6 Stahlklaue

Im Gegensatz zu der tiefen Finsternis, die in Chiamhs Tal des Todes herrschte, war das Plateau des Windschleiers ein Ort der Luft und des Lichtes. Seinem südlichen Ende zu war es von einer Reihe Felsen und Schluchten durchzogen; nach Norden hin fiel es sanft ab und ging in die dunklen, von Pinien gesäumten Hänge über, die bis in das grüne Hochland der Küstenebenen reichten. Das Plateau war ein sturmgepeitschter Thron zwischen Gebirge und Flachland, der weder zur Erde noch zum Himmel gehörte – ein offener Tempel, den die Göttin für die Betrachtung ihrer Welt geschaffen hatte. Für die Xandim war es der Ort, wo nach einer Herausforderung ein Zweikampf ausgefochten wurde, und die Stätte des Gerichtes. Nur hier auf dem luftigen Altar der Göttin, von dem aus man einen atemberaubenden Blick über ihre ganze Schöpfung hatte, konnte der Stamm über Angelegenheiten von Leben und Tod entscheiden. Jetzt, in der kühlen, dunklen Atmosphäre einer Winternacht, verströmte das schneebedeckte Plateau ein Gefühl von Ehrfurcht und Mysterium. Verborgen zwischen den finsteren Steinen, die das Tor des Todestales bewachten, stand eine Gestalt, die sich gegen den scharfen Sturmwind zu schützen versuchte. Es war ein Mann in mittleren Jahren und mit ernstem Gesicht, kahlköpfig bis auf einen silbernen Rest kurzen Haares am Hinterkopf. Sein Blick war stolz und kompromißlos wie der eines jagderfahrenen Falken. Er hatte sich für seine Jahre gut gehalten; sein Bauch war flach und sein Körper so muskulös, wie er es in seiner Jugend gewesen war, als er zum ersten Mal im Ritus der Herausforderung die Führung über sein Volk gewonnen hatte. Phalias war sein Name, und er war der Führer und Rudelfürst der Xandim.

Der Rudelfürst stand vollkommen reglos bei den heiligen Steinen und wartete auf die Gefangenen. Nur der fauchende Wind zerrte an seinem schweren Umhang. Seine neugierigen Gefolgsleute, die hergekommen waren, um die Verhandlung über die Fremdländer zu beobachten, hielten sich in respektvoller Entfernung. Die seltsame Atmosphäre dieses geheiligten Ortes erfüllte sie mit Ehrfurcht, und leise flüsternd standen sie in Gruppen um das riesige Feuer herum, dessen gewaltige Flammen vom Sturmwind zu Boden gedrückt wurden. Phalias sah die ruhelosen, dunklen Schatten ihrer wehenden Umhänge, die wie die Schwingen von Rabenvögeln wirkten, und das gelegentliche helle Aufleuchten dort, wo das unstete Licht des Feuers sich auf einem grob geschmiedeten Halsring oder Armband widerspiegelte oder auf den polierten Perlen aus Stein oder Knochen, die sie in ihre Zöpfe geflochten hatten.

Die Älteren standen für sich zusammen – Männer und Frauen, deren Alter sich in ihrer Weisheit zeigte und nicht unbedingt in ihren Jahren. Obwohl jeder von ihnen Phalias beraten konnte, lag das letzte Urteil doch bei ihm allein. Sie waren anwesend, weil Gesetz und Tradition es so erforderten, aber diesmal würde der Rudelfürst sie eigentlich nicht brauchen. Die Angelegenheit, die er zu entscheiden hatte, barg keine Zweifel: Fremden war der Zutritt zum Land der Xandim verwehrt, und die Strafe für Eindringlinge war der Tod. So einfach lagen die Dinge.

Phalias seufzte und zog seinen Umhang fester um seine Schultern, aber auch damit konnte er den eisigen Wind nicht fernhalten. Es war seine eigene Schuld, sagte er sich, daß er sich hier draußen halb zu Tode fror, statt in seinem warmen Bett in der Festung zu liegen und zu schlafen. Die Älteren hatten sich gegen diese Verhandlung ausgesprochen, da sie nur eine Zeitverschwendung war. Aber weil er darauf bestanden hatte, dem Gesetz Folge zu leisten, standen sie jetzt alle hier draußen. Obwohl er davon überzeugt war, daß die Traditionen zum Wohle des Stammes aufrechterhalten werden mußten, hatte Phalias nicht bedacht, daß diese Verhandlung schmerzhafte und unausweichliche Erinnerungen an das letzte Mal wecken würde, als er hier draußen gestanden und sein Urteil gesprochen hatte.

Das Gesicht von Iscalda, seiner früheren Verlobten, hatte sich in das Gedächtnis des Rudelfürsten eingebrannt. Bleich und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen hatte sie vor ihm gestanden, und ihr flachsblondes Haar, das unter den Xandim etwas sehr Ungewöhnliches und einst ihr ganzer Stolz gewesen war, hatte ihr in wirren Strähnen übers Gesicht gehangen, als sie ihm an diesem Ort entgegengetreten war. Ihr Gesicht war eine steinerne Maske des Trotzes gewesen, als sie den Mann zurückwies, der ihren geliebten Bruder zur Verbannung verurteilt hatte. Phalias stieß einen kleinen, ärgerlichen Laut aus, ein leises Knurren, das tief aus seiner Kehle kam, als er an den Mann dachte, der seine geliebte Iscalda ins Verderben gerissen hatte. Schiannath! dachte er. Wenn ich ihn doch nur getötet hätte, als ich die Gelegenheit dazu hatte!

Aber das Gesetz der Xandim bestimmte, daß nur Fremde hingerichtet werden durften. Die einzige Gelegenheit, bei der die Xandim einander töten konnten, war der Ritus der Herausforderung, in dem es um die Führung des Stammes ging – und Schiannath hatte sich diesem Kampf bereits unterzogen. Obwohl er verloren hatte, hatte er ihn überlebt, und dem Gesetz nach konnte die Herausforderung nicht wiederholt werden. Schiannath hatte seine Niederlage jedoch nicht mit Würde hingenommen. Er war ein stets Unzufriedener, ein Störenfried, und hatte versucht, die Autorität des Rudelführers in jeder Weise zu unterwandern. Der Stamm hatte darunter zu leiden gehabt. Zwar war die Verbannung die einzige Möglichkeit für den Rudelführer gewesen, die Ordnung wiederherzustellen, aber es schnürte Phalias die Kehle zu, daß der Missetäter noch immer irgendwo zwischen diesen pfadlosen Bergen leben konnte. Und Iscalda – war sie auch noch am Leben? Konnte sie sich noch an irgend etwas aus ihrer menschlichen Existenz erinnern? War sie an der Kälte gestorben oder von Wölfen gefressen worden, oder hatten die schwarzen Geister sie geholt, die die Berge heimsuchten? War nichts mehr übrig von ihr bis auf einen kleinen Haufen abgenagter Knochen irgendwo am Fuße eines Felsvorsprungs?

Mit einem gemurmelten Fluch versuchte der Rudelfürst, die schrecklichen Visionen zu verscheuchen. Was spielte es für eine Rolle, ob seine frühere Verlobte noch lebte oder schon tot war? Sie hatte ihn zurückgewiesen. Aber seit jenem Tag, als er sich in seinem Schmerz und seinem Zorn dazu hatte hinreißen lassen, sie zu einem Leben als Tier zu verdammen, wurde er von Schuldgefühlen und bitterer Reue heimgesucht. »Die Wahrheit ist«, seufzte Phalias bei sich, »daß ich, wenn es mir möglich wäre, ungeschehen machen würde, was ich an jenem Tag getan habe. Aber es darf niemals sein.«

Aus dem brodelnden Zorn des Sturms heraus schob die Sonne langsam ihre Krone über die gezackten Berge, und der Tag kroch auf schleichenden Füßen herbei, um das Plateau mit einem schwachen, geisterhaften Halblicht zu überziehen. Inzwischen wurden die Fremden herangeführt; gefesselt und verzweifelt gingen sie zwischen ihren Wachen.

Phalias, der froh darüber war, von seinen schwarzen Gedanken abgelenkt zu werden, sah zu, wie die Fremdländer vor ihm zu Boden geworfen und gezwungen wurden, auf dem eisenharten Grund niederzuknien. Es war eine seltsame Gruppe – der drahtige, kleine Mann, dessen ganze Haltung Trotz widerspiegelte; das hochgewachsene, blonde Kriegermädchen, dessen üppiger Körper ungezählte Freuden verhieß, dessen Augen jedoch kalt und hart wie eine gezückte Klinge waren; der alte Mann, der, wenn der Rudelführer sich nicht irrte, todkrank war und hohes Fieber hatte; und dann die andere, die knochige Frau mit den wahnsinnigen, hellseherischen Augen. Allein ein einziger Blick auf sie reichte aus, um dem Rudelfürsten einen Schauer über den Rücken zu jagen. Er riß seine Augen von ihr los und zwang sich zu sprechen, wobei er sich bei seiner Urteilsverkündung beinahe überschlug, so eilig hatte er es, ihrem unnachgiebigen, brennenden Blick zu entgehen.

»Ihr seid hier, um euch der Anklage des unerlaubten Eindringens in das Land der Xandim zu stellen«, sagte er zu ihnen und überlegte, während er sprach, ob er nicht dieses verflixte Windauge hätte herbeizitieren sollen, damit er seine Worte den Gefangenen übersetzte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er den Anblick des halbblinden Sehers jedoch nicht mehr ertragen können, seit Chiamh die Worte ausgesprochen hatte, die Iscalda für alle Zeit in Pferdegestalt bannten. Das Bewußtsein, daß er dem Windauge gegenüber nicht gerecht gewesen war – immerhin hatte Chiamh nur den Befehl des Rudelfürsten befolgt –, trug nicht dazu bei, die Laune des Rudelführers zu verbessern. Welche Rolle spielt es schon? dachte er. In wenigen Stunden werden diese Fremden tot sein – und ob sie die Gründe für ihre Hinrichtung verstehen oder nicht, wird für sie kaum von Bedeutung sein.

Also straffte Phalias seine Schultern und fuhr in der uralten Formel fort: »Ihr braucht nicht zu sprechen, denn es gibt keine Verteidigung für euch: Meine Krieger haben euch bei einem verbrecherischen Akt ertappt. Die Strafe für euer Vergehen ist der Tod …«

»Wie kannst du es wagen!« Die schrille Stimme, die plötzlich seine eigene übertönte, ließ Phalias seine sorgfältig vorbereiteten Sätze vergessen. Die Wahnsinnige! Wie kam es, daß sie die Sprache der Xandim sprach? Ihre Augen wurden größer – sie brannten sich in seine Seele hinein –, und ihre Stimme schrillte in seinen Ohren …

Als Chiamh endlich mit großer Verspätung und vollkommen außer Atem auf dem Plateau ankam, fand er eine Szene vollständiger Verwirrung vor. Der Rudelfürst schien bis ins Mark erschüttert zu sein, und sein graues Gesicht war von Zorn verzerrt. Er stand in einer Traube der Älteren, die wild gestikulierend und mit lauten Stimmen auf ihn einschrien. Was, um alles in der Welt, war geschehen? Chiamh strengte seine kurzsichtigen Augen an, so gut es ging, konnte aber keine Spur von den Gefangenen entdecken. Hatte man sie bereits hingerichtet? Waren sie irgendwie entkommen? »Gütige Göttin«, murmelte das Windauge. »Iriana von den Tieren – mach, daß ich nicht zu spät komme!« Ich warf einen Blick auf den erschütterten Rudelfürsten und gab jede Hoffnung auf, mit Phalias sprechen zu können. Statt dessen fand er einen ergrauten, alten Mann, der ein wenig abseits von den anderen stand und an seinen zahnlosen Kiefern saugte, während er dem Aufruhr mit lebhaftem Interesse folgte. »Was ist passiert?« fragte Chiamh und zerrte an seinem Ärmel.

»Holla, junges Windauge! Hast du die Verhandlung verpaßt? Da ist dir wirklich etwas entgangen«, teilte ihm sein vom Alter gezeichnetes Gegenüber genüßlich mit. »Der Rudelfürst sprach gerade sein Urteil, als plötzlich diese magere Hexe zu reden begann und sicheres Geleit durch unser Land verlangte. Ist das noch zu glauben?« Der Alte versuchte, sich stirnrunzelnd an die Worte der Wahnsinnigen zu erinnern. »Sie hat etwas im Süden zu tun, sagte sie, etwas, das nicht warten kann, nur weil eine Horde Wilder sie hier festhält!«

»Was?« entfuhr es Chiamh entsetzt.

»Es ist so wahr, wie ich hier stehe.« Der alte Mann nickte eifrig und mit offensichtlichem Entzücken über seine Rolle als Überbringer so ungeheurer Neuigkeiten. »Dieses große, hübsche Mädchen stößt sie und versucht, sie zum Schweigen zu bringen, und der kleine Bursche schüttelt den Kopf, als könnte er es einfach nicht glauben. Dann sagt diese Hexe doch tatsächlich, wenn unser Rudelführer versucht, sie aufzuhalten, wird sie ihn bis an das Ende seiner Tage verfluchen! Na, die Älteren waren aufgescheucht, als hätte sie in ein Hornissennest gestochen. Aber der Rudelfürst hat dann ein Machtwort gesprochen, und sie haben die Fremden hinaufgebracht zur Stahlklaue, um sie auf dem Feld der Steine als Frühstück für die schwarzen Geister auszusetzen, und … He, komm doch zurück …«

Chiamh hörte, wie die jammernde Stimme sich in der Ferne verlor, während er selbst, so schnell er konnte, an den hohen Steinen vorbei ins Tal hinunterrannte. Glücklicherweise würden die Wachen es nicht wagen, den direkteren Weg durch das Tal des Todes zu nehmen. Als Windauge hatte er jedoch Zugang zu einer Abkürzung …


Das Feld der Steine war, um genau zu sein, kein Feld, sondern einfach ein ungewöhnlich ebener Bereich auf den Hügeln, der mit niedrigen, flachdachigen, hohlen Felsbrocken übersät war. Sie schienen Unterkünfte irgendeiner Art zu sein, obwohl sie von den Xandim niemals als solche benutzt wurden, denn sie lagen in allzu großer Höhe, und das Klima war dort zu hart. Statt dessen hatten die Pferderitter diese Gebilde einem finsteren Nutzen zugeführt. Sie hatten auf den flachen Dächern Fesseln und Ketten angebracht und setzten hier ihre fremdländischen Gefangenen aus. Für gewöhnlich handelte es sich um plündernde Khazalim, die man auf ihren Raubzügen gefangengenommen hatte. Die Xandim hofften, mit diesen Menschenopfern die furchterregenden schwarzen Geister der Berge zu besänftigen.

Das Feld der Steine mit seinen grimmigen Erinnerungen an Tod und Blutvergießen lag auf einem langgezogenen Felsausläufer, hoch oben auf den Bergen, wo der Windschleier durch einen Bergsattel mit Stahlklaue verbunden war. Dieser Sattel bestand aus zerklüftetem Felsen, der bei den Xandim unter dem Namen Drachenschwanz bekannt war. Wie der gequälte Stein der Stahlklaue wirkte auch dieser steile Berggrat mißhandelt und an vielen Stellen zerbrochen, so daß ein Mensch kaum über diesen Weg auf den anderen Gipfel gelangen konnte, aber das war den Xandim nur recht so, die das Gebiet auf jener Seite ohnehin niemals betraten. Stahlklaue war das Jagdrevier der furchterregenden schwarzen Geister, die Menschenfleisch fraßen – und diese Geister konnten den Berggrat ohne Schwierigkeiten überqueren.

Chiamhs Abkürzung führte ihn durch sein eigenes Tal, und so hatte er Gelegenheit, kurz in seiner Höhle haltzumachen, um ein zusätzliches Gewand anzulegen und einen wärmeren Mantel, der ihn vor der eiskalten Luft in den größeren Höhlen schützen sollte. Außerdem packte er noch einige Decken zusammen, in die er sorgfältig eine Hasche mit starkem Wein einschlug. Dann schnürte er sich das unhandliche, dicke Bündel mit einem Seil auf den Rücken. Solchermaßen ausgerüstet, griff er nach einem mit einer Eisenspitze beschlagenen Stab, der ihm das Gehen auf den eisigen Hängen des Berges erleichtern sollte, und brach schließlich auf, um die Fremden zu retten.

Der geheime Weg, der über die seitlichen Hänge des Windschleiers führte, ging an einer Stelle vorbei, wo die dürftige Seilbrücke zu Chiamhs Kammer der Winde mit dem Berg verbunden war. Als erstes kam die schmale Felsbank, die bis zu seiner Brücke führte, dann das Felsmassiv, das sich zusammengefaltet zu haben schien und nur einen schmalen Pfad unter sich freiließ, der vom weiter unterhalb liegenden Plateau aus nicht zu sehen war. Dieser Pfad schlängelte sich den Berg hinauf, wo er schließlich mit dem Hauptweg zusammenlief, einem Trampelpfad, der im Zickzackkurs vom Plateau aus um einen langen Ausläufer des Windschleiers herumführte. Für Chiamh mit seinen unzureichenden, kurzsichtigen Augen war es ein furchtbarer Marsch. Er war daran gewöhnt, das Felsmassiv zu erklimmen, aber jetzt waren die schmalen Felssimse von spiegelglattem Eis überzogen. Dennoch schlitterte er lieber über diese schlüpfrigen Schneewehen an den geschützteren Stellen zwischen den hohen Felsen, durch die er sich nur mit größter Mühe vorwärtsbewegen konnte.

Müde, keuchend und mit vor Kälte tauben, schmerzenden Gliedern erreichte das Windauge endlich den Hauptpfad – und stellte wie erwartet fest, daß der schlimmste Teil seines Aufstiegs ihm noch bevorstand.

Der Sturmwind schlug auf Chiamh ein wie eine riesige Faust, als er auf die ungeschützte Eisfläche hinaustrat, die sich vor ihm erstreckte. Zu seiner Linken ragten die blanken Schneefelder steil empor, und nichts, nicht einmal ein Baum war da, um die Gewalt des Windes zu brechen. Zu seiner Rechten – das Windauge erschauderte. Es war besser, nicht daran zu denken! Wenn er zu weit in diese Richtung ging, würde er einen Abhang hinunterstürzen, der zwar nicht senkrecht, aber doch viel zu steil war, um ihm irgendwo Halt zu bieten. Es würde ein hilfloser, sich immer schneller beschleunigender Sturz werden – bis er den Fuß des Felsens erreichte und auf den Steinen am Boden aufschlug. Zum ersten Mal, seit er seine Vision gehabt hatte, machte Chiamh sich Gedanken darüber, ob die Fremden all dieser Mühe überhaupt wert waren. Dennoch … Leise vor sich hinfluchend, stieß das Windauge die Spitze seines Stabes heftig in das Eis und machte einen ersten, zaghaften Schritt über den gefährlich glatten Pfad.

Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, machte der Pfad, der immer steiler in die Höhe stieg, eine Biegung nach links und umrundete einen Vorsprung nackten, schwarzen Felsens. Zu seiner Erleichterung hatte Chiamh nun den Teil des Weges erreicht, auf dem sich der Abgrund nicht mehr unmittelbar neben ihm auftat, sondern erst hinter mächtigen Felsbrocken, die hier den Pfad säumten. Als der Weg schmaler wurde, hörte er Stimmen, die der Wind vom Feld der Steine zu ihm herübertrug.

Dank sei der Göttin! Obwohl er langsam und vorsichtig gegangen und jeden Schritt, mit dem er den schlüpfrigen Weg hinaufgestiegen war, vorher sorgfältig hatte abwägen müssen, erreichte Chiamh das Feld der Steine, bevor die Wachen, die die Gefangenen hierhergebracht hatten, ihren Rückmarsch antraten. Das letzte, was er brauchte, war eine Begegnung mit ihnen, denn er würde ihnen unweigerlich erklären müssen, was er hier oben tat! Gesegnet sei die Abkürzung, die ihm die nötige Zeitersparnis verschafft hatte! Vorsichtig versteckte sich das Windauge zwischen einer Ansammlung von Felsbrocken neben dem Trampelpfad. Dann betete er darum, daß die verflixten Wachen sich beeilten, und fand sich damit ab, noch ein wenig warten zu müssen.

Glücklicherweise verspürten die Wachen nicht den geringsten Wunsch, herumzutrödeln, bis die schwarzen Geister erschienen. Es hatte wieder angefangen zu schneien, und der heulende Wind wirbelte Schneeflocken über den Berg. Nach kurzer Zeit hörte Chiamh das knirschende Geräusch von Schritten im Schnee. Die Wachen kamen an seinem Versteck vorbei. Fluchend schlitterten sie den trügerischen Pfad hinunter und brummten in der typischen Manier der Soldaten vor sich hin. Der Sturmwind trug ihre Klagen zu Chiamh hinüber: »Nur wegen des Rudelführers und seines verdammten Gesetzes müssen wir in diesem Unwetter unseren Hals riskieren …«

»Ja, und wozu das alles? Diese stinkenden Fremdländer werden wahrscheinlich längst erfroren sein, wenn die Geister kommen …«

»Warum wir sie nicht einfach auf dem Plateau mit einem Schwert durchbohren konnten, werde ich nie begreifen …«

»Es wäre allerdings eine Verschwendung gewesen, dieses Mädchen zu durchbohren – zumindest mit einem Schwert! Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätten wir sicher einigen Spaß mit ihr haben können …«

Als das Windauge Galdrus’ einschüchternde Stimme hörte, mußte er sich sehr beherrschen, um nicht zu hoffen, daß die Narren auf ihrem Weg nach unten über eine Felskante stürzen würden. Sobald sie endlich verschwunden waren, verließ er sein Versteck und machte sich auf den Weg über den felsigen Pfad zum Feld der Steine – bis ein Schwall von Flüchen und Schreien ihn abrupt zum Stehen brachte. O Göttin! Die Geister konnten doch unmöglich schon gekommen sein? Nicht nur die tödliche Kälte ließ ihn erzittern, und er wartete, bis die Stimmen verklungen waren. Dann schlich er langsam weiter, voller Angst vor dem, was er auf dem Feld der Steine vorfinden würde.


Parric lag der Länge nach ausgestreckt und hilflos auf dem flachen Todesstein. Die eisige Kälte der Fesseln brannte sich in seine Handgelenke und seine Fußknöchel ein. Bei allen Göttern, dachte er, ich wußte nicht, daß es so kalt sein kann! Der Schnee, der beim ersten Kontakt mit seinem Körper geschmolzen war, war mittlerweile wieder gefroren und verschweißte ihn mit dem Stein. Während die tödliche Kälte langsam von seinem Körper Besitz ergriff, begann sein Zorn auf die Xandim bereits in Verzweiflung überzugehen. Zorn war besser gewesen. Mit Zorn konnte man wenigstens noch kämpfen – aber wie hätte er denn kämpfen können, gefesselt und festgefroren, wie er war?

Ganz in seiner Nähe waren die anderen ebenfalls an große Felsbrocken gekettet. Sangra war irgendwo hinter ihm, so daß er sie nicht sehen konnte. Meiriel dagegen konnte er aus den Augenwinkeln noch erkennen, bald sichtbar und bald verschwunden hinter den wirbelnden, grauen Vorhängen aus Schnee. Der Kavalleriemeister kämpfte eine Woge des Zorns nieder. Dank irgendeines seltsamen Effekts des Sprachzaubers, den die Magusch bei den Xandim benutzt hatte, war es ihm möglich gewesen, Meiriels Worte während der Verhandlung zu verstehen, und es war sehr wahrscheinlich, daß jene Worte es gewesen waren, die ihnen dieses Ende beschert hatten. Wenn sie doch nur ihn zu dem Herrscher hätte sprechen lassen und er ihm hätte erklären können, daß sie nur durch sein Land hindurchreisen wollten und nichts anderes, daß sie schon bald wieder fort sein würden! Parric hatte sich alles zurechtgelegt, aber statt seine Worte zu übersetzen, hatte Meiriel eine typische Maguschtirade angestimmt – genau wie die, die dazu gerührt hatte, daß die Nachtfahrer sie von ihrem Schiff geworfen und überhaupt erst in diese schreckliche Situation hineingebracht hatten! Ihre Arroganz hatte sie alle getötet.

Elewin, der mit grauem Gesicht und vollkommen reglos zu seiner Linken lag, hustete jetzt nicht einmal mehr. Parric fürchtete, daß der grausame Marsch auf den Berg dem alten Mann den Rest gegeben hatte.

»So wie diese Kälte uns allen den Rest geben wird.« Der Kavalleriemeister war sich nicht bewußt, daß er laut gesprochen hatte, bis er Meiriels schrille Stimme hörte.

»O nein, du törichter Sterblicher – es wird nicht die Kälte sein, die euch den Rest gibt. Das war nicht der Grund, warum man euch hierher gebracht hat. Die Wachen haben geredet, und ich habe ihnen zugehört. Es gibt Dämonen hier oben, Parric – schwarze Geister, die diesen Ort heimsuchen. Ein Menschenopfer, das ist es, was du bist – du und deine übertrieben gefühlvollen sterblichen Freunde, – aber mich werden sie nicht bekommen!«

Noch während die Magusch sprach, flammten die Ketten, mit denen ihre Hand- und Fußgelenke gefesselt waren, in qualvoller Helligkeit auf und zerfielen zu Staub. Meiriel taumelte und sprang schließlich triumphierend auf die Füße – und Parric erstarb sein Freudenschrei in der Kehle, als sie ihren ehemaligen Kameraden den Rücken zuwandte und hastig davonstob. Ihre zerlumpten Röcke flatterten im Wind wie die Gewänder einer Vogelscheuche, als sie über die zerklüfteten Felsen lief. Binnen weniger Augenblicke war sie hinter dem dichten Vorhang aus Schnee verschwunden. »Mögt ihr verrotten, ihr verfluchten Sterblichen … Mich werden sie nicht bekommen!« Der Wind trieb Parric ihr höhnisches Gelächter zu, und er kämpfte unter bitteren Flüchen wild gegen seine Fesseln an.

»Komm zurück, du verfluchte Hexe!« kreischte Sangra.

Dann war plötzlich wieder alles still bis auf das heulende Ächzen des Windes.

Möge Chathak sie verfluchen, dachte der Kavalleriemeister. Ich hätte so etwas von Meiriel erwarten müssen – schließlich ist sie eine Magusch und obendrein noch verrückt. Elewin hat mich von Anfang an vor ihr gewarnt. Ihr Verrat hatte ihn wie ein Schwert durchbohrt und ihn bis ins Herz getroffen – irgendwie waren dadurch seine Angst und sein Elend endgültig besiegelt worden. Was für ein Narr er doch gewesen war, sich nach Süden zu wagen! Jetzt würde er Aurian niemals mehr finden – und was noch schlimmer war, er riß Sangra und Elewin mit sich in den Tod. Allein und unglücklich schloß Parric die Augen und weinte – bis er zu seinem Entsetzen entdeckte, daß seine Tränen gefroren und sich seine Augenlider nicht mehr öffnen ließen, so daß er vollkommen blind war. Wenigstens werde ich die Geister nicht sehen, wenn sie kommen, dachte er gequält, während er sich an Meiriels Worte erinnerte – und das war ein Fehler. Jetzt, da seine Augen versiegelt waren, übernahm seine Phantasie das Kommando.

Parric begann, Geräusche zu hören, die näher und näher kamen – und das heisere Zischen von Atemstößen durch Kiefer mit gewaltigen Fangzähnen; den taumelnden, knirschenden Laut eines gewaltigen Körpers, der sich zwischen den Felsen bewegte und seinem hilflosen Leib immer näher kam … Es kam, es kam! Parric stieß ein entsetztes Wimmern aus. »Gütige Götter«, stöhnte er, »nein!« Dann berührte ihn etwas. »Nein!« heulte er auf und versuchte, sich gegen seine Ketten zu stemmen.

»Es ist alles gut«, sagte eine Stimme hastig und in einer Sprache, die seine eigene war und auch wieder nicht. »Ich bin Chiamh. Ich bin gekommen, um euch zu retten.«

»Du verfluchter Idiot!« schrie Parric, der am Rande eines hysterischen Anfalls stand. »Ich dachte, du wärest einer von den verdammten Geistern!«

»Tut mir leid«, sagte die Stimme fröhlich. Warme Luft, feucht und mit einem schwachen Duft von Kräutern, strich prickelnd über Parrics Gesicht, als Chiamh seine Augenlider anhauchte, um das Eis zu schmelzen. Als Parric die Augen endlich wieder öffnen konnte, hatte auch sein Herz aufgehört, sich seinen Weg bis in seine Kehle hinauf zu erkämpfen, und er hatte sich genügend erholt, um sich wegen seines Ausbruchs zu schämen. Dann waren plötzlich alle anderen Gedanken aus seinem Kopf verschwunden, als er den rundgesichtigen, braunhaarigen, jungen Mann sah, der vor ihm stand. Es war die Erscheinung – diese ganz wirklich und greifbar –, die Erscheinung, die ihn schon in den Kerkern der Xandim heimgesucht hatte.

Das gab dem Kavalleriemeister fast den Rest. Der »Geist«, tastete kurzsichtig auf dem Boden umher, und irgendwie fachte der Anblick dieses freundlichen, ein wenig törichten Gesichts Parrics Ärger noch an. »Was hast du überhaupt mit uns vor?« knurrte er unüberlegt. Chiamh stand abrupt auf, und sein Grinsen verschwand wie die Sonne hinter einer Wölke. Dann sah Parric den Stein in seiner Hand. Einen Augenblick lang stockte dem Kavalleriemeister der Atem.

Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung seiner Faust donnerte Chiamh den Stein auf Parrics Fesseln. Als die Kante der ersten Fessel sich in sein Heisch bohrte, schrie Parric laut auf. Obwohl die Kälte seinen Körper zu taub gemacht hatte, als daß er den Schmerz hätte spüren können, fühlte er doch, wie heißes Blut über seine Hand lief, und wußte, daß er später höllische Schmerzen haben würde. »Sie sind nicht verschlossen, du Esel!«

»Ach!« Chiamh machte sich nicht die Mühe, sich zu entschuldigen. Statt dessen begann er, mit der Spitze seines Dolchs in dem hartnäckigen Metallschloß herumzustochern, das sein Schlag verzogen hatte. »Wirklich ein Glück«, fügte er hinzu, als das Schloß endlich nachgab. »Denn es sieht so aus, als hätten uns die Geister bereits gefunden.«

»Was?« Als er auch die andere Hand frei hatte, schoß Parric in die Höhe und machte sich verzweifelt und mit Fingern, die zu taub waren, um seinem Willen zu gehorchen, an seinen gefesselten Fußknöcheln zu schaffen.

»Aus dem Weg!« Chiamh schob Parrics Hände weg und befreite ihn schnell von den restlichen Fesseln. »Verhalte dich ganz still, mein Freund – sie sind direkt hinter dir.«

Parrics Haut kribbelte vor Entsetzen, als er sich umdrehte und dem Blick des Windauges folgte. Keine zwei Meter von den Steinen entfernt standen zwei Geister – alles andere als Gespenster, wie Parric bemerkte, sondern gewaltige Katzen von ehrfurchtgebietender Größe. Er schluckte, als er ihre riesigen Klauen sah, die wie stählerne Krummdolche waren. Dann stimmten die Katzen ein heiseres, drohendes Duett an, und er konnte auch ihre großen, weißen Fangzähne erkennen. Das glänzende Fell der einen Katze zeichnete sich tiefschwarz gegen den Schnee ab, während das ebenfalls schwarze Fell der anderen mit goldenen Tupfen gesprenkelt war. Die lodernden Lichter ihrer wachsamen, gelben Augen waren von einer unheimlichen und geheimnisvollen Intelligenz erfüllt. Parric stockte der Atem in der Kehle.

»Weißt du«, sagte Chiamh leise und beinahe beiläufig, »ich glaube, diese Katzen sind mehr als nur Tiere – und laßt uns um unser allen willen hoffen, daß ich recht habe.« Dann schien er zum Entsetzen des Kavalleriemeisters vollkommen wahnsinnig zu werden. Er ging auf die Geister zu und schien etwas zu tun, das in Parrics von Furcht glasig gewordenen Augen so aussah, als verdrehe er seine Hände, als wolle er einen unsichtbaren Knoten aus Luft knüpfen. Beide Katzen zuckten zusammen, und ihre goldenen Augen weiteten sich entsetzt, während sich ihre Nackenhaare aufstellten – dann schossen sie mit einem schauerlichen Geheul davon, als wäre ihnen der Tod persönlich auf den Fersen.

»Ich hatte recht!« lachte Chiamh. »Man muß Phantasie haben, um sich von einer Illusion einschüchtern lassen.«

Parric starrte ihn verblüfft an. »Warum hast du mich gerettet?« flüsterte er. »Was willst du von mir?«

»Das fragst du besser die Göttin«, erwiderte Chiamh knapp. »Denn ich weiß es ganz bestimmt nicht. Aber unsere Herrin der Tiere hat eine Aufgabe für dich, und es war ihre Vision, die mich zu dir geschickt hat.« Seine Steifheit verschwand jedoch gleich wieder, als er Parric die Hand reichte, um ihm aufzuhelfen. »Komm, laß uns deine Kameraden befreien.«

»Das wird aber auch wirklich Zeit, verdammt!« Sangras Stimme klang schwach aus der Richtung, wo ihr Stein lag, und Parric und Chiamh grinsten.

»Hier.« Der junge Mann streifte das Bündel von seinen Schultern und rollte es auf. Dann gab er dem Kavalleriemeister eine Hasche, die zu dessen großer Freude etwas enthielt, das reinem Alkohol sehr nahekam und wie ein Feuerstoß seine Kehle hinunterlief.

»Ah! Gut!« keuchte er. Als er sah, daß Chiamh bereits Sangras Ketten löste, warf Parric sich eine der Decken des jungen Mannes um die Schultern und ging schnell zu Elewin hinüber.

Der alte Mann regte sich nicht, als er später kam. Elewins Gesicht war eingesunken und seine Haut von einem furchtbaren bläulichen Grau. Während Parric ihm die Fesseln löste, konnte er keine Spuren von Leben in dem alten Mann mehr finden. »O ihr Götter, nein«, murmelte er. »Armer, alter Kerl. Nun ist er so weit gekommen, nur um zu sterben.«

»Laß mich sehen.« Chiamh schob ihn beiseite. Dann senkte er seinen zotteligen, braunen Kopf auf die Brust des alten Mannes und lauschte so lange, daß es Parric wie eine Ewigkeit erschien, bevor er sein Gesicht ganz nah an das von Elewin heranschob. »Noch nicht ganz tot, aber ziemlich nahe dran«, murmelte er. »Zu nah für meinen Geschmack, aber …«

Chiamh legte seine Hände auf die Brust des alten Mannes, dann auf sein Gesicht – schließlich hob er die Hände und bewegte sie in einer Reihe fließender Gesten, etwa so wie er es getan hatte, als er die großen Katzen verscheucht hatte. Er schien unsichtbare Figuren in die Luft zu zeichnen. Eingehüllt in eine Decke, kam Sangra mit Tränen in den Augen näher, und der Kavalleriemeister legte einen Arm um sie. Sie sahen verwundert zu, wie Chiamhs Hände sich geschmeidig über den Körper des alten Mannes bewegten und ihn – das schienen seine Gesten wenigstens anzudeuten – von Kopf bis Fuß in ein unsichtbares Gewebe hüllten.

Nach einer Weile blickte Chiamh auf, und Parric sah, daß das Gesicht des jungen Mannes trotz der furchtbaren Kälte auf dem Berg vor Schweiß glänzte. Chiamh wischte sich über die Augenbrauen und streckte wortlos die Hand nach der Flasche aus, die Sangra immer noch festhielt. »Es wird vielleicht lange genug halten«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck aus der Hasche. »Euer Freund ist alt, müde und sehr krank, und diese Kälte hätte ihn um ein Haar umgebracht. Aber ich habe etwas getan, das dafür sorgen wird, daß die Luft sich, zumindest für den Augenblick, weiter durch seine Lungen bewegt. Wenn es mir gelingt, ihn atmen zu lassen, bis wir ihn den Berg hinuntergetragen und zu mir nach Hause gebracht haben – nun, meine Großmutter hat mir viel über Kräuterlehre und Heilkunst beigebracht. Vielleicht kann ich ihn doch noch retten. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn ihr ihm eure Decken geben könntet …?«

Parric blickte zweifelnd zu Sangra hinüber. Sie war bleich, zu Tode erschöpft und lehnte zitternd an einem Felsen, als reichte ihre Kraft nicht, um sich aufrecht zu halten. Und um ehrlich zu sein, ging es ihm nicht viel besser.

»Pocken und Blattern!« murmelte Sangra. Dann seufzte sie, schüttelte ihre Decke ab und reichte sie Chiamh. »Na los«, sagte sie energisch. »Laßt uns von diesem verfluchten Berg verschwinden, bevor wir alle erfrieren.«

Während sie den bewußtlosen Elewin für den Rückweg in Decken einpackten, schaute Chiamh plötzlich stirnrunzelnd auf. »Was ist aus eurer Begleiterin geworden, der Wahnsinnigen?«

Parric blickte ihn finster an und zuckte mit den Schultern. »Vergiß sie!« sagte er.


Es dauerte nicht lange, bis Chiamh klar wurde, daß es schwierig werden würde, den alten Mann den Berg hinunterzubekommen. Seine Begleiter waren selbst vollkommen geschwächt, und die Kälte tat ihr übriges. Wieder und wieder krampfte sich sein Herz zusammen, wenn einer der Fremdländer auf dem steilen Pfad ausrutschte, der durch das Schneefeld führte. Es hätte wahrlich nicht viel gefehlt, und der tödliche Abgrund hätte doch noch sein Opfer gefordert.

Die Zeit schien sich zu einer Ewigkeit auszudehnen, während sie wie Fliegen über die endlose, weite Räche krochen; zwei von ihnen plagten sich jeweils mit dem reglosen Leib des alten Mannes ab, den sie zwischen sich trugen, während der dritte sich ein wenig ausruhte. Es war nur gut, daß ihr Weg meist abwärts führte. Wie die Dinge lagen, stellte Chiamh nach nicht allzu langer Zeit fest, daß er sich ständig um Elewin kümmern mußte, während die beiden anderen sich länger und länger ausruhten und mit einigem Abstand hinter ihm hertrotteten. Sie hatten keine Ahnung, wie sie sich auf einem Berg bewegen mußten, und ihre Sorglosigkeit jagte dem Windauge immer neue Schrecken ein, aber zumindest hatten sie genug Verstand, um zu wissen, daß sie stets weitergehen mußten, obwohl Parrics Gesicht tiefe Furchen der Müdigkeit zeigte und Sangra aussah, als könne sie jederzeit zusammenbrechen. Dennoch hatte sie genug Kraft, Chiamh eine schallende Ohrfeige zu geben – was sie um ein Haar alle vier die Felsen hätte hinabstürzen lassen. Nachdem er gesehen hatte, daß ihre Nasenspitze erste Erfrierungen aufwies, hatte er ihr ohne weiteres Nachdenken eine Handvoll Schnee ins Gesicht geschlagen.

Als sie endlich die Abzweigungen des Pfades erreichten, die in die Schlucht hinunterführte, hatte sich eine dichte Kappe düsterer Sturmwolken über dem Berg gebildet, die eine Rückkehr des furchtbaren Winters verkündete. Als Chiamh innehielt, sah es so aus, als wären die anderen nur Marionetten, von denen ein verspielter Gott endlich die Fäden abgeschnitten hatte. Nachdem sie den alten Mann in den Schnee gelegt hatten, lehnten sie sich aneinander und sanken zu Boden.

Chiamh konnte sehen, daß die beiden Fremdländer sich vollkommen verausgabt hatten. Wie sollten sie den alten Mann durch den Hohlweg tragen, der noch schwieriger zu begehen war als die Strecke, die hinter ihnen lag? Und was war mit dem Sturm, der immer näher kam? Wenn sie es nicht schafften, vor dem Schneesturm vom Berg zu kommen, würden sie es überhaupt nicht schaffen. Sangra warf dem Windauge zitternd und mit wirr über ihr Gesicht hängendem Haar einen vorwurfsvollen Blick zu und fluchte verbittert. »Ist es noch sehr weit?« flüsterte sie.

Chiamh nickte, und die drei sahen einander schweigend an. Es war Partie, der schließlich aussprach, was alle gedacht hatten. Er sah Elewin an und biß sich auf die Lippen. »Bist du sicher, daß du ihn am Leben halten kannst, bis wir zurückkommen?«

»Ich glaube schon.« Das Windauge zögerte. »Aber wenn ich das tue, werde ich nicht in der Lage sein, meine Kräfte zu benutzen, um den Sturm so lange zurückzuhalten, bis wir in Sicherheit sind – was ich sonst vielleicht geschafft hätte.«

Der Kavalleriemeister blickte noch einmal auf den alten Mann hinunter, weigerte sich aber, Sangra anzusehen. »Bist du sicher, daß du ihn retten kannst, wenn wir ihn nach unten bringen?«

Einen Augenblick lang geriet die Zuversicht des Windauges ins Schwanken. Parric bat ihn, eine Entscheidung zu treffen, die entweder den alten Mann oder vielleicht sie alle vier töten würde. War es das wert? dachte er bei sich. Ist es das wirklich wert, ein verbrauchtes Leben, das nur noch an einem dünnen Faden hängt, zu retten und dabei zu riskieren, daß wir alle hier auf diesem Berg sterben? Da drängte sich ihm plötzlich eine Vision von seiner Großmutter auf – und die alte Frau musterte ihn mit einem finsteren Stirnrunzeln. Chiamh zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen, und richtete sich hoch auf. »Natürlich kann ich den alten Mann retten, und wir werden ihn hinunterbringen«, sagte er mit einer Zuversicht, die er ganz und gar nicht empfand. Während er sprach, wickelte er das Seil auf, mit dem er ursprünglich das Bündel Decken zusammengebunden hatte.

»Helft mir, das Seil um ihn herumzulegen«, wies er die beiden anderen an. »Das Gefälle in der Schlucht ist sehr steil – wenn wir ihn nicht tragen können, gelingt es uns vielleicht, ihn wie einen Schlitten zu ziehen.«

»Sei nicht dumm, Mann! Damit würden wir den armen, alten Kerl doch erst recht den Rest geben«, protestierte der Kavalleriemeister.

Chiamh seufzte. Parric hatte recht, aber die Alternative war gerade das, was er zu vermeiden gehofft hatte; nämlich sich vor diesen Fremdländern zu verwandeln und das Geheimnis der Xandim zu verraten … Ganz zu schweigen von dem Risiko, sich auf diesen Felsen ein Bein zu brechen! Aber wenn sie den alten Mann retten wollten, gab es keine andere Möglichkeit.

»Hört mir genau zu«, sagte er zu Parric und Sangra. »Erschreckt nicht über das, was ihr gleich sehen werdet – ich werde mich verändern …« Er wußte, daß er die Sache besser erklären sollte, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Also fuhr er eilig fort, bevor sie Fragen stellen konnten: »Bindet mir den alten Mann auf den Rücken, und ich werde ihn weitertragen. Wenn wir unten am Fuß des Berges angekommen sind, nehmt ihn mir wieder ab – für den letzten Teil des Kliffs werde ich meine menschliche Gestalt brauchen.« Noch während er sprach, trat er einen Schritt zurück und versuchte, ihren verwunderten Blicken auszuweichen, damit sie nicht anfingen, ihm schwierige und unpassende Fragen zu stellen. »Und jetzt, ihr beiden – tretet zurück!«

Mit diesen Worten veränderte sich das Windauge. Die erschrockenen Ausrufe seiner Kameraden schrillten laut in Chiamhs Pferdeohren, und ihr fremder Gestank brannte in seinen Nüstern. Er begann, am ganzen Leib zu zittern. Was habe ich nur getan? dachte er wild. Dann biß er die Zähne zusammen und schnaubte laut, bevor er nervös zu den anderen trat. Er hatte das Geheimnis der Xandim bereits verraten – jetzt gab es kein Zurück mehr.

Sangra war die erste, die sich von ihrem Schrecken erholte. »Sieben verfluchte Dämonen«, hauchte sie und schluckte. »Na schön«, sagte sie dann mit neuer Entschlossenheit. »Komm, Parric, hör auf zu zittern! Hilf mir lieber, Elewin hinaufzubekommen und diese Seile festzuziehen – Pferde sind doch das einzige, wovon du wirklich etwas verstehst.«

Für Chiamh war der Abstieg in die Schlucht ein Alptraum. Er war es nicht gewöhnt, in seiner Pferdegestalt zu tragen, und obwohl das Gewicht des alten Mannes im Vergleich zu der Kraft des Windauges nur sehr gering war, brachte ihn die unvertraute Last auf seinem Rücken doch aus dem Gleichgewicht und machte es ihm schwer, seinen Weg über den schlüpfrigen Pfad zu finden. Und zu alledem kam noch die Anstrengung, Elewin am Leben zu erhalten, indem er ihn weiteratmen Heß. Außerdem konnte er jetzt das Unwetter noch deutlicher spüren; der Druck der Sturmfront prickelte auf seiner Haut und erfüllte ihn mit dem instinktiven, animalischen Drang, seine Last abzuwerfen und zu fliehen. Bevor sie auch nur die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, zitterte Chiamh mit weit aufgerissenen Augen am ganzen Leib und war trotz des eiskalten Wetters naß geschwitzt.

»Na, na, seht – es ist bald alles wieder in Ordnung. Wir sind ja gleich unten.« Sangras beschwichtigende Stimme war leise und tröstlich. Eine Hand streichelte seinen Hals und fuhr sanft über seine Nase. Chiamh warf den Kopf zurück und schnaubte überrascht, aber ihre Stimme beruhigte ihn, und ihre Berührung war erstaunlich angenehm.

»Sangra, was zum Kuckuck tust du da?« Das Windauge hörte Parrics verzweifeltes Flüstern von seiner anderen Seite. »Er ist kein verdammtes Pferd, und das weißt du!«

Sangras Hand hielt in ihrem sanften Streicheln keinen Augenblick inne. »Im Augenblick ist er es«, sagte sie. Chiamh segnete sie für ihr Verständnis.

Als sie am Boden der Schlucht angekommen waren und seine Last von ihm nahmen, hatte Chiamh kaum noch die Kraft, sich zurückzuverwandeln. Sobald er das jedoch getan hatte, sank er, am ganzen Leib zitternd, im Schnee zusammen. Bunte Flecken tanzten vor seinen Augen. Sangra legte ihm eine von Elewins Decken um die Schultern. »Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte sie ihn mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen.

Er nickte. »Danke für deine Hilfe. Als Pferd fällt es einem schwer, geradeaus zu denken.« Seine Worte verloren sich in einem verschämten Lächeln.

Parric schüttelte den Kopf. »Das war das Unglaublichste …«, begann er, aber das Windauge fiel ihm ins Wort.

»Frag mich später.« Schneeflocken wirbelten in dem immer stärker werdenden Wind um sie herum. Chiamh sprang auf. »Kommt, wir müssen von dem Kliff herunter, bevor der Sturm beginnt.« In Wahrheit hatte er jedoch keine Ahnung, wie er diesen letzten Teil des Abstiegs bewerkstelligen sollte. Dieser unsichere, vereiste Felsausläufer würde für ihn schon schwierig genug zu begehen sein, und dabei war er an ihn gewöhnt, aber für unerfahrene, entkräftete Fremdländer … Chiamh spürte, wie die Verzweiflung ihn niederdrückte. Nachdem er sie so weit gebracht hatte …

»Fasse Mut, Windauge, denn ich bin auch der Berg. Nimm deine Last und vertraue mir. Ich werde euch nicht im Stich lassen

»Basileus!« rief Chiamh überglücklich. Die anderen schienen zu glauben, daß er nun endgültig den Verstand verloren hatte, und nur das Herannahen des Sturms brachte sie dazu, ihm zu vertrauen, als er ihnen versicherte, daß der Felsenausläufer nicht so unpassierbar sein würde, wie er aussah. Trotzdem folgten sie ihm erst, als er Elewin auf die Schultern nahm, und sich allein auf den Weg über den schmalen Pfad machte. Er konnte hinter sich noch ihr wildes Fluchen hören, während sie sich ebenfalls an den Abstieg machten. Aber wie Basileus versprochen hatte, war der Abstieg leicht. Es war, als klebten ihre Füße fest auf dem Stein des Felsausläufers, als hielte sie eine unsichtbare Hand sicher auf dem groben Stein des Kliffs. Chiamhs Last schien überhaupt kein Gewicht zu haben, weil auf diesem letzten, verzweifelten Stück ihres Weges die Kraft des Moldan durch seine Adern strömte. Als sie endlich den Spitzturm am Eingang des Tals erreichten, war das Windauge jedoch so froh wie nie zuvor in seinem Leben, endlich sein Zuhause zu erblicken.

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