Wenn Geschäfte abgeschlossen wurden, geschah das dem Anschein nach im Flüsterton und im Schatten.

Geschöpfe vieler unterschiedlicher Völker kamen in Mantol-Derith zusammen. Eine ganze Reihe von Drow-Kaufleuten, die zum größten Teil aus Menzoberranzan stammten, wenn Halisstra die Wappenschilder an ihren Waren richtig deutete, beanspruchten verschiedene Winkel in der Höhle. Gedankenschinder glitten sanft von hier nach da, ihre bläulich-violette Haut glänzte feucht, und unter den Gesichtern der Kopffüßer zuckten Tentakel. Eine Handvoll finster dreinblickender Svirfnebli saß an einer Stelle zusammengekauert und betrachtete die Drow mit unverhohlener Ablehnung. Natürlich waren die Duergar in großer Zahl vertreten. Die hageren, kleinwüchsigen, breitschultrigen Grauzwerge kamen in geheimen Kabalen zusammen und unterhielten sich leise in ihrer gutturalen Sprache.

Halisstra ging hinter Pharaun und betrachtete aufmerksam jede Gruppe, die sie passierten. Ihr fiel auf, daß der Magier sich heimlich per Zeichensprache mit Valas unterhielt, während sie tiefer in den Markt vordrangen.

Es sind nicht viele Händler hier, stellte der Magier fest. Wo sind sie alle?

Valas warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, um sicher sein zu können, daß Quenthel nicht in seine Richtung blickte, dann antwortete er: Chaos in Menzoberranzan bedeutet, daß weniger Käufer kommen. Kommen weniger Käufer, kommen auch weniger Händler. Anarchie scheint schlecht fürs Geschäft zu sein.

Valas machte eine Gruppe von Duergar aus und sagte zu den anderen aus seiner Gruppe: »Geht voraus. Ein Stück weiter vorn werdet Ihr eine Art Gasthaus finden. Ich werde Euch in Kürze dort treffen.«

Ruhig näherte er sich den Duergar und beschrieb eine seltsame Grußgeste, bei der er die Hände vor sich faltete, um dann im Flüsterton mit den Duergar-Kaufleuten zu reden. Der Rest der Gruppe ging weiter.

Sie fanden das »Gasthaus«, von dem Valas gesprochen hatte und das sich als eine feuchte Ansammlung von Höhlen am Südrand Mantol-Deriths erwies. Eine schlechtgelaunte Duergar machte einer Handvoll Goblin-Sklaven das Leben schwer, indem sie sie unablässig von einer Aufgabe zur nächsten scheuchte. Verschiedentlich brannten kleine Feuer an Kochstellen und erhitzten Eisentöpfe, in denen ein dicklicher Eintopf garte, um den sich geplagte Köche kümmerten. Andere Sklaven waren damit beschäftigt, in aller Eile Fässer mit Pilz-Bier oder mit Lager anzustechen, das an der Oberfläche gestohlen worden war. Sie kümmerten sich um die schweigsamen Gäste, die auf flachen Findlingen, die wie Stühle angeordnet waren, um die Feuer Platz genommen hatten. Robuste Türen aus gehärteten Pilzfasern oder rostigen Eisenplatten versperrten den Zutritt zu verschiedenen Öffnungen in den Wänden ringsum. Halisstra vermutete, sie führten zu den Fremdenzimmern des Gasthauses. Die Räumlichkeiten hinter diesen stabilen Türen waren vermutlich sicher, doch sie bezweifelte, daß sie allzu bequem sein konnten.

»Wie ... rustikal«, sagte Halisstra.

Einen entsetzlichen Moment lang fragte sie sich, ob es wohl ihr Schicksal sei, den Rest ihrer Existenz fern ihrer Heimat in einem ähnlichen Loch wie diesem zuzubringen.

»Es ist noch gemütlicher geworden als bei meinem letzten Besuch«, sagte Pharaun mit einem aufgesetzten Lächeln. »Die Zwergin dort ist Dinnka. Ihr werdet feststellen, daß dieses namenlose Gasthaus am Wegesrand die feinsten Unterkünfte ganz Mantol-Deriths zu bieten hat. Man bekommt etwas zu essen, es ist warm, und man hat eine Unterkunft – drei Dinge, die in der Wildnis des Unterreiches nur selten anzutreffen sind – und man muß nur ein kleines Vermögen dafür bezahlen.«

»Ich darf doch annehmen, daß es hier besser sein wird als in einer von Ungeheuern heimgesuchten Ruine an der Oberfläche«, sagte Quenthel.

Sie führte die Gruppe zu einer Feuerstelle. Drei Grottenschrate saßen dort, bei denen es sich der Qualität ihrer Rüstungen nach um fähige Söldner zu handeln schien. Die haarigen Kreaturen hockten bei großen Lederkrügen mit Pilz-Bier und nagten Rothé-Keulen ab. Ein massiger Krieger nach dem anderen sah auf, als sich die fünf Drow und Jeggred ihnen näherten. Quenthel verschränkte die Arme und sah das Trio verächtlich an.

»Nun?« fragte sie.

Die Grottenschrate knurrten, stellten ihr Bier ab und legten das Fleisch zur Seite, dann legte jeder von ihnen seine große Faust auf den Schaft der Axt, die er in seinen Gürtel geschoben trug. Halisstra entging die Bewegung nicht. Grottenschrate mit einem Funken Verstand hätten auf der Stelle ihren Platz geräumt, und das fast überall im Unterreich. Auch wenn die drei keine Drow-Sklaven waren – was offensichtlich war, da sie sich in Mantol-Derith aufhielten –, war sie oft genug an Orte gereist, die Ched Nasad ähnlich waren, um zu wissen, daß Kreaturen wie diese Grottenschrate schnell lernten, den wirklich gefährlichen Bewohnern des Unterreiches aus dem Weg zu gehen, also auch adligen Drow.

»Was ›nun‹?« zischte der Größte der drei. »Es ist schon mehr nötig als das spöttische Grinsen einer Drow, damit wir den Platz räumen.«

»Ihr glaubt wohl, ihr könnt uns rumschubsen?« fügte der zweite Grottenschrat an. »Ihr Elfchen seid nicht mehr so angsteinflößend wie früher, wißt ihr. Vielleicht könnt ihr uns ja einen Grund nennen, warum wir tun sollen, was ihr sagt.«

Quenthel wartete einen Moment, dann sagte sie: »Jeggred.«

Der Draegloth schoß vor und packte den ersten Grottenschrat. Mit den zwei kleineren Armen drückte er die Hände seines Gegners nach unten und verhinderte so, daß der eine seiner Waffen ziehen konnte. Eine Klaue legte er um den Kopf und hielt ihn unerbittlich fest, während er die Krallen der anderen Klaue tief ins Gesicht des Grottenschrats trieb. Der Söldner schrie etwas in seiner wunderlichen Sprache und setzte sich zur Wehr. Jeggred grinste nur breit und bohrte seine Klauen tiefer in den Schädel der kreischenden Kreatur, um ihr dann die vordere Hälfte des Kopfes wegzureißen. Blut und Hirnmasse spritzten auf seine Gefährten, die aufsprangen und nach Schwertern und Äxten griffen.

Jeggred ließ den zuckenden Leib sinken und sah die beiden anderen an.

»Der nächste?« schnurrte er.

Die beiden überlebenden Grottenschrate taumelten zurück und flohen voller Entsetzen. Jeggred schüttelte seinen mit weißem Fell überzogenen Kopf und schleuderte die Leiche zur Seite, dann setzte er sich an die Feuerstelle. Er hob das Stück Fleisch auf, das einer der Grottenschrate hatte fallenlassen, und griff mit der anderen Hand nach dem Krug.

»Grottenschrate ...«, murmelte er.

»He, Ihr da!«

Die mürrische Duergar-Wirtin eilte herbei und machte keinen Hehl aus ihrer Verärgerung.

»Die drei hatten noch nicht bezahlt«, klagte sie. »Wie um alles in der schreienden Hölle soll ich jetzt an mein Gold kommen?«

Ryld bückte sich, nahm die Geldtasche vom Gürtel des Grottenschrats und warf sie Dinnka zu.

»Das dürfte genügen«, sagte der Waffenmeister. »Macht das, was übrig ist, zu unserem Guthaben. Wir wollen guten Wein und mehr zu essen.«

Die Duergar fing die kleine Tasche auf, rührte sich aber nicht von der Stelle.

»Ich mag nicht, daß Ihr meine zahlende Kundschaft vertreibt, Drow, und auch nicht, daß Ihr sie tötet. Bringt den nächsten bei Euch zu Hause um, wie sich das gehört.«

Dann wandte sie sich ab und brüllte den Sklaven Befehle zu, noch bevor sie sich in Marsch gesetzt hatte.

Halisstra sah ihr nach, dann blickte sie die anderen an und signalisierte: Sonderbar, Habt Ihr gehört, was der Grottenschrat sagte?

»Die Drow seien nicht mehr so furchteinflößend wie früher?« fragte Ryld, wechselte dann aber zur Zeichensprache. Ist die Nachricht vom Untergang Ched Nasads etwa schon bis hier vorgedrungen? Es ist doch erst wenige Tage her, aber Mantol-Derith liegt viele Tagesreisen von der Stadt der schimmernden Netze entfernt.

Es ist denkbar, daß eine magische Ausspähung oder ein Kommu-nikationszauber die Nachricht bereits verbreitet hat, meinte Halisstra. Vielleicht meinte er auch etwas anderes. Vielleicht hat man von unseren Schwierigkeiten gehört.

Das, überlegte Halisstra, war ein zutiefst beunruhigender Gedanke. Duergar und Gedankenschinder waren ernstzunehmende Gegner, Kreaturen, die viele Geheimnisse der Hexenkunst kannten. Wenn sie die Schwäche der Drow wahrgenommen haben sollten, dann wäre das nicht überraschend gewesen. Doch wenn einfache Grottenschrat-Söldner wußten, wie es um Ched Nasad oder Menzoberranzan stand, dann mußte dies weithin bekannt sein.

Die Goblin-Sklaven kümmerten sich wieder um die Feuerstellen, brachten etwas bessere Mahlzeiten als die, die die Grottenschrate verzehrt hatten, sowie Flaschen mit kühlem Wein, der aus irgendeinem Weingut an der Oberfläche stammte. Die kleinen Sklaven scharten sich um den massigen Leichnam des getöteten Grottenschrats und zerrten ihn in eine dunkle Ecke. Die Drow nahmen davon kaum Notiz, da Goblin-Sklaven so weit unter ihrer Würde waren, daß sie für sie so gut wie nicht existierten. Die Reisenden aßen und tranken schweigend, jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach.

Nach einer Weile stieß Valas zu ihnen, der von einem Duergar begleitet wurde – einem Mann mit kurzem, eisengrauen Bart und völlig kahlem Schädel. Der Duergar trug ein Kettenhemd und hielt eine bedrohlich wirkende Handaxt in Händen. Sein Gesicht war von drei großen Narben entstellt, ihm fehlte ein Ohr, und die rechte Gesichtshälfte hatte durch die erlittenen Verletzungen etwas Alptraumhaftes. Er konnte ein Kaufmann, ein Söldner, aber auch ein Bergarbeiter sein – sein mürrisches Auftreten ließ keinen Rückschluß zu.

»Dies ist Ghevel Kohlenhauer«, sagte der Späher. »Ihm gehört ein Boot, das ganz in der Nähe auf dem Dunkelsee liegt. Er wird uns nach Gracklstugh bringen.«

»Ich will im voraus bezahlt werden«, warnte der Duergar die Gruppe. »Ich muß Euch außerdem wissen lassen, daß ich einen Wiedergutmachungsvertrag mit meiner Zunft zu Hause liegen habe. Wenn Ihr glaubt, Ihr könntet mir die Kehle aufschlitzen und mich in den See werfen, dann irrt Ihr – man würde Euch dafür verfolgen.«

»Eine vertrauensvolle Seele«, meinte Pharaun. »Wir sind nicht daran interessiert, Euch zu berauben, Meister Kohlenhauer.«

»Ich bin nur vorsichtig.« Der Duergar sah Valas an und sagte: »Ihr wißt, wo das Boot liegt. Bezahlt mich, dann treffen wir uns morgen früh dort.«

»Woher wissen wir, ob Ihr uns nicht ausrauben wollt?«

»Es ist nicht empfehlenswert, einen Drow auszurauben, jedenfalls nicht, wenn man nicht sicher sein kann, daß man ungeschoren davonkommt«, gab der Zwerg zurück. »So was kann sich ändern, aber nicht so schnell, daß ich heute schon darauf bauen würde.«

Valas Hune hielt dem Duergar einen kleinen Beutel hin und ließ ihn in dessen Hände fallen. Der Zwerg füllte den Inhalt umgehend in seine große, gegerbte Hand und betrachtete die Edelsteine, ehe er sie in den Beutel zurückschüttete.

»Ihr müßt es eilig haben, oder Euer Mann hier muß einen besseren Handel gemacht haben. Andererseits ... Ihr Drow habt ohnehin nicht viel für Edelsteine übrig.«

Er wandte sich ab und stapfte in die Finsternis davon.

»Das wird das letzte sein, was Ihr von ihm zu sehen bekommen habt«, sagte Jeggred. »Ihr hättet mit der Bezahlung warten sollen.«

»Er bestand darauf«, sagte Valas Hune. »Er sagte etwas davon, sichergehen zu wollen, daß wir ihn nicht töten, um die Bezahlung wieder an uns zu nehmen.« Valas sah dem Duergar nach und zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, daß er uns betrügen wird. Wenn er ein Duergar von der Art wäre, könnte er in Mantol-Derith nicht lange überleben. Die Leute hier sehen es nicht gern, wenn man sie betrügt.«

»Er kann uns sicher durch Gracklstugh bringen?« fragte Ryld.

Valas spreizte die Hände und erwiderte: »Wir müssen Dokumente oder Briefe mitführen, die Kohlenhauer für uns beschaffen kann. Ich glaube, so eine Art Händlerlizenz.«

»Wir führen keine Waren mit«, stellte Pharaun fest. »Ist das nicht eine etwas dürftige Erklärung?«

»Ich habe ihm erklärt, Herrin Quenthels Familie sei an Geschäften in Eryndlyn beteiligt, und sie solle dort nach dem rechten sehen. Wenn sie alles in bester Ordnung vorfindet, könnte sie daran interessiert sein, mit den Duergar eine Abmachung auszuhandeln, damit die ihre Güter durch das Territorium von Gracklstugh transportieren. Ich deutete auch an, Kohlenhauer könne gut daran tun, sich in diese Abmachung einbeziehen zu lassen.«

Pharaun hatte keine Zeit, etwas zu erwidern, da in der Höhle verstohlene Schritte von mehr als einer Person widerhallten. Die Dunkelelfen blickten auf und sahen, daß sich ihnen eine große Gruppe von Grottenschrat-Kriegern näherte. Angeführt wurden diese von den Söldnern, die nur Minuten zuvor die Flucht ergriffen hatten. Mindestens ein Dutzend Artgenossen hatte sich hinter ihnen versammelt, Äxte und dornenbesetzte Flegel in den haarigen Pfoten, einen mörderischen Blick in den Augen. Die anderen Gäste begannen, sich zurückzuziehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die massigen Humanoiden flüsterten in ihrer eigenen Sprache.

»Sagt«, begann Valas. »Hat irgend jemand einen Grottenschrat getötet, verstümmelt oder gedemütigt, während ich mit Kohlenhauer sprach?« Der Späher sah die anderen an, dann blieb sein Blick an Jeggred hängen, der nur die Achseln zuckte. Er seufzte. »Habe ich mich unklar ausgedrückt, als ich sagte, wir sollten hier keinen Streit anfangen?«

»Es gab ein Mißverständnis, was die Verteilung der Sitzplätze anging«, erklärte Quenthel.

Ryld erhob sich und schlug seinen Mantel nach hinten, damit seine Waffen griffbereit waren. »Ich hätte wissen müssen, daß noch mehr von ihrer Art in der Nähe sein würden.«

»Es ist an der Zeit, diese Geschöpfe daran zu erinnern, wer das Sagen hat«, meinte Halisstra.

Quenthel stand auch auf, zog ihre fünfköpfige Peitsche und betrachtete die Krieger mit einem ironischen Lächeln.

»Jeggred?« sagte sie nur.


Gromph stand auf einem Balkon hoch über Menzoberranzan und betrachtete das schwache Feenfeuer in der Stadt der Drow. Er wartete jetzt seit fast einer Stunde, und seine Geduld war erschöpft. Unter normalen Umständen wäre eine Stunde mehr oder weniger bedeutungslos für einen Dunkelelfen gewesen, der bereits auf ein jahrhundertelanges Leben zurückblicken konnte, doch dies war eine andere Situation. Der Erzmagier wartete voller Angst, er fürchtete die Ankunft dessen, der ihn zu diesem heimlichen Treffen bestellt hatte. Es war kein Gefühl, mit dem Gromph vertraut war, und er stellte fest, daß es ihm auch in keiner Weise behagte. Selbstverständlich hatte er die größten Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um sich zu schützen. Er hatte sich mit einer Fülle hervorragender Verteidigungszauber umgeben und mit großer Sorgfalt magische Gegenstände ausgewählt, die ihm Schutz bieten sollten. Doch der Erzmagier war nicht sicher, ob diese Vorsichtsmaßnahmen reichen würden, um denjenigen abzuschrecken, der auf dem Weg war, um sich mit ihm an diesem einsamen, stürmischen Ort zu treffen.

»Gromph«, begrüßte ihn eine kalte, rasselnde Stimme. Ehe der Erzmagier sich umdrehen konnte, fühlte er bereits die Präsenz des anderen – ein eisiger Schauer, dem es irgendwie gelang, alle Abwehrmaßnahmen zu durchdringen, der Gestank einer gewaltigen, schrecklichen Magie. »Gut, daß Ihr meine Einladung angenommen habt. Es ist lange her, nicht wahr?«

Der alte Dyrr näherte sich ihm aus dem Schatten im hinteren Teil des Balkons und stützte sich auf seinen großen Stab. Er glitt mit raschelndem Gewand vorwärts und war dabei nicht schneller als ein schlurfender alter Mann, obwohl sich seine Füße nicht zu bewegen schienen.

Inmitten der ehrgeizigen Drow seines eigenen Hauses paßte es zu Dyrr, daß er das Aussehen eines ehrwürdigen Dunkelelfen von unglaublichem Alter zur Schau trug, doch Gromphs arka-ner Blick durchdrang die Tarnung und ließ ihn die Wahrheit dahinter sehen. Dyrr war tot, tot schon seit Jahrhunderten. Von staubigen Knochen und den Fetzen mumifizierten Fleisches darauf abgesehen, war von dem alten Magier nichts mehr übrig. Seine Hände waren die Klauen eines Skeletts, sein Gewand war verblaßt und zerschlissen, und sein Gesicht war nur ein abscheulich grinsender Schädel. In den schwarzen Augenhöhlen leuchtete die grellgrüne Flamme seines mächtigen Geistes.

»Wie ich sehe, laßt Ihr Euch von meiner Tarnung nicht täuschen«, rasselte der Leichnam. »Ehrlich gesagt wäre ich auch enttäuscht gewesen, wenn Ihr Euch so leicht an der Nase hättet herumführen lassen, Erzmagier.«

»Meister Dyrr«, grüßte Gromph zurückhaltend. Er neigte den Kopf, ohne den Blick von dem Leichnam abzuwenden. »Ehrlich gesagt bin ich überrascht, daß Ihr immer noch unter uns weilt. Mir kamen Gerüchte zu Ohren, Ihr würdet nach wie vor abgeschieden in Eurem Heim ... nun ja ... leben. Von Zeit zu Zeit glaubte ich festzustellen, daß die Geschicke Agrach Dyrrs von einer alten und geschickten Hand geleitet wurden. Aber ich bin in den letzten fast zweihundert Jahren niemals jemandem begegnet, der behauptet hat, Euch gesehen zu haben, und es ist fast doppelt so lange her, daß wir uns das letzte Mal gesprochen haben.«

»Ich lege Wert auf meine Privatsphäre und halte meine Nachfahren dazu an, dies auch zu tun. Es ist für alle Beteiligten am besten, wenn meine führende Hand verborgen bleibt. Wir wollen ja jetzt nicht die Muttermatronen verängstigen, nicht?«

»Das ist wahr. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß sie auf Überraschungen sehr unangenehm reagieren.«

Der Leichnam lachte in einem Tonfall, der das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er kam näher, bis er neben Gromph stand und auf die Stadt hinabblicken konnte. Der Erzmagier empfand die unnatürliche Anwesenheit dieser untoten Kreatur als ein wenig beunruhigend – auch ein Gefühl, das er nicht oft verspürte.

Welche Geheimnisse birgt dieser wandelnde Geist in seinem leeren Schädel? fragte sich Gromph. Was weiß er über diese Stadt, woran sich sonst niemand mehr erinnert? Welche einsamen, schrecklichen Geschichten hat er allein in den trostlosen Jahrhunderten seiner Existenz erlebt, die ihm den Tod verweigert?

Diese Fragen beschäftigten Gromph, aber er beschloß, seine Spekulationen zurückzustellen.

»Nun, Meister Dyrr, Ihr habt um dieses Treffen gebeten. Worüber sollen wir reden?«

»Ihr wart schon immer bewundernswert direkt, Baenre«, sagte der Leichnam. »Eine erfrischende Eigenschaft bei unserer Art. Kommen wir zur Sache: Wie denkt Ihr über die Schwierigkeiten, von denen unsere Stadt in jüngster Zeit heimgesucht wurde? Genauer gefragt, was glaubt Ihr, was angesichts der Machtlosigkeit getan werden sollte, von der unsere Priesterinnenkaste heimgesucht wurde?«

»Was sollte getan werden?« gab Gromph zurück. »Schwer zu sagen, wenn man bedenkt, daß die Frage eigentlich lauten müßte, was überhaupt unternommen werden kann. Es liegt nicht in meiner Macht, die Königin über den Abgrund der Spinnennetze dazu zu bewegen, den Priesterinnen wieder ihre Gunst zu erweisen. Lolth tut, was sie will.«

»Wie stets. Ich will nicht unterstellen, daß Ihr etwas ändern könntet.« Der Leichnam schwieg kurz, das grüne Feuer in seinem Blick richtete sich auf den Erzmagier. »Was seht Ihr, wenn Ihr heute Menzoberranzan seht?«

»Unordnung. Gefahr. Verleugnung.«

»Vielleicht auch eine Gelegenheit?«

Gromph zögerte, ehe er erwiderte: »Ja.«

»Ihr habt gezögert. Seid Ihr nicht meiner Meinung?«

»Damit hat es nichts zu tun.«

Der Erzmagier legte die Stirn in Falten und wählte seine Worte mit Bedacht. Er wollte die mächtige Erscheinung nicht vor den Kopf stoßen. Dyrr schien vernünftig zu sein, doch der Verstand litt von Fall zu Fall unter dem hohen Alter eines Untoten. Er mußte davon ausgehen, daß der Leichnam zu wirklich allem in der Lage war.

»Meister Dyrr«, sagte er ruhig. »Sicherlich habt Ihr selbst festgestellt, daß die Listen der Spinnenkönigin unendlich sind. Die einzige Gewißheit in unserer Existenz ist die, daß Lolth eine launenhafte und fordernde Gottheit ist, eine Göttin, die sich daran erfreut, sehr harte Lektionen auszuteilen. Was, wenn ihr Schweigen nur eine Täuschung ist, um die auf die Probe zu stellen, die ihr treu sind? Ist es nicht möglich oder sogar wahrscheinlich, daß Lolth ihren Priesterinnen ihre Gunst versagt, nur um zu sehen, wie sie reagieren? Oder – schlimmer noch – daß sie sehen will, ob die Feinde ihres Klerus den Mut aufbringen, um aus dem Schatten zu treten und ihre Anhänger offen anzugehen? Wenn das der Fall ist, was wird dann aus dem, der dumm genug ist, der Spinnenkönigin zu trotzen, wenn sie ihrer Prüfung müde wird und den Priesterinnen wieder ihre volle Gunst erweist – und das so plötzlich, wie sie sie ihnen entzogen hat? Ich will nicht bei einem solchen Schachzug ertappt werden – ganz und gar nicht.«

»Eure Logik ist schlüssig, auch wenn ich glaube, daß die Gewohnheit, vorsichtig zu sein, Eure Gedankengänge hinken läßt«, sagte Dyrr. »Ich könnte Euch fast zustimmen, Junge, wenn da nicht diese eine Tatsache wäre. In den mehr als zweitausend Jahren, die ich auf dieser Welt zugebracht habe, ist so etwas noch nie geschehen. Sicher, ich kann mich an eine ganze Reihe von Begebenheiten erinnern, als Lolth ihren Klerikern für einige Tage ihre Zauber verwehrte, und es gab viele Fälle, in denen sie ganz bewußt entschied, dieser einen Priesterin oder jenem Haus dort ihre Gunst gänzlich zu verweigern, um sie ihren Feinden zu überlassen, doch noch nie ließ sie Monat um Monat unsere ganze Rasse im Stich.« Der Leichnam sah nachdenklich auf. »Es erscheint mir eine klägliche Art und Weise, den eigenen Anhängern zu begegnen. Sollte ich jemals den Status eines Gottes erlangen, dann glaube ich, ich werde versuchen, bessere Arbeit zu leisten als sie.«

»Was exakt schlagt Ihr vor, Meister Dyrr?«

»Ich schlage überhaupt nichts vor, aber ich erwäge, Baenre, ob man machtlosen Klerikern noch allzulange die Herrschaft über diese Stadt anvertrauen sollte. Ihr und ich, wir verfügen doch immer noch über eine immense, schreckliche Macht, nicht wahr? Die mystischen Geheimnisse unserer Kunst haben uns nicht im Stich gelassen, und sie werden es wohl auch in Zukunft nicht. Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir die Sicherheit unserer Zivilisation erwägen müssen, die Verteidigung unserer Stadt, indem wir die Zügel der Macht in die Hand nehmen, die die Muttermatronen nicht länger halten können. Die Gefahr für unsere Stadt wächst von Stunde zu Stunde. Schließlich haben wir Rivalen jenseits unseres Dunklen Reiches, andere Rassen, andere Reiche, die uns bedrohen.«

»Genau das ist der Grund, warum ich zögere, Drow-Magier gegen Drow-Priesterinnen ins Feld zu führen«, erwiderte Gromph. »Die einzige Sache, die möglicherweise unsere momentane Verwundbarkeit noch erhöhen könnte, wäre ein Bürgerkrieg. Wenn wir uns das Schicksal Ched Nasads ersparen wollen, dann müssen wir die bestehende Ordnung beibehalten, bis die Krise vorbei ist.«

»Was glaubt Ihr, was Euch diese blinde Loyalität einbringen wird – von den Priesterinnen oder von Lolth?« Dyrr drehte sich wieder um und tippte ihm mit einem knochigen Zeigefinger auf die Brust. Gromph konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Ihr habt Potential, Gromph. Ihr seid begabt, und Ihr blickt über das Haus Baenre hinaus auf ganz Menzoberranzan. Bringt Eure Fähigkeiten ins Spiel und erwägt sorgfältig, wie Ihr in den nächsten Tagen entscheidet. Es stehen Ereignisse an, die Euch die Gelegenheit bieten, zu Ruhm aufzusteigen oder zu scheitern. Trefft nicht die falsche Entscheidung.«

Gromph machte einen behutsamen Schritt nach hinten, bewegte sich über den Abgrund der Höhle und schwebte in der Luft.

»Ich fürchte, ich muss mich um Narbondel kümmern, Meister Dyrr. Ich werde jetzt gehen ... und gründlich über Eure Worte nachdenken. Ihr könntet die Situation zutreffender erfaßt haben als ich.«

Der intensiv grüne Blick des Leichnams folgte Gromph hinab in die Dunkelheit, während er dem Grund entgegensank. Er würde lange und gründlich über die Worte des Untoten nachdenken. Er konnte Dyrr durch Höflichkeit und Vorsicht vertrösten, aber nicht unendlich lange. Gromph war sicher, daß der Leichnam bei ihrer nächsten Begegnung eine andere Antwort hören wollte.


Der Dunkelsee war ein merkwürdiger, gräßlicher Ort. Eine Schwärze, die größer war als alles, was Halisstra je gesehen hatte, umschloß sie und ihre Gefährten, ein Raum, dessen gewaltige Ausmaße ihrem Verstand zu schaffen machten. Die Höhlen der Drow maßen oft viele Kilometer im Durchmesser und beherbergten immens große Städte, in denen Tausende von Drow lebten. Doch wenn Kohlenhauer nicht übertrieb, dann füllte der Dunkelsee eine Höhle, die von einem Ende bis zum anderen über hundertfünfzig Kilometer maß und eine Höhe von dreihundert Metern aufwies. Das Wasser des Sees füllte fast die gesamte Höhle aus, und als sie sich über den See fortbewegten, war die Decke oft nur einen Speerwurf weit über ihnen, was bedeutete, daß viele hunderte Meter eines schwarzen Mysteriums unter ihnen lauerten. Es war unbehaglich.

Kohlenhauers Boot war weit davon entfernt, bequem zu sein. Es war ein asymmetrisches Wasserfahrzeug, das größtenteils aus Planken bestand, die aus den holzigen Stämmen einer bestimmten Pilzsorte des Unterreiches geschnitten und dann lackiert worden waren, was ihnen Stärke und Festigkeit verlieh. Das Zurkhholz bildete eine breite Plattform, die auf einer Ansammlung von Luftblasen trieb, die der Wasserspezies eines Riesenpilzes entnommen worden waren. Das alles wurde mittels der hervorragenden Metallbearbeitungskunst der Duergar zusammengehalten.

Vier wuchtige Skelette – zu Lebzeiten wohl Oger oder vielleicht Trolle – kauerten in dem einem Brunnen ähnelnden Bereich in der Mitte des Bootes und drehten unablässig zwei große Kurbeln, die ein Paar Schaufelräder aus Zurkhholz antrieben. Die geistlosen Untoten ermüdeten nie, klagten nie und wurden niemals langsamer, es sei denn, Kohlenhauer wies sie dazu an. So bewegten sie das Boot über den See, und die einzigen Geräusche waren das leise Plätschern des Wassers, wenn es von den Schaufelrädern bewegt wurde, und das kaum wahrnehmbare Schaben und Kratzen der Knochen, die aneinander rieben. Der Duergar stand nahe dem Heck auf einer kleinen, erhöhten Brücke, die genügte, um über die Schaufelräder hinwegzublicken. Mit vor der massigen Brust verschränkten Armen stand er da und spähte gedankenverloren in die Finsternis.

Die Passagiere kauerten auf dem kalten, unbequemen Deck oder gingen hin und her, wobei sie immer auf Distanz zum Rand der Plattform blieben, die nicht von einem Geländer umgeben war. Die Reise von Mantol-Derith aus verlief nicht besonders schnell, da das Gefährt keine hohen Geschwindigkeiten erreichen konnte, und Kohlenhauer mußte zudem an den Stellen vorsichtig manövrieren, an denen die Decke so niedrig war, daß das Boot dort nicht weiterkam.

Valas verbrachte die meiste Zeit damit, neben dem Zwerg auf der Brücke zu stehen und ein Auge auf den Kurs zu werfen. Pharaun saß im Schneidersitz am Fuß der Brücke, tief in Trance versunken, während Ryld und Jeggred an Backbord und Steuerbord Wache hielten, um darauf zu achten, daß sich ihnen keiner der Bewohner dieses Gewässers näherte. Die Priesterinnen blieben für sich, ebenfalls in Trance versunken, wobei sie auf das dunkle Wasser blickten und ihren Gedanken nachgingen.

Fast zwei Tage vergingen so, nur unterbrochen von kurzen Pausen, um zu essen oder um dem Duergar-Kapitän Zeit zu geben, sich auszuruhen. Kohlenhauer achtete sehr darauf, kein Licht zu entzünden. Daher mußten sie ihre Feuerstelle zum Kochen auch in eine kleine, abgeschlossene Kiste verlagern, damit von den Flammen nichts zu sehen war.

»Zu viele Dinge werden vom Licht angelockt«, murmelte er. »Selbst das kann schon zuviel sein.«

Nach der dritten derart zubereiteten Mahlzeit, die sie spät am zweiten Tag der Reise zu sich nahmen, zog sich Halisstra zum Bug des Schiffs zurück, damit sie ihren Blick auf das Wasser richten konnte, anstatt unentwegt einen ihrer Gefährten anzustarren. Durch den heftigen Kampf bei der Flucht aus Hlaungadath und durch die Reise auf der Ebene der Schatten war ihr bislang nur wenig Zeit geblieben, um die neue Situation zu begreifen, in der sie sich befand. Die endlosen Stunden, in denen nichts anderes zu hören war als das leise Plätschern des Wassers und die fast insektengleichen Geräusche, die der skelettartige Antrieb des Bootes verursachte, hatten sie von jeglichen Beschäftigungen abgehalten, so daß sich vor ihrem geistigen Auge immer wieder der Untergang Ched Nasads abspielte.

Was ist aus meinem Haus geworden? fragte sie sich. Haben sich Diener und Soldaten durch die Flucht aus Ched Nasad retten können? Sind sie gemeinsam unterwegs? Wer führt sie an? Oder sind sie alle in den Flammen und Trümmern umgekommen?

Der Tod der Muttermatrone Melarn machte Halisstra zum Oberhaupt des Hauses, vorausgesetzt, keine ihrer jüngeren Basen hatte bislang den Führungsanspruch angemeldet. Wenn ja, dann war sich Halisstra sicher, daß sie ihr diesen Anspruch würde abringen können. Sie war stets die Lieblingstochter des Hauses Melarn gewesen, die älteste, die stärkste, und sie wußte, ihre Basen konnten ihr nicht vorenthalten, was ihr durch Geburt zustand.

Doch es schien in der Tat sehr wahrscheinlich, daß ihr Geburtsrecht nur Asche und Schutt am Grund der großen Spalte von Ched Nasad war. Selbst wenn ein Teil ihres Hofstaats entkommen war – würde sie die Dienerschaft wirklich suchen und sich ihr anschließen wollen, um mit ihr in einem elenden, verdreckten und gefährlichen Exil im Unterreich zu leben?

So hatte es nicht kommen sollen, dachte sie. Ich sollte den Platz meiner Mutter einnehmen und die Macht erhalten, die zuvor die ihrer Mutter und davor die ihrer Großmutter gewesen war. Die tausend Fäden Ched Nasads hätten mir zu Füßen gelegen. Ein Wort, ein Blick, ein Stirnrunzeln hätten genügt, damit der geringste meiner Wünsche erfüllt worden wäre. Doch jetzt bin ich statt dessen zur Wanderin ohne Wurzeln geworden.

Warum, Lolth? rief sie im Geiste. Warum? Was haben wir getan, dich so zu verärgern? Welche Schwäche haben wir gezeigt?

Früher hatte Halisstra das finstere Flüstern Lolths in ihrem Herzen gehört, doch dieser Ort war nun leer. Lolth wollte nicht antworten. Sie bestrafte Halisstra nicht einmal dafür, daß sie die Verwegenheit besaß, eine Antwort zu verlangen.

Wenn Lolth sie wirklich verlassen hatte, was wäre dann aus ihr geworden, wenn sie ihrem Haus in den Untergang gefolgt wäre? Ihr ganzes Leben lang hatte Halisstra geglaubt, ihr Dienst als Priesterin und als Bae’qeshel für die Königin des Abgrunds der Dämonennetze werde ihr nach dem Tod einen Platz weit oben in Lolths Reich bescheren, doch was würde nun aus ihr werden? Würde ihr entwurzelter Geist mit den anderen unglücklichen Seelen gefangen sein, die kein Gott im Leben nach dem Tode für sich beanspruchte? Würde es ihr Schicksal sein, jenes wahren, ewigen Todes in den grauen Weiten zu sterben, der den Ungläubigen vorbehalten war? Halisstra schauderte es. Lolths Glaube verlangte Härte, Weichlinge hatten dort keinen Platz, doch eine Priesterin hatte immer erwarten können, für den Dienst zu Lebzeiten im Tode belohnt zu werden. Wenn dem nicht mehr so war ...

Danifae kam zu ihr und kniete neben ihr nieder. Sie sah Halisstra in die Augen und senkte nicht ihren Blick.

»Die Trauer ist ein süßer Wein, Herrin Melarn. Wenn Ihr nur einen kleinen Schluck davon trinkt, seid Ihr versucht, mehr zu trinken. Es wird nie besser, wenn Ihr Euch einem von beiden im Übermaß hingebt.«

Halisstra sah weg, um sich zu sammeln. Sie wollte nicht ihr Entsetzen mit Danifae teilen.

»Trauer beschreibt nicht annähernd, was in meinem Herzen vorgeht«, sagte sie. »Ich kann seit Beginn dieser unendlichen Reise an kaum etwas anderes denken. Ched Nasad war mehr als nur eine Stadt. Es war ein Traum, ein düsterer und zugleich strahlender Traum Lolths. Elegante Burgen, grandiose Netze, Häuser voller Reichtum, Stolz und Ehrgeiz, alles binnen weniger Stunden verbrannt. Die Stadt, ihre Matronen und Töchter, die schön gesponnenen Paläste, alles verloren – und warum?« Sie schloß die Augen und kämpfte gegen den Schmerz an, der sie zu überwältigen drohte. »Es waren nicht die Zwerge, die uns zerstörten. Wir waren es.«

»Ich werde nicht den Untergang Ched Nasads betrauern«, sagte Danifae. Halisstra sah auf, wobei sie der leidenschaftslose Tonfall der Frau tiefer traf als die Worte. »Es war eine Stadt voller Feinde, von denen die meisten nun tot sind, während die anderen wie Bettler in die Wildnis des Unterreiches geflohen sind. Ich werde nicht um Ched Nasad trauern. Wer wird das schon – bis auf die wenigen Überlebenden, deren Zuhause es war?«

Halisstra wollte darauf nichts sagen. Niemand trauerte um eine Stadt der Drow, nicht einmal die anderen Drow. So waren die Drow eben. Die Starken überlebten, die Schwachen gingen unter, ganz so, wie die Spinnenkönigin es verlangte. Danifae wartete lange Zeit, ehe sie weitersprach: »Habt Ihr darüber nachgedacht, was wir als nächstes tun sollen?«

Halisstra warf ihr einen kurzen Blick zu: »Unser Schicksal ist doch von diesen Menzoberranzanyr längst besiegelt, nicht wahr?«

»Für heute ja, aber werden Eure und ihre Interessen morgen übereinstimmen? Was werdet Ihr tun, wenn Lolth Euch morgen wieder ihre Gunst erweist? Wohin wollt Ihr gehen?«

»Ist das wichtig?« fragte Halisstra. »Vermutlich werde ich nach Ched Nasad zurückkehren und die Überlebenden zusammenbringen, die ich finde. Es wird eine schwere Aufgabe werden, mehr, als ich im Lauf eines Lebens zu bewältigen hoffen könnte, aber mit dem Segen Lolths könnte Haus Melarn wieder auferstehen.«

»Glaubt Ihr, Quenthel würde so etwas zulassen?«

»Warum sollte sie kümmern, was ich mit dem Rest meines Lebens anfange? Vor allem, wenn ich mein Leben damit verbringe, einen kläglichen Bruchteil eines Hauses aufzubauen, das in Schutt und Asche liegt?« gab Halisstra bitter zurück.

Danifae spreizte nur die Hände. Halisstra verstand. Welchen Grund brauchte eine Baenre schon, um irgend etwas zu tun?

Die Menzoberranzanyr mochten sie zwar aus Ched Nasad gerettet haben, doch ein Wort Quenthels genügte, um aus ihr eine Gefangene zu machen oder um ihr das Leben zu nehmen. Die junge Frau sah hinüber, wo die anderen meditierten oder Wache hielten, dann wechselte sie zur Zeichensprache und achtete darauf, daß niemand sonst sie beobachten konnte.

Vielleicht wäre es ratsam zu überlegen, auf welche Weise wir uns für die Menzoberranzanyr unentbehrlich machen können, bedeutete sie. Es wird der Tag kommen, an dem wir nicht länger auf Quenthel Baenres Mildtätigkeit angewiesen sein wollen.

»Vorsicht«, warnte Halisstra.

Sie setzte sich auf und unterdrückte den Impuls, einen Blick über die Schulter zu werfen. Danifae besaß ein untrügliches Gespür dafür, wie sie andere manipulieren konnte. Doch wenn Quenthel den Eindruck bekam, Halisstra und Danifae strebten danach, ihre Autorität zu untergraben – oder auch nur ihre Handlungsfreiheit zu beschneiden –, dann würde die Baenre zweifellos schnell und drastisch einschreiten, um dem zuvorzukommen.

Du schlägst etwas sehr gefährliches vor, Danifae. Quenthel würde nicht zögern, eine Herausforderin zu töten, und wenn ich getötet würde ...

Würde ich das nicht überleben, führte Danifae für sie den Satz zu Ende. Mir sind die Bedingungen meiner Gefangenschaft bekannt, Herrin Melarn. Doch Untätigkeit im Angesicht einer Gefahr für uns ist sicher nicht weniger riskant als das, was ich vorschlagen will. Hört mich an, dann könnt Ihr entscheiden, was ich tun soll.

Halisstra betrachtete die junge Frau mit den perfekt geschnittenen Zügen und der verführerischen Figur. Sie mußte an die Unterhaltung zwischen Quenthel und Danifae denken, die sie in den Katakomben Hlaungadaths belauscht hatte. Sie konnte Danifaes Plan mit einem Wort stoppen. Sie konnte das sogar durch die Magie des Medaillons erreichen ... aber dann würde sie nie erfahren, was Danifae sich zurechtgelegt hatte, um ihre eigene Absicht in die Tat umzusetzen.

»Nun gut«, sagte sie. Sag mir, was du dir vorstellst.

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