9 Schiannath

Der Schneesturm fegte durch den schmalen Bergpaß wie ein hochwasserführender Fluß – machtvoll, unausweichlich und tödlich. Der Paß, ein gerader Korridor zwischen Felswänden von unfaßbarer Höhe, war das Tor zum Königreich des Himmelsvolkes. Am Ende des Passes hatte man, hoch auf einem Felsausläufer, einen Turm gebaut, in dem das geflügelte Volk in der Vergangenheit Wache gehalten hatte. Ein dunkler, dichter Pinienwald unterhalb des Felsausläufers sorgte für reichlich Feuerholz.

Der Wind pfiff schrill um Incondors Turm und zerrte wie ein lebendiges Tier mit kalten Klauen an dem soliden, von Menschen gemachten Steinhaufen, als wolle er sich auf die jämmerlich kleinen Menschen stürzen, die darin Zuflucht gesucht hatten. Jenseits des Turms erstreckte sich ein weites Tal, dessen grelles, vom Schnee ersticktes Weiß hier und da von dunklen, skelettartigen Bäumen durchbrochen wurde, die sich unter der Last des Schnees wie alte Männer beugten. Über dem Tal ragten, beeindruckend in ihren gewaltigen Ausmaßen, riesige Berge wie gezackte Reißzähne in den Himmel, Berge, die so dicht aneinanderstanden, als kämpften sie um das Vorrecht, das viereckige, massige Gebäude anzugreifen, das so tapfer zu ihren Füßen stand.

Der Mann, der sich hinter einer Ansammlung verstreuter Felsbrocken am Eingang des Passes versteckte, hatte für die bedrohlichen Berge keinen einzigen Blick übrig. Ihn beschäftigten vielmehr die Fremden, die im Turm Zuflucht gesucht hatten. In seinem Umhang aus silbrigen Wolfsfellen war er vor dem Hintergrund aus Schnee und Schatten fast unsichtbar, genauso wie sein Pferd Iscalda, die weiße Stute, die geduldig hinter ihm stand und sich weniger bewegte als der sie umwirbelnde Schnee, der sich in dichten Schneewehen zu ihren Füßen stapelte.

Schiannath starrte den Turm an, der sich auf dem bewaldeten Hügel gegen den Himmel abzeichnete, und fluchte bitterlich. Was für ein widerliches, unglaubliches, unmögliches Pech! Das verlassene Gebäude war das beste seiner Refugien, das einzige, in dem er und Iscalda mit einiger Behaglichkeit vor diesem tödlichen und unnatürlichen Winter Schutz finden konnten. Seine anderen Zufluchtsorte, entdeckt nach monatelangem Durchwandern dieser unwirtlichen Berge, waren entweder dichtes Unterholz im Wald oder Höhlen: Die ersteren waren mitleiderregend unzureichend in diesem bitterkalten Wetter und die letzteren feucht und zugig und hatten überdies die Neigung, sich mit erstickendem und verräterischen Rauch zu füllen, sobald ein Feuer entzündet wurde. Er und Iscalda hatten in diesem Unwetter eine lange, gefährliche Reise unternommen, um hierher zu gelangen, und sie waren durchnäßt, halb erfroren und unendlich erschöpft angekommen – nur um entdecken zu müssen, daß der Turm bereits besetzt war.

Noch einmal verfluchte Schiannath die Eindringlinge, wer immer sie auch sein mochten. Und wer konnte das überhaupt sein? Die Xandim kamen niemals so weit nach Süden. Dieser Teil des Landes gehörte nicht mehr zu ihrem Herrschaftsbereich, was auch der Grund dafür war, warum er sich hier aufhielt. Der Gesetzlose zuckte bei der Erinnerung an seine Verhandlung und Verbannung zusammen. Das stotternde, halb blinde junge Windauge hatte damals die Zaubersprüche ausgesprochen, die seinen Namen aus dem Wind löschten und aus der Erinnerung des Stammes. Er biß sich auf die Lippen, um seine Schande und seinen Schmerz nicht laut hinauszuschreien. O Göttin, warum habe ich das getan? dachte er unglücklich. Warum war es so wichtig für mich, Rudelfürst zu werden?

Wie war das alles nur gekommen? Warum war er immer ein Außenseiter gewesen – einsam in einem Volk, in dem der Stamm alles war, heimlichtuerisch unter Menschen, die sonst alles teilten? Immer wieder hatte ihn sein scharfer Verstand in Schwierigkeiten gebracht. Er war klüger als alle anderen zusammen, und dafür hatten sie ihn gehaßt. Nun sollten sie doch verrotten! Verflucht sollte seine Mutter dafür sein, daß sie ihn bei seinem Vater in der Küstenniederlassung zurückgelassen hatte, als sie sich von ihm trennte, während sie die Kinder ihrer anderen Gefährten mit in die Berge nahm! Wenn das nicht gewesen wäre, hätte er mit seinen Brüdern und mit dem Stamm aufwachsen können. So wie die Dinge lagen, war er jedoch, als er nach dem Tod seines Vaters in die Festung kam, nicht in der Lage gewesen, sich dort einzufügen; wieder und wieder war er wegen seines wilden, undisziplinierten Verhaltens mit dem Rudelfürsten aneinandergeraten, bis ihm der einzige Ausweg darin zu liegen schien, sich von Phalias und dessen ermüdenden Regeln und Beschränkungen zu befreien und selbst Rudelfürst zu werden. Nur seine Schwester Iscalda hatte immer zu ihm gehalten und hatte alles versucht, um ihn von dieser Wahnsinnstat abzuhalten – und als ihr das nicht gelungen war, hatte sie darauf bestanden, seine Verbannung zu teilen.

Trauer durchbohrte Schiannaths Herz wie ein Messer. Die Xandim kannten kein Todesurteil für die Mitglieder ihrer eigenen Rasse; dieses Schicksal war Fremden und Spionen vorbehalten. Statt dessen hatten sie etwas Schlimmeres getan – sie hatten ihm seinen Namen genommen und ihn mit Flüchen und Steinen fortgejagt. Das Windauge hatte Iscalda dafür, daß sie Phalias getrotzt hatte, in ihre Andergestalt verwandelt und in diesem Zustand für alle Zeiten eingesperrt. Jetzt war sie nur noch ein gewöhnliches Pferd mit den Bedürfnissen und Instinkten – und dem Verstand – eines Tieres.

Die Kehle schnürte sich ihm mit nicht geweinten Tränen zu, und der Gesetzlose blickte über seine Schulter hinweg zu der weißen Stute und wünschte, er könnte irgendwie von seinen schmerzlichen Erinnerungen erlöst werden. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er in seiner Verzweiflung daran gedacht, das Leiden für sie beide zu beenden – vielleicht mit seiner Klinge oder einfach, indem er Iscalda über einen Felsvorsprung ritt. Aber er hatte nie den Mut dazu gefunden. Immer war noch dieser winzige, unbeirrbare Funke Hoffnung in den Hefen seiner Seele gewesen, daß er eines Tages doch noch eine Möglichkeit finden würde, sie zurückzuverwandeln.

Die Stute machte tief in ihrer Kehle ein leises, schmatzendes Geräusch und ließ ihre Nase in seine Handfläche sinken, um sanft an seinen Fingern zu lecken. Schiannath seufzte. »Ich weiß, Iscalda – ich habe auch Hunger. Komm, es ist Zeit, daß wir gehen.« Er besaß ganz in der Nähe noch ein anderes Versteck; eine kleine Höhle hoch oben in den Wänden des Passes. Die Höhle war eng und ungemütlich, aber er hatte dort einen kleinen Essensvorrat für Notfälle angelegt, zu dem auch etwas getrocknetes Gras für Iscalda gehörte, das er vor langer Zeit während des milderen Wetters für sie gesammelt hatte.

Schiannath betrachtete noch ein letztes Mal den Turm und runzelte finster die Stirn, als er die Rauchschwaden sah, die aus dem halb zerfallenen Rauchfang drangen. Fluch über sie alle! Wer waren diese Leute? Warum waren sie hier? Er zögerte. Wenn sie keine Xandim waren, dann konnten sie ihn nicht als Gesetzlosen kennen. Wenn er behauptete, ein vom Weg abgekommener Reisender zu sein, würden sie ihn gewiß aufnehmen!

Eine Hoffnung, die fast schmerzhafte Ausmaße annahm, stieg in Schiannaths Brust auf. Nach Monaten, in denen Iscalda seine einzige Gesellschaft gewesen war, überwältigte ihn der plötzliche Hunger nach Menschen, nach freundlichen Gesichtern und dem Klang von menschlichen Stimmen und Gelächter. Eine verzweifelte Sehnsucht durchströmte ihn wie eine gewaltige Flut. Sein mageres, wettergegerbtes Gesicht verzog sich zu dem ersten Lächeln seit Monaten, als er nach dem Zaumzeug der Stute griff und aus seinem Versteck hervortrat.

Ein neues Geräusch ließ ihn sich hastig wieder zurückziehen wie ein gejagtes Tier, das sich in seiner Höhle verkroch. Mit den geschärften Sinnen eines wilden Geschöpfes hörte er das Geräusch von Flügeln, wie sie durch das Tal auf den Paß zuflatterten. Schiannath kauerte sich hinter den Felsbrocken und zog die Stute mit sich. Er zitterte, aber diesmal nicht vor Kälte. War er plötzlich ein Windauge geworden, daß der Sturm furchtbare Vorahnungen zu ihm hinüberwehte? Dann, als er zwischen den starren Baumstämmen hindurchspähte, die den Turm umringten, sah der Gesetzlose geflügelte Gestalten vom Himmel herabstürzen. Entsetzt hielt er den Atem an. Bei den Feldern des Paradieses, was taten diese abscheulichen Kreaturen hier?

Plötzlich löste sich zu Schiannaths Erstaunen eine Gruppe menschlicher Krieger – die gut versteckt gewesen sein mußten, um seiner sorgsamen Beobachtung zu entgehen – aus dem Pinienwald. Für kurze Zeit waren sie deutlich zu sehen, als sie auf den Turm zuliefen. Schiannath hörte ein Gemurmel von Stimmen in einer harten, primitiven Sprache und versteifte sich vor Zorn. Diese verfluchten Khazalim! Was hatten sie hier zu suchen? Mit einem geflüsterten Fluch zog er sich hinter die Felsen zurück, während die Geflügelten über dem Wäldchen emporschwebten und dann zwischen den Zweigen verschwanden.

Sein gesunder Menschenverstand sagte dem Gesetzlosen, daß es an der Zeit war, diesen Ort zu verlassen. Wenn die Eindringlinge Späher ausschickten … Und doch blieb er stehen, angezogen von Neugier und dem unwiderstehlichen Drang, in der Nähe von Menschen zu sein – irgendwelcher Menschen. Iscalda würde ihn vor jeder sich nähernden Gefahr warnen, und bei seiner Kenntnis des hiesigen Gebietes sollte es ihm nicht schwerfallen, in dem dichten Schnee jedem Verfolger zu entkommen. Also blieb er stehen und sah zu, wie geflügelte Krieger auf dem Dach des Turms landeten und wie diese Khazalimkerle, die mit den Geflügelten verbündet zu sein schienen, die Tür attackierten. Es war ein Hinterhalt! Wer immer auch im Turm sein mochte, Schiannath stellte plötzlich fest, daß er tiefes Mitleid für die armen Geschöpfe verspürte.


Yazour erwachte plötzlich, aus dem Schlaf gerissen durch irgendwelche schwachen, nicht auszumachenden Geräusche. Er öffnete die Augen und sah sich in der seltsam verlassenen Kammer um. Shia streckte sich nach Katzenmanier an dem wärmsten Ort im Raum aus, dicht neben dem Feuer. Ganz in ihrer Nähe lag Bohan, der seinen Kopf auf dem Kamin wie auf einem Kissen abstützte, und Nereni und Eliizar lagen zusammengerollt in einem Nest aus Decken. Aber wo waren die anderen? Er hielt erschrocken den Atem an, bis ein leises Murmeln von Stimmen aus dem Stockwerk über ihm verriet, wo Aurian und Anvar steckten. Yazour lächelte. Sie nutzten eine der seltenen Gelegenheiten, allein zu sein, und wer konnte ihnen einen Vorwurf daraus machen? Damit war nur noch Rabe übrig – aber warum sollte sie verschwinden? Er erhob sich, um der Sache auf den Grund zu gehen, und gerade in diesem Augenblick flog die Tür des Zimmers auf, und Harihns Männer stürzten ins Zimmer.

Yazour sprang auf die Füße und zog sein Schwert. »Feinde!« brüllte er. »Wacht auf!« Sein Herz krampfte sich vor Zorn zusammen angesichts des Betrugs, denn er erkannte jedes einzelne Gesicht seiner Angreifer. Bevor er den Dienst des Prinzen verlassen hatte, waren diese Männer treue Gefährten gewesen, die unter seinem Kommando gestanden hatten. Jetzt war er ihr Feind. Yazour wurde das Herz schwer. Wenn Harihn ihn gefangennahm, konnte er keine Gnade von dem Prinzen erwarten. Dann stürzten sich seine Feinde auf ihn, und es blieb ihm keine Zeit mehr für weitere Gedanken.

Shia sprang mit einem lauten Fauchen auf, als die Tür aufgerissen wurde. Die beiden ersten Männer fielen ihren Klauen zum Opfer, bevor Yazour noch sein Schwert ziehen konnte, und dann waren ihre Kameraden neben ihr und verteidigten sich gegen die Übermacht der Angreifer. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Eliizar zu Boden stürzte, und sie machte einen Schritt zurück, um ihn zu verteidigen – aber Bohan war bereits da und kämpfte mit der Kraft von drei Männern. Nereni rannte schreiend zu ihrem Mann, um ihm zu helfen, und binnen weniger Sekunden war Eliizar wieder auf den Beinen und kämpfte mit einer Hand, während er die andere auf seine blutende Seite preßte. Nereni ihrerseits schleuderte mit wilden Flüchen brennende Zweige aus dem Feuer in die Schar von Harihns Männern, die sich noch immer mit aller Gewalt durch die Tür zwängten.

Die große Katze schlug mit den Klauen wild um sich, wobei ihre Bewegungen von tödlicher Präzision waren, so daß sie ihren Feinden grauenvolle Verletzungen beibrachte – aber es waren so viele! Voller Verzweiflung blickte sie über ihre Schulter hinweg zur Treppe. Wo waren Aurian und Anvar? Warum kamen ihnen die Magusch nicht zu Hilfe? Als sie sich in ihren Gedanken mit Aurian verband, sah sie die Szene, die sich oben abspielte, mit den Augen ihrer Freundin. Geflügelte! Aurian und Anvar gefangen. Heiße Furcht durchströmte Shia; was würde mit ihren Kameraden geschehen? Sie kämpfte sich bereits ihren Weg zur Treppe frei, als sie Aurians Stimme in ihren Gedanken hörte, die ihr befahl, wegzulaufen.

»Hast du den Verstand verloren? Ich werde dich nicht im Stich lassen!«

»Du mußt. Wenn wir den Stab verlieren, sind wir am Ende.«

Shia stieß ein zorniges Fauchen aus. Nur widerwillig kehrte sie dem Kampf den Rücken und sprang in die schattige Ecke neben dem Kaminsims, wo der Stab der Erde an der Wand lehnte. Die große Katze verkrampfte sich, bevor sie ihre Kiefer um das verhaßte magische Ding schloß. Dann wandte sie sich wieder an Aurian. »Ich habe ihn. Ich gehe!«

Obwohl der lange, unhandliche Stab, den sie zwischen den Zähnen hielt, sie sehr behinderte, war sie entschlossen, auf ihrem Weg zur Tür soviel Unheil anzurichten wie nur möglich.


Als Shia mit dem Stab zwischen den Kiefern in Aktion trat, reagierte Yazour instinktiv, um aus der allgemeinen Verwirrung seinen Vorteil zu ziehen. Sie waren hoffnungslos in der Minderzahl – es war vernünftig, wenn so viele wie möglich von ihnen versuchten, sich zu befreien und nach draußen zu entkommen. Mit wilden Schwerthieben schlug er sich hinter der großen Katze seinen Weg frei und kümmerte sich in seiner Verzweiflung nicht darum, daß diese Männer einst unter seinem Kommando gestanden hatten. In dem überfüllten Raum brach absolutes Chaos aus. Schwerter sausten durch die Luft, und – Männer stolperten übereinander, um den furchtbaren Zähnen und Klauen der großen Katze zu entgehen. Der Boden war glitschig geworden vom Blut der Toten und Gefallenen, aber Yazour, der um sein Leben kämpfte, schaffte es schließlich doch, zur Tür zu gelangen, und stürzte hinaus in die eiskalte Nacht.

Mit jedem keuchenden Atemzug schoß ihm die Kälte in die Lungen, und der Schnee unter seinen Füßen war dick und trügerisch. Yazour wußte, wenn er fiel, war er am Ende, aber er wagte es dennoch nicht, seinen Schritt zu verlangsamen. Hinter sich hörte er den Ruf eines Bogenschützen. Beim Schnitter, nein! Da er einen Atemzug auf einen Fluch verschwendet hatte, taumelte er kurz, bis das schiere Entsetzen seinen dahinschießenden Füßen neue Kraft verlieh. Wie ein gejagter Hase lief er im Zickzack zwischen den Bäumen hin und her, um den Bogenschützen zu verwirren, aber seine Füße rutschten bei jeder Seitwärtsbewegung auf dem glatten Boden aus. Tödliche Pfeilschafte übersäten den Schnee um ihn herum und die Haut zwischen seinen Schultern zog sich in furchtbarer Erwartung zusammen, denn er meinte jeden Augenblick, den Aufprall eines Pfeils zu spüren.

Als der Pfeil ihn schließlich traf, riß er ihn von den Füßen. Feuer in seiner linken Schulter entlockte seiner Kehle einen schrillen Schrei, und Yazour brach, sich immer wieder überschlagend, im Schnee zusammen.


Schiannath hatte den Kampfgeräuschen im Turm entsetzt gelauscht und wünschte von ganzem Herzen, er könnte den Fremden gegen die verfluchten Plünderer der Khazalim und der widerlichen Himmelsleute zu Hilfe kommen. Glücklicherweise hatte sein gesunder Menschenverstand die Oberhand behalten. Er hatte keine Ahnung, wer die Opfer waren – warum sollte er sein eigenes Leben aufs Spiel setzen? Auf der anderen Seite hatten sie jedoch, wenn sie Flüchtlinge waren, etwas mit ihm gemeinsam.

Dann durchbrach ein grauenerregender Mißklang von Fauchen und Brüllen, vermischt mit Angst- und Schmerzensschreien, die Nacht. Iscalda bäumte sich erschrocken auf und zerrte an ihren Zügeln, um von ihm wegzukommen. Da er damit beschäftigt war, die Stute zu beruhigen, bevor man sie noch entdeckte, bemerkte er nicht, wie Shia aus dem Turm hinausschoß und im Wald verschwand. Was er dagegen sah, als er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf richtete, war ein Mann, der in taumelndem Zickzacklauf bergab und auf den Paß zuflüchtete. Ein Bogenschütze der Khazalim erschien im Eingang des Turms. Der Gesetzlose, der es nicht wagte, dem anderen eine Warnung zuzurufen und damit auf sich selbst aufmerksam zu machen, konnte nur zusehen, wie der Bolzen durch die Luft flog und den Mann an der linken Schulter traf.

Das Opfer taumelte und verlor durch den Aufprall des Pfeils das Gleichgewicht, so daß es mit dem Gesicht nach unten in den Schnee fiel. Schiannath hielt den Atem an und hoffte verzweifelt, daß der Mann wieder aufstehen würde. Der Bogenschütze zielte abermals, und sein zu Boden gefallenes Opfer war diesmal ein leichtes Ziel. Der Mann erhob sich taumelnd, der Bolzen flog – und beschrieb einen weiten Bogen um sein Ziel herum, als der lange, schlanke Pfeil, den Schiannath abgeschossen hatte, sich mit tödlicher Genauigkeit in die Augen des Bogenschützen bohrte und sein Gehirn zerschmetterte. Schiannath trat mit einem Fluch zurück, und seine Hand glitt von dem Schaft seines Bogens herunter. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Das war nicht sein Kampf. Aber erst als das Opfer so nah an ihm vorübertaumelte, daß er es beinahe hätte berühren können, begriff der Gesetzlose das ganze Ausmaß seines Irrtums. Der Flüchtling war ebenfalls ein Khazalim. Schiannath ließ die Hand sinken, die er bereits ausgestreckt hatte, um dem Mann zu helfen, und verschmolz wieder mit den Schatten, als er ihn vorbeigehen ließ. Sollten sich doch der Sturm und die Wölfe um den Kerl kümmern. Sollten die verfluchten Südländer ihren Flüchtling doch finden, und sollte dieser die Bastarde weit weg führen, weit weg von ihm und Iscalda.


Aurian hörte das Schlurfen von Füßen auf Steinstufen, und einer von Harihns Männern betrat die obere Kammer, um sich vor dem Prinzen zu verbeugen, der jetzt Miathans brennende Augen hatte. »Der Turm ist gesichert, Herr, und die Prinzessin ist in den Händen des geflügelten Priesters. Die anderen sind im Kerker, aber die Katze ist entkommen und der Verräter Yazour leider auch. Ich hätte schwören können, daß einer unserer Bogenschützen ihn verwundet hat, als er floh, aber wir haben ihn im Sturm verloren.«

»Egal. Er wird da draußen nicht lange überleben.« Der Prinz zuckte mit den Schultern und entließ den Mann mit einem kurzen Kopfnicken. Dann bahnte er sich vorsichtig den Weg über die Leichen der Gefallenen und durchquerte das Zimmer, um vor Anvar stehenzubleiben. Wieder einmal war sein Gesicht zu Miathans grausamen, erbarmungslosen Zügen verzerrt. »Und jetzt, Halbblut«, knurrte er, »habe ich endlich die Gelegenheit, dich von deiner erbärmlichen Existenz zu befreien. Aber wir haben keine Eile – ich möchte, daß Aurian jeden einzelnen, langen Augenblick deiner Qualen auskosten kann!«

Er zog Harihns Messer aus der Scheide und bückte sich, um es in das langsam ersterbende Feuer zu werfen, bis die Spitze rot aufglühte. Dann zog er die Klinge aus dem Feuer und zurück und hielt sie ganz nah an Anvars Gesicht. Anvar schrak zurück, bleich vor Entsetzen, unfähig seinen Blick von dem heißen Metall abzuwenden. Schweiß strömte ihm über das Gesicht und spiegelte das dunkelrote Glühen der Klinge wider, als wäre seine Haut bereits blutbeschmiert. Mit einer schnellen, fließenden Bewegung preßte Miathan das Messer gegen seine Wange, und Anvar stieß einen entsetzlichen Schrei aus, während er sich in dem eisernen Griff seiner Wachen krümmte.

»Miathan, hör auf!« schrie Aurian.

»Ah, du erkennst mich also.« Mit einem triumphierenden Lächeln zog der Erzmagusch das Messer zurück, und Anvar, der kraftlos in den Händen seiner Wächter hing, hob den Kopf, um Aurian anzusehen. Eine häßliche, rote Brandwunde prangte auf seiner Wange, und sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt, als er durch zusammengebissene Zähne zu ihr sprach. »Sieh nicht hin«, stöhnte er. »Gib … gib ihnen diese Befriedigung nicht auch noch.«

»O ihr Götter«, flüsterte Aurian, und ihr Kummer war für sie wie ein körperlicher Schmerz, als teilte sie die Qualen von Anvars Verbrennungen. Der Erzmagusch legte das Messer wieder ins Feuer, wobei er sie mit einem berechnenden Gesichtsausdruck ansah und ihre Tränen verhöhnte. Dann ergriff er ein Büschel von Anvars Haar, zog ihm den Kopf in den Nacken und hielt das Messer um Haaresbreite von seinem zuckenden Gesicht entfernt.

»Jetzt kommt die erste von vielen Abrechnungen, Aurian. Erinnerst du dich noch daran, wie du mir vor langer Zeit die Augen ausgebrannt hast? Hast du deinen widerlichen, kleinen Triumph ausgekostet? Jetzt werde ich dir das heimzahlen – ein Auge für ein Auge. Aber nicht deine hübschen Augen, mein Liebling. Soll doch Anvar an deiner Stelle leiden.« Seine Hand schloß sich um den Messergriff und richtete sich auf Anvars ungeschütztes Gesicht.

»Laß ihn in Ruhe!« tobte Aurian und versuchte, sich freizukämpfen, aber ihre Wachen hielten sie mit unerbittlicher Stärke fest. Sie kämpfte wie eine Wilde, und einer von ihnen drehte ihr den Arm auf den Rücken, bis sie vor Schmerz aufschrie.

»Halt!« Miathan ließ das Messer fallen und stürzte durch das Zimmer, um den Mann wütend beiseite zu stoßen. »Ihr darf nichts passieren.«

Zu Aurians Erleichterung ließ der Schmerz in ihren Armen nach, was ihr erlaubte, wieder zu atmen und, was noch wichtiger war, zu denken. Sie wußte, daß sie wenig Auswahl hatte, was die Mittel betraf, derer die sich bedienen konnte, gleichgültig wie widerwärtig ihr die Bedingungen des Abkommens mit Miathan auch erscheinen mochten. Also kämpfte sie sich auf die Knie hoch und blickte zu der besessenen Gestalt Harihns empor, wobei sie versuchte, den Haß zu unterdrücken, der beim Anblick von Miathans Zügen auf dem Gesicht des Prinzen in ihr aufstieg. »Miathan«, bat sie. »Tu Anvar nicht weh – ich bin doch diejenige, die du willst. Wenn du ihn in Ruhe läßt, werde ich alles tun, was du willst – ich schwöre es.«

Der Erzmagusch verzog Harihns Gesicht zu einem verachtungsvollen Grinsen, und seine Augen waren voll grausamer Belustigung. Ein Zittern durchlief Aurian, als ihr klar wurde, wie groß seine Macht über sie war. »Tatsächlich?« spottete er. »Was immer ich mir wünsche, kann ich mir nehmen, Anvars Leben eingeschlossen – und dich ebenfalls. Aber ich habe die Absicht, mehr zu besitzen als nur deinen Körper.« Seine Stimme wurde leise und war plötzlich ein seidenweiches Liebkosen; die Magusch spürte, wie ihre Eingeweide sich vor Verachtung zusammenzogen. »Ich brauche deine Unterstützung und deine Macht, um meine Pläne voranzutreiben. Unterstell diese Macht meinem Willen, und ich werde Anvars Leben verschonen. Ja, tatsächlich, der unverschämte Kerl wird mir als Geisel noch sehr nützlich sein, wenn es darum geht, deine Treue sicherzustellen, meine Liebe.«

Die grauenhaften Konsequenzen von Miathans Worten durchdrangen selbst den Schmerzensnebel von Anvars Gehirn. »Nein!« schrie er verzweifelt. »Aurian – tu das nicht! Begib dich nicht in seine Macht!«

»Bringt ihn zum Schweigen!« fuhr Miathan auf, und eine der Wachen versetzte Anvar einen harten Schlag unter die Rippen, der ihn für einen Augenblick atemlos machte. Während er unter Schmerzen um Luft rang, wandte der Erzmagusch sich wieder Aurian zu. »Nun? Bist du einverstanden?«

Mit ausdruckslosem Gesicht nickte Aurian. »Ich habe keine andere Wahl«, flüsterte sie. »Nur tu ihm nicht mehr weh.«

Miathan lächelte. »Sehr vernünftig«, schnurrte er. »Das Halbblut wird deine Loyalität sicherstellen, bis das Kind geboren ist. Denn es ist jetzt zu spät, dich davon zu befreien, ohne damit auch dein Leben zu gefährden.« Miathan kicherte – ein schauerliches Geräusch, das Anvar an die Todesgeister erinnerte, die Forral ermordet hatten. »Um die Sache klar auszudrücken«, fuhr er fort, »Anvar wird, um deinen stetigen Gehorsam mir gegenüber zu garantieren, auch weiterhin meine Geisel sein, nachdem ich deiner Brut ein Ende gemacht habe – denn wenn du sie siehst, wirst du mich von selbst bitten, sie von ihrem Elend zu erlösen. Dein Kind ist verflucht, Aurian – ich selbst habe es vor langer Zeit verflucht und zwar mit Hilfe der Macht des Kessels. Du trägst ein Monster unter dem Herzen.«

Anvar sah, wie alles Blut aus Aurians Gesicht wich. Ihr Mund öffnete sich, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. »Du Bastard, Miathan!« schrie Anvar an ihrer Stelle. »Dafür werde ich dich töten, das schwöre ich.«

Der Erzmagusch lachte wieder. »Schwör du nur, Anvar, du bist wahrhaftig nicht in der Position, mir zu drohen. Du bist in meiner Macht, und du wirst mir helfen, diese abtrünnige Schlampe zu beherrschen. Mein Problem lag darin, sie dazu zu bringen, ihre Zauberkräfte in meinem Sinne zu benutzen, wenn ich ihr Kind erst einmal getötet hätte. Jetzt wird es ganz leicht sein, da sie ihre Zuneigung offensichtlich von diesem Tölpel von einem Schwertkämpfer auf dich übertragen hat.« Miathan kicherte grausam. »Es muß das sterbliche Blut in deinen Adern sein – sie konnte der Versuchung, sich mit deinesgleichen zu besudeln, ja noch nie widerstehen.«

Anvars Verstand war vor Entsetzen ganz leer geworden angesichts der Grausamkeit von Miathans Plan. Sein Blick glitt zu Aurian hinüber, und er sah das furchtbare Unglück in ihrem Gesicht. Nicht ihr Kind – ihre letzte kostbare Verbindung zu Forral! Er konnte das nicht zulassen – und zumindest konnte er ihr die Qual ersparen, wählen zu müssen. Er hatte Miathan Macht über sie gegeben, aber wenn er sterben würde, hatte diese Macht ein Ende. Aurian war vielleicht, sobald ihre Kräfte wiederhergestellt waren, in der Lage, das Kind nach seiner Geburt zu beschützen. Trotz seines schier unerträglich gewordenen Kummers spürte er Erleichterung und das Aufschimmern einer Hoffnung. Sein eigenes Leben mochte verwirkt sein, aber es hatte wenigstens einen Sinn gehabt, wenn Aurian und ihr Kind dafür eine Chance bekamen.

Anvar traf seine Entscheidung. Es war nutzlos, Miathan anzugreifen – er würde lediglich Harihns Körper zerstören, und der Erzmagusch stand zu nah bei Aurian. Der Aufprall seiner Magie könnte sie töten. Aber ihm blieb noch eine andere, verzweifelte Möglichkeit …

Miathans Aufmerksamkeit war ausschließlich auf Aurian gerichtet. Anvars Gesichtsausdruck wurde grimmig, während er langsam und Verstohlen begann, seine Kräfte ein letztes Mal zu sammeln. Er spürte, wie seine Augen mit einem gedämpften Glühen aufflackerten, während er die wachsenden Energien in sich konzentrierte und seine Magie nach innen wandte, gegen sich selbst, für seine eigene Zerstörung. Sengende Hitze durchfuhr ihn, und sein Herz begann zu jagen, während seine bebenden Lungen nach Luft schrien. Er spürte, wie seine Organe aufhörten zu arbeiten, wie seine Sinne langsam versagten … Ein roter Nebel der zerstörerischen Gewalt der aufgestauten Mächte, die er herbeigerufen hatte, legte sich vor seine Augen. Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, suchte er noch einmal Aurians Augen, bevor es zu spät war, um ihr mit einem letzten bittenden Blick zu sagen, daß es ihm leid tat – und daß er sie liebte.

Das erwies sich als ein großer Fehler. Durch die Schleier vor seinen Augen sah er, wie ihre eigenen Augen sich in plötzlichem Verstehen weiteten – mit Verstehen und Entsetzen. »Anvar, nein!« schrie sie. Miathan, der durch ihren verzweifelten Schrei auf ihn aufmerksam geworden war, wirbelte fluchend herum. Mit einem hastigen, brutalen Schlag krachte seine Faust in Anvars Gesicht. Schock und Schmerz durchfuhren den Magusch und lösten die Kräfte auf, die er so sorgsam angesammelt hatte. Als er in den Armen seiner Wächter zusammensackte, halb betäubt und Blut spuckend, spürte er noch undeutlich, wie sein Körper sich wieder stabilisierte. Mit sinkendem Mut begriff er, daß er seine einzige Chance verwirkt hatte. Oh, Aurian, dachte er verzweifelt, warum hast du mich aufgehalten?

Miathan ergoß seinen Zorn über die Wachen; er war vollkommen außer sich vor Wut. »Ihr Narren! Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt ihn im Auge behalten!«

Anvar spürte, wie der Griff seiner Wächter sich verhärtete und ihre Finger seinen Armen schmerzhafte Blutergüsse zufügten. Er benutzte den Schmerz als Brennpunkt und zog sein ihm entgleitendes Bewußtsein zurück in den Raum – mit Hilfe der ungeheuren Kraft seines Maguschwillens.

Der Erzmagusch richtete seinen Zorn auf Aurian. »Und das wäre das!« fuhr er sie an. »Welchen Nutzen wird er als Geisel haben, wenn der Narr sich bei der ersten Gelegenheit selbst tötet?« Dann brachte er sich schnell wieder unter Kontrolle, und die Grausamkeit seiner Züge verzerrte Harihns hübsches Gesicht zu einer abstoßenden Fratze. »Es sieht so aus, mein Liebes, als müßte ich unserer Übereinkunft eine weitere Bedingung hinzufügen. Du weißt, daß meine Kräfte sich nicht auf diesen sterblichen Körper übertragen lassen. Du hast keine Magie, bis dein Balg geboren ist, und auf diese Weise stehen wir gleich – aber Anvar wird immer ein Risiko für mich sein, das steht fest. Deshalb wirst du, Aurian, sobald deine eigene Magie zurückkehrt, ihm seine Kräfte entziehen, so wie ich sie ihm schon einmal entzogen habe.«

Aurians Gesicht verzerrte sich vor Wut, während sie gleichzeitig die aufkommenden Tränen niederkämpfte. Noch nie hatte sie Anvar so eingeschüchtert und mutlos gesehen. »Na gut«, flüsterte sie, »wenn das meine einzige Möglichkeit ist, ihn zu retten.«

»Nein!« Mit einem Aufblitzen von Panik erinnerte sich Anvar an jenen Tag in seiner Jugend, als Miathan ihm die Macht entrissen hatte, von der er damals nicht einmal wußte, daß er sie besaß – er erinnerte sich an die Qualen, die Verzweiflung, das überwältigende Gefühl tiefster Hilflosigkeit. Es durfte nicht wieder passieren – lieber würde er sterben.

Dann fing er das verstockte Glitzern in Aurians Augen auf und verfluchte sich für seine Dummheit. Sie würde so etwas natürlich niemals tun. Durcheinandergebracht von Schmerz und Angst, hatte er erst langsam begriffen, daß sie ein verzweifeltes Spiel spielte: Sie spielte um Zeit, damit sie sie beide retten konnte. Einen Augenblick lang verschwand Anvars Schmerz hinter glühender Liebe und Stolz. Trotz des furchtbaren Schocks über das, was sie über ihr Kind erfahren hatte, hatte sie einen kühlen Kopf behalten. Er betete, daß Miathan sich täuschen ließ.

»Welche Pläne hast du mit uns, Miathan?« fragte Aurian mit einer gedämpften, hoffnungslosen Stimme, und Anvar wußte, daß sie versuchte, die Aufmerksamkeit des Erzmagusch von ihm abzulenken.

Harihns dunkle Augen glitzerten. »Anvar wird anderenorts gefangengehalten werden, ein Faustpfand zur Sicherstellung deiner Mitarbeit. Ich hoffe, er wird nicht noch einmal so dumm sein zu versuchen, seinem Leben ein Ende zu bereiten, denn wenn er beim nächsten Mal Erfolg damit haben sollte, werde ich dich für seine Torheit zahlen lassen – auf eine Art und Weise, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.«

Anvar schauderte. Miathan hätte keine bessere Möglichkeit finden können, sich seiner Willfährigkeit zu versichern.

»Und was dich betrifft«, fuhr der Erzmagusch fort, »du wirst, sobald dein Kind geboren ist und ich mich seiner entledigt habe, per Schiff nach Nexis zurückreisen. Wenn du dort bist, wirst du dich mir unterwerfen oder zusehen, wie Anvar vor deinen Augen zerstückelt wird.« Mit diesen Worten bückte er sich rasch über Aurian, ergriff ihr Gewand und riß es entzwei. Nackte Lust starrte aus Harihns geborgten Zügen, und eine der Wachen kicherte höhnisch. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, warum du sie willst, Anvar«, spottete Miathan, »häßlich und angeschwollen mit dem Balg eines anderen Mannes! Ich persönlich zieh es vor zu warten, bis sie in einem besseren Zustand ist, bevor ich sie benutze. Obwohl ich sie dir hinterher vielleicht wieder zurückgebe – falls du sie dann noch willst.« Mit berechnender Überlegung hielt er inne. »Aber warum solltest du nicht? Du hast ja wohl nichts gegen benutzte Waren. Schließlich warst du nicht zu stolz, dich über das herzumachen, was Forral übriggelassen hat.«

Anvars Herz brannte beim Anblick von Aurian, die dort kniete, erschrocken und beschämt. Während er die Tränen des Zorns zurückdrängte, funkelte er Miathan kalt an. »Das ist ja wohl die Stimme der Eifersucht«, höhnte er. »Sie war zu stolz, dich zu nehmen, nicht wahr? Tu dein Schlimmstes, aber diese Lady wirst du niemals besudeln, denn sie steht weit jenseits der Reichweite von deinesgleichen. Benutzte Waren? Du machst dir etwas vor. Wenn du Aurian nimmst, was sie dir niemals freiwillig geben würde, dann bist du derjenige, der beschämt wird, nicht sie. Du kannst vielleicht ihren Körper nehmen, aber ihren tapferen Geist wirst du niemals brechen, ebensowenig wie du je ihr Herz berühren kannst. Was du auch tust, du hast bereits verloren.«

Der Erzmagusch stand da, als hätten Anvars Worte ihn zu Stein verwandelt, aber eben diese Worte gaben Aurian ihren zerschmetterten Mut zurück. Sie wandte sich von Miathan ab, hob stolz das Kinn und sprach direkt mit Anvar, als wären sie allein im Zimmer. »Mein Liebster«, sagte sie weich. »Solange ich dich habe, habe ich auch Hoffnung.«

Anvar sah sie an, und sein ganzes Herz lag in seinen Augen. »Du wirst mich immer haben, das verspreche ich.«

Miathan stieß einen abscheulichen Ruch aus und machte den Wachen ein Zeichen. Einer von ihnen zog sein Schwert und versetzte Anvar einen harten Schlag mit dem Griff. Lautlos brach er auf dem Boden zusammen, als seine Wächter ihren Griff lockerten.

»Du hast gesagt, ihm würde nichts geschehen!« rief Aurian.

»Habe ich das?« Harihns Gesicht wurde von Miathans häßlichem Stirnrunzeln verunstaltet, und Aurian sah heiße Eifersucht in seinen Augen brennen. »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Anvars weitere Gesundheit hängt ganz und gar von deinem zukünftigen Verhalten mir gegenüber ab.« Er lachte ihr höhnisch ins Gesicht und liebkoste ihren Körper. Obwohl seine Berührung ihr Übelkeit verursachte, ertrug Aurian sie, ohne eine Regung zu zeigen, und konzentrierte sich statt dessen auf Anvars Worte.

Miathan, der so um sein Vergnügen betrogen wurde, hörte mit seiner Quälerei auf und bombardierte sie mit wütenden Schlägen, bis sie vor Schmerzen schluchzte. »Wenn ich zurückkehre, erwarte ich, dich in etwas entgegenkommenderer Stimmung zu finden – um Anvars willen«, fuhr er sie an und stolzierte aus dem Zimmer, gefolgt von den Männern, die Anvars bewußtlosen Körper mit sich trugen. Aurians Wachen warfen sie, gefesselt wie sie war, zu Boden und ließen sie neben dem verlöschenden Feuer auf dem kalten Boden liegen, allein und verzweifelt.


Yazour taumelte durch den Paß, geschwächt und entkräftet von seinen Wunden, während der Wind und der dahintreibende Schnee ihn gnadenlos durchschüttelten. Zu allem Übel war er sich noch nicht einmal mehr sicher, ob er immer noch in die richtige Richtung lief, weg von dem Turm. Blut strömte von dem Pfeil herab, der seine linke Schulter durchbohrt hatte, aber wunderbarerweise war der Schmerz einem Gefühl der Taubheit gewichen. Auch der Schwertschnitt in seinem Oberschenkel, den er, beinahe ohne es zu bemerken, in der Hitze des Kampfes erhalten hatte, tat nicht mehr weh. Das war ein Segen, den ihm der Schnee spendete! Der freundliche Schnee, der ihm seine Schmerzen nahm.

Was tue ich eigentlich hier draußen im Schnee? Warum kann ich mich an nichts erinnern? fragte er sich. Es schien Yazour, als gäbe es da etwas, an das er sich erinnern sollte … Irgendeine Gefahr … Lief er nicht vor irgend jemandem oder irgend etwas davon? Aber warum sollte er sich Sorgen machen? Der wunderbare Schnee würde sich schon um ihn kümmern. Er lag überall um ihn herum, wie eine dicke, weiche Decke. Er würde ihn verbergen, so wie die Decken in seiner Kindheit ihn verborgen hatten, wenn Alpträume ihn aus den dunklen Ecken seines Zimmers ansprangen. Natürlich! Das war die Antwort. Er würde sich hier verstecken und in dem weichen, warmen Schnee Ruhe finden … Mit diesem Gedanken sank der verwundete Krieger auf die Knie, fiel nach vorn und überließ sich dankbar der Dunkelheit und der tödlichen Umarmung des Winters.


Miathan stürmte die Treppe hinunter und genoß die disziplinierte Kraft des jugendlichen Körpers des Prinzen. Er lächelte und verbannte Anvars beunruhigende Worte aus seinen Gedanken. Es würde nicht lange dauern, dann war Aurian das Ungeheuer los, das sie unter dem Herzen trug – dann würde er sie bekommen mit diesem wunderbaren, neuen Körper, der solches Vergnügen versprach …

Als der Erzmagusch die untere Kammer erreichte, konnten nicht einmal die furchtbaren Szenen des Blutbades, das sich dort abgespielt hatte, seine Freude dämpfen, obwohl er ganz weit hinten in den Tiefen seines alles beherrschenden Verstandes einen schwachen Protest von Harihn spürte. Die große Katze, so schien es, hatte sich als furchtbarer Gegner erwiesen. Der Raum glich einem Schlachtfeld, und der Boden war mit Blut und Eingeweiden bedeckt. Einige Männer zerrten die Leichen der Gefallenen durch die Tür ins Freie oder kümmerten sich um die stöhnenden Verwundeten. Miathan zuckte mit den Schultern. Solange nur genug Leute übrigblieben, um seine Gefangenen zu bewachen, kümmerten ihn die Leichen dieser Sterblichen nicht im geringsten.

Schwarzkralle näherte sich mit einem Rascheln seiner Flügel; sein kahler Kopf glänzte im Fackellicht, und seine überschatteten Augen strahlten vor Befriedigung. »Es ist alles gutgegangen«, sagte er. »Die Prinzessin ist bereits nach Aerillia gebracht worden.« Er lächelte. »Als ich in jener ersten Nacht die Berührung deiner Gedanken spürte, hätte ich nicht gedacht, daß sich das Ganze zu einer so überaus erfreulichen Angelegenheit entwickeln würde – für uns beide.«

»Ja, tatsächlich«, erwiderte Miathan schroff und dachte, daß er, wenn er sich daranmachte, den Süden zu erobern, eine Möglichkeit würde finden müssen, diesen neuen Verbündeten auszuschalten. In einem Kampf um Macht konnte Schwarzkralle sich als gefährlicher Gegner entpuppen. In der Zwischenzeit jedoch … »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Schwarzkralle«, sagte er. »Nimm bitte diesen elenden Tropf mit nach Aerillia und laß ihn gut bewachen.« Er zeigte auf Anvar. »Ich möchte ihn als Geisel halten.«

Schwarzkralle zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Die Geflügelten werden für dich auf ihn aufpassen.«

»Hör mir zu, Hohenpriester.« Miathan hielt die Augen des anderen mit einem eisigen Blick gefangen. »Ich muß dir klarmachen, welches Risiko – und welche Verantwortung – mit der Bewachung dieses Abtrünnigen verbunden ist. Anvar ist ein Zauberer. Er könnte in der Lage sein, genauso leicht zu entfliehen wie …«

»Keine Sorge, mein Freund«, unterbrach ihn Schwarzkralle. »Ich habe die alten Urkunden über eure Zauberei studiert und werde entsprechende Vorsorge treffen. Es gibt eine Höhle in unserem Berg, die inmitten des Felsens liegt, mit einem viele hundert Meter tiefen Abgrund darunter. Glaub mir, nur Geflügelte können sie erreichen.« Er lachte grausam. »Solange seine Zauberkräfte sich nicht auf die Fähigkeit zu fliegen erstrecken, wird er dort sicher aufgehoben sein. Wir können ihm von oben etwas zu essen hinunterlassen, und keiner von meinen Leuten muß in seine Nähe kommen.«

Miathan lächelte und verriet damit seine ungeheure Erleichterung. »Ich habe gut gewählt, als ich dich zu meinem Verbündeten erkor«, sagte er. »Du wirst dich nach besten Kräften um meinen Gefangenen kümmern! Und vergiß nicht, ich brauche ihn lebend – noch.«

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