17 Die Herausforderung


Parric war wieder einmal betrunken. Er hatte mit seinem Trinken den Punkt erreicht, an dem er zwar wußte, daß er betrunken war, aber es ihn nicht kümmerte. Das Trinken war sein einziger Trost gewesen an den langen, stumpfsinnigen Tagen, die dahingekrochen waren, seit das Windauge ihn von dem Berg gerettet hatte. Der Kavalleriemeister, der auf einem verschneiten Baumstamm vor dem großen, steinernen Turm saß, in dessen Spitze Chiamhs Kammer der Winde thronte, blickte über die Schulter hinweg zu dem drohend aufragenden Windschleier hinüber und schauderte bei der Erinnerung an diesen alptraumartigen Abstieg. Er hatte immer von sich geglaubt, zäh genug zu sein, um mit jeder Schwierigkeit fertigzuwerden, aber er hatte auch noch nie zuvor gegen einen Berg kämpfen müssen. O ihr Götter, dieser Marsch! … Durch endlosen Schnee waren sie getaumelt, gebeugt unter der Last eines sterbenden, alten Mannes, während der Sturm immer näher rückte. Und dann seine beharrliche Angst davor, daß diese monströsen Katzen sie aufspüren könnten … Gegen Müdigkeit und halb erfrorene Gliedmaßen hatten sie ankämpfen müssen und gegen das lähmende Bewußtsein, daß ein einziger falscher Schritt einen tödlichen Sturz über den Rand eines Felsvorsprungs bedeuten konnte … »Ihr Götter«, murmelte Parric mit belegter Stimme. »Ist es da ein Wunder, daß ich betrunken bin?«

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Kavalleriemeister sich einer Situation nicht gewachsen gefühlt, und damit wurde er kaum fertig. »Was mache ich hier eigentlich?« murrte er etwa zum hundertsten Mal vor sich hin. »Ich bin ein einfacher, ehrlicher Soldat, jawohl; gebt mir ein Schwert in die Hand und ein gutes Pferd unter meinen Hintern, und ich werde mit allem fertig. Aber wenn ich es mit Bergen und Riesenkatzen zu tun habe und mit halbblinden Gespenstern, die mit dem Wind sprechen und sich dann plötzlich vor meinen Augen in ein verdammtes Pferd verwandeln …« Er schloß ein Auge und betrachtete die Lederflasche, die er in der Hand hielt, mit einem vorsichtigen und kritischen Blinzeln. »Nicht, daß er ein schlechter Kerl wäre, versteh mich nicht falsch – und er macht wirklich verdammt guten Met. Ein bißchen süß für meinen Geschmack, aber stark wie der Tritt eines Schlachtrosses! Maja würde das Zeug gefallen.«

Da lag natürlich auch der wahre Grund für seine Trinkerei vergraben. Parric hatte Heimweh nach Nexis, nach dem Nexis, wie es früher gewesen war und nie wieder sein würde. Er vermißte die Garnison und seine Verantwortung als Offizier. Er vermißte es, seine Fähigkeiten nutzen zu können und sie an die neuen Rekruten weiterzugeben. Vor allem vermißte er die Kameradschaft, die wüste Keilerei der Waffenübungen, die vertrauten Pflichten und Patrouillen, die durchzechten Nächte, die er mit Maja, Forral und Aurian im Unsichtbaren Einhorn verbracht hatte. Parric war betrunken, weil er wütend, frustriert und im Augenblick obendrein auch noch hilflos war. Obwohl er Angst um Aurian hatte und sich verzweifelt wünschte, sie endlich zu finden, mußte der Kavalleriemeister hier seine Zeit absitzen, bis der Mond sich verdunkelte, wie das Windauge es so poetisch ausgedrückt hatte.

»Warte«, hatte Chiamh ihm geraten. »Du kannst nicht allein gehen, nicht quer durchs Gebirge. Warte nur, bis die Zeit reif ist, und dann kannst du deiner Freundin mit einer Armee von Xandimsoldaten zu Hilfe eilen. Ich habe einen Plan.«

Der Plan war ganz in Ordnung, mußte Parric widerwillig zugeben. Zumindest hoffte er das. Der Kavalleriemeister wußte nichts von den Bräuchen der Xandim und konnte daher nicht anders, als Chiamh zu vertrauen und seinen Versicherungen zu glauben, daß Aurian in Incondors Turm zu finden sein würde, so wie er es in seinen Visionen auf den Winden gesehen hatte.

Trotz seiner Ungeduld mußte Parric bei dem Gedanken an Chiamhs Plan grinsen. Bei Chathak, der Junge hatte wirklich Nerven! Der Kavalleriemeister erinnerte sich an die Nacht, in der er und das junge Windauge in Chiamhs Höhle am Fuß des Turms gesessen und ihre Pläne geschmiedet hatten. (Wenn man es überhaupt eine Höhle nennen konnte.) Nach Parrics Erfahrung war eine Höhle ein Loch in einem Felsen oder eine geschützte Vertiefung in einer Felswand und kein Ort mit Möbeln, Betten, Bänken und Tischen, die anscheinend aus dem lebendigen Stein erwachsen waren. Chiamhs Vorhaben hatte dem Kavalleriemeister den Atem geraubt, so kühn hörte es sich an.

»Du kannst nicht auf die Hilfe der Xandim zählen«, hatte das Windauge gesagt und die Metflasche vage in Parrics Richtung geschwenkt. Seine großen, kurzsichtigen Augen hatten schon ein wenig geblinzelt, so betrunken war er. »Meine Leute sind zwar wild und schnell bei der Hand, wenn es darum geht, sich gegen die Khazalimräuber zu verteidigen, aber selbst einen Angriff zu starten hat nie zu unserer Philosophie gehört.« Parric fing die Flasche mit lange geübter Geschicklichkeit auf und nahm einen tiefen Zug, während Chiamh fortfuhr: »Aus meiner Vision, von der ich dir erzählt habe, weiß ich, daß deine Freunde, die hellen Mächte, Hilfe brauchen. Es gibt nur einen Weg, um die Xandim zu zwingen, für dich zu kämpfen, und das bedeutet, daß du selbst ihr Führer werden mußt.«

»Was?« Parric verschluckte sich an seinem Getränk und hustete. Blaue Flammen schossen in die Höhe, als ein paar Tropfen Met ins Feuer gelangten. Chiamh schlug ihm hilfsbereit auf den Rücken.

»Wenn der Mond dunkel ist, mußt du den Rudelfürsten zum Kampf um die Führung herausfordern. So will es die Sitte unseres Stammes«, sagte er. »Es wird natürlich einige Schwierigkeiten geben, denn du bist schließlich ein Fremdländer und nicht so geartet wie wir, aber unser Gesetz sagt, daß jeder die Herausforderung aussprechen darf und daß der Gewinner als Führer akzeptiert werden muß, zumindest bis zum nächsten Dunkelwerden des Mondes, wenn eine neue Herausforderung ausgesprochen werden darf. Bis dahin jedoch ist sein Wort Gesetz.«

»Aber Chiamh«. hatte Parric protestiert, »ich wage zu sagen, daß ich kämpfen kann wie nur irgend jemand, aber was ist, wenn …«

»Ja, ich weiß. Phalias hat den Vorteil, Pferdegestalt annehmen zu können, aber wenn du ein Reitersmann bist, wie du sagst …« Chiamh schauderte bei dem Wort, »dann wirst du ihm gegenüber ebenfalls einen Vorteil haben. Verstehst du, unsere Tradition verlangt, daß die Herausforderung in Pferdegestalt ausgetragen werden muß. Wenn du es also schaffst, auf den Rücken des Rudelfürsten zu kommen, und ihm deinen Willen aufzwingen kannst, dann gehört die Führung dir.«

Parric runzelte die Stirn. »Es ist also kein Kampf auf Leben und Tod.«

Das Windauge schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt, aber in deinem Falle wird es so sein. Da du ein Fremdländer bist, wird der Rudelfürst mit Sicherheit versuchen, dich zu töten. Sei also gewarnt. Aber um die Führung zu gewinnen, wird es nicht notwendig sein, Phalias zu töten; du brauchst ihn nur dazu zu zwingen, sich dir zu unterwerfen.«

»Na wunderbar.« Parric seufzte. Das ist das verrückteste, was ich je gehört habe, dachte er bei sich. Morgen früh ist der junge Narr bestimmt wieder nüchtern und hat alles vergessen …

Aber Chiamh hatte nichts dergleichen getan.

Der Anblick von Chiamh und Sangra, die durch den Schnee auf ihn zukamen, riß den Kavalleriemeister aus seinen trunkenen Erinnerungen. Das Windauge sah so wohlgelaunt aus wie eh und je, aber die Kriegerin hatte diesen gewissen harten Blick in den Augen, den sie sich für Parric reservierte, seit er ernstlich angefangen hatte zu trinken. Verstand die Frau denn nicht, daß dieses endlose Warten einen Mann einfach zur Flasche treiben mußte? Fest entschlossen, trotzdem freundlich zu sein, sah Parric sie an. »Wie geht es Elewin?« erkundigte er sich.

Sangras Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher. »Sitzt im Bett, ißt Eintopf und beschwert sich bitter über die Unterkunft«, grinste sie. »Die Götter stehen uns bei, er ist wirklich ein zäher, alter Kerl! Wie Chiamh es geschafft hat, ihn vom Rande des Todes zurückzuholen, werde ich nie begreifen.«

Sie lächelte dem Windauge freundlich zu, und Chiamh erwiderte durch die ihm ins Gesicht hängenden Fransen seines Haares ihr Grinsen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Parric zuwandte. »Komm.« Mit unerwarteter Festigkeit riß er dem Kavalleriemeister die Flasche aus der Hand. »Es ist langsam Zeit, nüchtern zu werden, mein Freund. Bis zum Dunkelwerden des Mondes sind es nur noch drei Tage.«


Meiriel, die zitternd in ihrem Versteck zwischen den zerklüfteten Felsen am Eingang des Tals kauerte, war eingedöst und wurde von dem Freudengeheul des Kavalleriemeisters jäh aus dem Schlaf gerissen. Fauchend wie ein wildes Tier und unter wüstesten Flüchen spähte sie hinaus, um zu sehen, was passiert war. Angeekelt setzte sie ihre Flüche fort. Nichts. Wie gewöhnlich. Die drei, Parric, das Kriegermädchen und der kleine Xandimmann standen dicht zusammengedrängt da, fuchtelten mit den Armen in der Luft und unterhielten sich aufgeregt. Reden, reden, reden, das war alles, was sie jemals taten. Diese Narren! Meiriel spuckte auf die frostüberzogenen Felsen. Welchen Sinn hatte es schon, daß sie diesen nutzlosen Sterblichen den ganzen Weg über diesen verfluchten Berg gefolgt war, wenn sie doch nichts unternahmen. Sie brauchte sie, weil sie sie zu Aurian führen konnten und zu Miathans abscheulichem Ungeheuer, das in ihrem Bauch hockte …

Die Heilerin erhob sich und blinzelte. Bei allen Göttern, es war schon fast Abend. Was war nur geschehen? Ihre Glieder waren steif geworden vor Kälte, und der niedergetrampelte Schnee unterhalb ihres Verstecks war leer. Eine Woge der Panik ließ ihr die Wärme zurück in die Adern schießen. Hatte sie sie verloren? Waren sie ohne sie weggegangen? Aber nein. Im Eingang des Turms, den der Xandim bewohnte, konnte sie das kurze, goldene Aufflackern von Fackellicht sehen, das sich auf dem Schnee widerspiegelte. Meiriel wurde beinahe schwindlig vor Erleichterung. Wie gewöhnlich hatten sie auch heute nichts getan. Aber diesmal konnte es ihr nur recht sein.

Auf Händen und Knien kroch sie ein ganzes Stück weg, so daß sie nicht mehr zu sehen war. Dann zog sie sich wieder in ihr eigenes, freudloses Heim unter den zerklüfteten Felsen zurück. Da der Xandim die Angewohnheit hatte, seine Vorräte in Verstecken zu vergraben, damit die gefrorene Erde sie frisch halten konnte, hatte sie genug Nahrung und Pelze gefunden, um überleben zu können. Sie würde warten, dachte sie bei sich, auch wenn diese elenden Sterblichen ewig brauchen sollten. Früher oder später würden sie aufbrechen, um nach Aurian zu suchen, und wenn sie das taten, würde sie, Meiriel, sich an ihre Fersen heften. Irgend jemand mußte einfach tun, was zu tun unvermeidlich war. In der tiefen Dunkelheit ihrer Höhle kaute Meiriel an einer Scheibe rohen Fleisches und lächelte. Morgen würde es immer noch früh genug sein, um wieder Ausschau zu halten.


»Also, was machen wir jetzt?« Parric wußte, daß er nur deshalb viel redete, weil er damit seine Nervosität überspielen wollte, und er verachtete sich dafür, aber er konnte es nicht ändern. Das Lied des Windes heulte wie eine gequälte Seele über die düstere Weite des Windschleierplateaus; die knisternden Flammenzungen der Lagerfeuer schienen nach ihm greifen zu wollen; die Feindseligkeit der Xandim, die ihn umgab, war eine fast greifbare Wand aus Haß und Zorn, die sich mit der dunklen, wachsamen Gegenwart des stehenden Steins verband, der über ihm aufragte. Parric hatte nicht besonders viel Phantasie, aber an diesem Ort bekam er augenblicklich eine Gänsehaut. »Wir halten Wache«, erwiderte Chiamh auf die Frage, von der der Kavalleriemeister bereits vergessen hatte, daß er sie überhaupt gestellt hatte. »Sieh zu, daß du alle deine Fragen jetzt stellst, Parric, denn sobald die Sonne hinter der Schulter des Windschleiers verschwindet, muß bis zur Morgendämmerung Schweigen bewahrt werden, oder die Herausforderung ist ungültig. Und wenn die Dämmerung kommt, kämpfst du.«

Parric fröstelte. »Woher wirst du es wissen, wann die Sonne untergeht?« fragte er. »Du kannst sie hinter den Wolken doch gar nicht sehen.«

Das Windauge zuckte mit den Schultern. »Wir sind die Xandim; wir wissen es einfach«, erwiderte er.

Parric schnaubte. »Lauter Blödsinn, wenn du mich fragst«, murmelte er leise. Elewin hatte ihn jedoch gehört und kicherte. Der alte Haushofmeister hatte, trotz Sangras Protest, darauf bestanden, herzukommen, und saß nun, ein formloses Bündel in dicken Pelzschichten, ganz nahe beim Feuer. Zweifellos, überlegte Parric, war Elewin ein wenig benommen von der Medizin, mit der Chiamh ihn vollgestopft hatte, damit er mit seinem Husten nicht das Schweigen der Wache durchbrach. Törichter, alter Trottel, dachte der Kavalleriemeister. Ich hätte nie zulassen dürfen, daß er mitkommt. Wenn er uns mit seinem Niesen jetzt alles vermasselt …

Noch bevor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, schämte er sich. Parric wußte, daß seine Nervosität ihn reizbar machte, aber er konnte nicht dagegen angehen. Das war nicht die Art, wie er normalerweise eine Nacht vor dem Kampf verbringen würde: kein Schlaf, kein Essen, keine Unterhaltung und nichts zu trinken. Er dachte zurück an die guten, alten Tage, in denen er, Maja und Forral vor einer Schlacht eine Taverne aufgesucht hatten oder mit einem geteilten Weinschlauch um ein Lagerfeuer wie dieses hier gesessen hatten – an dieser Stelle mußte er sich lächelnd verbessern. Ein Weinschlauch war natürlich nie genug gewesen. Parric seufzte bei der Erinnerung an seinen Kommandanten. O Forral, dachte er. Wo immer du bist, wo immer die Krieger hingehen mögen, wenn sie sterben. Ich hoffe, daß du heute abend zusiehst. Hilf mir morgen, wenn du kannst, denn ich werde alle Hilfe brauchen, die ich bekommen kann, und ich tue das hier für Aurian …

Der helle Klang eines Horns hallte über das Plateau. Das Windauge warf einen Blick auf den Himmel, stieß Parric in die Seite und legte einen Finger auf seine Lippen, um ihm zu bedeuten, daß die Schweigewache begonnen hatte. Der Kavalleriemeister seufzte und versuchte, seine Gedanken auf erfreulichere Themen zu lenken. Soweit war alles wie geplant verlaufen. Gestern war das Windauge hierhergekommen, um dem Rudelfürsten seine Herausforderung zu überbringen, eine Herausforderung, die der Rudelfürst, wie es das Gesetz verlangte, angenommen hatte.

»Es war keine leichte Entscheidung«, hatte Chiamh bei seiner Rückkehr berichtet. »Noch nie zuvor hat ein Fremdländer den Rudelfürsten herausgefordert, und die Leute waren außer sich vor Zorn. Hätte Phalias sein Volk nicht dazu gebracht, die Sache eher mit Hohn als mit Protest zu betrachten, hätte ich noch von Glück sagen können, wenn ich mit dem Leben davongekommen wäre. Die Leute nennen mich bereits Chiamh, den Verräter.« Nach diesen Worten hatte er traurig den Kopf geschüttelt. Parric hatte ihn nur kurz angesehen und bei sich gedacht, daß das Windauge von Glück sagen konnte, überhaupt entkommen zu sein. Bei seiner Rückkehr hatte er am ganzen Körper blaue Flecken und Wunden von den Steinen gehabt, die man ihm hinterhergeworfen hatte. Außerdem war er von Kopf bis Fuß voller Pferdemist gewesen; einer seiner früheren Kameraden hatte einen ganzen Kübel davon über ihn ergossen. Sangra wäre bei seinem Anblick vor Empörung und Wut beinahe in Tränen ausgebrochen – eine Wut, die übrigens nicht heftiger war als die, die Parric selbst empfand.

Chiamh hatte jedoch aus der Festung auch eine Nachricht mitgebracht, die Parrics Herz ein wenig leichter machte. Stolpernd und taumelnd und lange nach Einbruch der Dunkelheit kehrte er ins Tal zurück, auf der Schulter ein langes, in Leder eingewickeltes Bündel. Während Sangra noch immer laut über seinen geschundenen und stinkenden Zustand lamentierte, hatte er seine Last in Parrics Arme gelegt.

»Ich wünschte, ich hätte deine eigenen Waffen finden können«, entschuldigte sich das Windauge, »aber die waren einfach zu gut bewacht. Trotzdem wirst du auf diese Weise wenigstens nicht mit bloßen Händen gegen den Rudelfürsten kämpfen müssen.«

Als der Kavalleriemeister das Bündel ausgepackt hatte, kamen darin zwei Schwerter zum Vorschein, eins für Sangra und eins für sich selbst. Sie waren natürlich nichts im Vergleich zu seiner eigenen, verlorenen Klinge, denn die eher ländlich gearteten Xandim waren keine besonders guten Schmiede. Dennoch war er froh, wenigstens diese scharfe, lange, wenn auch schlecht geschmiedete Eisenklinge zwischen sich und den Hufen und Zähnen des Rudelfürsten zu haben. Wenn die Xandim doch nur die Messer nicht gefunden hätten, die er versteckt hatte – aber vielleicht würde er ja auch so zurechtkommen. Grinsend drehte Parric sich zu dem Windauge um und sagte: »Hast du zufällig einen Schleifstein und irgendwelche Klingen, die ich zu Wurfmessern machen könnte?«

Ein unangenehmes Kribbeln zwischen den Schulterblättern, als wäre er das Ziel vieler unfreundlicher Blick, holte den Kavalleriemeister mit einem Ruck wieder zurück in die Gegenwart. Er blickte zu dem anderen Stein hinüber, wo Phalias und seine Kameraden ihre Wache hielten. Im Widerschein des Feuers fing er den Blick des Rudelfürsten auf und machte ein finsteres Gesicht. Phalias hielt seinem Blick stand; seine eigenen Augen glitzerten vor Wut – und schon jetzt, so sah es aus, hatte der Kampf begonnen.


Der metallische Ruf eines Horns durchschnitt die dichte Wand des Nebels wie ein Sonnenstrahl, aber das war auch der einzige Hinweis darauf, daß der Morgen dämmerte. Parric streckte seine steifen Glieder und rieb sich seine verschlafenen Augen. Bei den Eiern des Chathak, dachte er, das war die längste Nacht meines Lebens. Bis dieser dichte Nebel das Lager seines Gegners eingehüllt hatte, hatte der Kavalleriemeister die Nacht damit zugebracht, Phalias mit durchbohrenden Blicken anzustarren. Das Ganze war überhaupt zu einem Wettkampf der Blicke ausgeartet, und bisher konnte man nicht sagen, daß einer dem anderen in irgendeiner Hinsicht unterlegen gewesen wäre. Chiamh reichte ihm einen Wasserschlauch, und er nahm einen kleinen Schluck davon – das war das einzige, was er vor dem Kampf zu sich nehmen durfte, aber das Windauge hatte ihm erzählt, daß unten in der Festung bereits ein Siegesmahl vorbereitet wurde. Nun, dachte Parric, ich habe die Absicht, das Mahl zu genießen. Mit neuem Mut, den ihm dieser Gedanken gegeben hatte, goß er sich den Rest des Wassers aus dem Schlauch über seinen langsam kahl werdenden Kopf und hoffte, auf diese Weise ein wenig frischer zu werden. Dann wischte er sich das Gesicht mit dem Umhang ab. Chiamh stieß ihn an. »Es ist Zeit zu beginnen«, flüsterte er.

Parric war verwirrt. Er hatte eine Rede erwartet oder irgendeine Art von Ritual. »Was muß ich tun?« fragte er.

»Geh hinaus auf das Plateau. Wenn das Horn erklingt, wird der Kampf beginnen. Sei also bereit.«

»Was? Das Horn erklingt, und ich kämpfe gegen ihn? Ist das alles? Sollte nicht irgend jemand irgend etwas sagen?«

Chiamh grinste. »Das habe ich bereits gestern für dich erledigt. Heute kämpfst du nur. Aber jetzt beeil dich – und möge das Schicksal dir gnädig gesinnt sein.«

Parric, der den Nebel aus ganzem Herzen verfluchte, war gerade ein Dutzend Schritte gegangen, als der harte Klang des Horns abermals an sein Ohr drang. »Verdammt noch mal!« Der Kavalleriemeister griff mit verzweifelter Hast nach seinem Schwert, aber noch bevor das Horn ganz verklungen war, hörte er auch schon das Trommeln von Hufen auf feuchtem Boden, und eine gewaltige, schwarze Gestalt schoß aus dem Nebel zu seiner Rechten.

Die Gestalt war über ihm, bevor er sein Schwert ganz aus der Scheide ziehen konnte. Parric sah gerade noch das Aufblitzen weiß umrandeter Augen, bevor er sich duckte und zur Seite rollte, wobei er jeden Augenblick damit rechnete, von den stampfenden Hufen zerquetscht zu werden. Er hörte das harsche Geräusch zerreißenden Stoffs und fühlte sie einen heißen Schmerz in der Schulter, dort, wo die großen, flachen Zähne ein Stück aus seinem Fleisch herausgerissen hatten. Etwas grub sich in seine Seite – großer Chathak, er war auf sein Schwert gerollt – und wo, um alles in der Welt, war dieses Dämonenpferd jetzt?

Parric rollte sich noch ein Stück weiter weg, sprang dann auf die Füße und erhob sich auf seltsam zitternde Knie. Sein Widersacher war abermals im Nebel verschwunden; er spielt Katz und Maus mit mir, dachte Parric verbittert – und er war eindeutig im Vorteil. Parric konnte das Pferd nicht sehen, aber mit seinen schärferen Sinnen konnte es ihn hören – und das Blut riechen, das ihm aus dem Biß in seiner Schulter über den Arm strömte. Der Kavalleriemeister gestattete sich ein verdrossenes Kichern. Sein Feind war von rechts auf ihn zugestürmt, um seinen Schwertarm zu verletzen, aber das Geschöpf hatte nicht bemerkt, daß Parric Linkshänder war. Ohne einen Augenblick zu verlieren, streckte er die Hand aus, um sein Schwert zu ziehen, und sein Blut erstarrte zu Eis. Als er vorhin mit seinem ganzen Gewicht darüber hinweggerollt war, hatte sich die schlecht geschmiedete Klinge verbogen, und nun klemmte das verdammte Ding in seiner Scheide!

Ihm blieb jedoch keine Zeit mehr zum Nachdenken, da neue Hufschläge durch den Nebel zu ihm hinüberdrangen. Das Geräusch war trügerisch – er hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung es kam. Parric konnte gerade noch zur Seite springen, als der schwarze Hengst an ihm vorbeistürmte und mit seinen Hufen dicke Klumpen Erde aufwirbelte. Einer dieser Hufe traf ihn am Knie, und der Kavalleriemeister stieß einen lautstarken Fluch aus, aber noch während er sprach, griff Parric nach einem Messer, das er in seinem Ärmel gehabt hatte, und schleuderte es mit einer einzigen, schnellen Bewegung der Gestalt nach, die bereits wieder im Nebel verschwand. Ein Schrei sagte ihm, daß er sein Ziel getroffen hafte, und ein Grinsen huschte über Parrics Gesicht. Die Stunden, die er damit zugebracht hatte, die Klingen mit Chiamhs Schleifstein wieder in Form zu bringen, waren nicht verschwendet gewesen. »Ein Punkt für mich!« murmelte er triumphierend.

Bevor das Tier zurückkehren konnte, griff Parric nach unten und zog ein weiteres Messer aus seinem Stiefel. Die Tatsache, daß er seinen Feind verwundet hatte, gab ihm neuen Mut, und wie so oft überwältigte ihn das Fieber des Kampfes; es sang in seinen Venen, lockerte seine Muskeln und schärfte seine Sinne. Sein verwundetes und schnell anschwellendes Knie bemerkte er gar nicht mehr, ebensowenig wie den Schmerz in seiner zerbissenen Schulter, von der das Blut tropfte. Mit dem Messer in der Hand stand der Kavalleriemeister aufrecht da, spähte angestrengt in das undurchdringliche, graue Nichts und wartete auf den nächsten Ansturm seines Feindes.

»O ihr Götter, was ist denn jetzt los?« Sangra zog Chiamh am Ärmel. Geistesabwesend schob das Windauge ihre Hand weg und hielt sie fest.

»Ich kann nicht mehr sehen als du«, sagte er zu ihr, »aber ich könnte mir vorstellen, daß der Rudelfürst den Nebel benutzt, um seine Angriffe zu tarnen. Nach diesem Schrei zu urteilen, schätze ich, daß Parric ihn zumindest verwundet hat; aber ob unser Freund ebenfalls verletzt ist …«Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?«

Sangra stieß einen abscheulichen Fluch aus und machte sich daran, mit ihrer freien Hand ihr Schwert aus der Scheide zu ziehen. »Ich hasse dieses Gefühl von Hilflosigkeit«, murmelte sie. »Wenn wir doch nur etwas sehen könnten.«

»Selbst wenn wir das könnten, könnten wir nichts tun«, erinnerte Chiamh sie, »aber ich würde mich auch besser fühlen, wenn ich wüßte, was da vorgeht. Außerdem benutzt Phalias diesen Nebel zu seinem eigenen Vorteil …« Seine Worte gingen in einem neuerlichen Dröhnen von Hufen unter, und Sangra, die nach wie vor neben dem Windauge stand, verkrampfte sich heftig; ihre starken, schwieligen Kriegerfinger brachen Chiamh beinahe die Hand. Dann stockten die Hufschläge, und das Geräusch eines heftigen Aufpralls drang unverkennbar durch den Nebel. Eine Männerstimme schrie vor Schmerz auf, und unmittelbar auf den Schrei folgte ein zorniges, gequältes Wiehern des Hengstes. Sangra erhob sich taumelnd auf die Füße und riß Chiamh mit sich. Vom Lager des Rudelfürsten neben dem anderen stehenden Stein war plötzlich das Klirren gezückter Schwerter zu hören, da die schattenhaften Gestalten seiner Kameraden bei Sangras abrupter Bewegung aufgesprungen waren.

»Setz dich!« zischte Chiamh und zog die verzweifelte Kriegerin wieder neben sich auf den Boden.

»Verflucht sei dieser widerwärtige Nebel«, murmelte Sangra. Dann wandte sie sich mit weit aufgerissenen, bittenden Augen an das Windauge. »Chiamh, du machst doch immer so eine merkwürdige Magie mit dem Wind, nicht wahr? Kannst du das verflixte Zeug nicht wegblasen?«

Das Windauge war so schockiert, als hätte sie ihn mit einem Streich geschlagen. »Ich?« ächzte er. »Sangra, du verstehst das nicht. Ich kann mit dem Wind arbeiten, aber ich kann den Wind nicht dazu bringen, für mich zu arbeiten!«

»Da hast du recht, ich verstehe es wirklich nicht.« Sangra funkelte ihn wütend an. »Aber bei Chathaks Reithosen, Chiamh, kannst du es nicht wenigstens versuchen?«

Und wieder hörte das Windauge den Klang von Hufen, die jetzt jedoch einen erschöpfteren, taumelnden Rhythmus angenommen hatten. Durch den Nebel hörte man nun auch das Geräusch von Parrics Atmen; einzelne, keuchende Stöße, die aus den Tiefen seiner Kehle kamen, als litte der Krieger Schmerzen, als stehe er am Rande des Zusammenbruchs. Der Rudelfürst war verletzt, dachte Chiamh, aber Parric ebenfalls. Phalias umkreist ihn, wartet ab, bis seine Zeit kommt … O gesegnete Iriana, hilf mir! … Hilf mir, Wind aufzutreiben! …

Ohne eine Brise, und sei sie auch noch so klein, konnte Chiamh nichts tun, konnte er nicht einmal seine Andersicht herbeirufen. Er schloß die Augen und versuchte, alle übrigen Sinne zu aktivieren. Die feuchte, dunstige Luft widersetzte sich ihm; dicht und eiskalt, schwer und tot. Er benutzt seinen Geist und zog mit aller Kraft. Es war so, als versuche er, den Windschleierberg zu sich heranzuziehen. Chiamh spürte, wie sein Herz zu rasen begann, merkte, wie er vor Erschöpfung zitterte. Schweiß rann ihm über das Gesicht und tropfte kribbelnd über seine Rippen. O Iriana, dachte er, Göttin, hilf mir! Ich brauche ein Wunder.

Und die Göttin erhörte ihn.

Er vernahm den leisesten aller denkbaren Seufzer wie eine ferne Frauenstimme, die seinen Namen flüsterte. Chiamh spürte die sanfte Berührung einer Brise wie kühle Finger, die sich auf seine Wange legten. Sein Herz machte einen Satz wie ein Flußlachs im Frühjahr. Mehr, er brauchte mehr … Mit aller Kraft zog das Windauge … Und öffnete die Augen, um gleich darauf festzustellen, daß der Nebel sich auflöste, sich vor seinen Augen in verschlungenen Bahnen hob.

»Chiamh, du hast es geschafft!« Dann war da der süße, feste Druck des Mundes auf seinem eigenen, als Sangra ihn küßte, und einen Augenblick lang vergaß Chiamh sogar den Kampf, der vor seinen Augen im Gange war.


Parric schüttelte den Kopf und blinzelte. Der Nebel löst sich auf? dachte er. Aber gewiß … ja, bei allen Göttern, er tat es wirklich. Der stärker werdende Wind kühlte den Schweiß auf seinem geschundenen, erschöpften Leib, und mit dem Verschwinden des undurchdringlichen Nebels faßte der Kavalleriemeister neuen Mut. Sein Gegner mußte nun langsam ebenfalls müde werden, und bei seinem letzten Angriff hatte Parric ihn verletzt, so daß er nun lahmte.

Der Hengst war aus dem Nebel hervorgestürzt, und Parric lag unter seinen Füßen, bevor er auch nur die Chance gehabt hätte zu blinzeln. Das Pferd bäumte sich über ihm auf, offensichtlich um seinen Schädel mit diesen kolossalen Hufen zu zerschmettern – doch statt dessen spürte es nun Parrics Messer, das die Innenseite seiner Vorderhand aufschlitzte und sich anschließend auf seinen ungeschützten Bauch richtete. Das Pferd schrie auf und riß seinen Leib zur Seite, wobei es die Rippen des Kavalleriemeisters mit einem heftigen Tritt streifte und ihn mit dem Blut des verletzten Beins bespritzte. Der Hengst war jedoch nicht kampfunfähig, wie Parric gehofft hatte, denn sein Schlag war irgendwie fehlgeschlagen, so daß das Tier lediglich stark humpelte.

Von diesem Augenblick an behandelte der Rudelfürst ihn mit größerem Respekt. Eine Weile hatten sie sich noch in dem undurchdringlichen Nebel umkreist, aber jetzt … Ganz in seiner Nähe sah er die riesige Gestalt des schwarzen Hengstes, sein Kopf hing herab, und die Flanken zitterten, während er aus seinen schnaubenden, roten Nüstern Dampfwolken ausstieß und ihn mit zornigen, weißumrandeten Augen anstarrte.

Parric keuchte. Zum ersten Mal konnte er seinen Feind deutlich sehen, und einen Augenblick lang vergaß er, daß dies kein richtiges Tier war, sondern eins, das menschliche Gestalt annehmen konnte. Als Pferd war es die prachtvollste Kreatur, die er je gesehen hatte. Der Kavalleriemeister blickte voller Ehrfurcht auf die anmutigen, kraftvollen Gliedmaßen, den fein gemeißelten Kopf mit seinen wilden, dunklen, intelligenten Augen, die gewaltige, elegante Wölbung des großen, geschwungenen Halses, das flüssige Spiel fein geschnittener Muskeln unter dem mitternachtsschwarzen Fell, das jetzt von Schweiß und Blut glanzlos geworden war, vor allem dort, wo Parrics erstes Messer sich in die kräftigen Muskeln der Schenkel gebohrt hatte.

Dank sei den Göttern, daß es mir nicht gelungen ist, ihn ernstlich zu verletzten! Ein solches Geschöpf zu töten … Parric, der durch und durch ein Reitersmann war, spürte, wie sein Herz in einer alles verschlingenden Woge von Sehnsucht und Freude schmolz – bis dieses prachtvolle Geschöpf sich zu einem letzten, verzweifelten Versuch aufraffte, seine großen, weißen Zähne bleckte und auf ihn zustürmte.

Parric hatte etwas in der Art erwartet und ließ sich nun ganz von seinen Instinkten leiten. Als das Pferd auf ihn zuschoß, machte er schnell einen Schritt zur Seite, wobei er den mahlenden Schmerz in seinem verletzten Knie mißachtete. Dann griff er dem Hengst, als er an ihm vorbeistürmte, in die Mähne und sprang auf. Es war kein sauberer Sprung. Das verrenkte Knie gab unter ihm nach, und der Kavalleriemeister hing seitlich an dem Pferd, sein einziger Halt eine Handvoll seiner Mähne, ein Bein halb über dem Rücken des Pferdes, während er mit dem anderen wild um sich schlug und verzweifelt versuchte, sich auf das Tier hinaufzuziehen. Sekunden wurden zu Ewigkeiten, während Parric seine Muskeln anspannte, bis seine Arme vor Schmerzen aufzuschreien schienen, und dann, während er sich immer noch an den sich aufbäumenden Rücken des Tieres klammerte, zog er sich Zentimeter um Zentimeter hinauf. Endlich hatte er es geschafft; und gerade rechtzeitig fand er sein Gleichgewicht wieder, bevor das Pferd mit ihm durchging.

Der kraftvolle Leib flog in einer Reihe heftiger Bocksprünge, die jeden einzelnen Knochen von Parrics Rückgrat durchschüttelten und ihm die Zähne aus dem Kopf zu reißen schienen, über das Plateau. Seine Hände tief in der langen, dahinfliegenden Mähne vergraben, schlang er seine drahtigen Beine um die Rippen des Pferdes.

Das Tier bäumte sich auf und schrie seinen Zorn hinaus, aber Parric ließ sich nicht abwerfen. Es versuchte zu galoppieren und unternahm trotz seiner Verletzungen unglaubliche Anstrengungen. Der Kavalleriemeister biß seine schmerzenden Zähne zusammen und konzentrierte sich ganz darauf, im Sattel zu bleiben. Aus den Augenwinkeln erhaschte er verschwommene, schwindelerregende Blicke auf das Plateau, auf die Berge – und auf die vielen hundert Xandim, die gekommen waren, um die Herausforderung zu beobachten.

Die Götter mögen mir beistehen, dachte Parric ungläubig; wie schnell würde dieses Pferd in unverletztem Zustand sein? Noch nie in seinem Leben hatte er ein solches Tier geritten. Obwohl die abrupten, ungleichmäßigen Schritte des Hengstes seine eigenen Wunden noch weiter aufrissen, spürte der Kavalleriemeister die Schmerzen überhaupt nicht. Er stieß in seiner Begeisterung einen lauten Freudenschrei aus. »Vater der Götter! Was für ein Ritt!«

Aber der Hengst wurde schnell müde. Seine Schritte verlangsamten sich, und seine Flanken hoben und senkten sich, während er schnaubend nach Luft rang. Endlich blieb er nach einer Reihe steifbeiniger, ruckartiger letzter Schritte stehen. Mit sinkendem Mut spannte Parric jeden Muskel seines Körpers an, als das Pferd den Kopf senkte und mit wild kreisenden Hinterbeinen zur Seite rollte. Der Kavalleriemeister brachte sich mit einem unbeholfenen Sprung in Sicherheit, damit er nicht unter dem Tier zu liegen kam. Schwerfällig landete er auf dem Boden und spürte, wie sein verletztes Knie mit einem qualvollen Knirschen unter ihm nachgab. Verflucht! Dann ließ er sich hastig zur Seite rollen, aus der Gefahrenzone heraus, aber als er es endlich geschafft hatte, sich aufzurichten, war offensichtlich, daß sein Gegner sich endgültig verausgabt hatte.

Parrics Kehle war wie zugeschnürt, während er die mitleiderregenden Versuche des Tieres beobachtete, sich aufzurichten. »O verflucht«, murmelte er. »Das habe ich nicht gewollt!« Aber ein häßliches Zornesmurmeln der beobachtenden Menge lenkte Parrics Aufmerksamkeit von dem sich abmühenden Tier weg. Der Kavalleriemeister fluchte und versuchte noch einmal, sein Schwert frei zu bekommen, aber es hatte keinen Sinn. Die elende Klinge saß gründlich fest. Dann durchbrach eine verzweifelt wirkende Gestalt die unruhige, wogende Menge und stürzte über das Gras auf ihn zu. Hinter dem Windauge gerieten die Xandim plötzlich in Bewegung und rannten nun mit gezückten Waffen ebenfalls auf ihn zu.

Sehr zu Parrics Überraschung ignorierte Chiamh ihn vollkommen. Statt dessen blieb das Windauge keuchend vor dem besiegten Rudelfürsten stehen und hob seine Hände, um eine Reihe verschlungener, fließender Bewegungen auszuführen, die er mit einem seltsamen Singsang in der anmutig schwingenden Sprache der Xandim begleitete. Es war so, als wären die anstürmenden Leute gegen eine unsichtbare Schranke gelaufen. Wie ein Mann blieben sie urplötzlich stehen, und ihre Gesichter zeigten nichts als entsetzten Unglauben.

Parric sah noch einmal zu dem Windauge hin, und sein Magen krampfte sich zusammen. Chiamhs Augen hatten sich furchtbar verändert und zeigten jetzt statt ihres gewohnten, sanften Brauns ein hartes, helles, quecksilberfarbenes Leuchten, das seinem normalen, leeren Gesichtsausdruck einen Anflug dämonischer und unirdischer Unerbittlichkeit gab. Parric schauderte. Was, um alles in der Welt, ging da vor?

Endlich verstummte der grauenerregende Singsang des Windauges. Tränen strömten ihm über das Gesicht, und er sah aus, als wäre er um hundert Jahre gealtert. Als er sich, vollkommen in sich zusammengesunken vor Erschöpfung, wieder zu dem Kavalleriemeister umdrehte, war Parric erleichtert zu sehen, daß das Silber aus seinen Augen wegzufließen schien, bis sie wieder ihre gewohnte, beruhigende Farbe hatten. Mit seinen gebrochenen Rippen, die sich bei jedem Atemzug in ihn hineinbohrten, und seinem verletzten, langsam steif werdenden Knie, das höllisch weh tat, hätte Parric nicht weglaufen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Und er wollte es auch nicht, wie er sich selbst entschlossen in Erinnerung rief. Das Windauge griff nach seiner rechten Hand – Parric konnte nur mit Mühe verhindern, bei seiner Berührung zusammenzuzucken – und riß sie schwungvoll in die Höhe.

»Hör mich an, mein Volk!« rief das Windauge. »Heute wurde eine Herausforderung ausgesprochen und angenommen, wie es unser uraltes Gesetz verlangt. Ich gebe euch, o Xandim, Parric – unseren neuen Rudelfürsten!«

Pfiffe und Flüche kamen von der Menge, und Chiamh blinzelte ängstlich. »Ruhe!« schrie er und vergaß die starre Würde seiner Ansprache vollkommen. Zu Parrics Erstaunen verstummte das lautstarke Tosen der Menge auf der Stelle. »Ihr alle habt gesehen, was ich gerade getan habe«, fuhr das Windauge fort. »Ich habe die Worte gesprochen, die Phalias in seiner Pferdegestalt festhalten werden, so lange, bis der Zauber wieder aufgehoben wird. Ich bedauere, daß ich das tun mußte, aber das war meine einzige Möglichkeit, mich, den neuen Rudelfürsten und seine Kameraden vor eurem Zorn zu retten. Bisher habe ich keinen Erben für meine Kräfte …« Er errötete verlegen. »Daher bin ich also der einzige, der Phalias wieder in Menschengestalt zurückverwandeln kann, was ich auch tun werde, das verspreche ich …, irgendwann. In der Zwischenzeit werden die, die sich gegen den neuen Rudelfürsten stellen, das Schicksal des alten teilen.«

Wieder erhob sich unruhiges Murmeln in der Menge, aber jetzt hatte er sie dort, wo er sie haben wollte. Diesmal mußte Chiamh nur die Hand heben, und die Xandim schwiegen gehorsam. Parric, der vor Schmerz, Hunger und Erschöpfung zitterte, wünschte sich von ganzem Herzen, daß das verflixte Windauge endlich den Mund hielt und ihn irgendwo hingehen ließ, wo er die Füße hochlegen konnte und einen großen, wohlverdienten Becher Wein bekam, während irgend jemand sich um seine Wunden kümmerte, aber selbst er konnte nicht umhin, gebannt zuzuhören.

»Mein Volk«, sagte Chiamh traurig, »ihr haltet mich für einen Verräter, weil ich auf der Seite der Fremdländer stehe. Aber so etwas würde ich niemals ohne guten Grund tun.« Er straffte sich, seine Augen blitzten, und sein langes, braunes Haar wehte in dem leichten Wind um seinen Kopf. »O Xandim, ihr müßt euch zum Kampf bereitmachen! Die Khazalim haben die Wüste durchquert und sich mit schwarzen Zauberern verbündet und mit unseren Feinden, den kriegerischen Geflügelten. Ich habe das in einer Vision gesehen, und ich schwöre euch, es ist die Wahrheit!«

Chiamhs nächste Worte gingen in einem wütenden Protestgebrüll unter, und wieder einmal mußte er sich lautstark Gehör verschaffen. »Wir sind kein kriegerisches Volk«, sagte er in die darauffolgende Stille hinein. »Obwohl wir uns, wenn nötig, mit aller Kraft verteidigen, verfügen wir doch nicht über das Organisationstalent und die Kriegskünste, die es dem Abschaum der Khazalim gestattet haben, uns in der Vergangenheit ungestraft zu überfallen. Aber diesmal wird es anders sein!«

Das Windauge wandte sich an Parric, der ihn verblüfft ansah. »Dieser Fremdländer kann uns führen, kann uns in Kampfkünsten unterweisen, die wir noch nicht kennen. Er suchte seine Kameraden, die von den Khazalim gefangengenommen worden sind, und er wird uns seine Hilfe gewähren, bis seine Freunde wieder frei sind und unser Land von unseren Widersachern gesäubert ist. Wenn das geschehen ist, verspricht er, auf die Rudelführerschaft zu verzichten und uns wieder in unserer früheren Abgeschiedenheit alleinzulassen. Ferner verspricht er, die Geheimnisse unseres Volkes für alle Zeit zu wahren. O Xandim – um unseres Landes und der Zukunft unserer Kinder willen, werdet ihr ihn anerkennen?«

Die tosende Zustimmung der Xandim hätte Partie beinahe zu Boden geworfen. »Chiamh, wenn man dich so reden hört … Alle Achtung«, sagte er dankbar zu dem jungen Mann.

Das Windauge zuckte bescheiden mit den Schultern. »Wer hätte das gedacht – ich jedenfalls zu allerletzt.«

Die Menge scharte sich um sie und beäugte Parric neugierig. Einige besonders kühne Xandim streckten die Hand aus, um seine fremdartige Kleidung zu berühren. Sangra, die die ganze Zeit über mit dem Rücken an dem stehenden Stein gelehnt und Elewin mit gezücktem Schwert verteidigt hatte, schob sich nun mit dem alten Haushofmeister im Schlepptau durch die wogende Menge. Ihr Gesicht glühte vor Erleichterung. »Gut gemacht, Chiamh!« Begeistert schlug sie ihm auf die Schulter.

Einige der Xandim hatten sich in einer Traube um den früheren Rudelfürsten geschart. Zu Parrics Erleichterung halfen sie dem erschöpften, verletzten Tier, sich zitternd wieder auf die Beine zu stellen. »Jetzt, da die Leute mich akzeptiert zu haben scheinen, wirst du da Phalias zurückverwandeln?« fragte er das Windauge.

Chiamh schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich«, sagte er ausdruckslos. »Vielleicht ist nicht jeder so überzeugt von dem, was ich gesagt habe, und solange Phalias in diesem Zustand ist, ist er ein Faustpfand für unsere Sicherheit, denn wenn er sprechen könnte, würde er sich dir gewiß widersetzen. Unser früherer Rudelfürst ist ein stolzer, hartnäckiger Bursche.« Eine Grimasse wie die Erinnerung an einen alten Schmerz überflog sein Gesicht, dann riß er sich zusammen, und seine Miene hellte sich wieder auf. »Wir werden noch Zeit genug haben, ihn wiederherzustellen, wenn wir getan haben, was wir uns vorgenommen haben, aber jetzt, o Rudelfürst, wartet ein Festmahl auf dich!«

»Den Göttern sei Dank dafür«, sagte Parric mit echtem Gefühl. Dann schnitt er plötzlich ein Gesicht. »Chiamh, ich muß doch wohl keine Rede halten oder so etwas?«

»Wo liegt da das Problem?« zog Sangra ihn auf. »Nach ein paar Weinschläuchen haben wir für gewöhnlich alle Mühe damit, dich wieder zum Schweigen zu bringen!«

Chiamh, dessen Lippen zuckten und ein Lächeln zu verbergen suchten, machte sich eilig daran, den entsetzten Kavalleriemeister zu beschwichtigen. »Keine Angst, Parric, ich denke, ich habe gesagt, was gesagt werden mußte.« Schließlich huschte doch noch ein Grinsen über sein Gesicht. »Was tätest du bloß ohne mich?«

»Ja, wirklich, was?« pflichtete Parric ihm bei. »Und morgen werde ich dich schon wieder brauchen, mein Freund, wenn wir uns zum Kampf rüsten!«


Meiriel sah von ihrem Versteck hinter den hohen Steinen zu, wie endlich der letzte der Xandim des Plateau verließ, um den neuen Rudelfürsten zu seinem Fest zu geleiten. »Rudelfürst, wahrhaftig!« schnaubte sie verächtlich, aber endlich tat dieser erbärmliche Sterbliche einmal etwas. Die Magusch lächelte. Wenn Parric vorhatte, die Xandim zu benutzen, um Aurian zu retten, hieß daß, daß er sie zu ihr bringen würde, zu ihr und dem Ungeheuer, das sie in ihrem Leib trug. »Vielen Dank, Parric«, summte sie leise vor sich hin, »du hast mir gerade einen langen, harten Marsch durch die Berge erspart. Und wenn du mit Aurian zurückkommst, werde ich hier sein.«

Загрузка...