25 Heilung

Es war tiefe Nacht, als Aurian und ihre geflügelte Eskorte Aerillia erreichten. Die Himmelsleute, die sie trugen, waren eindeutig unglücklich über das Risiko eines Flugs im Dunkeln, und um das Problem noch zu vergrößern, lagen die Gipfel unter tief hängenden Wolkenbänken, die die Sicht noch weiter einschränkten.

Die Magusch konnte die gemurmelten Klagen ihrer Träger hören, während sie zwischen ihnen hing und gefährlich hin- und hergeschleudert wurde. Und diese Leute dachten, sie hätten Probleme. Aurian schnaubte angewidert. Von allen schwachsinnigen, lächerlichen Arten, wie man von einem Ort zum anderen kommen konnte … Die Maschen des groben Seils schnitten in ihren Körper, und die feuchte Kälte ging ihr bis auf die Knochen – und das trotz der vielen Decken, in die sie sich eingewickelt hatte. Für jemanden, der unter Höhenangst litt, war dies eindeutig nicht die richtige Art zu reisen. Aurian war von ganzem Herzen froh über die Dunkelheit und die Wolken, die ihr die Sicht raubten, so daß sie zumindest nicht sehen konnte, wie tief sie fallen würde, falls diese Idioten sie aus Versehen losließen.

»Aurian? Bist du das, meine Freundin?« Sie mußten sich also endlich Aerillia nähern. Als die Magusch Shias Gedankenruf hörte, vergaß sie vor lauter Sorge um ihre Gefährtin sogar ihre Angst. Shia klang unglücklich und ungewöhnlich gedämpft. »Ist mit dir alles in Ordnung?« fragte sie die Katze.

»Khanu und ich frieren, wir haben Hunger und sind hier eingezwängt. Wir wagen es nicht einmal, uns einen Weg hinaus ins Freie zu graben, aus Angst, Aufmerksamkeit zu erregen. Hier unten sind überall Himmelsleute, die nach uns suchen … Nach uns und nach Anvar.« Shias verzweifelter Tonfall sagte der Magusch besser als alle Worte, daß Anvar noch nicht wieder aufgetaucht war. Schaudernd versuchte sie, die kalte Hand der Furcht abzuschütteln, die sich um ihr Herz krampfte. Ich werde ihn finden, dachte Aurian halsstarrig. Ich weiß, daß er nicht tot ist – das hätte ich gespürt. Entschlossen verbannte sie diese Sorge für den Augenblick aus ihren Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Shia. »Aber ich habe Rabe eine Nachricht geschickt und sie beauftragt, den Geflügelten zu sagen, daß sie euch nichts tun dürfen.«

»Pah!« fauchte Shia. »Sie hat uns schon einmal hintergangen. Ich würde Rabe genausowenig vertrauen wie dem Rest dieser mordlüsternen Himmelsteufel!«

Es entstand eine lange Pause, so lang, daß die Magusch sich schon zu sorgen begann; dann hörte sie eine unbekannte Stimme: Eine andere Katze, aber eindeutig männlich – meldete sich zu Wort: »Sie haben Hreeza getötet.«

»Wir haben sie im Stich gelassen«, fügte Shia verbittert hinzu. »Wir waren nicht rechtzeitig bei ihr.« In Aurians Gedanken erschien eine Vision von einer großen Katze, die in einem zerstörten Gebäude von Feinden in die Enge getrieben wurde. Ihre schwarze Schnauze war mit einem grauen Schimmer überhaucht, und ihre Bewegungen waren vom Alter schon steif, aber in ihren Augen loderten immer noch Wut und Trotz. Eine Schar Geflügelter, die mit Steinen und Messern bewaffnet waren, umringte sie. »Sie hat lange gebraucht, um zu sterben.« Shias Gedankenstimme war beinahe unhörbar. Das Bild zerbrach und verschwand, als Shia die Kontrolle über die Vision verlor, und Aurians Herz wurde von dem Kummer der großen Katze überwältigt. Eine Woge des Zorns erhob sich in ihr gegen jene, die diese grauenvolle Tat begangen hatten.

»Könnt ihr nicht etwas schneller fliegen?« rief die Magusch ihren geflügelten Trägern zu. Sie wünschte sich verzweifelt, sofort nach Aerillia zu kommen, um ihre Freundin zu trösten. »Ich komme«, sagte sie zu Shia. »Wir sind schon fast da. Es dauert nur noch einen kleinen Augenblick.«

Schließlich sah Aurian die vielen wie von einem Glorienschein umgebenen Lichter, die in der sonst undurchdringlichen Dunkelheit auffunkelten. Endlich waren sie in Aerillia! Eine Woge der Erleichterung schlug über ihr zusammen, aber die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Eine große, dunkle Gestalt wirbelte durch den Nebel auf sie zu. Eine höhnisch grinsende Dämonenfratze tauchte vor ihr auf, und harter Stein schlug ihr gegen die Hüfte, als das Netz gegen einen Strebepfeiler krachte. Aurian hörte ihre Träger fluchen, als sie den Turm überflogen, mit dem sie kollidiert waren. Das Herz der Magusch schlug ihr bis zum Hals, als das Geräusch der Flügelschläge über ihr stockte und das Netz mit einem Ruck nach unten sackte. Dann hatten die Himmelsleute den Flug wieder unter Kontrolle, obwohl das Netz mit seinem zu Tode erschrockenen Passagier von der Wucht des Aufpralls immer noch wüst hin- und herschaukelte, während die Magusch ihrerseits heftige Flüche ausstieß.

Die Beschimpfungen blieben ihr in der Kehle stecken, als sie nicht übermäßig sanft auf einem Haufen grausam scharfkantiger Steine abgesetzt wurde. Diese verdammten Geflügelten! dachte sie mürrisch und versuchte, sich aus den verhedderten Maschen zu befreien. Sie mußten uns doch eigentlich erwarten. Warum hat niemand Lampen hergebracht? Ihre Eskorte schien ähnlich zu denken, wenn man von den deftigen, wenig schmeichelhaften Ausdrücken ausging, die sie in der Sprache der Himmelsleute vor sich hin murmelten. Als es Aurian gelungen war, sich aus dem Netz zu befreien, sah sie etwa ein halbes Dutzend Laternen vor sich, ein schwaches Funkeln in den schier undurchdringlichen Nebelschwaden; winzige Lichter, die aus Bodenhöhe auf sie zugehüpft kamen.

In dem allmählich stärker werdenden Licht erkannte die Magusch Chiamh und Yazour, die sich nun ebenfalls aus ihren Netzen herauswanden, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung. In dem dichten Nebel war kaum etwas zu erkennen, aber Aurian konnte doch die hoch aufragenden Trümmer zerbrochener Säulen über gewaltigen Schutthaufen ausmachen. Sie erkannte den zerstörten Tempel wieder, den sie gesehen hatte, als ihr Geist mit Chiamh auf dem Wind nach Aerillia geritten war.

Für weitere Gedanken blieb jedoch keine Zeit. Die Delegation der Himmelsleute näherte sich ihnen. Zwischen vier bewaffneten Soldaten kamen zwei Gestalten auf sie zu – eine alte Frau mit starken Wangenknochen und einem entschlossenen Gesichtsausdruck; ihre Flügel und ihr Haar zeigten ein dramatisches Muster aus Schwarz und Weiß. Neben ihr ging ein bleicher Mann mit weißen Schwingen und dunklen Schatten der Schlaflosigkeit unter den Augen; ein schneeweißer Haarschopf strafte das jugendliche Aussehen seines Gesichtes Lügen.

Die Soldaten zogen sich zurück, als die beiden auf die Magusch zugingen, ihre Köpfe zum Gruß neigten und ihre Schwingen ausbreiteten – eine Geste, die bei den Himmelsleuten eine Verbeugung andeutete. »Lady Aurian«, sagte die Frau. »Ich bin die Meisterärztin Elster. Königin Rabe hat uns geschickt, damit wir dich begrüßen. Sie kann das Bett nicht verlassen – nicht mit so schwer verletzten Flügeln.« Sie warf einen Blick nach hinten, um sicherzugehen, daß die Wachen sie nicht hören konnten. »Es wäre auch nicht klug«, fügte sie leise hinzu, »wenn sie in ihrem augenblicklichen Zustand in der Öffentlichkeit erschiene. Dank der unerwarteten Hilfe eines umherschweifenden Kindes, das für Cygnus eine Botschaft überbracht hat« – sie zeigte auf ihren weißhaarigen Begleiter – »weiß das Volk von Aerillia, daß Schwarzkralle die Königin gefangengehalten hat. Sie wissen jedoch nicht, daß sie nicht mehr fliegen kann und daher eigentlich auch nicht mehr herrschen dürfte. Sollte das herauskommen, würde es mit Sicherheit Schwierigkeiten geben, denn dieser harte Winter geißelt uns nach wie vor, und nicht alle unsere Leute waren gegen den Hohenpriester. Einige sahen in ihm den Vorboten eines goldenen Zeitalters, in dem die Himmelsleute ihre alte Macht wiedererlangen würden.« Sie warf ihre Hände mit einer Geste der Verzweiflung in die Luft.

»Lady, wir stehen am Rande eines Bürgerkriegs, und nur du kannst uns retten.«

Aurian dachte an den Tod der heldenhaften Hreeza und an Shias Trauer. Sie erinnerte sich auch an den Stapel Katzenfelle, den die Geflügelten in Incondors Turm gebracht hatten, wo man sie – durch Rabes Verrat – gefangengenommen hatte. In diesem Augenblick kümmerte es sie wenig, ob die Zivilisation der Himmelsleute zusammenbrach oder nicht … Davon abgesehen, brauchte sie jedoch alle Hilfe gegen Miathan, die sie bekommen konnte. Und als Preis dafür, daß sie Rabe half, konnte sie dem Abschlachten der Katzen ein für allemal ein Ende bereiten und vielleicht Frieden zwischen den beiden verfeindeten Völkern schaffen.

Aurians Miene hellte sich auf. Wenigstens war Shias arme Freundin dann nicht umsonst gestorben. Die Magusch, die sich plötzlich viel besser fühlte, wandte sich wieder an Elster. »Natürlich werde ich euch helfen«, versprach sie, »aber bevor ich zu Königin Rabe gehe, muß ich einige meiner Freunde finden.« Der weißhaarige Cygnus machte eine Bewegung, als wolle er protestieren, aber Aurian brachte ihn mit einem stahlharten Blick zum Schweigen. »Sobald ich meine Freunde gefunden habe – und keine Sekunde früher«, sagte sie fest. »Und jetzt zeigt mir den Weg zu den Korridoren, die unter dem Tempel liegen.« Sie winkte ihre Kameraden heran. »Chiamh, Yazour, kommt bitte mit.«

Aurian hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie einen Schrei hörte: »Ich komme!« Plötzlich wurde die Magusch von einem gewaltigen, flammenäugigen Schatten, der schwärzer als die Dunkelheit war, zu Boden geworfen. Im Fallen sah Aurian aus den Augenwinkeln noch eine weitere Katze, die kurz vor ihr stehengeblieben war – Shia lag auf ihr und schnurrte wie herannahender Donner, während sie ihr dunkles Maul an Aurians Gesicht rieb und ihre Freundin umarmte.

»Nein!« Die Stimme gehörte Chiamh. Ihr folgte ein herzzerreißender, schriller Schrei. Als die Magusch und Shia auseinandersprangen, sah Aurian die geflügelten Krieger, die in die Hocke gegangen waren, um ihre Bögen zu spannen. Das Windauge stand zwischen den Katzen und den zu Tode erschrockenen Himmelsleuten, und in seinen Augen flackerte leuchtendes Silber, das das unruhige Fackellicht widerspiegelte, während seine Hände die nebelschwere Luft zu Schleifen zu binden schienen. Hoch über den Geflügelten ragte die gräßliche Gestalt eines Dämons auf.

»Laßt die Waffen fallen«, rief Chiamh, »oder meine Kreatur wird euch angreifen!« Als Schwerter und Armbrüste zu Boden fielen, sah das Windauge Aurian an. »Lady, sie waren drauf und dran, deine Freunde zu töten«, knurrte er. Heißer Zorn durchfuhr die Magusch, aber sie hatte keine Zeit, sich ihren Gefühlen hinzugeben. Sie konnte den Druck auf Chiamhs Gesicht sehen, während er versuchte, seine grauenerregende Erscheinung in der fast windstillen Luft aufrechtzuerhalten. Aurian blickte mit einem Schaudern zu dem Dämon hinauf. Er sah für ihren Geschmack den Todesgeistern viel zu ähnlich.

Sie wandte sich an die am Boden knienden Himmelsleute. »Wenn irgend jemand diesen Katzen auch nur ein Haar krümmt, werden wir den Dämon, den ihr da vor euch seht, auf eure Stadt loslassen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Wie du es wünschst, Lady. Ich gebe mein Wort darauf, daß man den Tieren nichts tun wird.« Elster war aschfahl, und ihr Gesicht glühte vor Zorn, aber Aurian nahm an, daß dieser Zorn nicht ihr, sondern den Wachen mit ihren Armbrüsten galt. Und tatsächlich drehte Elster sich sofort um und stürzte sich mit wüsten Beschimpfungen auf die Bogenschützen. Aurian lächelte. Sie wußte, daß sich hinter dem Zorn der alten Frau furchtbare Angst verbarg.

Mit einem erleichterten Seufzer ließ Chiamh die Luftstränge los, aus denen er sein Ungeheuer gebildet hatte, und das Silber floß aus seinen Augen heraus. Aurian legte ihm stützend einen Arm um die Schultern, denn sie sah, daß er fast völlig erschöpft war. »Ich danke dir, mein Freund«, sagte sie leise.

Das Windauge sah Shia an, und seine braunen Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Als du mir von der Katze erzähltest, die deine Freundin ist, hatte ich ja keine Ahnung, daß du einen von den tollwütigen schwarzen Geistern unserer Berge meintest!«

»Tollwütig!« bemerkte Shia spitz. »Daß ich nicht lache! Alles, was wir von deinesgleichen je zu sehen bekommen haben, waren Speere und Pfeile – und das seit dem ersten Tag, an dem ihr in unsere Berge eingedrungen seid und uns unser Land gestohlen habt! Es stimmt schon, die meisten Mitglieder deines Volkes haben weder den Verstand noch die nötigen Mittel, um mit uns zu sprechen, aber du und deine Vorfahren, ihr wäret dazu noch in der Lage gewesen!«

»Mutter der Tiere!« rief Chiamh und faßte sich an die Stirn. »Sie hat mit mir gesprochen! Als sie dich vorhin angesprungen hat, Aurian, war ich sicher, daß sie das aus echter Freundschaft tat. Das war auch der Grund, warum ich euch geholfen habe – sonst hätte ich vielleicht auch gedacht, daß sie dich angreift.«

Aurian lächelte. »Ihr beide könnt euch später unterhalten und hoffentlich eine Möglichkeit finden, zwischen euren Völkern Frieden zu schließen. Im Moment habe ich das Gefühl, daß unsere Gastgeber langsam ungeduldig werden. Ich glaube, wir sollten jetzt besser zu Königin Rabe gehen.« Ihre Stimme klang schärfer, und Shia, die neben ihr stand, fauchte. Die Magusch legte tröstend eine Hand auf den Kopf der großen Katze. »Ich weiß, meine liebste Freundin«, seufzte sie. »Aber wenn wir Anvar finden wollen, brauchen wir ihre Unterstützung, und das heißt, daß ich dem verflixten Mädchen helfen muß.«

»Aurian?« Chiamh zog an ihrem Arm. »Ich glaube, ich kann dir bei deiner Suche helfen. Darf ich hierbleiben und ein paar Nachforschungen anstellen, solange du bei der Königin bist?«

Die Magusch warf einen fragenden Blick auf Elster, die zustimmend nickte. Aurian bedankte sich bei der Ärztin und wandte sich dann wieder an Chiamh. »Was meinst du mit Nachforschungen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich würde im Augenblick lieber nichts Näheres darüber sagen, und wir haben auch keine Zeit für lange Erklärungen. Ich werde zurückkommen, sobald ich kann – ganz gewiß aber vor der Morgendämmerung.« Mit diesen Worten mußte Aurian sich zufriedengeben. Sie wußte, daß sie dem jungen Windauge vertrauen konnte. Also drehte sie sich zu den kräftigen, geflügelten Trägern um, die schon die Netze bereit machten, um sie und ihre Kameraden hoch durch die Lüfte zu den königlichen Gemächern zu bringen. Mit einem Seufzer fügte sie sich in ihr Schicksal.


Rabe hatte sich vor Aurians Ankunft gefürchtet. Schon immer hatte sie beträchtliche Ehrfurcht vor der großen, rothaarigen Magusch verspürt, und jetzt, da sie Aurian Grund gegeben hatte, sie zu hassen … Rabe schauderte und stöhnte vor Schmerzen. Selbst diese kleine Bewegung bereitete ihr heftige Schmerzen in ihren zertrümmerten, zersplitterten Schwingen. Wenn sie mir doch nur helfen könnte, dachte das geflügelte Mädchen verzweifelt. Unglücklicherweise glaubte sie trotz Aurians Versprechen nicht daran, daß die Magusch etwas Derartiges tun konnte. Wäre die Situation umgekehrt, überlegte Rabe, würde ich ihr nicht helfen … Da öffnete sich die Tür ihres Gemachs, und der Gegenstand ihrer Gedanken stand vor ihr.

Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. »Du brauchst mich nicht zu bemitleiden!« brauste Rabe auf, bevor sich die Magusch – wie es andere bereits getan hatten – mit eben diesem Ausdruck in den Augen von ihr abwandte.

Aurian zuckte nur mit den Schultern. »Du hast es dir selbst zuzuschreiben«, sagte sie kühl, und das geflügelte Mädchen biß wütend die Zähne zusammen. Noch mehr erzürnte sie der Umstand, daß die Magusch es bemerkt hatte.

Aurian hob eine Augenbraue. »Entscheide dich«, sagte sie brutal. »Ich bin nicht hergekommen, um dich zu bemitleiden, Rabe. Ich bin gekommen, um dich wie versprochen zu heilen – und dann werden wir sehen, was du tun kannst, um deinen Betrug an uns allen wiedergutzumachen.« Ein tiefes, drohendes Knurren folgte den harten Worten, und Rabes Herz sank, als sie sah, daß Shia mit einer fremden Katze die Magusch begleitet hatte. Noch mehr entsetzte es sie, Yazour hinter ihnen zu entdecken, dessen Blick hart wie blauer Stahl war. Die Geflügelte zuckte unter seinem vernichtenden Blick zusammen. Während ihrer gemeinsamen Zeit im Wald hatte der junge Hauptmann keinen Zweifel daran gelassen, daß er sich zu ihr hingezogen fühlte. Als sie seine zaghaften Annäherungen immer wieder verächtlich zurückgewiesen hatte, waren seine Gefühle für sie langsam erkaltet. Daher erstaunte es sie zu sehen, daß sein Gesicht vor Entsetzen bleich wurde, als er das Ausmaß ihrer grauenhaften Verletzungen bemerkte. Er schüttelte erschrocken den Kopf und biß sich auf die Lippen, als wolle er sich jede Äußerung verbieten.

»Lady, müssen diese Tiere unbedingt hier sein?« Cygnus, der mit Elster eintrat, runzelte die Stirn. Er durchquerte das Gemach und legte den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die furchterregenden Katzen. Dann stand er beschützend vor Rabe.

»Jawohl, das müssen sie«, erwiderte Aurian knapp. »Jetzt geh mir aus dem Weg und laß mich endlich anfangen.«

»Was?« Elster sah sie verblüfft an. »Du hast die Absicht, sie sofort zu heilen? Einfach so – ohne irgendwelche Vorbereitungen?«

»Nun, ich muß zugeben, ein heißes Getränk wäre in dieser eiskalten Nacht überaus willkommen, aber da mir niemand etwas angeboten hat …« Die Magusch zuckte mit den Schultern. »Ja, ich werde es sofort tun, und ich möchte, daß ihr beide den Raum verlaßt.« Sie warf einen kritischen Blick auf die Überreste von Rabes Schwingen. »Das wird eine heikle Angelegenheit werden, und wenn ich dabei unterbrochen oder abgelenkt werde, könnte sie hinterher in einem schlimmeren Zustand sein als jetzt.«

Rabe sah die bittere Enttäuschung auf Elsters Gesicht und ein Aufblitzen wütender Ablehnung in Cygnus’ Augen. Einen Augenblick war sie versucht, darauf zu bestehen, daß die beiden blieben. Allein wäre sie Aurian und den Katzen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Die Magusch sah sie mit erhobenen Augenbrauen an und hob herausfordernd das Kinn. »Nun, Rabe?« fragte sie leise. »Willst du mir glauben, daß ich mein Wort halte, oder nicht?«

»Laßt das nicht zu, Euer Majestät«, drängte Cygnus. Elster sagte nichts, machte aber einen unverkennbar unglücklichen Eindruck. Das geflügelte Mädchen zögerte, aber nur einen Augenblick lang.

»Ich schulde dir mein Vertrauen«, erwiderte sie leise, »und noch viel mehr als das.«

Die Magusch nickte kurz und nahm die Gefühle, die hinter Rabes Worten standen, kommentarlos zur Kenntnis. Rabe drehte sich zu den protestierenden Ärzten um. »Hinaus!« sagte sie in dem herrischen Tonfall, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte. »Und kommt nicht wieder, ehe man euch ruft!«

»Tja …« Aurian runzelte nachdenklich die Stirn, »einer von euch sollte vielleicht doch besser bleiben. Um diesen Flügel zu reparieren, brauche ich ein unversehrtes Exemplar, an dem ich mich orientieren kann.« Sie zeigte auf Elster. »Es ist besser, du bleibst hier – du regst dich nicht so auf wie dein Freund.«

»Lady – nein!« protestierte Cygnus. »Ich bin auch Arzt. Willst du mich zwingen, ein solches Wunder zu verpassen? Es ist einfach nicht gerecht, mich allein auszuschließen.«

Aurian seufzte. »Na schön.« Sie sah Yazour an. »Wenn unser junger Freund hier auch nur einen einzigen Laut von sich gibt, möchte ich, daß du ihm die Kehle durchschneidest.«

Yazour zog mit einem bösartigen, kleinen Grinsen einen langen, scharfen Dolch aus seinem Gürtel und machte ganz den Eindruck, als wäre er nur allzu glücklich, Aurians Befehl zu gehorchen. Der Protest, den Rabe hatte äußern wollen, erstarb ihr auf den Lippen.

Als die Magusch mit der Arbeit begann, herrschte vollkommenes Schweigen in dem Gemach. Rabe hatte später nur noch wenige klare Erinnerungen an die Heilung selbst, aber was ihr für alle Zeiten im Gedächtnis blieb, war das unerwartet plötzliche Nachlassen des Schmerzes, als Aurian mit sanfter Hand ihre Schwingen berührte. Da der Schmerz, der sie schon so lange ohne Unterlaß gequält hatte, endlich beseitigt war, schwelgte Rabe in einer warmen Woge des Glücks, und ihr Körper fühlte sich wunderbar entspannt an, als wäre er plötzlich schwerelos. Nichts in ihrem Leben war bisher so herrlich gewesen. Schläfrig ließ sie ihre Gedanken schweifen und spürte kaum noch das leichte Streicheln, als sich die Hände der Magusch über ihre zerstörten Schwingen bewegten, ebensowenig wie die Kraft von Aurians Magie, die in zerstörtes Gewebe und zersplitterte Knochen strömte, um den Schaden zu beheben, den Schwarzkralle angerichtet hatte.

Wenn sie doch nur auch meinen Geist heilen könnte, dachte Rabe, wenn sie mir meinen Kummer nehmen könnte, meine Trauer um meine Mutter – und um Harihn, nach dem ich mich sehne, obwohl er mich betrogen hat. Wenn sie mir doch nur die Schuldgefühle nehmen könnte, die mich quälen, seit ich sie und die arme Nereni betrogen habe … Aber unter dem Segen von Aurians heilender Berührung hatten nicht einmal solch bittere Gedanken die Macht, das geflügelte Mädchen zu peinigen. Vielleicht fand sie ja am Ende doch einen Weg, ihre Schuld zu sühnen, und man würde ihr verzeihen … Getröstet von diesem Hoffnungsschimmer, entschwebte Rabe in das Reich der Träume.

»So – fertig.« Aurian straffte ihren schmerzenden Rücken und rieb sich die letzten Spuren des blauen Maguschlichts von ihren Händen, die mittlerweile vor Müdigkeit und Anspannung zitterten. Das Zusammenflicken von Rabes komplizierten Flügeln war die schwierigste Heilung, die sie je unternommen hatte. Während sie sich ihre brennenden Augen rieb, warf die Magusch einen Blick aus dem Fenster. Obwohl es draußen immer noch dunkel war, konnte sie dieses seltsame Leuchten in der Luft spüren und die Stimmung, die immer herrscht, wenn die Nacht sich der Morgendämmerung entgegenstreckt.

Aurian wandte sich vom Fenster ab und bemerkte erst jetzt, daß niemand ihr eine Antwort gegeben hatte. Rabe schlief bereits. Shia und Khanu schliefen ebenfalls, eng aneinandergeschmiegt in einer Ecke, schwarz die eine Katze, schwarzgold gescheckt die andere. Yazour stöberte hinter den bestickten, schweren Vorhängen und spähte in die Nischen hinein, die sich dahinter verbargen. »Irgendwo in diesem Zimmer muß doch etwas Wein zu finden sein«, murmelte er. Cygnus und Elster starrten fassungslos auf Rabes Flügel. »Unmöglich!« flüsterte der junge Arzt.

Elster schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach sie ihm. »Es war wahrhaftig ein Wunder.« Zum ersten Mal lächelte sie Aurian mit echter Wärme an. »Lady, wie können wir dir je dafür danken, daß du unsere Königin gerettet hast?«

Die Magusch sah sie schmunzelnd an. »Nun, für den Anfang wären etwas Eßbares, Wein und ein warmes Bett gar nicht so schlecht.« Nachdem sie so viel Energie auf die Heilung von Rabes Schwingen verwandt hatte, konnte sie sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten. »Morgen«, fügte sie trocken hinzu, »spreche ich mit Rabe und werde euch dann sagen, was ihr sonst noch für mich tun könnt.«


»Was jetzt, Aurian?« Yazour, der sich gerade schwungvoll auf die spindeldürre Couch hatte fallen lassen wollen, warf einen besorgten Blick auf das zarte Möbelstück und setzte sich behutsamer als ursprünglich geplant nieder. Die Magusch zog sich ihre abgetragenen Stiefel von den Füßen und legte sich in die Mulde des seltsamen, kreisförmigen Bettes. »Laß mich erst essen und eine Weile ausruhen, und sobald wir etwas Tageslicht haben, werden wir versuchen, herauszufinden, was mit Anvar passiert ist.«

Sie streckte die Hand nach dem niedrigen Tischchen aus, das neben dem Bett stand, und nahm noch ein Stück von dem schweren, klumpigen Brot, das aus irgendwelchen Erdknollen gebacken zu sein schien. Sie schnitt eine Grimasse und schluckte einen Bissen hinunter. »Bei den Göttern, die haben hier wirklich nicht viel zu essen«, bemerkte sie. »Wenn die Geflügelten so verzweifelt sind, ist es kein Wunder, daß Schwarzkralle es geschafft hat, die Stadt unter seine Kontrolle zu bringen.«

Yazour grunzte schläfrig. Seine Augen waren bereits halb geschlossen, und Aurian beneidete ihn für einen flüchtigen Augenblick. Forral hatte ihr vor langer Zeit den alten Kriegertrick beigebracht, wie man auch den kürzesten Augenblick zu einem erholsamen Schlaf nutzen konnte. Aber obwohl das runde Turmzimmer mit seinen dicken, vor Zugluft schützenden Wandbehängen und mit seinen Wollteppichen und dem glühenden Eisenofen in der Ecke der wärmste Ort war, an dem sie sich seit ihrem Entkommen aus der Wüste aufgehalten hatte, und obwohl sie todmüde war, war sie sich sicher, daß sie keine Ruhe finden würde, bevor sie nicht wußte, wo Anvar war. Aurian nahm einen Schluck von dem dünnen, sauren Wein, der alles war, was man in Aerillia noch bekommen konnte, und sehnte sich vergeblich nach einer Tasse Liafa. Als eine Bewegung auf der Landeplattform die Ankunft Chiamhs anzeigte, hieß sie ihn mit unverhohlener Erleichterung willkommen.

Als das Windauge eintrat, öffnete Shia die schläfrigen Augen und war sofort hellwach. Die Katze war genauso begierig wie Aurian, herauszufinden, wo Anvar steckte. Chiamh klopfte sich ein paar Schneeflocken von seinem Mantel und stellte sich zitternd vor den Ofen, um sich die Hände zu wärmen. Die Magusch reichte ihm einen Becher Wein. »Hast du etwas herausgefunden?« fragte sie drängend.

Das Windauge zuckte mit den Schultern. »Ich habe tatsächlich Neuigkeiten – aber ob sie gut oder schlecht sind, das kann ich nicht sagen. Hast du schon von den Moldan gehört, Lady?«

»Du meinst diese riesigen Erdelementarwesen?« Aurian runzelte die Stirn. »Nur in alten Legenden über die Verheerung. Ich dachte, die alten Magusch hätten sie aus der Welt verbannt, genauso wie die Phaerie. Was haben sie denn mit der Sache zu tun?«

»Mehr als du denkst«, antwortete Chiamh. »Die Moldan wurden nicht aus der Welt gejagt, sondern lediglich gefangengenommen, und sie schlafen jetzt in den Bergen, die ihr irdisches Fleisch sind.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm, und seine kurzsichtigen, braunen Augen blinzelten ernst. »Aurian, die Moldan sind wieder erwacht. In meinem eigenen Land habe ich mehrmals mit dem Moldan des Windschleierbergs gesprochen. Und weißt du, was diese Wesen geweckt hat? Die Wiedererschaffung des Erdenstabs.«

Aurian starrte ihn entsetzt an. »Was? Du meinst, diese Kreaturen sind wieder auf freiem Fuß? Und das Ganze ist meine Schuld?«

»Nicht direkt auf freiem Fuß – zumindest nicht in dieser Existenz«, erwiderte Chiamh. »Aber sie sind jetzt wach und sehr mächtig – und nicht alle haben so gute Absichten wie mein Freund Basileus, der Windschleiermoldan.«

Aurian sah sein Zögern und schauderte. Schon jetzt hatte sie das ungute Gefühl zu wissen, wie seine nächsten Worte lauten würden. »Willst du mir damit sagen«, erkundigte sie sich mit leiser Stimme, »daß eins von diesen Elementarwesen hier in Aerillia ist?«

»Jawohl, genau das«, antwortete das Windauge grimmig. Der junge Mann brachte es kaum fertig, ihrem Blick standzuhalten. »Der Stab der Erde muß für ein solches Geschöpf eine unwiderstehliche Versuchung darstellen. Obwohl dieser Berg unverkennbar ein Moldan ist, so weilt sein Bewußtsein doch nicht auf dieser Welt. Ich fürchte, es durchstreift andere Reiche, die weit jenseits dieses irdischen Ortes liegen – und wenn du sagst, dein Freund sei nicht tot, dann fürchte ich, diese Kreatur hat Anvar mitgenommen, um ihm den Stab abzujagen. Und wenn sie Erfolg hat …« Das Windauge schauderte. »Wer weiß, was dann aus unserer armen Welt wird.«

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