19 Rückkehr nach Nexis

Als der Erzmagusch, ohne anzuklopfen, in ihre Gemächer stürzte, blickte Eliseth von der Schriftrolle auf, die sie gerade studierte. Einen Augenblick lang sah Miathan die düstere Linie eines Stirnrunzelns zwischen ihren Augenbrauen, aber sie beeilte sich, ihre Verärgerung hinter einer Maske von Freundlichkeit zu verbergen. Dann schob sie die Schriftrolle beiseite, stand auf, um ihn zu begrüßen, und bedeutete ihrer Magd, die in einer Ecke gesessen und genäht hatte, ihm einen Kelch Wein einzuschenken.

»Was ist passiert?« fragte die Wettermagusch. »Aus deinem stürmischen Eintritt hier schließe ich, daß es etwas Wichtiges sein muß.«

»Vannor ist gefangengenommen worden.« Bei dem lauten Klirren zersplitternden Kristalls fuhr Miathan heftig herum. Die kleine Dienerin stand mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen neben dem Schrank und preßte sich die Knöchel ihrer geballten Faust in den Mund. Angstvoll blickte sie auf die blinkenden Scherben herab, die überall auf dem Boden verstreut lagen. Dunkelroter Wein durchtränkte ihre Röcke und sammelte sich wie ein Teich aus Blut zu ihren Füßen.

»Du unbeholfene, kleine Schlampe!« Eliseth packte das unglückliche Mädchen bei den Schultern und schlug ihm zweimal brutal ins Gesicht. »Das war ein besonders kostbarer Kelch! Schenk schnell ein neues Glas ein, und sieh zu, daß du das hier alles wieder sauber bekommst. Dafür wirst du Prügel beziehen.«

»Und du wirst es natürlich genießen!« Miathan lächelte grausam, als Eliseth zu ihm zurückkehrte. »Wie überaus freundlich von ihr, dir einen Grund zu liefern.«

Die Wettermagusch zuckte mit den Schultern. »Wer braucht schon einen Grund? Was übrigens ein Glück ist, denn sie liefert mir nur sehr selten einen. Eines muß man dem Balg lassen, sie ist die beste Magd, die ich je hatte.«

»Egal.« Miathan tat solch unbedeutende Überlegungen mit einem Achselzucken ab. »Eliseth, ich habe gerade eine überaus nützliche Entdeckung gemacht.« Er fing an, ihr von seiner Begegnung mit dem gefangengenommenen Händler zu erzählen und von seiner Erregung, als er herausfand, in welchem Maße man aus dem Schmerz und der Furcht eines Sterblichen magische Energie gewinnen konnte.

Eliseth stieß einen angewiderten Ruch aus. »Was? Du meinst also, all diese Menschenopfer seien unnötig gewesen? Wir hätten uns die ganze Mühe, immer wieder neue Opfer zu beschaffen, sparen können, wenn wir statt dessen eine Handvoll Gefangene am Leben erhalten und sie gefoltert hätten?«

»Bis zu einem gewissen Grad, ja«, erwiderte der Erzmagusch nach kurzer Überlegung. »Ich glaube jedoch, daß für magische Handlungen, die einen gewaltigen Zuwachs an Kraft benötigen – wie zum Beispiel die Inbesitznahme eines anderen Wesens aus einer gewissen Entfernung –, ein Menschenopfer doch vonnöten ist. Dennoch eröffnet uns diese Entdeckung einige interessante Möglichkeiten. Ich glaube, jetzt sind erst einmal ein paar Experimente angebracht. Und wer wäre da besser geeignet als Vannor selbst?« Seine Stimme verwandelte sich in ein leises Schnurren. »Der Mann ist zäh und körperlich gesund. Ich denke, er wird sich eine ganze Weile halten, wenn wir uns gut um ihn kümmern.«

Die Wettermagusch nickte zustimmend. »Wo hast du ihn hingebracht?«

»Ich habe Aurians alte Gemächer für ihn in Ordnung bringen lassen.« Miathan lächelte über ihren erstaunten Gesichtsausdruck. »Wir wollen ihn doch immer zur Hand haben, wenn wir ihn brauchen. Und wir müssen ihn verwöhnen, so lange, wie er sich hält. Außerdem wäre der einzige Ort, an den wir ihn sonst hätten bringen können, das Archiv unter der Bücherei, und von dort aus würde es ihm leichter fallen zu fliehen – oder sogar gerettet zu werden. Nein, jetzt habe ich ihn, und er wird mir nicht noch einmal entkommen!«


Vannor öffnete die Augen und fragte sich einen Moment lang, wo er war. Dann zogen sich seine Eingeweide vor Entsetzen zusammen, als er sich an seine Gefangennahme und die darauffolgende Begegnung mit dem Erzmagusch erinnerte. Die Nachwirkungen von Miathans Angriff waren noch nicht vergessen. Er fühlte sich schwach wie ein neugeborenes Fohlen, und in seinem Körper pochte ein allumfassender Schmerz. Aber seine Leiden gingen in einer Woge der Überraschung unter, als er seine Umgebung wahrnahm.

Der Kaufmann hatte einen Kerker erwartet. Statt dessen fand er sich in einem weichen Bett wieder, das in einer freundlichen Kammer mit grünen und goldenen Wandbehängen stand, und im Kamin brannte ein fröhliches Feuer. Die Möbel waren erlesen, ihre Linien fließend und einfach, ihr ganzer Reichtum lag in dem tiefen Glühen des dunklen, polierten Holzes. Vannor schauderte. Was hatte der Erzmagusch mit ihm vor? Um ehrlich zu sein, hätte er den Kerker vorgezogen. »Auf diese Weise hätte ich wenigstens gewußt, woran ich bin«, murmelte er vor sich hin.

Auf dem Nachttisch neben seinem Bett stand eine Tasse. Ein vorsichtiger Schluck erwies, daß es sich um Tailin handelte, der immer noch warm und mit ein wenig Alkohol angereichert war. Vannor spürte, wie die Wärme des Getränks seine Kehle hinunterrann und bis in seinen Magen vordrang. Sein Körper sehnte sich nach der wohltuenden Flüssigkeit. Noch bevor er Zeit hatte, darüber nachzudenken, ob die Tasse irgend etwas Schlimmeres als Tailin enthalten könnte, hatte er sie bis auf den letzten Rest geleert. Das Getränk schien ihn mit neuem Leben zu erfüllen. Fluchend streckte der Kaufmann seine steifen, schmerzenden Glieder aus, die an manchen Stellen noch die Abdrücke der Seile aufwiesen, mit denen er gefesselt gewesen war. Mit einen dankbaren Blick auf das Feuer, das im Schlafzimmerkamin loderte, taumelte er zu der Tür hinüber, die in das nächste Zimmer führte.

Auch im Wohnzimmer brannte ein helles Feuer. Alles war sauber, ordentlich und freundlich, so wie er es aus lange vergangenen Zeiten in Erinnerung hatte. Die vertraute Umgebung brachte ihm die Vergangenheit so deutlich ins Gedächtnis zurück, daß er sich kraftlos gegen den Türrahmen lehnen mußte. Ein Stöhnen löste sich aus den tiefsten Tiefen seines Wesens. Er erinnerte sich daran, wie er bei verschiedenen Gelegenheiten mit Aurian hier zu Abend gegessen hatte, in genau dieser Kammer, die einst ihr gehört hatte. Aurian – und Forral. Und wo war Aurian jetzt? fragte Vannor sich. Wie mochte es ihr ergangen sein? Es mußte jetzt ungefähr an der Zeit sein, daß das arme Mädchen ihr Kind zur Welt bringen würde. Und wo war Zanna? Trotz all seiner Bemühungen lief sie immer noch irgendwo in dem Morast aus Laster und Sünde herum, zu dem diese Stadt geworden war. Bei den Göttern, wenn er das verflixte Mädchen je zu fassen bekäme, dann … Die Möbel in dem Zimmer waren plötzlich verdächtig verschwommen. Vannor rieb sich heftig die Augen und stellte fest, daß er noch immer unter den Nachwirkungen von Miathans Angriff litt.

Mit Bewegungen wie ein Schlafwandler überprüfte der Händler jeden einzelnen Raum. Die Tür war natürlich verschlossen, und wegen Miathans Zauber konnte er keinem der Fenster auch nur in die Nähe kommen. Als er versuchte, die Kristallscheiben zu berühren, sah er einen Lichtblitz, und seine Hand wurde von einem brennenden Schmerz verschlungen, der bis hinauf in seinen Arm schoß. Einen Augenblick lang fühlte es sich an, als hätte er seine Hand in glühende Kohlen gehalten. Ein ähnlicher Zauber bewachte die Feuerstellen in den beiden Räumen. Vannor fand mit schmerzhaften Experimenten heraus, daß er aus kurzer Entfernung Holzscheite in die Flammen werfen konnte, aber er selbst konnte sich dem Kamin nicht einmal auf Armeslänge nähern. Damit schied Feuer als Waffe also aus, und in den Kammern war absolut nichts, was er sonst hätte benutzen können. Selbst die Bettdecken, mit denen er gehofft hatte, sich zu erhängen, wenn ihm nichts anderes mehr übrigblieb, glitten einfach aus jedem Knoten, den er zu machen versuchte, wieder heraus.

Mit heißen Flüchen rieb sich der Kaufmann seine brennenden Finger und sank dann schließlich in einen Sessel neben dem Feuer, verbarg sein Gesicht in den Händen und verfluchte sich für seine Dummheit. Die Angst um Zanna mußte seinen Verstand getrübt haben, als er sich auf den Weg gemacht hatte, um sie zu finden. Sein Plan war ihm damals so einfach erschienen. Nach Nexis zurückkehren, sich maskieren und vorsichtig Kontakt zu seinen alten, vertrauenswürdigen Kameraden unter den Händlern aufnehmen. Es hätte wirklich nicht weiter schwierig sein dürfen, ein junges Mädchen, das hier in Nexis untergetaucht war, wiederzufinden. Was er leider nicht in Betracht gezogen hatte, war die Möglichkeit, daß mindestens einem seiner alten Bekannten nicht mehr zu trauen war.

Vannor fluchte. Welcher von diesen Mistkerlen hatte ihn verraten? Die Stadt hatte sich in seiner Abwesenheit so sehr verändert – noch etwas, das er nicht in Betracht gezogen hatte. Unter Miathans Herrschaft hatten sich neue Möglichkeiten ergeben, neue Chancen, zu Reichtum und Geld zu kommen, wenn man in Bezug auf die Methoden nicht allzu wählerisch war. Die Kluft zwischen den Reichen und den Armen wurde immer größer in Nexis, und die Mischung aus Armut, Krankheit und Schmutz, die er gesehen hatte, hatte den Kaufmann bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele hinein erschüttert. Andere hatten jedoch, wie es schien, weit weniger Probleme mit ihrem Gewissen. Miathans verwerfliche, selbstsüchtige Unbarmherzigkeit breitete sich wie ein bösartiges Geschwür in Vannors Stadt aus, und der Kaufmann hatte nicht die geringste Möglichkeit, dem Einhalt zu gebieten. Einhalt gebieten? Er konnte sich ja nicht einmal selbst retten! Obwohl es ihm wahrhaftig nicht ähnlich sah, die Hoffnung aufzugeben, konnte Vannor sich nicht auf einen einzigen möglichen Ausweg aus seinem Dilemma besinnen.


Jede Aktivität kam zum Erliegen, als der Erzmagusch in die Küche trat. Janok, der gerade seinen Zorn auf das Haupt eines glücklosen Untergebenen ergoß, hielt mitten in seiner Schimpftirade inne, und auf seinem Gesicht spiegelten sich sowohl Erstaunen als auch Furcht. Was hatte Miathan hier zu suchen? Noch nie zuvor hatte er sich so weit erniedrigt, den Küchenbereich zu betreten.

»Ja, Herr? Was kann ich für dich tun?« Janok verbeugte sich so tief, daß er beinahe den Boden berührte. Der Küchenchef hatte niemals jenen schrecklichen Tag vor so langer Zeit vergessen, als er diesem Mistkerl Anvar unvorsichtigerweise gestattet hatte zu entkommen und in Aurians Hände zu fallen, und er hatte auch nicht vergessen, wie Miathan ihn für seinen Fehler bestraft hatte.

»Janok«, bellte der Erzmagusch. »Ich brauche einen Diener für eine delikate und besondere Aufgabe. Gibt es irgend jemanden in dieser verrufenen Bande aus Faulenzern und Tagedieben, der verläßlich ist, vertrauenswürdig und diskret?«

»Ich könnte es machen, Herr«, piepste eine leise Stimme aus der Dunkelheit. Janok machte ein finsteres Gesicht. Bei allen Göttern, wäre da nicht die Tatsache, daß sie unter Lady Eliseths Schutz stand, er hätte diesem aufdringlichen, kleinen Ding schon lange eine Lektion erteilt, die es sobald nicht vergessen würde.

Der Erzmagusch blickte stirnrunzelnd auf das junge Mädchen mit dem zerzausten Haar. »Bist du nicht Lady Eliseths Dienerin?«

»Jawohl, Sir.« Das junge Mädchen versank in einem weiteren Knicks. »Aber ich kann leicht noch eine andere Aufgabe übernehmen, weil ich nämlich so brauchbar bin, wie Lady Eliseth immer sagt.« Unter ihrem Lockengewirr zog sie die Stirn kraus. »Zumindest glaube ich, daß es das Wort war, was sie benutzt hat.«

Ohne es zu wollen, mußte Miathan lächeln. Was für ein drolliges, kleines Geschöpf das doch war. »Nun«, sagte er, »wenn du sicher bist, daß du das erledigen kannst, ohne deine Herrin dadurch zu vernachlässigen …«

»Oh, das kann ich, Herr, ich verspreche es. Ich kann ja so hart arbeiten.«

Janok biß die Zähne zusammen. Vorlautes, kleines Miststück! Immer mußte sie sich vordrängeln und dem Magusch um den Bart gehen.

»Na schön«, sagte Miathan. »Ich muß sagen, es ist wirklich eine erfrischende Abwechslung, einmal solche Begeisterung zu erleben. Janok, bereite ein Tablett mit Essen und Wein vor, das Beste, was du hast. Und du, Mädchen, wirst es so bald wie möglich zu mir nach oben bringen.«

Als der Erzmagusch gegangen war, drehte Janok sich zu der jungen Magd um. »Also wirklich, du kleines …«

»Faß mich an, und ich sag’s sofort der Lady Eliseth!« schrie das Mädchen mit schriller Stimme und sprang ihm flink aus dem Weg. Janok verfluchte sie, aber für den Augenblick war er besiegt.

Er hatte Angst vor Lady Eliseth, so wie alle anderen Ebener auch. Aber eines Tages würde dieses kleine Biest einen falschen Schritt tun, und wenn es soweit war … Mit düsteren Rachegedanken machte Janok sich daran, das Tablett vorzubereiten.


Vannor war erschöpft, verzweifelt und von Schmerzen gequält endlich in seinem Sessel neben dem Feuer eingeschlafen. Aber er hatte kaum die Augen geschlossen, als er von dem Geräusch der sich öffnenden Tür und dem Klirren von irdenem Geschirr geweckt wurde. Miathan trat ein, gefolgt von einer kleinen, schlanken Gestalt, die unter dem Gewicht eines vollbeladenen Tabletts taumelte.

Der Kaufmann sprang auf die Füße, und sein erster Gedanke war Erleichterung darüber, daß der Erzmagusch nicht in Begleitung seiner Wachen kam, obwohl das, wenn es um Miathan ging, kaum eine Rolle spielte. »Was willst du jetzt schon wieder von mir?« knurrte er.

Der Erzmagusch zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur hergekommen, um dir etwas zu essen zu bringen.« Er lächelte freudlos. »Wir müssen gut auf dich aufpassen, mein lieber Vannor. Es wäre tragisch, wenn wir dich sobald schon verlieren würden.« Dann drehte er sich zu der Dienerin um und bedeutete ihr, das Tablett auf den Tisch zu stellen. Mit gesenktem Kopf und abgewandtem Gesicht hielt sie sich hinter Miathan versteckt. Dann erhaschte Vannor plötzlich einen etwas besseren Blick auf sie. Obwohl zottelige, in die Stirn gekämmte Haare den größten Teil ihres Gesichts verbargen, war da doch etwas ungeheuer Vertrautes … Der Kaufmann stöhnte. Hastig wandte er sich von dem Erzmagusch ab, um sein Erschrecken zu verbergen. Die Magd knallte das Tablett auf den Tisch, wobei sie beinahe den ganzen Wein verspritzte, und mit einem verängstigten Blick auf den Erzmagusch schoß sie wie ein aufgescheuchtes Reh aus dem Zimmer.

»Wenn du nur gekommen bist, um mir zu drohen, Miathan – es interessiert mich nicht«, fauchte Vannor, um ihren Rückzug zu decken.

»Na schön. Das nächste Mal, wenn ich komme, mußt du jedoch auf mehr als nur Drohungen gefaßt sein.« Mit steifen Schritten stolzierte Miathan aus dem Gemach und schloß die Tür hinter sich zu.

Als er gegangen war, stürzte Vannor durch das Zimmer auf das Tablett zu und hob mit zitternden Fingern die Teller und Schalen hoch. Und tatsächlich, unter einem der Teller fand er einen zusammengefalteten Zettel, schon gewellt und feucht geworden von der Wärme des Essens. Vorsichtig faltete der Händler ihn auf und konnte dabei seine Ungeduld kaum unterdrücken. Die Tinte begann bereits zu verschwimmen, aber die hastig hingekritzelten Worte waren trotzdem noch lesbar.

Vater, hab keine Angst. Ich werde dich, sobald ich kann, hier herausholen, aber es wird vielleicht eine Weile dauern, bis ich mir einen Plan zurechtgelegt habe. Ich bitte dich, sei geduldig. Tu nichts, womit du mich verraten könntest.

Zanna.

Unter der Unterschrift stand noch eilig hinzugekritzelt und von Tränen verwischt: Ich habe dich lieb. Eine Zentnerlast der Sorge fiel von Vannors Schultern ab. Schnell las er den Zettel noch einmal, bevor er ihn ins Feuer warf. »Wahrhaftig, was für eine Unverfrorenheit! Von allen wahnsinnigen, lächerlichen, gefährlichen Ideen …«, murmelte er. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem widerwilligen Lächeln. Zanna! Das kleine Biest spionierte in der Akademie, direkt unter Miathans Nase.

Vannor schüttelte, halb entsetzt, halb bewundernd, den Kopf. »Sie ist wahrhaftig meine Tochter«, mußte er sich eingestehen. »Gesegnet und verwünscht soll sie sein für ihren Mut!« Mit diesen Worten machte Vannor sich mit besserem Appetit über sein Essen her, als er es je für möglich gehalten hätte.


Das schlanke, wendige Schiff der Nachtfahrer mit seinen schattenhaft grauen Segeln glitt lange nach der Abenddämmerung in den Hafen von Norberth und machte an einer verlassenen Mole an der Südseite des Hafens fest. Das furchtbare Wetter hatte in diesem Jahr dem Handel ein Ende gesetzt, und die Stadt erschien mit den wenigen Fenstern, in denen noch Licht war, still und seltsam gedämpft. Auf der Handvoll Schiffe, die an der Nordseite des Hafens lagen, bewegte sich nichts, und auch die Kais waren vollkommen menschenleer. Remana, die am Bug des Schmugglerschiffes stand, zog sich tiefer in ihren schweren Umhang zurück und schauderte. Es wurde bereits wieder Herbst, obwohl es in diesem Jahr einen Sommer nicht gegeben hatte.

Remana dachte sehnsüchtig an Fionals Beschreibung des Tals, wo dieser unheimliche Winter keine Macht hatte. Vom Deck des Schiffs hörte sie gedämpftes Scharren und Rasseln und schließlich das Quietschen des Seils, als das Beiboot mit einer Leichtigkeit, die lange Übung verriet, in die Dunkelheit hinuntergelassen wurde. Neben ihr trat eine Gestalt aus der Düsternis heraus, und Remana, die eigentlich Yanis erwartet hatte, war überrascht, die Stimme von Tarnal zu hören, dem treuen, jungen Nachtfahrer, der Zanna das Reiten beigebracht hatte.

»Bist du bereit zu gehen?« flüsterte er.

Remana nickte und verspürte einen Anflug von Aufregung, bevor ihr klar wurde, daß Tarnal sie in der Dunkelheit kaum sehen konnte. »Ich bin bereit«, flüsterte sie. »Wo ist Yanis?«

»Er wartet im Boot – hat sich immer noch nicht mit dem Gedanken abgefunden, daß du wirklich gehen willst«, erwiderte Tarnal. »Wäre da nicht Gevan gewesen mit seinem ewigen Gewinsel darüber, daß seine Frau keine Männerarbeit tun solle, hättest du ernste Probleme gehabt. Aber du weißt ja, wie Gevan unserem Anführer unter die Haut geht.« Er kicherte. »Yanis wird dich also mitnehmen, und sei es nur, um sich ihm zu widersetzen.«

»Das ist nicht Yanis’ Entscheidung – ebensowenig wie die von diesem Idioten Gevan!« erwiderte Remana mit scharfer Stimme. Dann kletterte sie in das Ruderboot, wobei sie zutiefst dankbar dafür war, daß sie Reithosen trug statt ihrer Röcke, obwohl ihre Kleidung Gevan mit neuerlichen Gründen zur Unzufriedenheit versorgt hatte. Sie seufzte, verärgert darüber, daß jeder glaubte, Yanis nehme sie nur mit, um seinen unleidlichen Kameraden zu ärgern. Seit ihr geliebter Leynard ertrunken war, wollten sie sie alle am liebsten in Watte packen wie ein Baby.

»Komm schon, Mama«, zischte Yanis. »Was hat dich so lange aufgehalten?« Seine Worte trugen nicht gerade dazu bei, Remanas Laune zu verbessern, aber sie holte tief Luft und unterdrückte den eisigen Kommentar, der ihr auf den Lippen gelegen hatte. Nur durch ihr Verhalten konnte sie beweisen, daß sie als Nachtfahrerin genauso wichtig sein konnte wie die Männer.

Mit Tarnal und Yanis an den Rudern und Remana, die auf ihr eigenes Verlangen hin am Steuer stand, glitt das Beiboot im Schutz der hohen Lagerhäuser um die Docks herum auf den großen, weißen Brückenbogen zu, der die Flußmündung ankündigte. Es dauerte nicht lange, da waren die vereinzelten Lichter von Norberth hinter ihnen verschwunden. Nebelschwaden stiegen von dem dunklen Wasser auf und verhüllten die Oberfläche des Flusses wie glitzernde Seide. Remana, die in die Düsternis hineinspähte, biß sich auf die Zungenspitze und konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit. Falls sie das Boot auf Grund setzte oder einen Felsen rammte, würden diese verflixten Schmuggler ihr das bis an ihr Lebensende vorhalten, allen voran Gevan.

Nach dem Schnaufen der beiden Männer zu urteilen, war es harte Arbeit, das Boot stromaufwärts zu rudern. Es dauerte auch erheblich länger, als Remana gedacht hätte. Als sie endlich das Tosen des über das Wehr strömenden Wassers hörte, war sie aus ganzem Herzen erleichtert. Da Yanis ihr mitgeteilt hatte, was auf sie zukommen würde, steuerte sie das Boot in ruhigere Gewässer längs des Ufers, weit weg von den reißenden Wasserstrudeln, und die beiden Männer versuchten nun nach Kräften, das Boot ruhigzuhalten, während sie an Land ging. Mit gedämpftem Stöhnen und Fluchen zogen sie das Gefährt aus dem Wasser und trugen es auf das Ufer und ums Wehr herum, wo sie es an einer Stelle, an der der wilde Strom ihm nichts anhaben konnte, wieder ins Wasser gleiten ließen.

Remana verlor jedes Zeitgefühl, während Yanis und Tarnal das Boot mit rhythmischen Schlägen auf Nexis zusteuerten. Trotz der warmen Handschuhe, die eine der alten Nachtfahrerfrauen für sie gestrickt hatte, war die Hand, mit der sie die Ruderpinne festhielt, halb erfroren – beinahe so kalt wie ihr Gesicht und ihre Füße. Als die ersten verstreuten Häuser von Nexis durch den Nebel hindurch zu sehen waren, freute sie sich aus ganzem Herzen darüber. Plötzlich jedoch setzte Remana sich mit einem Ruck auf und beäugte argwöhnisch die von Fackeln erleuchtete Szene, die plötzlich hinter einer Biegung des Flusses sichtbar wurde. Als ihre Hand sich an der Ruderpinne unwillkürlich zusammenkrampfte, kam das Boot plötzlich vom Kurs ab. »Was, im Namen der Götter, ist das da?« ächzte sie.

Yanis stieß einen Fluch aus und griff nach dem Ruder, das ihm bei der abrupten Bewegung des Bootes aus der Hand geglitten war. An seinem Stirnrunzeln erkannte Remana, daß er drauf und dran gewesen war, eine vernichtende Bemerkung über ihre Steuerkünste zu machen, sich dann aber zu seinem Glück eines Besseren besonnen hatte. Tarnal hatte sich jedoch über seine Schulter hinweg umgesehen, und sein erschrockener Aufschrei lenkte die Aufmerksamkeit des jungen Nachtfahrers von seiner Mutter ab.

»Yanis – sieh nur! Sie haben die alte Mauer wieder aufgebaut!«

Schon lange vor Remanas Zeit hatte die Stadt Nexis die engen Grenzen ihrer altertümlichen Mauern gesprengt. Im Norden und Osten der Stadt gab es zwar noch verfallene Überreste dieser Mauer, dort, wo das steile, zerklüftete Gelände allen Bauversuchen getrotzt hatte, aber Generationen von Kaufleuten hatten sich mit Vorliebe ihre Häuser auf den terrassenförmigen Hängen am Südufer des Flusses erbaut, und die aufblühende Stadt hatte sich auch nach Westen ausgedehnt, wo das Land weniger steil abfiel, der Fluß breiter und das Tal offener wurde. Aber während Remanas Abwesenheit hatte man die ursprünglichen Befestigungen mit massiven Blöcken aus roh gemörtelten Steinen wiederhergestellt und weiter ausgebaut. Die neue Mauer hatte nun ungefähr die Höhe von drei Männern.

Eine neue Brücke spannte sich als Fortsetzung der Mauer über den Fluß; am anderen Ufer schloß sich ein völlig neues Teilstück der Befestigung an und lief auf der Südseite des Tals um die Villen der Kaufleute herum. Den Aufgang zur Brücke blockierte ein riesiges Gittertor, das zu beiden Seiten in tiefen Fundamenten ruhte. Über diesem Tor, auf der Brücke selbst, befand sich ein stabil aussehendes Gebäude, das wahrscheinlich irgendeinen Hebemechanismus beherbergte, um zugelassenen Flußbooten die Durchfahrt zu ermöglichen.

»Wie ist es möglich, daß sie das so schnell bauen konnten?« ächzte Yanis. Hastig paddelte er das kleine Boot in den Schutz von Bäumen am Nordufer, so daß irgendwelche Wachen, die vielleicht auf der Brücke stationiert waren, sie nicht sehen konnten.

»Das haben die Magusch gemacht«, meinte Tarnal. »Man braucht schon Magie, um diese Blöcke zu befestigen.« Er runzelte die Stirn. »Aber warum haben sie es getan? Bei der Macht, über die Miathan gebietet, kann er doch unmöglich Angst davor haben, angegriffen zu werden?«

Remana schüttelte den Kopf. »Vielleicht wurde diese Mauer nicht erbaut, um Leute aus Nexis fernzuhalten, sondern um sie darin festzuhalten.«

Welches auch der Grund für ihren Bau sein mochte, die neue Mauer stellte sie vor ein Problem. Remana, die nicht mehr weiterwußte, machte ein finsteres Gesicht. »Wie sollen wir denn jetzt zu Jarvas kommen?«

»Ein Nachtfahrer kann immer ungesehen nach Nexis hinein- und wieder herauskommen«, versicherte Yanis ihr mit diesem boshaften Grinsen, das sie so sehr an seinen Vater erinnerte. Er machte das Boot an seinem Versteck fest und holte etwas aus einem Bündel, das am Boden des Bootes lag. Zu Remanas Verwirrung war es eine Laterne, die die Schmuggler für ihre Signale benutzten. Yanis führte Remana und Tarnal über das Ufer zu der neuen Brücke hin, die es unmöglich machte, den Fluß zu überqueren. In der Nähe der Brücke kletterte er das steile Ufer hinunter, und die anderen folgten ihm mit einiger Mühe, wobei sie sich an Grasbüscheln festhalten mußten, um auf dem schlammigen Grund nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Alle drei waren sie dankbar für den gescheckten Baumschatten, der sie beinahe unsichtbar machte.

Obwohl sie schon seit einiger Zeit das Geräusch tropfenden Wassers gehört hatte, begriff Remana erst, wohin Yanis wollte, als sie einen widerwärtigen Geruch wahrnahm, der sie beinahe umwarf. »O nein!« Sie taumelte vorwärts, um ihren Sohn an der Schulter zu packen. »Yanis, das kann nicht dein Ernst sein! Du willst uns durch die Kanalisation führen?«

Yanis kicherte. »Warum nicht?« sagte er. »Du wolltest doch ohnehin in Vaters Fußstapfen treten.« Immer noch kichernd, trat er den anderen voran durch ein dunkles, rundes Loch im Ufer, das die westliche Austrittsöffnung der Kanalisation von Nexis war.


»Verdammt und zugenäht. Warum habe ich nur nicht auf dich gehört, Benziorn?« stöhnte Jarvas. »Wenn ich diese Leute früher weggeschickt hätte, wären sie jetzt in Sicherheit!« Während er durch einen Spalt in der stabilen Wand seiner Palisade spähte, bemerkte er das Glitzern von Fackellicht auf Schwertern und Lanzen, dort wo Pendrals Soldaten seine Herberge umzingelt hatten. Der Hauptmann hatte bereits sein Ultimatum gestellt. Wenn Tilda, Jarvas und der verwundete Fremde ihnen nicht ausgeliefert worden waren, bevor die Fackel in seiner Hand heruntergebrannt war, würden seine Bogenschützen die Gebäude innerhalb der Palisade in Brand setzen.

»Du hast es doch versucht, weißt du nicht mehr?« erwiderte Benziorn. »Obwohl sie das Risiko kannten, wollten sie nicht gehen. Sie haben nicht geglaubt, daß ihnen hier irgend etwas zustoßen könnte, so sehr sind sie daran gewöhnt, diese Herberge als einen Ort der Sicherheit zu betrachten.« Er zuckte mit den Schultern. »Was hättest du denn tun sollen? Es war ihr eigener Wille, hierzubleiben und das Risiko einzugehen.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Jarvas, du hast diesen Ort so gut befestigt. Gibt es denn gar keinen anderen Ausweg?«

»Nur den verdammten Fluß!« erwiderte Jarvas. »Und er ist so tief, daß die meisten von ihnen es nicht schaffen würden.« Mit bitteren Flüchen schlug er sich mit der Faust in die Hand. »Benziorn, ich muß mich stellen. Ich habe keine andere Wahl.«

»Warte.« Der Arzt griff nach seinem Arm. »Du darfst nichts überstürzen. Pendral steht im Sold der Magusch, und wir wissen, daß der Erzmagusch hinter dem Verschwinden von Menschen überall in der Stadt steckt. Es gibt keine Garantie, daß deine Selbstaufopferung uns andere retten wird. Außerdem bist du nicht der einzige, den sie haben wollen. Was ist mit den anderen? Bei allen Göttern, es muß doch irgend etwas geben, was wir tun können!«

Im Lagerhaus kauerten sich die Leute in verängstigten Gruppen zusammen. Abgesehen von dem Geplärr der kleinsten Babys, die auf übernatürliche Weise die Spannung, die in der Luft lag, zu spüren schienen, herrschte vollkommenes Schweigen. Als Jarvas den Raum betrat, richteten sich alle Augen hoffnungsvoll auf ihn. Sie erwarteten Antworten, erwarteten von ihm, daß er sie retten würde.

Emmy kam mit dem weißen Hund als Schatten auf ihn zugelaufen. »Jarvas«, sagte sie drängend, »du und Tilda und der Fremde – und natürlich Grince –, ihr müßt hier weg. Ihr seid es, die sie haben wollen. Vielleicht werden sie uns, wenn ihr nicht mehr da seid, in Ruhe lassen.«

Der große Mann runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht …«, aber Benziorn unterbrach ihn.

»Jarvas, sie hat recht. Es ist unsere einzige Chance. Das Problem ist nur … Wie kommen wir hier raus?«

»Durch die Kanalisation natürlich.«

Bei dem Klang der fremden Stimme drehten sich alle drei plötzlich um. Jarvas keuchte. »Bei allem, was heilig ist, das ist ja Leynards Mädchen! Wo, zum Kuckuck, kommst du denn her?«

Die Frau strich sich mit einer schlammverkrusteten Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zeigte auf ihren Begleiter. »Das ist mein Sohn Yanis, der jetzige Führer der Nachtfahrer. Ich habe gehört, was ihr gesagt habt. Wir werden euch auf dieselbe Weise, wie wir reingekommen sind, hinausbringen, und wir haben ein Schiff in Norberth vertäut, mit dem wir euch in Sicherheit bringen können.« Sie sprach mit einer energischen Sachlichkeit, die Jarvas an Emmy erinnerte, und er respektierte ihre vernünftige Einschätzung der Situation ohne weiteres.

»Ich suche Tilda und den Jungen.« Emmy verschwand in den Tiefen des Lagerhauses, wie immer gefolgt von dem weißen Hund.

»Wir müssen einen Verwundeten mitnehmen«, sagte Jarvas zu Yanis. »Könnt ihr mir bei ihm helfen?«

Als sie das Gesicht des Fremden sah, wurde Remana weiß. »Hagorn! Was ist ihm zugestoßen? Wird er wieder gesund werden?«

In diesem Augenblick hörten sie vom Tor her das Donnern heftiger Schläge. Brennende Pfeile zischten über ihre Köpfe wie ein Sternschnuppenhagel; einige fielen immer noch brennend auf den Boden innerhalb der Palisade, andere bohrten sich in das hölzerne Fachwerk verschiedener Gebäude oder blieben zwischen den Dachziegeln stecken und setzten die darunterliegenden Balken in Brand. Das Lagerhaus füllte sich mit Rauch. Ein hölzerner Schuppen mit Viehfutter ging in Flammen auf, und Menschen rannten schreiend durcheinander. Wie die Soldaten geplant hatten, war es nur eine Frage der Zeit, daß jemand in Panik geriet und das Tor öffnete.


Emmy taumelte würgend durch den immer dichter werdenden Rauch und ließ sich von dem Hund führen. Angesichts der drohenden Gefahr würde das Tier zu seinen Jungen zurückkehren, und wo die kleinen Hunde waren, würde sie hoffentlich auch Tilda und Grince finden. Es war ihre einzige Chance, sie jetzt überhaupt noch zu finden. Während sie sich blind und mit brennenden, tränenden Augen ihren Weg bahnte, wurde Emmy immer wieder von in Panik geratenen Menschen, die zum Ausgang rannten, beiseite gestoßen. Ohne die beruhigende, machtvolle Gegenwart des Hundes an ihrer Seite hätte man sie schon nach wenigen Sekunden umgerannt. Die Panik war ansteckend. Während sie sich weiter in den hinteren Teil des Lagerhauses vorkämpfte, spürte Emmy würgende Fangarme der Furcht, die sich um ihr hämmerndes Herz legten und ihr die Kehle zuschnürten.

»Emmy? Bist du das?« Tilda schien wie aus dem Nichts vor Emmy aufzutauchen, und die Angst hatte ihr Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. »Ist Grince bei dir?«

»Ich dachte, er wäre bei dir!« Emmy hatte alle Mühe, die Hände der hysterischen Frau, die ihren Arm umklammerten, von ihrem Heisch zu lösen.

»Nein – ich habe ihn zu dir geschickt. Dann brach plötzlich dieser Tumult aus, und das Feuer …«

Emmy fluchte mit so unbeherrschter Wildheit, daß Tilda sie nur schockiert anstarren konnte. »In welche Richtung ist er gegangen?«

»Weiß ich nicht. Ich habe ihn aus den Augen verloren …«

Ihre Worte gingen in einem grauenerregenden Heulen des Hundes unter. Emmys Herz zog sich zusammen. Neben den am Boden verstreuten Kohlen aus dem Feuer stand die weiße Hündin über einer zerfetzten Masse aus Blut und Pelz und wimmerte mitleiderregend – die niedergetrampelten Überreste ihrer Jungen.

»Ich konnte sie nicht aufhalten«, jammerte Tilda. »Eine ganze Horde ist hier durchgerannt. Es gab nichts, was ich hätte tun können.«

»Du blöde Ziege!« Emmy schlug so fest zu, daß Tilda taumelte. »Kannst du denn überhaupt nichts richtig machen?«

Während sie sich schon dafür haßte, daß sie ihren eigenen Zorn und ihre Angst an der Straßendirne ausgelassen hatte, bückte Emmy sich und legte ihre Arme um den Hals des wimmernden Hundes, der mit bemitleidenswerter Verwirrung die schlaffen, kleinen Leiber anstupste. »Komm«, sagte sie leise. »Das hat jetzt keinen Sinn mehr.« Der Kummer des Tieres zerriß sie fast. Dann jedoch wischte sie sich die Tränen aus den Augen, zog den Hund weg, und nach kurzem Zögern trennte das Tier sich von seinem toten Wurf und folgte ihr voller Vertrauen.

»Laß uns gehen.« Emmy faßte Tilda am Arm und zog die Frau hinter sich her. »Wir müssen Grince finden.«

Sie fanden den Jungen bei Jarvas in der Nähe der Lagerhaustür. »Schnell!« sagte der große Mann. »Die anderen sind schon vorgegangen. Haltet euch ganz dicht hinter mir.« Noch bevor sie den Hof hinter sich gelassen hatten, flogen die Tore auf, und die Soldaten strömten wie eine gewaltige, unbarmherzige Woge herein. Jarvas’ Flüche übertönten selbst die Schreie der vielen verängstigten Menschen. Er blieb stehen und drehte sich halb um, als wolle er zurückgehen.

Emmy, die weiterlief, zog an seinem Arm. »Jarvas, nein! Es gibt nichts, was du jetzt noch für sie tun könntest.«

Benziorn und Remana warteten im Eingang des höhlenartigen Gebäudes, das einst eine Walkmühle gewesen war. »Beeilt euch!« dränge Remana sie. »Yanis und Tarnal sind schon mit Hagorn vorgegangen.«

Dann stellte Grince zu Emmys Entsetzen fest, daß seine geliebten Tierchen verschwunden waren. »Meine Hunde!« heulte der Junge. »Wir können sie nicht allein lassen.« Mit diesen Worten riß er sich von Tildas Hand los und verschwand in der Menge.

»Grince!« kreischte Tilda und rannte hinter ihm her, bevor irgend jemand sie aufhalten konnte. Sie wurde sofort erkannt. Emmy sah, starr vor Entsetzen, wie zwei Soldaten sich auf sie stürzten und sie trotz heftigster Gegenwehr wegzerrten. Tilda schaffte es, eine Hand frei zu bekommen, und versuchte, einem der Soldaten die Augen auszukratzen, aber der andere hatte bereits sein Schwert gezogen und rammte es ihr in den Bauch. Emmy bedeckte die Augen und schrie vor Entsetzen laut auf. Remana legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter. »Trauere später«, murmelte die Nachtfahrerfrau. »Im Augenblick würde es dich dein Leben kosten.« Sie hatte recht. Emmy nickte und straffte sich, obwohl in ihrer Kehle ungeweinte Tränen schmerzten.

Jarvas war weitergelaufen, aber sein Gesicht war eine starre Maske des Schmerzes, als er sah, wie die Soldaten in der verängstigten, wogenden Masse wüteten – mit Fäusten, Stiefeln und Lanzen, ohne sich um die Schmerzen zu scheren, die sie Alten und Jungen zufügten, Männern und Frauen gleichermaßen, während sie nach den Leuten suchten, die sie gefangennehmen sollten. Emmy sah, wie Benziorns Mund zu einer schmalen Linie wurde, als er sich dem großen Mann in den Weg stellte. »Nicht du, Jarvas!« rief er. »Du bist ein gebrandmarkter Mann. Ich werde den Jungen suchen und den anderen zeigen, wie sie hier herauskommen.«

»Komm zurück!« schrie Remana. Sie konnte Emmy gerade noch am Ärmel festhalten, bevor sie Benziorn ebenfalls folgen konnte. »Nein! Seid ihr denn alle verrückt geworden? Du bist seine Helferin. Hagorn braucht dich.«

Irgendwie schafften Emmy und Remana es, auf den betäubten Jarvas so lange einzureden, bis sie ihn in die Mühle hineinziehen konnten. Das Getöse der umherflatternden Hühner und der verängstigten Schweine und Ziegen, die dort untergebracht waren, war fast mehr, als sie ertragen konnten. Das Licht der Flammen auf dem Hof erfüllte das dämmrige Gebäude mit einem tanzenden, infernalischen Leuchten. Im Schatten der großen, steinernen Färbetröge bückte Remana sich und tastete den Boden ab. »Hier ist sie!« Sie zog Jarvas am Arm. »Du mußt die Leiter finden. Hast du sie? Und jetzt runter mit dir – schnell!«

Als Emmy über die Schulter der anderen Frau blickte, sah sie die quadratische, dunkle Öffnung des Abflußrohrs und das Eisengitter, mit dem man es versperren konnte. Auf Remanas Drängen hin taumelte Jarvas hinunter, und Emmy schob mit einem schnellen Gebet, daß der Abgrund nicht zu tief war, den widerwilligen Hund hinter ihm her, bevor sie selbst nach den zerfallenden, rostigen Stufen der Leiter tastete.

Der Abstieg war barmherzigerweise nur kurz, und als sie unten angekommen war, sah Emmy bereits einen Lichtschimmer. Yanis stand mit dem blonden, jungen Nachtfahrer auf dem Gehsteig an der Seite des Abwasserkanals, in der Hand eine abgeblendete Laterne, die unheimliche Schatten auf sein bleiches Gesicht warf. Als Remana hinunterkam, drückte er die Lampe Emmy in die Hand und packte seine Mutter an den Schultern.

»Wo, zum Kuckuck, bist du gewesen?« rief er mit heiserer Stimme. »Bei den Göttern, ich dachte, sie hätten dich gefangengenommen!«

»Sei kein Narr«, gab Remana schroff zurück, bevor sie ihn heftig umarmte. »Es tut mir leid, Yanis, wirklich, mir geht es gut. Hat Tarnal Hagorn zum Ausgang gebracht?«

Yanis nickte. Er sah seine Mutter hart an, und sein Kiefer verkrampfte sich. »Ich verlasse mich auf dich, daß du dich um sie kümmerst, Mama. Sobald wir sie auf dem Fluß haben, werden Tarnal und ich durch die Kanalisation zurück in die Stadt gehen und nach Zanna und Vannor suchen.«

Remanas Antwort schockierte Emmy. Bei den Göttern, diese Nachtfahrerin konnte genauso fluchen wie ein Mann!

Einen Augenblick lang dachte sie, Remana wollte mit ihrem Sohn streiten, aber statt dessen hielt die Frau mitten in einem Fluch inne und nickte. »Ich verstehe, Yanis. Ihr beiden solltet gut auf euch aufpassen, und bringt mir die arme Zanna wieder zurück.« Ihr Mund verzog sich zu einer dünnen Linie. »Ich habe nämlich noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen.«

Yanis grinste. »Falls noch etwas von ihr übrig ist, wenn Vannor und ich mit ihr fertig sind.« Mit einem schnellen, schelmischen Lächeln wandte er sich noch einmal an Emmy. »Komm schon, Mädchen, laß uns sehen, daß wir hier verschwinden.«

Sein Lächeln, nach alledem, was er in dieser Nacht mitangesehen hatte, überraschte Emmy. Für sie und Jarvas gab es keinen Grund zum Lächeln – nicht jetzt und auch nicht mehr für eine lange Zeit. Während sie den anderen mit ihrem weißen Hund, der ihr immer dicht auf den Fersen war, durch die dunklen, stinkenden Kanäle folgte, weinte Emmy um die, die sie in Nexis zurückgelassen hatte.


Grince stürzte durch Dunkelheit und Rauch zurück in das Lagerhaus, wo er sich duckte und wand und sich so seinen Weg durch das Gedränge miteinander kämpfender Gestalten erzwang, die einem einzelnen, streunenden Kind wenig Beachtung schenkten. Nicht zum ersten Mal in seinem jungen Leben dankte Grince den Göttern, daß er klein und flink war. Nur seine Fähigkeit, zwischen den größeren Erwachsenen durchzuschlüpfen, bewahrte ihn davor, niedergetrampelt zu werden.

Im Lagerhaus schossen die Flammen schon durch die Decke hindurch und leckten mit gierigen Zungen an den Mauern. Die Luft war schwer und erstickend, und die Hitze stand wie eine undurchdringliche, sengende Wand. Aber zumindest war das Haus fast leer, jetzt, da die Leute vor dem Feuer geflohen waren. Hustend tastete Grince sich zu Emmys kleinem Nest aus Decken vor – und schrak voller Entsetzen vor dem grauenhaften Bild zurück, das sich ihm bot.

»Nein!« Schluchzend ließ er sich fallen, hämmerte mit den Fäusten auf den Boden und stieß wilde Flüche aus. Seine geliebten Hündchen, alle zu einem zerfetzten Haufen Fell zertrampelt! Die Hitze wurde immer schlimmer, und das Atmen fiel ihm jetzt noch schwerer als zuvor. Von oben drang ein seltsames Tosen an seine Ohren. Grince blickte aus tränenüberströmten Augen auf und sah, daß die Rammen jetzt auch an den Stützbalken des Daches züngelten. Eine Woge der Panik ergriff ihn. Er raffte sich mühsam auf und sah, wie sich ein Teil der Decke zu bewegen begann.

Grince packte, ohne nachzudenken, eins der kleinen Pelzbündel und rannte los, rannte um sein Leben, während die Balken weiter nachgaben, lief keuchend, atemlos und blind, einzig getrieben von seinem Instinkt, der ihn durch den Qualm hindurch zur Tür leitete. Funken und brennende Holzstücke landeten auf seinem Haar und versengten seine Kopfhaut, aber er bemerkte es kaum.

Mit einem triumphierenden Aufbrüllen des Feuers fiel die Decke des Lagerhauses in sich zusammen. Nicht eine Sekunde zu früh sprang der Junge durch die Tür; eine Qualmwolke wogte hinter ihm her, und Rammen versengten seine Fersen. Keuchend fiel er zu Boden, aber instinktiv rollte er sich auf den Bauch, um seine kostbare, pelzige Last zu schützen, und mit dem letzten Rest seiner Kraft kroch er aus der Gefahrenzone hinaus, wobei er sich mit einer Hand sein geliebtes Hündchen, mochte es nun lebendig oder tot sein, an die Brust preßte.

Grince setzte sich krampfartig hustend auf und fuhr sich über die tränenden Augen. Das Lagerhaus war jetzt ein flammendes Inferno, und niemand hielt sich mehr im Hof auf – jedenfalls niemand, der noch lebte. Würgend wandte der Junge sich von den dunklen, verzerrten Klumpen ab – Leichen, deren Gesichtszüge größtenteils noch zu erkennen waren. Die meisten von ihnen waren Leute gewesen, die in Jarvas’ Herberge gelebt hatten. Entschlossen richtete er seine Aufmerksamkeit auf das bißchen Pelz, das immer noch in seinen Armen lag. Es war das weiße Hündchen, sein Liebling. Grinces Herz machte einen Satz, aber er wußte, daß es besser war, sich nicht zu früh zu freuen. Die winzige Kreatur kauerte sich zitternd, schwach und elend in seinen Armen zusammen. Sie lebte noch. Aber das Tierchen brauchte etwas zu fressen und Wärme und Fürsorge. Der Junge sah sich mit wilden Blicken um. Wo war Emmy? Sie würde wissen, was zu tun war. Wo waren überhaupt all die anderen?

Grince schob das Hündchen in die zerfetzten Lumpen seines Hemdes, zu sehr um das kleine Geschöpf besorgt, um über seine eigene, mißliche Situation nachzudenken. Dann straffte er die Schultern und machte sich auf den Weg über den zertrampelten, blutbeschmierten Hof, um Emmy zu suchen. Daß sie sich durchaus unter den überall verstreuten Leichen auf dem Hof befinden konnte, war eine Tatsache, mit der er sich nicht auseinandersetzen wollte. Er fand jedoch nicht Emmy, sondern seine Mutter.

Tilda lag im Schlamm, und ihre Eingeweide hingen aus dem Leib wie bei einem geschlachteten Schwein. Ihre leeren Augen starrten in tiefem Entsetzen in den verqualmten Himmel. Grince stand taumelnd über ihr, zu entsetzt für Tränen, unfähig, seinen Blick von dem grausigen Bild abzuwenden. Nach einer Weile spürte er das Hündchen, das sich unruhig unter seinem Hemd regte, und seine winzigen, unbeholfenen Pfoten holten ihn wieder in die Realität zurück. Dieses – dieses Entsetzliche war nicht die Wahrheit. Das war nicht seine Mutter. Sie konnte es nicht sein. Sie mußte irgendwo anders sein, irgendwo in der Stadt … Er würde sie finden, das wußte er; und in der Zwischenzeit mußte er sich um sein Hündchen kümmern.

Grince wandte der grausigen Szene den Rücken zu und bewegte sich langsam wie ein Schlafwandler durch die Tore. Und der kleine Junge, der selbst kaum mehr war als ein Schatten, verschwand spurlos in den dunklen Schatten der Armen viertel von Nexis.

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