»Dieser verflixte Schwertkämpfer!« brummte der Tod. Er wußte über alles Bescheid, was in seiner Domäne vor sich ging, und hätte dem Treiben ein Ende setzen können, wenn er das gewollt hätte – aber statt dessen stützte er sich auf seinen Stab und beobachtete mit einem schiefen und ein wenig mitleidigen Lächeln, das nicht ganz ohne Respekt war, die Bemühungen des tapferen, sturen Geistes, der gerade versuchte, ihm zu entkommen – schon wieder.
Das Tor Zwischen den Welten war uralt, sein verwittertes Holz so grau und schwer wie Stein und die mit der Zeit verblaßte Schnitzerei auf seinen Vertäfelungen unter dem Gewicht von Jahren unkenntlich geworden. Mit einer bitteren Grimasse berührte Forral die tiefen, splittrigen Kerben, die die Schönheit der vielschichtigen, verschlungenen Muster verunstalteten – sein eigenes Werk, das von jenem ersten Mal stammte, als er versucht hatte, durch das Tor hindurchzugelangen. Verbittert über seine Ermordung, erzürnt über den ungeheuren Wahnsinn, der zu seinem frühzeitigen Tod geführt hatte, und außer sich vor Angst um Aurians Sicherheit, war er nicht in Stimmung für irgendwelche Hindernisse gewesen. Es hatte keine Rolle gespielt, daß es den Toten verboten war, zu den Lebenden zurückzukehren – das einzige, was er im Sinn gehabt hatte, war seine maguschgeborene Liebste und ihr ungeborenes Kind – ihrer beider Kind. Wieder und wieder hatte der Schwertkampfer mit seiner Klinge (Forral wunderte sich darüber, daß er plötzlich ein Schwert in der Hand gehalten hatte, gerade als er eins brauchte) in einem Anfall aus Wut und Verzweiflung auf diese Tür eingedroschen, bis er sich, obwohl er nur ein Schatten war, vollkommen verausgabt hatte. Erst als er sich dann gegen das kalte, graue Holz gelehnt und um Aurian geweint hatte, war ihm die Antwort zuteil geworden. Wo keine noch so große Gewalt die Pforte des Todes öffnen konnte, vermochte die Liebe – wenn sie nur stark genug war – ihn hindurchzubringen.
Das Tor öffnete sich unter Forrals Berührung, als er Aurians Namen nannte. Er trat hindurch in einen leuchtenden Brunnen aus Nebel, der ihm den Blick trübte und ihn, wenn er Glück hatte, in seinen silbernen Schleiern verbarg. Obwohl er gelernt hatte, wie man dieses Tor öffnete, bedeutete das nicht, daß es ihm erlaubt war. Der Schwertkämpfer zuckte mit den Schultern. Als könnte ihn das von Aurian fernhalten! Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, in der Stadt der Drachen. Sie war so traurig gewesen und so müde, mit Tränenspuren, die den Schmutz auf ihrem ausgezehrten Gesicht verwischt hatten, und die Schwangerschaft hatte ihren Bauch unter ihren zerfetzten Wüstengewändern bereits deutlich gerundet. Bei der Erinnerung daran traten Forral Tränen in die Augen. Es hatte ihm das Herz zerrissen, daß er sie nicht in die Arme nehmen, trösten und alles wieder für sie in Ordnung bringen konnte. Statt dessen hatte er das einzige getan, was in seiner Macht stand – er hatte ihr gezeigt, wo sie den Stab der Erde finden konnte. Der Tod, der Herrscher über dieses unheimliche Reich, war rasend vor Zorn über seine Einmischung gewesen.
Als der Schwertkämpfer das Ende des überwucherten Pfades erreichte, der von dem Tor wegführte, senkte sich der Nebel, und dort, wo der Pfad ins Tal mündete, bildete er nur noch eine seidige, knöcheltiefe Schicht. Forral betete darum, daß er nicht beobachtet wurde, und schritt unter dem sternenübersäten Himmel über den vertrauten Weg zwischen weichen Hügeln dahin, während der Bodennebel ihm bei jedem Schritt um die Stiefel waberte. Manchmal schien der Weg zum Brunnen der Seelen ganz kurz zu sein, während er sich bei anderen Gelegenheiten auf ewig in die Länge zu ziehen schien …
»Forral – bleib stehen, ich befehle es dir!«
Der Schwertkämpfer zuckte schuldbewußt zusammen und fluchte. Die unter einer großen Kapuze halb verborgene Gestalt war aus dem Nichts erschienen – ein gebeugter, alter Mann, so schien es, bekleidet mit einem grauen Umhang und auf einen Stab gestützt. Er trug eine kunstvolle Laterne bei sich, die einen silbernen Strahl warf. So, wie Erscheinungen es an sich haben, schien auch diese hier recht harmlos – aber Forral wußte es besser. »Laß mich durch!« Seine Hand fuhr an sein Schwert.
»Du glaubst, du könntest dieses Schwert gegen mich richten?« Der Tod kicherte – ein rostiges, pfeifendes Geräusch, das aus den finsteren Tiefen seiner Kapuze aufstieg. Seine hohle, zischende Stimme sandte ein Schaudern über Forrals Rückgrat, als strichen Leichenfinger darüber hinweg. »Forral, wirst du es denn nie begreifen? Wie du dich auch bemühst, du kannst nicht zurück! Was nützt es dir, hinter ihr herzujagen? Sie kommt ganz gut allein zurecht – glaube mir.« Die sarkastische Stimme wurde weich und einschmeichelnd. »Gib endlich auf, um unser aller willen. Es ist dir nicht gestattet, hierzubleiben, zwischen den Welten. Geh wieder dorthin, wo du hingehörst, und stimme endlich einer Wiedergeburt zu. Das ist die einzige Möglichkeit, wie du zu Aurian zurückkehren kannst.«
»Lügner!« zischte Forral mit einer Verwegenheit, die jedes vernünftige Maß überstieg. »Du willst mich ja nur loswerden. Wie soll mich eine Wiedergeburt zu Aurian zurückbringen? Ich würde mich nicht an sie erinnern, und sie würde mich nicht wiedererkennen. Wie könnte ich ihr als quäkendes Balg von Nutzen sein?«
»Ah …« Die Stimme des Todes war sanft und listig. »Ein Kind, ja, aber welches Kind? Hast du schon einmal an das Leben gedacht, das Aurian unter ihrem Herzen trägt? Was wäre, wenn …«
»Was?« bellte Forral. »Das ist ja widerwärtig!«
»Denk darüber nach«, schnurrte der Tod. »Für die kurze Spanne des Lebens eines Sterblichen könntest du wieder in ihren Armen liegen, sie lieben und geliebt werden … Und vielleicht würdest du dich eines Tages sogar daran erinnern, wer du einmal warst. Manchmal schlüpft eine Erinnerung durch.«
Einen Augenblick lang geriet Forral in Versuchung. Er wünschte sich so verzweifelt, zu Aurian zurückzukehren … Dann dachte er an die Qualen, die es für ihn bedeuten würde, wenn er sich wirklich erinnern sollte. »Niemals«, fauchte er. »Ich war diesem Mädchen ein Vater, und später war ich ihr Geliebter – ich will verdammt sein, wenn ich danach ihr Sohn sein soll!«
Zu seiner ungeheuren Verärgerung fing Forral ein kurzes Lächeln tief in den Schatten der Kapuze des Todes auf. »Genug, mein streitlustiger Freund – du hast die Prüfung bestanden.«
»Prüfung?« Der Schwertkämpfer runzelte die Stirn. »Was für eine Prüfung? Was genau willst du damit sagen, verdammt noch mal?« Dann schluckte er und trat hastig ein paar Schritte zurück, als die Erscheinung plötzlich wuchs und das Licht der Sterne verdunkelte, während sie mit düsterer Drohung turmhoch über ihm aufragte.
»Forral«, zischte die kalte Stimme, »es ist eine erfrischende Abwechslung, es einmal mit einem Sterblichen zu tun zu haben, der keine Angst vor mir hat, und aus diesem Grunde lasse ich mir deine Kühnheit gefallen – aber vergiß niemals, nicht einen Augenblick lang, wer ich bin.«
Forral atmete erst weiter, als die Erscheinung auf menschliche Ausmaße zurückgeschrumpft war. »Aber du darfst niemals glauben, der Tod sei nicht gnädig«, sagte die Stimme sanft. »Du und Aurian und dein Freund Anvar, ihr bildet einen Teil eines Musters, das erst noch in allen Einzelheiten Gestalt annehmen muß. Jeder von euch ist mir schon einmal begegnet und wurde geprüft. Glaube mir, es besteht Hoffnung für euch alle.«
Das war zu hoch für Forral, und er war es müde, daß man mit ihm herumspielte. »Wenn du endlich fertig bist«, knurrte er, »geh mir einfach aus dem Weg.« Er holte tief Luft. »Bitte. Ich muß Aurian sehen!«
Der Tod seufzte. »Du bestehst also immer noch darauf. Na schön – aber ich habe dich gewarnt. Sehen darfst du sie, aber ich werde nicht zulassen, daß du dich wieder einmischst.«
Der uralte Hain überragte düster den schattigen Gipfel des Hügels. Forral schritt zuversichtlich aus, denn er wußte, daß seine Liebe zu Aurian ihm auch hier einen Weg bahnen würde, so wie sie ihm das Tor Zwischen den Welten geöffnet hatte. Der Tod drängte ihn beiseite – eine unangenehme Berührung, die keine Berührung war, wie das abscheuliche Fehlen jedes Gefühls in einer Narbe. Sie ließ den Schwertkämpfer bis in die Tiefen seiner Seele hinein erzittern. »Wenn du gestattest«, sagte die Erscheinung mit gespielter Höflichkeit. »Die Bäume mögen dich nicht, Forral – deine Gegenwart besudelt ihren geheiligten Schatten, und deine unziemliche Hast beunruhigt sie.«
Die Erscheinung wandte sich dem Wäldchen zu, verbeugte sich dreimal tief, und die Bäume bewegten sich schweigend zur Seite, um einen Pfad zu bilden. Forral, der dem Tod vorsichtig folgte, konnte beinahe jenseits aller Hörbarkeit das raschelnde Murmeln ihres Zorns wahrnehmen, als sie unter den dichten Ästen hindurchschritten. Der Schwertkämpfer legte die Erinnerung an Aurian wie einen Schild um sein Herz und sagte sich immer wieder, daß er keine Angst hatte.
Der Teich im Herzen des Wäldchens war genau so, wie Forral ihn in Erinnerung hatte. Umgeben von weichem Moos lag er ganz still da – schweigsam und feierlich in seiner ehrfurchtgebietenden Macht, alle Welten des Sterblichen Universums in seinen sternenübersäten Tiefen geborgen. Der Schwertkämpfer trat ungeduldig vor. Er hatte schon vor langer Zeit begriffen, daß er, wenn er die Wasser des Brunnens der Seelen berührte, seinen Schatten in Aurians Welt wenden konnte.
»Warte!« Die Stimme der unheimlichen Erscheinung klang hart. »Bevor du dich dem Brunnen näherst, sage ich es dir, noch einmal – du darfst nur zusehen. Du darfst nicht zurückgehen, und du darfst dich nicht einmischen. Und wenn das, was du siehst, dir Kummer bringt – nun, ich habe dich gewarnt.«
»Also gut!« knurrte Forral. Dann kniete er am moosbewachsenen Ufer des Teichs nieder, blickte hinunter in die dunklen Wasser – und zuckte zusammen, wie immer, wenn ihm das sternenhelle Universum aus unergründlichen Tiefen entgegenfiel. Aber er wußte nun, was ihn erwartete. Aurian, dachte er voller Sehnsucht. Aurian, meine Liebste … Obwohl er sicheren Halt am Ufer hatte, hatte der Schwertkämpfer das Gefühl zu fallen. Endlos stürzte er durch einen Strom von Sternen … Dann klärten sich die Wasser; wurden zum Spiegel – nein – zu einem Bild, das sich bewegte und lebte. Forral sah Orte, Menschen, Stunden, Tage – alles dicht zusammengedrängt in einem zeitlosen Wirbel, in einer Welt, die ihm mit ihrer süßen Vertrautheit das Herz zerriß.
Bohan wartete, wie er schon seit Tagen gewartet hatte; unnachgiebig hielt er auf dem Hügel am Rande der Wüste Wache. Er war jedoch nicht allein – dafür sorgten seine Begleiter. Einer der anderen war immer bei ihm – der einäugige Eliizar, der einst Schwertmeister der Arena gewesen war, oder Yazour, der mutige, junge Krieger, der seinen Prinzen verlassen hatte, um sich Aurians seltsamer kleiner Truppe anzuschließen. Ohne Unterlaß hatten sie den Eunuchen bewacht, so wie Bohan selbst die leeren Sandmassen bewachte; keinen Augenblick ließen sie ihn allein. Bohan wurde von Schuldgefühlen gequält, weil er es ihnen gestattet hatte, ihn zu übertölpeln, und weil er deswegen seine Herrin im Stich gelassen hatte, und nun konnte er nicht einmal zu ihr zurückkehren – weil sie ihn nicht gehen ließen.
Bohans Gedanken waren voller Bitterkeit. Alle nahmen sie an, daß er, weil er nicht sprechen konnte, auch dumm sein müßte. Alle, das heißt bis auf seine geliebte Aurian. Mit ihrer Freundlichkeit hatte sie seine tiefe Zuneigung und Treue gewonnen – aber er hatte sie in der Wüste zum Sterben allein zurückgelassen, zusammen mit seinen Freunden Anvar und der schwarzen, flammenäugigen Shia, der großen Katze, deren Intelligenz mehr als menschlich war.
Obwohl Eliizar sich gezwungen gesehen hatte, den Eunuchen bewußtlos zu schlagen, um ihn von den beiden Magusch zu entfernen, gab Bohan sich immer noch die Schuld daran. Er hatte seine Herrin verlassen – und jetzt, nachdem der erste tödliche Sandsturm die Wüste aufgewühlt hatte, mußte er der Wahrheit ins Gesicht sehen. Aurian war tot, begraben unter erstickenden Sandmassen, ihre Augen und ihre Haut weggefressen, ihre Knochen von den messerscharfen Partikeln des Edelsteinstaubs bloßgelegt.
Noch lange hatte sich Bohan an einen Hoffnungsschimmer geklammert – gegen jede Vernunft, gegen jedes bessere Wissen. Diese Hoffnung hatte ihn während der letzten Tage davon abgehalten, einfach hinaus in die Wüste zu laufen. Er hatte immer geglaubt, daß Aurian es schaffen würde, trotz allem – daß sie nun jeden Augenblick am schwirrenden Horizont der glitzernden Dünen auftauchen müßte. Das war auch der Grund, warum er sich den vernünftigen Überlegungen der anderen unterworfen hatte. Ich muß wohl doch ein Dummkopf sein, dachte der Eunuch. Ich habe ihnen erlaubt, mich zu überreden: Yazour, Eliizar und Nereni haben mich mit ihrem klugen Geschwätz übertölpelt.
»Wenn sie kommt, kommt sie, Bohan. Nichts, was wir tun können, wird ihr helfen oder sie daran hindern.«
»Wenn irgend jemand da wieder rauskommt, dann sie und Anvar.«
»Das letzte, was Aurian wollte, wäre, daß du dein Leben wegwirfst.«
Und jetzt war es zu spät. Bohan barg sein Gesicht in den Händen, würgte an einem lautlosen Schluchzen, und Tränen durchtränkten die hauchzarten Schleier, die seine Augen verhüllten, um sie vor dem blindmachenden Funkeln der Wüste zu schützen.
Eine Hand berührte ihn sanft und voller Mitleid an der Schulter. Er blickte sich um und sah Nereni, Eliizars Frau, und als sie sprach, klang ihre Stimme erstickt von den Tränen, die auch sie geweint hatte. »Komm hier weg, Bohan. Es hat keinen Sinn, noch länger zu warten. Eliizar sagt …« Plötzlich sog sie scharf die Luft ein, und der Eunuch spürte, wie ihre Hand auf seiner Schulter sich verkrampfte. »Bohan, warte! Sie kommen! Sie kommen!«
Die erste, die den Eunuchen erreichte, war die große Katze Shia, mit der er durch ein so rätselhaftes Band verbunden war. Sie warf sich auf ihn, schnurrte begeistert, und trotz seiner großen Kraft wurde Bohan von ihrem gewaltigen Gewicht zu Boden geworfen. Aber als er Aurian seinen Namen rufen hörte, konnte der Eunuch nicht länger warten. Er löste sich aus Shias stürmischer Umarmung, stürzte über den Rand des Abhangs und jagte durch die steile Kluft auf das flache Land der Juwelenwüste zu, wobei er Wolken glitzernden Edelsteinstaubs aufwirbelte.
Aurian taumelte, gestützt von ihrem Maguschfreund Anvar, auf ihn zu. Sie war unverkennbar erschöpft; ihre blutüberströmte Haut war mit funkelndem Edelsteinstaub übersät, und ihr Gewand bestand nur noch aus zerfetzten Lumpen. Mit tränenüberströmtem Gesicht preßte der Eunuch sie so fest an sich, daß sie kaum noch Luft bekam. Verzweifelt wünschte er sich, ihr erklären zu können, daß er sie nicht freiwillig in der Wüste im Stich gelassen hatte, daß Eliizar und Yazour ihn dazu gezwungen hatten. Er wollte ihr erzählen, wie er sich um sie gesorgt und um sie getrauert hatte; und wie er, nachdem der Sandsturm sich erhoben hatte, alle Hoffnung verloren hatte, sie je wiederzusehen. Statt dessen konnte er sie nur in seinen Armen halten und sein ganzes Herz in seine Augen legen.
»Ich bekomme keine Luft mehr!« stöhnte Aurian. Sie lachte und weinte gleichzeitig, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude. »Oh, mein lieber, lieber Bohan. Ich bin ja so froh, dich wiederzusehen!«
»Und er ist froh, dich wiederzusehen«, sagte Yazour, der sich auf leisen Sohlen genähert hatte, und seine Stimme war wie immer sanft und tief. Sein hübsches Gesicht war durch ein geschwollenes Auge entstellt, das sich mittlerweile zu leuchtendem Purpur verfärbt hatte, aber er begrüßte Aurian mit einem glücklichen Grinsen. »Du hast ja keine Ahnung, wie schwer er es uns gemacht hat, seit wir dich das letzte Mal gesehen haben, Herrin«, fuhr er fort. »Wir mußten ihn bewußtlos schlagen, um ihn von dir wegzubekommen, und Eliizar und ich mußten ihn die ganze Zeit bewachen, um ihn davon abzuhalten, zurück in die Wüste zu gehen und nach dir zu suchen. Als der Sturm aufkam, konnten wir ihn kaum halten – er war vollkommen außer sich.« Der junge Krieger berührte sein fast schwarzes Auge und lächelte kläglich. »Was für ein Segen, daß du endlich wiedergekommen bist. Ich glaube, er hat Eliizar sämtliche Zähne ausgeschlagen!«
»Aber überhaupt nicht – nur ein paar«, murmelte Eliizar durch seine geschwollenen Lippen. »Und für einen guten Zweck kann ich sie erübrigen!«
»Nur gut, daß Yazour das geschwollene Auge hat und nicht du«, neckte Anvar ihn. »Noch ein Auge hättest du nicht entbehren können!«
Eliizar drehte sich um und klopfte dem großen, blauäugigen Magusch auf die Schulter. »Beim Schnitter, Anvar, ich hätte mein gesundes Auge gegeben, um euch beide nach diesem Sturm lebendig und sicher wiederzusehen … Was ist denn daran so komisch?« fügte er verwirrt hinzu, als seine Kameraden in schallendes Gelächter ausbrachen.
»Was hättest du denn sehen können, wenn du auch noch dein anderes Auge verloren hättest, du alter Narr?« sagte Nereni mit einem fröhlichen Kichern zu ihrem Mann. »Komm, Eliizar – wir wollen uns alles weitere aufheben, bis Aurian und Anvar sicher im Lager sind.« Sie wandte sich an die beiden Magusch. »Kommt, meine Lieben – ihr braucht ein Bad und Ruhe und eine gute, warme Mahlzeit.«
Der Eunuch trug Aurian auf seinen Armen den sandigen Hügel hinauf, während Nerenis gutmütiges Kichern ihn jeden Schritt des Weges begleitete. Yazour und Eliizar, die immer noch grinsten, halfen dem schwachen Anvar den steilen Hügel hinauf. Bohan mußte genau aufpassen, wo er hintrat, um mit seiner kostbaren Last nicht zu stolpern, denn Shia, die sich mit ihm angefreundet hatte, als sie und Aurian der Arena in der Khazalimstadt Taibeth entkommen waren, strich ständig um seine Beine, stupste ihn mit dem Kinn und schnurrte vor Freude^ ihn endlich wiedergefunden zu haben.
Über den Gipfel der Anhöhe führte ein schmaler Weg, der überwuchert war von niedrigen Dornbüschen und üppigen Pflanzen mit saftigen Blättern und übersät mit verkümmerten, vom Wind verzerrten Pinien, die es geschafft hatten, die zerstörerischen Angriff der tödlichen Wüstensandstürme zu überleben. Auf der anderen Seite des Hügels fiel das Land wieder ab; und hier, geborgen in einem langgestreckten Tal, das sich sanft den Vorhügeln des Gebirges entgegenstreckte, lag wie eine gewaltige, grüne Wolke ein dichter Wald.
Der Eunuch, der Aurian so vorsichtig in seinen Armen hielt, als könne sie wie Glas zerbrechen, überquerte das Plateau und trug die geschwächte Magusch über den rauhen Pfad, den sie sich durch die Dornenbüsche gehackt hatten. Dann beugte er sich tief hinunter, um den herabhängenden Zweigen auszuweichen, und lief den Hügel hinab bis in den Wald hinein.
Wegen seines kargen Standorts am Rande der Wüste hatte der Wald das zähe, kahle, wettergegerbte Aussehen eines wahren Kämpfers. Die Bäume waren Zypressen und Pinien – unfruchtbar und auf düstere Weise bedrohlich, aber höchst willkommen nach dem harten, kargen Land der Khazalim –, und ein unerwarteter Segen hatte ihre uralte, grimmige Düsternis aufgehellt. Die Schneeschmelze des furchtbaren Winters, der die Berge mit seinem Schreckensregiment eingeschlossen hatte, durchzog die wärmeren Vorhügel mit lebendigen, neuen Bächen, die die mit Felsbrocken übersäten Hänge hinunterplätscherten, um in geschützten Mulden glitzernde Teiche zu bilden. Dieses zusätzliche Wasser hatte den Wald prachtvoll aufblühen lassen. Wo das Auge auch hinsah, versprühten Blumen ihre Farbenpracht. Flecken von verschwommenem Blau und munterem Rosa, zartes, spitzenartiges Weiß und Teiche aus hellem Gold, wie versprengte Münzen – ein Überfluß von Blüten in allen Formen und Größen, umschwärmt von einem jubilierenden Hofstaat aus Schmetterlingen und Bienen. Und über allem ein Gemisch aus dem Parfüm der Blüten und dem prickelnden Duft des Immergrüns, das jeden Atemzug zu einem herrlichen Geschenk machte.
Nachdem er sein ganzes Leben in den unfruchtbaren Gebieten der Khazalim verbracht hatte, war Bohan von der Schönheit des Waldes restlos verzückt. Nach der Wüste erschien dieses schattige, grüne Waldland wie ein Wunder, und der Eunuch lächelte über Aurians Freudenschreie, während sie immer tiefer in den Wald hineingingen. Er konnte es kaum erwarten, ihr all die Wunder dieses erstaunlichen Ortes zu zeigen.
Das notdürftige Lager war nicht weit vom Waldrand entfernt, nahe den Ufern eines neugeborenen Flüßchens, das mit seinen plätschernden Wassern die Wurzeln einer gewaltigen Pinie ausgewaschen hatte. Der Baum war umgestürzt und lehnte sich nun gegen seine Nachbarn, wobei sich seine Zweige sicher in denen seiner Kameraden verankert hatte, um den Reisenden ein grobes, gewölbtes Schutzdach zu bieten.
»Das ist nur eine Notlösung«, sagte Eliizar, als Bohan die erschöpfte Aurian unter dem Baumdach absetzte. Während er sprach, kniete er sich bereits nieder, um ein Feuer anzufachen. »Wir sind hier zu nah am Fluß – es ist feucht, und das Land kann jederzeit überflutet werden. Wir wollten ein besseres Lager tiefer im Wald errichten – Yazour hat eine geradezu vollkommene Lichtung gefunden –, aber wir konnten nicht von hier weg, solange noch die Chance bestand, daß ihr kommen konntet.« Er blickte zu dem Eunuchen auf und lächelte. »Außerdem hätte Bohan es niemals zugelassen!«
Nereni, die sich bereits energisch über ihre Kochtöpfe beugte, scheuchte ihren Mann vom Feuer weg. »Holst du mir bitte etwas Wasser, Eliizar? Die drei müssen völlig ausgedörrt sein, die Armen, und ich muß mich um ihre Wunden kümmern. Also, wo habe ich nur diese Salbe hingetan? Und Yazour, ich brauche ein paar Stücke von dem Hirsch, den du heute morgen geschossen hast. Bohan kann dir helfen, sie herbeizuschaffen – und vergiß nicht, eine Keule für Shia mitzubringen. Oder, wenn ich so recht darüber nachdenke, bring besser zwei mit. Sie sieht ziemlich ausgehungert aus.«
Forral freute sich über Aurians glückliches Wiedersehen mit ihren Freunden. Bohan grinste von einem Ohr zum anderen. Der geschmeidige Yazour, der sich das dunkle Haar zu einem langen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, erglühte in stillem Glück. Eliizar und seine mollige, geschäftige Frau strahlten vor Freude.
Der Schwertkämpfer lauschte voller Zufriedenheit, während Eliizar Aurian und Anvar das Lager zeigte. Hier konnten sie sich von den Härten der Wüste erholen und sich dank der reichen Geschenke des Waldes auf den nächsten Abschnitt ihrer Reise vorbereiten. Alle waren fleißig gewesen – selbst die Pferde, die in der Nähe angebunden waren, grasten, als gelte es ihr Leben. Sie entschädigten sich dafür, daß sie in der Wüste nur mit knapper Not dem Hungertod entkommen waren, und verbrachten die ganze Zeit im Wald damit zu fressen. Es war deutlich zu sehen, wie sehr ihr Zustand sich bereits gebessert hatte.
Eliizar und seine Kameraden hatten zusammengearbeitet, um grobe Schutzzelte aus geflochtenen Zweigen aufzubauen. Nereni hatte eßbare Pflanzen gesammelt, während Yazour und Eliizar auf die Jagd nach Ziegen, Wildschweinen und Hirschen gegangen waren. Bohan hatte ein unerwartetes Talent für den Kaninchenfang in sich entdeckt. Forral, der jede einzelne ihrer Errungenschaften vermerkte, sah ihnen zufrieden zu. Er hatte keinen Zweifel daran, daß Aurian hier in Sicherheit sein würde – zumindest für den Augenblick.
»Und so überantworten wir den Leib unseres Bruders, des Magusch Bragar, dem Feuer und seinen Geist den Göttern …« Der Erzmagusch Miathan stimmte die Schlußworte der Todeszeremonie mit einem hastigen Singsang an, der nicht den geringsten Respekt für den verstorbenen Feuermagusch erkennen ließ, dessen zusammengeschrumpfte, versengte Überreste nun auf dem großen, steinernen Altar des Dachtempels auf dem Maguschturm in Nexis lagen. Eine Verschwendung kostbarer Zeit, dachte Miathan gereizt – Bragar, ein dummer, oberflächlicher, übermäßig ehrgeiziger Maulheld, hatte nicht das geringste getan, um diese Ehre zu verdienen.
»Und so soll er denn gehen, mit unseren Gebeten und unserem Segen.« Die letzten Worte stieß er mit verächtlich geschürzten Lippen aus, dann hob er seinen Stab und ließ einen einzigen Strahl einer blutroten Flamme los. Der Strahl traf die Leiche mit einem gewaltigen Aufflackern, das den wolkenverhangenen Himmel über Nexis zu versengen schien und das glitzernde Netzwerk des Frosts, das die hohen Zinnen des Tempels versilberte, zum Schmelzen brachte.
Noch bevor Bragars Körper auch nur zu zischen und zu rauchen begann, eilte Miathan bereits mit langen Schritten auf die Treppe zu, die in den Turm hineinführte. Als er an Eliseth vorbeikam, die sich der beißenden Abendkühle wegen in einen pelzgesäumten Umhang gehüllt hatte, durchbohrte er die Wettermagusch mit seinem Blick und hatte die Befriedigung, zu sehen, wie sie vor ihm zurückschrak; ihr eisiger Hochmut war zusammen mit der Schönheit ihres einstmals hübschen Gesichtes verschwunden.
Als er die jämmerlichen Reste dessen sah, was einmal perfekte Gesichtszüge gewesen waren, lächelte der Erzmagusch grausam. Er hatte den Gral benutzt, der aus einem Teil des Kessels der Wiedergeburt geformt war, und die Wettermagusch mit einem Fluch belegt, der sie zu einem gebeugten und verhutzelten alten Weib machte. Eliseth war immer so eitel gewesen, was ihr Aussehen betraf. Er hätte keine bessere Möglichkeit finden können, sie dafür zu bestrafen, daß sie Aurian in den Tod locken wollte, indem sie eine Vision von Forral schuf, dem ermordeten Geliebten der Magusch. Die List war auf unfaßbare Weise fehlgeschlagen und hatte statt dessen zu Bragars Tod geführt.
Als er an ihr vorüberging, sah Miathan kalten Haß in Eliseths Augen brennen und rief sich noch einmal ins Gedächtnis, daß er sie in Zukunft immer würde im Auge behalten müssen. Für den Augenblick jedoch würde sie gehorchen – dafür hatte er gesorgt-, aber das würde nicht für alle Zeiten so bleiben.
Mit einem Schulterzucken setzte der Erzmagusch seinen Weg fort und ignorierte den gehässigen Blick der Magusch. Er hatte noch viel zu tun. Der Anblick von Aurian und Anvar in seinem Kristall, wie sie aus der Wüste kamen, drängte ihn zum Handeln. Er mußte sie in seine Gewalt bekommen, bevor Aurian ihre Kräfte wiedererlangte – und solange Eliseth noch zu verängstigt war, um sich einzumischen. Schon jetzt lag ein Netz um die ahnungslosen Flüchtlinge, das sich langsam zuzog. Seine Marionette, der törichte junge Prinz, würde sich im Wald jenseits der Wüste mit dem geflügelten Mädchen treffen, und Miathan hatte die Absicht, seinen Körper zu verlassen und dorthin zu reisen, um Harihns Geist zu kontrollieren und sicherzustellen, daß der junge Mann seinen Befehlen gehorchte. Aber zuerst mußte der Erzmagusch Kontakt zu Schwarzkralle aufnehmen, dem Hohenpriester der Geflügelten.
Miathan bedauerte es, daß Bragars Verbrennung ihn davon abhielt, den Dachtempel zu benutzen, um die düstere, geheime Zeremonie durchzuführen, die sich die Todesmagie des Kessels zunutze machte und ihm gestattete, seinen Geist in so weite Fernen zu senden. Es würde mehr als nur ein Menschenopfer kosten, um ihm die Macht zu verschaffen, die er dazu brauchte, bis in das ferne Aerillia zu gelangen, die Zitadelle der Geflügelten. Und ohnehin, so überlegte er mit grimmiger Belustigung, war es ein zu bitterkalter Tag, um draußen eine magische Zeremonie vorzunehmen – Sterbliche konnten schließlich überall geopfert werden.
»Wo, im Namen des Himmelsgottes, steckt dieser verfluchte Erzmagusch!« schrie Schwarzkralle den stummen Kristall an. »Antworte mir, du nutzloser Stein. Ich verlange, mit Miathan zu sprechen!« Wutschnaubend trat er nach dem geschnitzten Sockel, auf dem der Kristall lag. Als der düster glitzernde Edelstein von seinem hölzernen Podest kullerte, versuchte der Hohepriester noch verzweifelt, ihn aufzufangen, aber er war nicht schnell genug. In einer Explosion von Funken schlug der Kristall auf dem Boden auf und zersplitterte in tausend Stücke.
»Nein!« heulte der Hohepriester auf. Er fiel auf die Knie und raffte die leblosen Bruchstücke zusammen, wobei er die Luft mit Flüchen versengte. Wie groß sein Zorn auch gewesen sein mochte – wie hatte er sich nur dazu hinreißen lassen können, seine einzige Möglichkeit zu zerstören, mit seinem Verbündeten Kontakt aufzunehmen? Schwarzkralle fletschte erbittert die Zähne. Warum hatte Miathan nicht geantwortet? Er warf einen zornigen Blick auf die Wände seines Gemachs, als wolle er ihrer dunklen, spiegelglatten Oberfläche die Antwort auf seine Fragen entringen. Es war lebenswichtig, mit dem Erzmagusch zu sprechen. Der tödliche Winter, durch den er sich die Oberherrschaft über das Himmelsvolk verschafft hatte, schwand plötzlich dahin.
Schwarzkralle erhob sich, schüttelte seine staubigen, schwarzen Schwingen und eilte zu dem breiten, gewölbten Fensterflügel hinüber. Vielleicht konnte er diesmal seine eigenen Augen Lügen strafen? Aber an den eleganten Türmen der Stadt hingen tropfende, fransig gewordenen Eisspeere, und noch während er hinsah, rutschte ein Schneebrett das Dach des Königinnenturms hinunter, um mit einem deutlich hörbaren Krachen auf den Boden zu klatschen. Als er Stimmen hörte, beugte Schwarzkralle sich aus dem Fenster, um einen Blick auf die Stadt zu werfen, nach der es ihn so gelüstete. Überall zwischen den Spitztürmen flogen Geflügelte hin und her und stießen, während sie den Schneebrocken auswichen, laute, aufgeregte Schreie aus. Die Freude, die in ihren Stimmen mitschwang, war wie Galle in der Kehle des Hohenpriesters.
Schwarzkralle war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um dem seltsamen Rumoren über seinem Kopf Aufmerksamkeit zu schenken. Da er sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt hatte, erwischte ihn die Schnee- und Eislawine vom Dach genau zwischen den Schultern, so daß er für einen Augenblick nach Luft ringen mußte. Sein kahler Kopf war von Schneematsch bedeckt, und Eis glitt ihm durch den losen Kragen seines Umhangs. »Beim alles sehenden Auge Yinzes, das lasse ich mir nicht länger gefallen«, heulte der Hohepriester, während er wie wild herumtanzte und versuchte, den Schnee aus seiner Robe herauszuschütteln. »Wo steckt dieser verdammte Erzmagusch?«
Schwarzkralle warf das Fenster hinter sich zu und verfluchte den Verlust der magischen Kräfte, der seine Rasse seit der Verheerung quälte. Stunde um Stunde hatte er über diesem verabscheuenswerten Kristall gebrütet und verzweifelt versucht, seinen Geist über die vielen Meilen zu schicken, die ihn von Miathan trennten. Seine Bemühungen hatten ihm nichts anderes eingetragen als hämmernde Kopfschmerzen und den Verlust seines kostbaren Juwels. Es würde zu lange dauern, ein anderes anzufertigen – bis dahin hatte er vielleicht seine Herrschaft über die Geflügelten wieder eingebüßt.
Schwarzkralle war geradezu verzweifelt darum bemüht, die Würde seiner Rasse wiederherzustellen. Vor ihrem Niedergang hatte das Himmelsvolk zu den vier großen Rassen der Magusch gezählt – der Wächter, die die Götter ernannt hatten, um über die Ordnung in der Welt zu wachen. Bevor man ihnen in einem verhängnisvollen magischen Krieg um die Oberherrschaft ihre Kräfte geraubt hatte, hatte sein Volk die Aufsicht über das Element der Luft gehabt. Gemeinsam mit den menschlichen Zauberern oder Erdmagusch hatten sie sich um die Vögel und alle anderen Geschöpfe gekümmert, die mit dem Wind flogen. Zusammen mit den mächtigen Leviathanen oder Wassermagusch hatte sie das Wetter der Welt beherrscht.
Der Verlust dieser Macht war wie ein erstickender Dornenstrauch, der sich um die Seele des Hohenpriesters gewunden hatte und mit jedem Jahr größer wurde. Die Erinnerung an die vergangene Größe seiner Rasse bereitete ihm Qualen, statt ihn mit Stolz zu erfüllen. In Schwarzkralles Augen hatte das Himmelsvolk, selbst als es auf seinem Höhepunkt stand, nie seine wahren Möglichkeiten ausgeschöpft. »Warum?« fauchte er. »Warum hatten wir nie die alleinige Kontrolle über unser Element?« Alles, was von Bedeutung war, hatten sie sich teilen müssen, entweder mit diesen kriecherischen Zauberern oder mit den übertrieben gefühlvollen, weichherzigen Meeresleuten, dem selbsternannten Gewissen der Welt. Schwarzkralles gehetzter Verstand hatte niemals innegehalten, um zu bedenken, daß alle Elemente und ihre Herrscher voneinander abhingen; alle waren miteinander verbunden und unterstützten einander in einem komplexen Gewebe des Lebens. Er war jedoch nur mit sich selbst beschäftigt, mit seiner eigenen Rasse – und mit dem, was sie verloren hatte.
In seiner Jugend war der Hohepriester idealistischer gewesen. Der junge Schwarzkralle war in den geheiligten Gemäuern des Gipfeltempels des Yinze aufgewachsen, von unbekannten Eltern einem priesterlichen Leben geweiht – das gewöhnliche Schicksal eines ungewollten Kindes bei den Himmelsleuten. Aber Schwarzkralle war anders gewesen. Die anderen hatten ihr Schicksal hingenommen, waren demütige, gehorsame, kleine Priester geworden, aber er hatte immer mehr gewollt. Hochgeborene Frauen hatten ihn zurückgewiesen – und die anderen, die weniger stolz und eigen waren, hatte er verachtet. Häßlich, kahl und ehrgeizig, unterschätzt von seinen Lehrern und Mentoren, hatte er sich mit den Krallen seinen Weg an die Macht gebahnt, um es ihnen allen eines Tages zurückzuzahlen. Um es so weit zu bringen, hatte er sich im Tempel zu einem Schüler entwickelt, der in allen Dingen zu gut war, um ignoriert werden zu können.
In Wahrheit hatte Schwarzkralle sich in seiner Einsamkeit und Zurückgezogenheit nach der Familie gesehnt, die er verloren hatte, nach der Sicherheit und Geborgenheit, die man ihm verweigert hatte. Da er nichts über seine wirklichen Eltern wußte, nährte er den bestmöglichen Traum – daß er nämlich in Wahrheit ein unehelicher Sproß der königlichen Linie war. Jede Nacht füllten Phantasien seinen Kopf, in denen er die Herrschaft über die Geflügelten ergriff und ihnen ihren früheren Glanz zurückeroberte – und sich selbst zu der hohen Position in der Welt verhalf, die ihm immer verwehrt gewesen war.
Dann hatte er die Schriften entdeckt. Seine Lehrer hatten ihm die Aufgabe zugeteilt, den Tempel zu reinigen, da sie immer noch verzweifelt versuchten, ihm ein wenig von der Saat priesterlicher Demut in seine Seele zu pflanzen. Schwarzkralle, der seines Ehrgeizes wegen eifriger war als die meisten, hatte die geheimen, verborgenen Schriften Incondors entdeckt.
Es hatte offensichtlich so sein sollen. Jener junge, arrogante, verfluchte Magusch, der Mitanstifter der furchtbaren Geschehnisse der Verheerung, dessen bloßer Name unter den Geflügelten tabu war, hatte seine Mitteilungen an die Nachwelt so versteckt, daß Schwarzkralle sie in einer dunklen, verbotenen Nische hinter dem Altar finden mußte. Und nichts, so glaubte der Priester, geschah durch Zufall.
Incondor war furchtlos gewesen und gnadenlos in seinem Ehrgeiz, einsam und außerdem mißverstanden von den geringeren Wesen in seiner Umgebung. Schwarzkralle, der Incondors Hinterlassenschaft Nacht für Nacht in seiner düsteren, kleinen Zelle förmlich verschlang, kam zu der offensichtlichen Schlußfolgerung, daß die Schriften eine Botschaft an ihn waren, die über Jahrhunderte hinweg eigens auf ihn gewartet hatte, und daß er in Wahrheit Incondor war – wiedergeboren, um seine unerfüllten Träume von Macht und Herrschaft endlich in die Tat umzusetzen.
Ein schüchternes Klopfen an der Tür seines Gemachs unterbrach die Überlegungen des Hohenpriesters. Mit einem wütenden Knurren riß Schwarzkralle die Tür so heftig auf, daß sie in ihren Angeln vibrierte, zurückschlug und seinen Besucher um ein Haar von dem Treppenabsatz, auf dem er stand, in die Tiefe gestürzt hätte. Der Bote sprang in einem Wirbel weißer Schwingen hastig zurück, um dem Schneematsch zu entgehen, der sich in diesem Augenblick von dem Balkon über ihm löste. Mit einem sorgsam bedachten Sprung brachte er sich in Sicherheit. Schwarzkralle erkannte ihn. Es war Cygnus, ein Kriegerpriester des Tempels, der den Weg des Schwerts gescheut und sich statt dessen dem Weg des Heilens verschrieben hatte. Der Hohepriester schürzte verächtlich die Lippen – immerhin war Cygnus ein treuer, eifriger Anhänger, und seine ärztlichen Kenntnisse von Giften hatten sich in der letzten Zeit als äußerst nützlich erwiesen.
»Mein Fürst!« brachte der junge Priester keuchend hervor. »Königin Flammenschwinge ist tot!«
Schwarzkralles Herz machte einen Satz, als er diese Neuigkeit hörte. Endlich! Bei Yinze, sie hatte lange genug gebraucht – aber sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. »Ich komme!« stieß er hervor, aber noch während er sprach, zog ihn ein gedämpftes Prickeln seiner Kopfhaut zurück ins Zimmer. Der Hohepriester drehte sich um – und stöhnte. Auf der Wand gegenüber dem Fenster erglühte ein Teil der blankpolierten Steine in einem dämmrigen, geisterhaften Flackern. Noch während er hinsah, nahm das Leuchten Gestalt an und entwickelte sich zu den vertrauten, grob gemeißelten Zügen des Erzmagusch.
Schwarzkralle stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. »Ich komme, sobald ich kann«, sagte er zu dem jungen Krieger. »In der Zwischenzeit will ich unter keinen Umständen gestört werden. Ist das klar?« Er schlug dem verblüfften Boten die Tür vor der Nase zu und verriegelte sie hastig.
»Miathan, wo bist du gewesen?« Schwarzkralle war zu aufgebracht, um die disziplinierten Gedankenmuster zu formen, die normalerweise für ein gedankliches Gespräch erforderlich waren. »Der Schnee schmilzt!« schnatterte er. »Mein Winter löst sich auf, und …«
»Halt den Mund, Schwarzkralle, und hör zu!« Die Gedankenstimme des Erzmagusch klang schwach und weit entfernt. Er hörte sich sehr müde an. »Eliseth, meine Wettermagusch, ist von diesen Abtrünnigen angegriffen worden …«
»Sie wurde angegriffen? Ist sie verletzt? Kann sie mir den Winter zurückbringen?« fragte der Hohepriester entsetzt.
»Natürlich – wenn sie weiß, was gut für sie ist!« Einen Augenblick lang lag nackter Stahl in Miathans Stimme. »Ich werde mich um diese Angelegenheit kümmern, sobald ich zurückkehre. Was mich viel mehr interessiert, ist, wie es deiner Königin geht.«
Schwarzkralle lächelte. »Sie ist tot«, schnurrte er zufrieden. »Das Gift hat bestens gewirkt.«
»Hervorragend! Dann mußt du, so schnell es geht, die Macht ergreifen. Meine Marionette, Prinz Harihn, hat deine Prinzessin dazu gebracht, die Flüchtlinge zu verraten. Sie wird sie in Incondors Turm locken – wirklich eine hervorragende Idee von dir: Er ist geradezu perfekt für einen Hinterhalt –, und wenn du die versprochenen Krieger bereitstellst, kann nichts mehr schiefgehen. Wie bald kannst du bereit sein?« Das Bild lächelte: ein selbstzufriedenes, grausames Lächeln, das einen Schauder über Schwarzkralles Rückgrat jagte.
»Bereit?« ächzte er. »Aber die Königin ist doch gerade erst gestorben. Ich hatte noch keine Gelegenheit …«
»Dann möchte ich doch vorschlagen, daß du dich beeilst, Schwarzkralle. Du wirst ausreichend Zeit haben, um dich vorzubereiten – unsere Flüchtlinge müssen sich für die Reise in die Berge bereit machen, und sie werden wohl einige Tage brauchen, um den Turm zu erreichen. Sieh zu, daß du deine Stadt fest im Griff hast, und überlaß den Rest mir. Halt die Krieger bereit, damit sie auf mein Kommando hin den Abtrünnigen auflauern. Ach, und noch eins, Schwarzkralle – ich habe keine Ahnung, was aus deinem Kristall geworden ist, aber bring diese Angelegenheit so bald wie möglich wieder in Ordnung. Diese Art der Kontaktaufnahme ist anstrengend und auch völlig überflüssig, und ich habe besseren Nutzen für meine Zeit und meine Energie.« Mit diesen Worten war er verschwunden und ließ Schwarzkralle, der empört auf eine leere Wand starrte, allein zurück.
Als ihm langsam seine Umgebung wieder bewußt wurde, hörte der Hohepriester ein Geräusch, das sehr dazu beitrug, seinen Ärger über Miathans herrisches Verhalten zu beschwichtigen. Er öffnete das Fenster und hörte das Aufjammern vieler Stimmen, die den Tod von Flammenschwinge, der Königin des Himmelsvolks, betrauerten. Schwarzkralle gestattete sich ein kleines, befriedigtes Lächeln. Dann gab er seinen Zügen einen passenden Ausdruck von Kummer, straffte sich entschlossen und ging zur Tür. Er hatte eine Menge zu tun und nur wenig Zeit. Auf der Landeplattform vor seinem Gemach breitete der Hohepriester seine nachtschwarzen Schwingen aus und schwebte über die dunkle Leere hinweg auf den Turm der Königin zu.
Dunkel. Dunkelheit und der Geruch nasser Pferde – beides waren vertraute Begleiter für Parric geworden, seit er und die anderen von den Pferderittern der Xandim gefangengenommen worden waren. Der Kavalleriemeister fluchte, aber es war nur ein halbherziger Fluch. Selbst sein schier endloser Vorrat an Lästerungen ging langsam zur Neige. Er war hilflos gefesselt, und seine Augen waren verbunden, und nun wurde er wie ein Sack Pferdemist auf eines der legendären Tiere der Xandim geworfen – eine unendliche Demütigung für einen Reitersmann wie ihn. Er war naß bis auf die Knochen, wütend, frustriert und ängstlich. Er konnte nur durch Meiriel mit diesen Leuten sprachen, aber die Magusch war mittlerweile vollkommen wahnsinnig, und außerdem haßte sie ihn. Er hatte keine Möglichkeit, herauszufinden, ob sie seine Worte richtig übersetzen würde – falls diese Wilden ihm überhaupt die Chance geben würden, etwas zu sagen.
Hinter sich hörte Parric das herzzerreißende Geräusch von Elewins Husten. Die Krankheit des alten Haushofmeisters hatte sich während dieser grausamen Reise noch verschlimmert. Er würde sie vielleicht nicht überleben, denn soweit der Kavalleriemeister wußte, befanden sich Elewin und die anderen in einer ähnlich unangenehmen Lage wie er selbst – sie waren gefesselt und geknebelt und hatten eine undurchdringliche Binde über den Augen. Parric, der nicht wußte, was mit ihnen geschehen würde, machte sich größte Sorgen. Wo bringen uns diese Bastarde überhaupt hin, dachte er – und wie lange wird es noch dauern, bis wir am Ziel ankommen?
Der Kavalleriemeister bedauerte nur seinen übereilten Entschluß, sich auf die Suche nach Aurian zu machen. Wie hatte er glauben können, daß er sie in diesem riesigen, feindlichen Land finden würde? Wenn er doch nur daran gedacht hätte, mehr über die Gegend, in der sie gelandet waren, in Erfahrung zu bringen! Er hätte Yanis fragen können, den Führer der Nachtfahrer, der sich mit den Rebellen angefreundet hatte und schon lange einen gesetzwidrigen Handel mit den Südländern betrieb. Damals war es ihm als eine gute Idee erschienen, um eine Passage auf seinen Schiffen zu bitten. Parric fluchte abermals – hätte er nicht diesen Knebel im Mund gehabt, hätte er auch noch vor Wut ausgespuckt. Idris, der abergläubische Kapitän, der sie hierhergebracht hatte, hatte sich sehr dagegen gesträubt, eine Magusch mitzunehmen, und die Situation hatte sich durch Meiriels verletzende Arroganz diesem Mann gegenüber nicht gerade verbessert. Es spielte keine Rolle, daß sie immer alle Sterblichen mit der gleichen Verachtung behandelte – als sein Schiff in den Stürmen zu Schaden gekommen war, hatte Idris Parric und seine Freunde auf dem nächsten Streifen Land abgesetzt und sie dort zurückgelassen, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, seinen zerbrochenen Mast zu reparieren.
Bei den Göttern, was für ein Narr ich doch bin! beschimpfte Parric sich selbst. Forral, sein alter Kommandant, wäre angewidert gewesen. Der Kavalleriemeister hatte seinen Rebellenkameraden Vannor im Stich gelassen, um sich in dieses unsinnige Unternehmen zu stürzen. Er hatte dem Kaufmann, der nicht die geringste Erfahrung in der Kriegskunst besaß, das Kommando über seine Truppe überlassen. Nur die Götter wußten, ob er das Ganze verpfuschen würde, dachte Parric reuevoll. Ich frage mich, ob er wohl die Lady Eilin gefunden hat? Ob sie uns helfen wird? Natürlich wird sie das, beruhigte er sich. Sie ist Aurians Mutter. Der Erzmagusch hat Forral ermordet und ihre Tochter hintergangen – sie muß einfach auf unserer Seite stehen. Wenn ich doch nur Aurian finden könnte …
Das Pferd trabte unermüdlich weiter. Parric, ein Reitersmann durch und durch, fand einen gewissen Trost in dem anmutigen Schritt des Tiers. Kraftvolle Muskeln bewegten sich mit fließender Leichtigkeit unter ihm, und er rieb seine Wange über dickes, aber seidiges Fell. Er verspürte ein heftiges Verlangen, das Tier zu sehen, seine Hände über glatte Flanken und kraftvolle Schenkel gleiten zu lassen. Oh, dieses Geschöpf zu reiten – solch ungeheure Stärke zu teilen! Wirklich, dieses Pferd konnte selbst dem Wind davonlaufen! Eingelullt von den gleichmäßigen Schritten seines Reittiers und getröstet von dem warmen, scharfen Geruch des Pferdes, döste er vor sich hin und träumte davon, den Wind zu reiten.
Parric war mit einem Ruck wach, als die Eule, die ihn geweckt hatte, einen zweiten markerschütternden Schrei ausstieß. Nur wer wie er seiner Sicht beraubt war, konnte das leise, raschelnde Wispern der Flügel hören, als die Eule wie ein Geist davonflog. Es mußte immer noch Nacht sein – es war schwarz hinter seiner Augenbinde, und er konnte eine kühle, feuchte Brise auf seiner Haut spüren. Der unbarmherzige Regen hatte zu seiner großen Erleichterung endlich aufgehört. Er konzentrierte sich und benutzte seine durch viele Jahre als Kundschafter geschärften Sinne, um herauszufinden, was seine Augen ihm nicht sagen konnten. Ah, das Gelände hatte sich verändert. Anstelle des berauschenden, frischen Dufts des Graslands war der schwere Moschus des Waldbodens getreten, und er konnte das raschelnde Murmeln des Windes in den Zweigen hören. Der Körper seines Pferdes war schräg nach oben geneigt, und er konnte spüren, wie die Muskeln des Tieres sich anspannten, als es sich einen steilen, unebenen Pfad hinaufarbeitete.
Der sanfte Tritt der Pferdehufe auf weichem Grund war einem hohlen Scharren auf einer steinernen Oberfläche gewichen. Ein Flüstern lief durch die Reihen der Krieger, die Parric gefangenhielten, und das Tier blieb stehen. Grußworte erklangen und ein Geplapper von Antworten in der singenden Sprache der Xandim. Parric mußte die Sprache nicht kennen, um Neugier und Betroffenheit aus ihrem Ton herauszuhören. Gedämpftes Fackellicht zuckte über seine Augenbinde, hier und da unterbrochen von vorüberziehenden Schatten. Dann setzte sein Pferd sich mit einem gereizten Schnauben wieder in Bewegung, und sie nahmen ihren mühsamen Weg über den gepflasterten Pfad wieder auf. Der Kavalleriemeister versuchte, seine Gedanken zu sammeln, denn er rechnete damit, bald dem Anführer der Pferderitter gegenüberzustehen. Wo auch immer man ihn und seine Begleiter hingebracht hatte, sie waren offensichtlich an ihrem Ziel angekommen.