23 Die Brücke der Sterne

Iscalda, die eine Todesangst vor den ausgehungerten Wölfen hatte, war geflohen und hatte den Turm weit hinter sich gelassen. Nicht einmal ihre Liebe zu Schiannath konnte ihren tierischen Instinkt im Angesicht einer solchen Übermacht von Feinden überwinden. Sie stürmte den Hügel hinunter und legte die Ohren an, als sie die Schreie der erschrockenen Wachen hörte, die mit den Wölfen kämpften. Hände streckten sich nach ihr aus, um sie festzuhalten, als sie an den in die Enge getriebenen Männern vorbeigaloppierte, aber sie war zu schnell, als daß irgend jemand sie hätte einfangen können. Iscalda flog über den flachen Boden zu den Felsen hinüber und dann durch die schmalen Steintore des Passes. Immer weiter lief sie durch den Schnee, als hätten ihre Füße Flügel. Die weiße Stute hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie eigentlich hinwollte. Sie wußte nur, daß sie fliehen mußte, und zwar so weit wie möglich; weit weg von dem heulenden Wolfsrudel und dem Geruch von Blut. Ihre Hufschläge hallten hohl in dem schmalen Spalt zwischen den Felsen wider, und Iscalda stürmte durch den Paß, über den Hügel dahinter und dann schließlich wieder auf der anderen Seite hinunter ins Tal.

Besessen von Furcht, achtete sie nicht auf irgendwelche Gefahren.

Kein anderer Klang erreichte ihre Ohren als das Trommeln ihrer eigenen Hufe. So kam es, daß Iscalda einen Felsvorsprung, der weit ins Tal hineinragte, umkreiste und Hals über Kopf in einen Trupp von Reitern stürmte.

Xandim! Das waren ihre Leute! Noch während sie sich aufbäumte und versuchte, den vordersten Pferden auszuweichen, erkannte Iscalda alte Freunde und Kameraden wieder. Beschämt über ihre Verbannung und unwillig, sich in einem solchen Zustand unvernünftiger Furcht zu zeigen, wirbelte sie auf ihren Hinterbeinen herum und versuchte, denselben Weg, den sie gekommen war, wieder zurückzurennen. Aber ein Pferd, schwarz wie ein Mitternachtsschatten, sprang aus der Traube der Reiter hervor und rannte hinter ihr her. Ein ängstlicher Blick über ihre Schulter verriet Iscalda das Schlimmste. Phalias war hinter ihr her! In ihrer Bestürzung darüber, ihren früheren Verlobten wiederzusehen, schenkte sie der seltsamen Gestalt, die auf seinem Rücken hockte, keine Beachtung.

Die Stute stolperte nun vor Müdigkeit. Als ihre Panik langsam nachließ, wurden ihre schweißnassen Glieder plötzlich steif und unbeweglich. Das schwarze Pferd kam näher und näher; sie konnte die Hufschläge immer deutlicher hören, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie seine große, dunkle Gestalt sich neben ihre Schulter schob.

Plötzlich streckte sich eine Hand nach ihr aus und ergriff das Seil, das dieser verflixte Khazalim an ihrem Kopf befestigt hatte.

Ihr Hals wurde grausam zur Seite gerissen, und Iscalda kam widerwillig rutschend in einem Sprühnebel aus Schnee zum Stehen.

»He, holla! Immer mit der Ruhe, meine Hübsche, das ist ein braves Mädchen.« Der Reiter, der das Seil noch fest umklammert hielt, sprang von dem Rudelfürsten herunter und trat neben sie. Iscalda ging mit einem überraschten Schnauben einen Schritt zurück. Dieser drahtige, kleine Mann war kein Xandim! Warum hatte Phalias sich bereitgefunden, eine solche Kreatur auf dem Rücken zu tragen? Der Fremde streichelte sie unablässig weiter, und die Stute stand zitternd da, während sie mit zuckenden Ohren der rauhen Stimme lauschte, die in einer fremden Sprache sanft auf sie einsprach. Sie rollte mit den Augen und versuchte, zu dem Rudelfürsten hinüberzuspähen. Außerdem fragte sie sich mit einem kurzen Aufblitzen von Zorn, warum Phalias sich nicht in Menschengestalt zurückverwandelte.

»Weil er es nicht kann. Er unterliegt demselben Zauber wie du.«

Iscalda stieß ein wütendes Wiehern aus, als sie das Windauge erblickte. Als sie dann auch noch mit den Vorderhufen ausschlug, sprang der Fremdländer, der Phalias geritten hatte, ängstlich zur Seite. Iscalda riß ihm das Seil aus den Händen und sprang mit gebleckten Zähnen und flammenden Augen auf Chiamh zu. Das Windauge wich keinen Schritt zur Seite. Statt dessen hielt er eine Hand hoch und begann die Worte eines Zaubers zu sprechen …

Und Iscalda landete, alle viere von sich gestreckt, mit dem Gesicht nach unten im Schnee, als ihre vier Beine sich plötzlich in zwei verwandelten. Wie betäubt versuchte sie, sich auf die Knie zu erheben, und blickte hinab auf ihre Hände – zwei menschliche Hände – und brach in Freudentränen aus. Als sie wieder den Kopf hob, sah sie vor sich eine Hand, ausgestreckt, um ihr zu helfen. Chiamh blickte auf sie herab, und in seinem Gesicht standen sowohl die Bitte um Verzeihung als auch Mitleid. »Phalias ist nicht mehr Rudelfürst«, sagte er sanft. »Ich habe so lange auf diesen Tag gewartet. Du hast auf meinem Gewissen gelastet, seit ihr verbannt wurdet. Willkommen daheim bei Xandim, Iscalda.«

Iscalda ignorierte die ausgestreckte Hand und sah ihn kalt an. »Und Schiannath?« wollte sie wissen.

Das Windauge nickte. »Auch Schiannaths Verbannung ist aufgehoben.« Dann wurden seine kurzsichtigen Augen plötzlich schmal, und er sah sich suchend um. »Wo ist er?«

»Beim Lichte der Göttin!« Iscalda erhob sich unsicher auf die Füße. »Ich habe ihn im Turm gelassen, bei dieser Frau.«

»Einer Frau?« Chiamhs Blick wurde plötzlich aufmerksam. »Eine Gefangene?«

Iscalda nickte. »Woher wußtest du das?«

Aber das Windauge hatte sich bereits von ihr abgewandt. »Parric!« schrie er. »Ich glaube, wir haben sie gefunden.«


Schiannath, nun ebenfalls in Pferdegestalt, traf auf dem Hügel auf die Armee der Xandim. Er hatte seinen zweiten geflügelten Angreifer oben auf dem Turm schließlich besiegt, nur um mit einem Blick nach unten festzustellen, daß die Wölfe über Harihns hilflose Wachen hergefallen waren und ein wahres Blutbad angerichtet hatten. Dann sah er die weiße Gestalt Iscaldas, die in die Wälder floh. Fluchtend war er den Turm wieder hinuntergeklettert und hatte Aurian und Yazour vergessen – hatte alles vergessen, bis auf seine Angst um seine geliebte Schwester. Sobald er erst in sicherer Entfernung von den Soldaten und Wölfen gewesen war, hatte er die Pferdegestalt angenommen und war hinter ihr hergaloppiert. Die Spuren im Schnee zwischen dem Hügel und dem Paß wiesen ihm den Weg.

Als er oben auf dem Hügel angekommen war, blieb Schiannath stehen und starrte verwundert auf die Schar von Pferden und Reitern, die sich aus dem Tal näherte. Während er noch zögerte, weil er nicht wußte, ob er bleiben oder weglaufen sollte, hörte er eine klare Stimme seinen Namen rufen; eine geliebte Stimme, von der er geglaubt hatte, er würde sie nie wieder hören. »Iscalda!« rief er und vergaß in seiner Freude ganz, daß er immer noch seine Pferdegestalt trug. Das Wort kam als langgestrecktes, hohes Wiehern über seine Lippen, und Schiannath verwandelte sich schnell wieder in Menschengestalt, während seine Schwester den Hügel hinauf auf ihn zugelaufen kam.

Es war zuviel, um es alles auf einmal zu begreifen. Schiannath, der nicht länger ein Gesetzloser war, blickte ungläubig von einem Gesicht zum anderen, während das Windauge begann, ihm von den Veränderungen zu erzählen, die die Xandim seit seiner Verbannung erlebt hatten. Iscalda, die sich eng an ihn schmiegte, konnte ein breites Grinsen angesichts der Verwunderung ihres Bruders nicht unterdrücken.

Plötzlich bahnte sich ein fast kahler, o-beiniger kleiner Mann seinen Weg durch die Menge. »Wo ist Aurian?« fragte er scharf. Seine Worte waren, obwohl sie eindeutig in einer fremden Sprache gesprochen wurden, irgendwie doch verständlich, und Schiannath begriff, daß das Windauge einen Zauber benutzte, um die fremde Rede zu übersetzen.

»Aurian?« ächzte Schiannath. »Aber wie …«

Der Fremde sah ihn mit finsterem Gesicht an. »Wer sonst?« blaffte er. »Wir können später unsere Zeit mit Höflichkeiten verschwenden. Jetzt zeig uns erst einmal den Weg zu dem Turm, den deine Schwester erwähnt hat.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und sprang mit einer einzigen, flüssigen Bewegung auf den Rücken des großen, schwarzen Hengstes, der Phalias in Pferdegestalt war.

»Also, was hältst du von unserem neuen Rudelfürsten?« flüsterte Chiamh Schiannath kichernd ins Ohr.

Dieser drehte sich um und starrte das Windauge fassungslos an. »Das ist der neue Rudelfürst? Er hat Phalias besiegt? Beim Lichte der Göttin! Wie hat er das gemacht?«

Chiamh zuckte mit den Schultern. »Wir leben in seltsamen und gewaltigen Zeiten, mein Freund – und du kannst froh sein, daß es so ist. Zumindest seid ihr beide, du und Iscalda, dank der Gnade Parrics keine Verbannten mehr.«

»Wollt ihr beide da rumstehen und das ganze verdammte Jahr nur reden?« brüllte der neue Rudelfürst. Mit einem Anflug von Schuldbewußtsein erinnerte Schiannath sich an Aurian, die im Augenblick auf Gedeih und Verderb der Gnade der Wölfe ausgeliefert war. Also verschwendete er keine Zeit mehr, sondern verwandelte sich in ein großes, dunkelgraues Pferd. Er wartete nur solange, bis Iscalda auf seinen Rücken gesprungen war, bevor er in gestrecktem Galopp auf den Paß zulief.


Aurian erwachte. Eine seltsame, bittere Dunkelheit umschloß ihren Verstand wie die Fetzen eines Alptraums, an den man sich nicht mehr recht erinnern konnte. Sie wollte sich jedoch auch nicht erinnern. Ihr Geist war leer und registrierte nur die einfachen, augenblicklichen Botschaften ihrer Sinne: den dumpfen, modrigen Geruch des Turmzimmers, die groben Mauern aus grauem Stein, die schwarzen Rußflecken über den Konsolen, in denen die Fackeln mit unruhigen, rauchigen Flammen brannten, die ersterbenden Kohlen im Kamin, die wie pulsierende Rubine aussahen. Schließlich empfand sie Schmerz, Unbehagen und den drängenden Wunsch, sich zu erleichtern.

Die Magusch kämpfte sich durch den Raum hindurch zu dem zugigen Abflußloch in der Ecke. Aber denken wollte sie nicht, auf keinen Fall – noch nicht. Wenn sie nachzudenken begann, würde sie wahnsinnig werden …

Sich an der Wand abstützend, schlurfte Aurian mühsam zum Feuer hin, wo eine Schale mit Wasser von der letzten Glut warmgehalten wurde und Tücher bereitlagen, mit denen sie sich säubern konnte. Sorgfältig heilte Aurian den Schaden, den ihr Körper genommen hatte, und konzentrierte sich angestrengt auf ihre Aufgabe. Es war schwierig. Sie war immer noch sehr schwach, und die Anstrengung, die ihre eigene Heilung sie kostete, hatte zur Folge, daß sie am ganzen Leibe zitterte.

Plötzlich begriff die Magusch, daß ihre Kräfte zurückgekehrt waren. Mit einem lauten Triumphschrei sprang sie auf, ignorierte ihre zitternden Gliedmaßen und schleuderte einen Feuerstrahl an die Decke, der zu einem lebendigen Funkenhagel explodierte. Oh, diese unglaubliche, atemlose, herrliche Erleichterung! Lachend und weinend vor Freude, ließ sie ihrem Sternenhagel einen blauen Feuerball folgen, dann noch einen in Rot und einen grünen. Wie damals, als sie noch ein Kind war, jonglierte sie übermütig mit Kugeln aus strahlendem Licht.

Nur die Erschöpfung bereitete ihrer jubilierenden Ausgelassenheit schließlich ein Ende. Aurian sank auf dem abgekühlten Kamin auf die Knie, und erst jetzt fragte sie sich, wo die anderen waren. Sorgen überschatteten plötzlich ihren Triumph. Gleichgültig, ob die Wachen ihren Kampf verloren oder gewonnen hatten, mußte doch Nereni eigentlich bei ihr sein. Und wer hatte den Leichnam des Prinzen weggeschafft und ihre Kammer von seinem Blut gesäubert? Sobald sie wieder zu Atem gekommen war, würde sie diesen Fragen auf den Grund gehen …

Aus dem Nest von Decken und Umhängen, in denen sie geschlafen hatte, erklang ein gedämpftes Wimmern. Aurian erstarrte angewidert, und die Hand, die so fröhlich mit ihrer Magie gespielt hatte, krampfte sich zur Faust zusammen. O ihr Geister! Es war also kein Alptraum gewesen: das hatte sie von Anfang an gewußt. Aber sich diesem Wissen jetzt stellen zu müssen, so bald schon …

Da war es wieder – dieses jämmerliche Wimmern eines Tieres in Not. Dieses Geräusch, das zu drängend war, um ignoriert zu werden, bohrte sich wie ein Messer in ihr Herz. Die Magusch wappnete sich gegen das, was kommen würde, ging langsam zu dem notdürftig bereiteten Bett hinüber und blickte hinab auf ihren Sohn. Der Atem stockte ihr in der Kehle.

Er war winzig, mitleiderregend und vollkommen durchnäßt; seine Augen fest verschlossen wie bei allen neugeborenen Wolfsjungen, sein Körper mit dunkelgrauem, zotteligen Pelz bedeckt. Mit schwachen Gliedern drehte er sich blind im Kreis, wimmerte und suchte nach der verlorenen Wärme von Aurians Körper. Die Magusch, die automatisch auf seine Hilflosigkeit reagierte, streckte die Hand nach dem Wolfsjungen aus … Sie schwebte zitternd über seinem Körper. Sie konnte ihn nicht berühren; sie konnte es einfach nicht. Zorn durchströmte sie: Wut, Trauer und graue Verzweiflung. War es das, was sie in langen Monaten des Kampfes und der Entbehrungen unter dem Herzen getragen hatte? War es das, wofür sie ihre Kräfte verloren hatte, als sie sie so dringend gebraucht hätte? War dieses blinde, wimmernde Stückchen Pelz das einzige Vermächtnis der Liebe, die sie und Forral geteilt hatten? Es war einfach zuviel für sie. Würgend, zitternd und unglücklich bis in die Tiefen ihrer Seele hinein, wandte Aurian sich ab …

Und zum ersten Mal, seit ihr Sohn die sichere Zuflucht ihres Leibes verlassen hatte, spürte sie die helle, zaghafte Berührung des kindlichen Geistes. Ihm war kalt, und er war einsam, blind und hungrig – und menschlich. Menschlich! Aurian hatte seit ihrer Kindheit Wölfe gekannt, und das hier waren keine Wolfsgedanken, überhaupt keine Tiergedanken. Sein Körper mochte ein Wolfsjunges sein, aber sein Geist war der Geist ihres Sohnes.

»Mein Baby!« Aurians Stimme brach bei diesen Worten, mit denen sie den Wolfling hochhob, um ihn mit ihrem Körper zu wärmen. Heiße Tränen der Erleichterung überfluteten ihr Gesicht. Seine Freude, die Freude ihres Kindes, daß es endlich seine Mutter wiedergefunden hatte, strömte durch sie hindurch.

Bei den Göttern, wie schrecklich er fror! Aurian, die entsetzt über ihre Nachlässigkeit war und plötzlich einen wilden Beschützerinstinkt verspürte, handelte sofort. Während sie ihren Sohn fest an sich drückte, lief sie hinüber zu dem ersterbenden Feuer. Dann warf sie fieberhaft Feuerscheite in den Kamin und setzte sie mit einem schnellen Feuerstrahl in Brand. Erneut spürte sie die gewaltige Flamme der Freude über ihre wiedergefundenen Zauberkräfte. Dann kehrte sie zu ihrem Bett zurück, setzte sich nieder und zog sich unbeholfen die Umhänge um ihre Schultern. Wieso war es ihr vorher nicht aufgefallen, wie kalt es im Zimmer geworden war?

Hunger. Unbeschreiblicher Hunger pulsierte durch die Gedanken ihres Kindes, und einen Augenblick lang zögerte Aurian hilflos. Dieses Muttersein war etwas ganz Neues für sie. Aber das Junge hatte Hunger … Aurian zuckte mit den Schultern und legte ihren Sohn an die Brust. Nun, dachte sie, zusammen werden wir das wohl schon irgendwie meistern …

Es war sehr schwierig, aber der Instinkt, zu saugen, war bei dem Wolfling sehr stark ausgeprägt, und Aurian konnte sich mit Hilfe ihrer Heilmagie seinen Bedürfnissen ein wenig anpassen. Schließlich schafften sie es durch ihre einzigartige Gedankenverbindung und durch die noch tiefere Verbindung der Liebe, die zwischen ihnen bestand. Aurian blickte auf ihren Sohn hinab, während er trank. Kleiner Wolf, dachte sie, und erinnerte sich dabei an diese alte Kindergeschichte, die Forral ihr einmal erzählt hatte, von einem Maguschkind, das seine Eltern im Wald verloren hatte und von Wölfen aufgezogen worden war. Aus dem kleinen Jungen war später ein großer Held geworden, und sein Name war in der Alten Sprache Irachann gewesen – der Wolf. Aurian lächelte ein wenig, als sie darüber nachdachte, wie diese Geschichte sich nun ins Gegenteil verkehrt hatte. Irachann, beschloß sie. Ich werde ihn Wolf nennen.

Das Junge war schließlich in ihren Armen eingeschlafen. Während die Magusch so dasaß und auf ihren Sohn hinunterblickte, ließ sie noch einmal die Ereignisse, die seine Geburt begleitet hatten, vor ihrem inneren Auge vorüberziehen. Der Wolf, dachte sie, und erinnerte sich an die große, graue Gestalt, die mit einem wütenden Fauchen durch ihre Kammer gesprungen war; es war der Wolf, der mich vor Miathan gerettet hat, als er Harihns Kehle durchbiß. Aber sie war sich sicher, daß sie, bevor der Wolf ihr zu Hilfe geeilt war, zuerst den Schrei ihres Kindes gehört hatte – das dünne, unverkennbare Jammern eines menschlichen Kindes! Und dann fiel es ihr wieder ein – o ja, jetzt erinnerte sie sich – Nereni hatte bei der Geburt ihres Kindes einen lauten Schrei ausgestoßen: »Ein Junge!«

Die Magusch erinnerte sich wieder an den Tag ihrer Gefangenschaft, als Miathan ihr offenbart hatte, daß ihr Kind verflucht sei. »Wenn du es siehst«, hatte er gesagt, »wirst du mich bitten, es von seinem Elend zu erlösen.«

Aurian fluchte bösartig, als ihr die Bedeutung dieser Worte klar wurde. Ihr Kind war menschlich geboren worden – bevor sie den Wolf gesehen hatte! Forrals Sohn hatte die Gestalt des Tieres angenommen. Das also war die Natur von Miathans Ruch!

Es mußte doch eine Möglichkeit geben, ihn zurückzuverwandeln. Aber so sehr Aurian es auch versuchte und obwohl sie all ihre Fähigkeiten als Heilerin einsetzte und das winzige Junge erforschte – das Kind blieb doch ein Wolf. Aber ich werde ihn zurückverwandeln. Als Miathan Wolf verfluchte, verfügte er über die Macht des Kessels. Sobald ich erst einmal den Stab der Erde wiederhabe … Ihre Gedanken flogen zu Anvar und Shia. Wie hatte sie diese beiden nur vergessen können? Aurian versuchte, mit ihrem Geist nach ihren verschwundenen Freunden zu forschen, aber zu ihrem Entsetzen fand sich nicht das geringste Echo einer Antwort, wie sehr sie sich auch bemühte.

Ein plötzlicher Aufruhr in dem Raum unter ihr beendete ihren Versuch, Kontakt zu Anvar oder Shia aufzunehmen. Es konnten doch unmöglich noch weitere Kämpfe stattfinden? Vorsichtig legte sie das Junge wieder zurück in sein Nest aus Decken, bevor sie zur Tür lief. Als sie sie öffnete, wurde ihr plötzlich klar, daß sie frei war. Wunderbar und unglaublich frei! Endlich konnte sie diese verhaßte Kammer verlassen und brauchte nie wieder einen Blick darauf zu werfen!

Aurian rannte zur Treppe hinüber und blickte hinab in den unteren Raum des Turms. In der Tür sah sie Schiannath stehen, der mit Yazour stritt. Hinter dem Xandim stand mit gezücktem Schwert und wilde Flüche ausstoßend … »Parric!« kreischte Aurian. »Yazour, laß ihn herein!«

Einen Augenblick lang stand Parric nur mit offenem Munde da und bestaunte die Veränderung, die die Magusch durchgemacht hatte. Was für ein Narr er doch gewesen war! Die ganze Zeit während seiner Suche hatte er ein romantisches Bild von sich selbst gehabt, von sich als unerschrockenem Helden, der einem einsamen und verängstigten jungen Mädchen zur Rettung eilte. Er war vollkommen unvorbereitet auf die neue Reife in ihrem hageren Gesicht: der feste, gequälte Zug um ihren Mund und das grimmige, stählerne Glitzern in ihren Augen.

Plötzlich rollten die Jahre zurück, und der Kavalleriehauptmann erinnerte sich daran, wie er von seinem ersten Feldzug zurückgekehrt war. Das Gesicht, das ihm damals aus einem Spiegel entgegengeblickt hatte, hatte dieselben Veränderungen gezeigt. Auch Aurian hatte sich der Prüfung durch Schmerz und Not unterziehen müssen, und so, wie sie aussah, hatte sie sich tapfer geschlagen. Mit einem Freudenschrei breitete Parric die Arme weit aus und lief die Treppe hinauf, während sie ihm entgegenkam. Sie trafen sich in der Mitte mit einer Wucht, die sie beide um ein Haar zu Boden geworfen hätte. Freudig umarmten sie einander – so heftig, daß sie keine Luft mehr bekamen.

»Parric! O ihr Götter! Ich glaube, ich träume!«

Der Kavalleriehauptmann spürte Aurians heiße Tränen auf seiner Schulter, ein Umstand, der es ihm ermöglichte, auch seine eigenen Tränen zu akzeptieren. Bevor sie und Forral in sein Leben getreten waren, hatte er Tränen immer als ein Zeichen der Schwäche abgetan, aber jetzt wußte er mehr über die Liebe und über die Trauer.

Aber das war nicht die einzige Art und Weise, in der er gewachsen war, überlegte er. Er hatte, wenn auch widerwillig, seine eigene Armee befehligt und hatte seine Leute sicher durch die gefährlichen Berge gebracht, um … ja, um was zu tun?

Aurian versuchte, ihm so viel zu erzählen – und zwar alles auf einmal. –, daß Parric überhaupt nichts mehr verstand. Das überraschendste vor allem war, daß Anvar ebenfalls ein Magusch zu sein schien.

Obwohl Meiriel ihm erzählt hatte, daß Miathan das Kind von Aurian verflucht hatte, war Parric doch zuerst zutiefst bestürzt und dachte, sie hätte den Verstand verloren, als sie ihn nach oben zerrte und ihm das Wolfsjunge zeigte. Voller Entsetzen versuchte er, sie am Arm aus dem Zimmer zu ziehen, als er eine sanfte Hand auf seiner Schulter spürte.

»Das Kind ist da. Es ist ein Mensch.« Es war die Stimme des Windauges. Parric drehte sich um und erblickte Chiamh hinter sich, dessen Augen wieder von diesem erschreckenden, reflektierenden Silber waren, während er mit seiner Andersicht das Junge betrachtete.

Aurians Augen weiteten sich. »Wer ist das?« fragte sie Parric.

»Ein sehr guter Freund«, erwiderte der Kavalleriehauptmann. »Er hat uns das Leben gerettet, als die Xandim uns gefangengenommen haben.« Daraufhin stellte er Chiamh vor, dessen Augen mittlerweile wieder ihre normale Färbung angenommen hatten. Zu Parrics Belustigung schien das Windauge voller Ehrfurcht zu sein.

»Herrin.« Chiamh verbeugte sich tief. »Ich fühle mich zutiefst geehrt, dich endlich zu treffen, dich, eine der hellen Mächte, die ich vor so langer Zeit gesehen habe.«

»Du hast mich gesehen?« Die Brauen der jungen Magusch zogen sich vor Verwirrung zusammen. »Wo? Wann?«

Chiamh erzählte ihr von seiner Andersicht und von der Vision, die ihm in jener stürmischen Nacht vor so langer Zeit zuteil geworden war. Parric konnte sehen, daß Aurian von der kurzen Zusammenfassung, mit der das Windauge ihr seine Kräfte beschrieb, fasziniert war. »Ich muß unbedingt mehr darüber erfahren«, sagte sie. »Ja, wir haben einander überhaupt so viel zu erzählen … Aber zuerst möchte ich noch einmal versuchen, Kontakt zu Anvar aufzunehmen.« Sie biß sich auf die Lippen. »Ich mache mir Sorgen, Parric. Ich dachte, ich würde ihn erreichen können, sobald meine Kräfte wieder zurückgekehrt sind, aber bisher ist es mir nicht gelungen. Wenn ihr unten warten wollt, werde ich mich in einer Weile zu euch gesellen.«

»Herrin?« Chiamh hielt die Magusch am Arm fest. »Kann ich dir vielleicht helfen? Meine Andersicht reicht viele Meilen weit.«

Aurian lächelte ihn dankbar an. »Ja, vielen Dank, Chiamh. Im Augenblick ist es mir so wichtig, Anvar zu finden, daß ich jede Hilfe annehme, die ich bekommen kann.«

Als Aurian und Chiamh durch die Falltür hinauf auf das Dach des Turms kletterten, zerrte der Wind unruhig an ihren Gewändern. Der düstere Himmel im Osten zeigte langsam das bleiche Glitzern der Morgendämmerung, und die Magusch spürte in der Luft einen Hauch von Feuchtigkeit, der neuerliche Schneefälle ankündigte. Als sie um den Schornstein herumgingen, hörte Aurian zu ihrer Verwirrung ein schwaches Stöhnen und sah die Gestalt eines geflügelten Mannes, der in einem glitzernden, dunklen Fleck lag, der aussah wie sein eigenes Blut.

»Geflügelte!« zischte Chiamh. Aurian hörte das Scharren von Stahl, als der Xandim sein Messer zog.

»Nein, warte!« Sie legte ihre Hand auf die des Windauges. »Wir brauchen ihn vielleicht, um eine Nachricht nach Aerillia zu bringen.« Mit diesen Worten ließ sie sich neben dem Himmelsmann auf die Knie nieder und versuchte, mit ihrem Heilerinnensinn festzustellen, welches Ausmaß seine Verletzungen hatten. Es war jedoch nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Die Schwertschnitte, aus denen er Blut verloren hatte, waren nicht lebensgefährlich, obwohl er einen sehr harten Schlag auf den Hinterkopf bekommen hatte, der ihm beinahe das Bewußtsein raubte. Schnell riß Aurian mehrere Streifen von dem Saum der Decke ab, die sie als Mantel benutzte, um den Geflügelten an Händen, Füßen und Hügeln zu fesseln, bevor sie sich daranmachte, ihn zu heilen.

Nachdem sie sich um die Wunden des geflügelten Mannes gekümmert hatte, trat die Magusch mit Chiamh an die Brüstung und blickte hinüber zu den Bergen, nach Nordwesten, dort, wo der Himmel am dunkelsten war. Eine Weile versuchte sie mit aller Kraft, ihren Willen über die vielen Meilen hinweg nach Aerillia zu schicken, wo sie wieder und wieder nach Anvar und Shia rief. Dann versuchte sie mit aller Macht, eine Antwort zu erlauschen, aber es geschah nichts. Unglücklich drehte sie sich wieder zu Chiamh um, der die ganze Zeit über geduldig neben ihr gestanden hatte. »Ich höre überhaupt nichts«, flüsterte sie. »Vielleicht ist die Entfernung einfach zu groß für eine Gedankenübertragung. Aber, Chiamh, ich glaube, daß irgend etwas ganz Schreckliches vor sich geht.«


Eine graue, formlose Leere, eingehüllt in geisterhaften, klebrigen Nebel – Anvar zögerte und wußte einen Augenblick lang nicht weiter. Hinter sich hörte er noch die beruhigende Stimme Hellorins. »Mach drei Schritte nach vorn, Anvar, und blick nicht zurück! Du wirst entdecken, daß der Weg sich vor deinen Augen bilden wird.«

Anvar schauderte bei dem Gedanken, hinauszutreten in dieses formlose Nichts, aber … Der Waldfürst mußte schließlich wissen, was er tat. Er hatte diesen Pfad in dem Ort Zwischen den Welten‹ geöffnet, wobei er das Gewebe der Wirklichkeit mit ausgestreckter Hand durchtrennt hatte, um diesen unheimlichen Eingang zu schaffen.

»Fasse Mut, junger Magusch. Dieser Weg ist sicherer als der, den du mit der Moldan gegangen bist – was zugegebenermaßen nicht viel heißen will.« Der etwas klägliche Humor in den Worten des Waldfürsten gab Anvar neuen Mut. Außerdem, so rief der Magusch sich in Erinnerung, war dies seine einzige Möglichkeit, in seine eigenen Welt zurückzukehren – und zu Aurian. Er hatte sich bereits von Eilin und Hellorin verabschiedet, so daß es keinen Grund mehr gab zu zögern. Anvar schluckte und trat hinaus in die grauen Nebel. Das Glitzern des warmen Lichtes in den Gemächern des Waldfürsten war wie ausgelöscht, als die Pforte Zwischen den Welten sich hinter ihm schloß und jede Hoffnung auf Rückkehr zerstörte.

Irgendwie faßte Anvar dann jedoch neuen Mut und brachte seine rasenden Gedanken unter Kontrolle. Drei Schritte hatte der Waldfürst gesagt? Nun, so sei es. Der Boden, wenn man es überhaupt Boden nennen konnte – es war gewiß keine Erde –, war weich und federte unter seinen Füßen. Anvar machte seinen ersten Schritt, dann den zweiten …

Beim dritten Schritt verschwand der graue Nebel. Der ungewisse Boden unter seinen Füßen nahm die beruhigende Festigkeit von Stein an. Anvar hob überrascht eine Hand an sein Gesicht und sah seine Finger, wie er sie schon einmal gesehen hatte, umkränzt von einem geisterhaften, blauen Schimmer Maguschlicht, als hätte seine Magie eine eigene, körperliche Gestalt angenommen, um sein irdisches Fleisch zu umhüllen. Eine flüchtige Erinnerung schoß ihm durch den Sinn – die Vision einer geschnitzten, grauen Tür – und war dann wieder verschwunden. Grimmig konzentrierte sich Anvar auf die Aufgabe, die vor ihm lag, und hob seine leuchtende Hand, um seine Umgebung zu erhellen.

Er befand sich in einem Tunnel: in einem schmalen Korridor, der grob aus einem glitzernden, schwarzen Gestein gehauen war. Zu seinem Erstaunen waren seine Wände von Anfang bis Ende, etwa in Augenhöhe, mit seltsamen, nicht zu entziffernden Runen und eckigen Bildern bedeckt. Anvar, der sich langsam durch den Tunnel fortbewegte, stöhnte. Dort, deutlich sichtbar in dem Funkeln seines Maguschlichtes, war die ganze Geschichte der Verheerung niedergeschrieben!

Staunend folgte der Magusch der Geschichte bis an ihr Ende, wo Avithan, einst der Sohn des Ersten Zauberers, heute Vater der Götter genannt, seine Gefolgsleute, die sechs überlebenden Zauberer, zu der Zuflucht Zwischen den Welten geführt hatte, zu dem Zeitlosen See. Und im letzten Bild …

Diese Zeichnung unterschied sich in ihrem Stil von allen anderen. Sie zeigte ein Gesicht, ein weibliches Gesicht, umgeben von einer leuchtenden Mähne, die so raffiniert geschnitzt war, daß sie Anvars Maguschlicht auffing und ein frostiges Glitzern zurückwarf. Das Gesicht, raubvogelartig und mit hohen Wangenknochen, erinnerte den Magusch an Aurian, aber es war irgendwie älter und anders, auf eine Weise, die er nicht einordnen konnte. Die großen, wilden, runden Augen waren nicht die Augen eines Menschen, sondern die eines Adlers. Sie schienen Anvars Blick zu halten, ein Blick, der sich tief in seinen Geist hineinbohrte und seine innersten Gedanken enthüllte …

Der Magusch hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestanden hatte, wie gebannt und vollkommen verzaubert. Endlich blickte er auf, um vor sich ein anderes Licht zu sehen, eingerahmt von einem gähnenden Maul schwärzesten Steins, vor einem Himmel von tiefstem Indigoblau, besprenkelt mit hellen Sternen. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte Anvar sich von der beunruhigenden Schnitzerei ab und hastete weiter.

Eine weitere Erinnerung, kurz und flüchtig, flackerte durch Anvars Gedanken. Die schwarzen, gewölbten Hügel, die vor einem mit Sternen übersäten Himmel dicht an dicht aneinanderstanden … Aber diesmal waren es Berge, ein friedliches Tal, das zu beiden Seiten mit duftenden Kiefern und Farnen bewachsen war und wie ein Juwel von einem ruhigen, von Sternen beleuchteten See umrahmt wurde.

Als er den Tunneleingang erreicht hatte, überfiel Anvar plötzlich das Gefühl einer Vorahnung. Vorsichtig kroch er aus dem Tunnel heraus, sah sich um und lauschte, bevor er auf einen schmalen Strand hinaustrat, der ganz mit glatten, runden Steinen, die etwa die Größe einer geballten Faust hatten, übersät war und zum Wasser hin in einen Kiesstrand überging. Es war kein Laut zu hören bis auf das murmelnde Plätschern der Wellen und das rhythmische Aneinanderschlagen der vom Wasser umspülten Kieselsteine.

Zuerst fühlte der Magusch sich auf dem Strand den Gewalten gegenüber, die überall auf ihn lauern konnten, erschreckend schutzlos, aber als die friedliche Stille dieses Ortes allmählich in seine Seele drang, wurde es ihm langsam leichter ums Herz, und er verspürte eine ruhige Gelassenheit und ein Gefühl der Sicherheit. Der dunkle See schien ihn anzuziehen, schien all den Schmerz und die Angst, die während der letzten Monate seine stetigen Begleiter gewesen waren, fortzuspülen und durch ein wunderbares Gefühl von Wärme und Freundlichkeit zu ersetzen.

Anvar ging hinunter zum See und blickte auf das stille, dunkle Wasser. Einen Augenblick lang durchzuckte ihn ein schwindelerregendes Gefühl der Orientierungslosigkeit. Er sah Sterne: in der Tiefe des Wassers nur endlose Sterne, als blicke er nicht hinunter, sondern hinauf und immer weiter hinauf in den unendlichen Nachthimmel. Einfach nur Sterne, die sich im See widerspiegelten – und doch …

Anvar brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was in ihm vorging. Irgend etwas war falsch. Mit einem leisen Schrei blickte er zu dem Himmel auf und dann wieder hinunter auf den See. Schließlich zuckte er fluchend vor dem Wasser zurück, als sei es tödliches Gift. Die Sterne. Die Sterne waren falsch. Der Himmel, der sich in diesen unergründlichen Tiefen widerspiegelte, war nicht der klare Nachthimmel über ihm!

Plötzlich kam Wind auf. Ein Büschel Schilfgras am Rand des Wassers begann zu rauschen und zu wispern und mit wildem Gelächter zu zischen. Die Sterne, die sich im See widerspiegelten, verloren sich, als sich die Oberfläche des Wassers plötzlich kräuselte. Kleine Wellen, die immer größer wurden, stürmten wie Kavalleriesoldaten gegen den Strand, mit weißen, im Wind wehenden Mähnen auf ihren Kronen. Anvar, der immer noch langsam Schritt um Schritt zurücktrat, drehte sich um und rannte auf den sicheren Schutz des Tunnels zu – nur um an einer glatten, schwarzen Steinwand abzuprallen.

Ein knirschendes Rumoren, das sich zu einem donnernden Getöse steigerte, veranlaßte den Magusch, sich wieder zu dem See umzudrehen. Das Wasser in seiner Mitte schien zu kochen; es schäumte auf und erhob sich zu einem funkelnden und wirbelnden Berg. Ein großer, schwarzer Reißzahn durchbrach die gequälte Oberfläche und schleuderte die Wellen mit einer gewaltigen, weißen Schaumblüte zur Seite. Riesige Bögen aus winzigsten Tröpfchen blitzten himmelwärts, streckten sich mit silbernen Fingern nach den Sternen aus, bevor sie ihre Kraft erschöpft hatten und wieder in den See hinunterstürzten.

Aus dem vom Wind umtosten Wasser des Weihers erhob sich plötzlich eine Insel; ein hoch aufragender, schwarzer Felsen wie ein verfaulter, scharfzackiger Zahn. Seewasser, zu lebendigem Weiß aufgeschäumt, rann von seinen sich erhebenden Flanken herab.

Anvar, der sich mit dem Rücken gegen den steilen Felsen hinter sich preßte, schrak zurück, als gewaltige Wellen über den Strand auf ihn zurasten. Seine alte Furcht vor dem Wasser, vor dem Ertrinken, hätte ihn um ein Haar um den Verstand gebracht – bis ihm nach einem Augenblick entsetzlicher Furcht klar wurde, daß die Wellen zwar seine Füße umspülten und daß Gischt um seinen Kopf herumzischte, daß seine Haut und seine Kleider jedoch immer noch trocken waren, als befände sich zwischen ihm und dem Wasser eine unsichtbare Barriere, die das Wasser nicht zu durchbrechen wagte. Die Wellen hielten ein kleines Stück vor ihm inne – wie Straßenköter, die auf ihn zurasten, um sich in seinen Stiefeln festzubeißen, dann aber im letzten Augenblick nicht den Mut dazu fanden. Sollte das eine Warnung sein? Mit zusammengebissenen Zähnen rief der Magusch sich ins Gedächtnis, warum er hierhergekommen war. Nur die Cailleach, die Herrin der Nebel, konnte ihn zurück in seine eigene Welt schicken. Nur durch ihre Gnade konnte er die Windharfe gewinnen. All das konnte ihm nur gelingen, indem er eine Begegnung mit ihr herbeiführte – und nun, so schien es, hatte er ihre Aufmerksamkeit errungen.

Das war ja alles gut und schön … Zumindest versuchte Anvar sich das einzureden. Aber die Herrin der Nebel war einer der Wächter: weit über jenen, die die Maguschlegenden als Götter bezeichneten. Ihre Macht überstieg selbst die Hellorins, denn die Phaerie verfügten lediglich über die Macht der Alten Magie. Die Cailleach war eine solche Macht in Person, fleischgewordene Macht – und sie besaß außerdem noch die Wilde Magie, die gefährlichste von allen.

Mittlerweile war die Insel vollends aufgetaucht, und das Wasser begann sich zu beruhigen. Dann tauchte auch Anvars Kiesstreifen wieder auf, nur daß er sich inzwischen verändert hatte. Das Tal wurde ebenfalls wieder still, aber ohne sein früheres Gefühl von Frieden. Jetzt war die Atmosphäre angespannt und voll brütender Erwartung.

Anvar wartete … und wartete, bis er die Spannung nicht länger ertragen konnte. Es schien, als müßten Zeit und Wirklichkeit zerbrechen, als schwirrten sie wie eine straff gespannte Sehne. Dann erinnerte der Magusch sich daran, wie Aurian den Stab der Erde gewonnen hatte und was sie ihm von ihrer Begegnung mit dem Drachen erzählt hatte. Nichts war geschehen, bis sie selbst die Initiative ergriffen und den Bann gebrochen hatte, der den goldenen Feuermagusch aus der Zeit genommen hatte …

Anvar holte tief Luft. Es war offensichtlich, daß die Cailleach sich seiner Gegenwart bewußt war. Der nächste Schritt mußte dann also bei ihm liegen. »Herrin, ich bin hier!« rief er. »Im Namen der alten Magusch, der Zauberer, die du einst beschützt hast, grüße ich dich!«

Er bekam keine Antwort – zumindest nicht in einer menschlichen Sprache. Statt dessen wehte, gerade als Anvar sich zu fragen begann, was er als nächstes tun sollte, ein Klang von hauchzarter Musik über den See zu ihm herüber. Die fremde Musik war so wild, so ätherisch, so herzzerreißend schön, daß der Magusch spürte, wie seine Kehle sich zusammenschnürte. Tränen strömten über sein Gesicht, und ohne zu wissen, was er tat, wischte er sie sich mit einer unbewußten Nachahmung von Aurians kindlicher Geste mit dem Ärmel ab.

Es war die Musik einer Harfe. Während jede Note klar und vollkommen über das dunkle Wasser glitt, wurde sie für Anvar sichtbar; ein Wasserfall aus Musik, wie ein Sternschnuppenregen, und jede kristallene Note ein klarer und vollkommener Punkt aus Licht. Der Magusch sah verloren in tiefem Staunen zu, wie sich plötzlich eine Brücke aus Gesang über den stillen Tempel wölbte.

Als die letzten zauberhaften Takte erklangen, fiel eine weitere Schar von Sternen auf den steinernen Strand nieder, berührte den Boden und blieb dort liegen. Der Magusch holte tief Luft, schloß seine Finger fest um den Erdenstab und trat auf die Brücke aus Sternen.

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