24 Die Herrin der Nebel

Das Windauge klopfte Aurian unbeholfen auf die Schulter, und sie war ihm dankbar für diese Geste des Verständnisses. »Du sagtest, dein Begleiter, die andere helle Macht, sei in Aerillia?« fragte er sie. Die Magusch nickte, und trotz ihrer Besorgnis konnte sie sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen angesichts seiner Beschreibung von Anvar. Sie hatte eine augenblickliche Zuneigung zu diesem rundgesichtigen, scheuen, jungen Seher mit dem freundlichen Lächeln gefaßt.

»Du hast vorhin gesagt, daß du mir vielleicht helfen könntest. Aber wie?« fragte sie.

»Ich werde meine Andersicht benutzen, um auf dem Wind nach Aerillia zu reiten«, sagte das Windauge zu ihr. »Dort sollte ich mit einigem Glück in der Lage sein, deinen Begleiter zu finden.«

Aurian sah voller Erstaunen zu, wie das Silber Chiamhs Augen überflutete. Er lehnte an der Brüstung und entspannte sich, während aller Ausdruck aus seinen Zügen wich, und die Magusch begriff, daß sein Bewußtsein seinen Körper verlassen hatte. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie atmete tief durch, entspannte ihren eigenen Körper und schlüpfte mühelos aus ihrer irdischen Gestalt.

Chiamh schwebte immer noch über dem Turm: ein goldener Wirbel leuchtenden Lichts. Sie sah sein erstauntes Flackern, als er ihre Gegenwart spürte. »Kannst du mich hören?« fragte Aurian ihn. In ihrer körperlichen Gestalt hatte sie nicht daran gedacht, sich mit dem Windauge mittels Gedankenrede zu unterhalten, und einen Augenblick lang hatte sie doch gewisse Zweifel, was das Ausmaß seiner Fähigkeiten betraf.

»Ja, Herrin!« Seine Gedankenstimme klang klar und freudig. »Wie wunderschön du aussiehst: ein Wesen aus Licht, ganz so, wie ich dich das erste Mal in meiner Vision gesehen habe.«

In ihrer Furcht um Anvar hatte die Magusch wenig Zeit für Komplimente, wie nett sie auch sein mochten, aber sie konnte dem Seher nicht böse sein. »Ich habe mich gefragt, ob du – ob du mich wohl mitnehmen würdest, wenn du auf dem Wind nach Aerillia reitest?« erkundigte sie sich zaghaft.

»Wir können es ja versuchen.« Als strecke er seine Hand nach ihr aus, hielt Chiamh ihr einen glitzernden, leuchtenden Tentakel hin, und Aurian streckte ihrerseits einen ähnlichen Fühler aus ihrem eigenen Wesen aus, um ihn zu berühren. Die beiden trafen sich in einem Aufleuchten warmen Lichts, und plötzlich nahm die Magusch die Welt so wahr, wie Chiamh sie mit seiner Andersicht sah. Sie keuchte vor Erstaunen, als sie die Berge wie durchsichtige, glitzernde Prismen sah und die Winde wie lebendige Flüsse aus fließendem Silber.

»Bist du bereit?« Chiamhs Stimme hallte stolz durch ihre Gedanken, und Aurian wußte, daß er ihr Entzücken gespürt hatte.

»Ich bin bereit«, erwiderte sie.

»Dann halt dich gut fest!« Das Windauge streckte einen weiteren, leuchtenden Fühler aus und ergriff ein Band des silbrigen Windes. Im nächsten Augenblick ritten sie auch schon auf einem Strom aus Licht mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Berge.

»Das ist einfach herrlich«, rief Aurian glückselig. Da sie, während sie einander berührten, ganz auf Chiamhs Gedanken eingestellt war, konnte sie auch seine Freude über den wilden, belebenden Ritt spüren.

»Ich habe gar nicht gewußt, daß es so sein kann«, erwiderte er. »Früher bin ich immer allein gereist, und es war einsam und manchmal erschreckend. Aber das hier … Herrin, was für ein Geschenk du mir gemacht hast! Ich werde mich nie wieder vor meiner eigenen Macht fürchten!«

Aurian war froh, daß sie ihm geholfen hatte, denn auch er hatte ihre Erfahrungen bereichert, indem er sie auf diese Reise mitgenommen hatte. Es war eins der unglaublichsten Gefühle in ihrem Leben, nur beeinträchtigt durch den Schatten der Sorge um Anvar und Shia, der sich nie ganz aus ihren Gedanken verbannen ließ.

»Hier ist Aerillia«, sagte das Windauge endlich. Zu ihrem Erstaunen sah Aurian etwas, das wie eine Ansammlung leuchtender Funken weit unter ihr lag, und dann erkannte sie voller Verblüffung, daß es sich dabei um die unzähligen Lebensenergien der Geflügelten handelte, die oben auf dem gewaltigen Gipfel lebten.

Als das Windauge weiter hinunterschwebte, strengte Aurian sich an, um die Stadt auf dem Gipfel besser sehen zu können. Jetzt war die unheimliche, prismatische Wirkung von Chiamhs gesteigerter Sicht ein entschiedener Nachteil. »Gibt es denn keine Möglichkeit, wie ich meine normale Sehweise zurückbekommen kann?« fragte sie ihn.

»Aber gewiß doch.« In Chiamhs Gedankenstimme schwang Bedauern darüber mit, daß ihre Reise nun zu Ende ging. »Du bist jetzt hier – zumindest dein inneres Selbst ist hier. Laß einfach los, und du wirst wieder normal sehen. Ich werde ganz in deiner Nähe bleiben, um dich zurückzubringen, wenn du gehen willst.«

Aurian dankte dem Windauge, zog den Lichttentakel, mit dem sie sich an ihm festgehalten hatte, zurück und trennte damit ihre Verbindung zu Chiamhs innerer Gestalt. Als sie nach unten sah, keuchte sie. Auf dem höchsten Gipfel des Berges lagen die Trümmer eines großen, schwarzen Gebäudes, und überall um die Ruine herum kreisten in Panik geratene Himmelsleute. Es sah ganz danach aus, als hätte Anvar den Stab zurückbekommen. Aber warum in aller Welt antwortete er ihr nicht?

Während ihre innere Gestalt sich dem Boden näherte, versuchte Aurian statt dessen, nach Shia zu rufen, und bekam endlich eine Antwort. »Wo, um alles in der Welt, bist du?« wollte die Magusch wissen. In ihrer Besorgnis klang sie ausgesprochen schroff. »Was ist passiert? Wo ist Anvar?«

»Ich verstecke mich«, erwiderte Shia grimmig, »zusammen mit Khanu, einem Kameraden meiner eigenen Rasse, der mitgekommen ist, um mir zu helfen. Wir sind in den Korridoren unter dem Tempel. Es ist niemand hier, der diesen geflügelten Ungeheuern erklären könnte, daß wir gekommen sind, um sie zu befreien …«

Kalte Furcht durchzuckte Aurian, als sie das Zögern in der Stimme der großen Katze hörte. »Warum kann Anvar es ihnen nicht erklären? Wo ist er?« Ihre Gedankenstimme war kaum mehr als ein Flüstern, das schließlich zu einem verängstigten Aufschrei anschwoll. »Wo ist Anvar? Er kann nicht tot sein. Das hätte ich gespürt!«

»Du hast recht.« Shias nüchterne Stimme trug sehr dazu bei, daß die zu Tode erschrockene Magusch sich wieder ein wenig beruhigte. »Ich hatte noch, während er Schwarzkralle verfolgte und den Tempel verließ, Kontakt zu ihm. Der Priester ist zu einem Turm geflohen, wo Anvar ihn getötet hat. Dann gab es plötzlich ein Erdbeben – kein natürliches Phänomen, da bin ich mir sicher …« Shias Stimme verriet ihre Verwirrung. »Als der Turm zusammenbrach, habe ich den Kontakt mit Anvars Gedanken verloren, aber es fühlte sich nicht so an wie der Tod. Es war einfach so wie damals in Dhiammara, als du dich in dieser magischen Falle verfangen hast und in den Berg hineingerissen wurdest. Es war, als sei er einfach verschwunden.«

»Bei den Göttern!« Aurian war wie betäubt. Was war aus Anvar geworden? War er in eine Falle geraten, die Miathan gestellt hatte, um ihnen den Stab zu stehlen? Aber der Erzmagusch konnte im Augenblick doch nichts tun, nachdem er durch den Tod des Prinzen so abrupt aus Harihns Körper vertrieben worden war. »Hör mir zu, Shia«, sagte sie. »Ich muß eine Möglichkeit finden, nach Aerillia zu kommen. Ich bin im Augenblick nicht in meinem Körper, aber …«

»Dann ist das Kind also da?« erkundigte Shia sich ängstlich.

»Ja, und wir sind jetzt alle frei. Harihn ist tot, aber das erzähle ich dir alles später. Ich werde eine Möglichkeit finden, dich so schnell ich nur kann zu erreichen.«

»Das hoffe ich sehr. Wir sitzen hier unten in der Falle, und es kann nicht mehr lange dauern, bis man uns entdeckt. Aurian, bevor du gehst …« Hastig erzählte Shia der Magusch, was Rabe widerfahren war. Es war eine schlimme Neuigkeit, aber die Magusch hatte zu viele andere Sorgen, um Mitleid für das Mädchen zu empfinden, das sie betrogen hatte. Trotzdem konnte ihr die Information durchaus nützlich sein. In Aurians Gedanken formten sich die ersten Grundlagen einer Idee.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie eilig zu Shia. »Paß auf dich auf, meine Freundin, bis ich zurückkehre.« Mit diesen Worten suchte die Magusch nach Chiamh, um so schnell wie möglich wieder in ihren Körper zurückzukehren.


Das Wiedersehen, das im Turm stattfand, war stürmisch. Bohan stürzte auf Aurian zu, und Tränen strömten ihm über das Gesicht, während die Magusch versuchte, ihr Entsetzen über seinen furchtbaren Zustand und die Wunden, die seine gewaltigen Glieder entstellten, zu verbergen. Ihr Haß auf Harihn bekam neue Nahrung, und in dieser Stimmung fiel es ihr nicht weiter schwer, auch ohne Mitleid an Rabe zu denken.

Sie ließ Parric und Schiannath den geflügelten Gefangenen vom Dach herunterbringen, und während eine überaus widerwillige Nereni ihm Suppe und Liafa gab, damit er wieder zu Kräften kam, erzählte ihm die Magusch ohne Umschweife von Schwarzkralles Tod. Obwohl er bei dieser Nachricht erblaßte, glaubte Aurian, ein kurzes Auffunkeln von Erleichterung in seinen Augen zu entdecken, und hoffte, daß es dadurch leichter werden würde, sich seiner Mitarbeit zu versichern. Tatsächlich hatte sie schon seine Dankbarkeit gewonnen, indem sie die Wunden, die Schiannath ihm beigebracht hatte, geheilt hatte, und als sie ihm anbot, ihn frei nach Aerillia zurückkehren zu lassen, wenn er Rabe eine Nachricht überbrachte, war er nur allzugern bereit, ihre Bitte zu erfüllen.

Als sie in der Tür stand und dem Himmelsmann nachsah, wie er durch die mit Schnee beladenen Wolken schwebte, spürte die Magusch, wie jemand neben sie trat. Yazour stand hinter ihr, und sein Gesicht verriet deutlich, daß er sich Sorgen machte. »Aurian, ist es klug, daß du Rabe noch einmal dein Vertrauen schenken willst?« fragte er sie.

Aurian zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine andere Wahl«, erwiderte sie. »Ich muß persönlich nach Aerillia, wenn ich herausfinden will, was mit Anvar geschehen ist. Außerdem, welche Wahl hat sie denn schon? Nach dem, was Anvar Shia über die Zerstörung von Rabes Schwingen erzählt hat, sind meine heilenden Kräfte ihre einzige Hoffnung, jemals wieder fliegen zu können. Und wenn sie meine Hilfe will, wird sie verdammt gut beraten sein, meine Bitte zu erfüllen und mir ihre geflügelten Krieger zu schicken, die uns nach Aerillia bringen.«

»Und wen willst du mitnehmen?«

Aurian lächelte dem Krieger zu. »Das hört sich ja genauso an wie eine von Anvars Fragen. Es ist eigentlich gar keine Frage.«

Yazour nickte. »Ich werde mit dir gehen, es sei denn, du tust etwas sehr Drastisches, um mich davon abzuhalten.«

»Yazour, ich muß gar nichts Drastisches tun. Deine Wunden wären schon genug.« Als sie den ernsten Ausdruck auf seinem Gesicht sah, hörte Aurian sofort auf, ihn zu necken. »Jetzt, da ich meine Kräfte zurückhabe, kann ich dich jedoch im Nu wieder heilen.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich möchte, daß du mit mir kommst, Yazour. Abgesehen von Anvar gibt es niemanden, den ich lieber an meiner Seite hätte. Was die anderen betrifft«, sie seufzte. »Nun, ich werde auf jeden Fall Chiamh mitnehmen, aber bei den anderen weiß ich es wirklich nicht. Nereni und Eliizar kommen nicht in Frage, soviel steht fest. Nach dem, was sie durchgemacht haben, kann ich sie unmöglich trennen, und ich brauche Nereni hier, damit sie sich um Wolf kümmert …«

Die Magusch hörte, wie Yazour scharf die Luft einsog. »Da könntest du vielleicht Schwierigkeiten bekommen«, sagte er.

»Wie meinst du das?« Aurian war froh über seine Warnung. Seit ihrer Rückkehr war sie über die Schweigsamkeit von Eliizar und seiner Frau sehr verwundert und nicht wenig verletzt gewesen. Obwohl seine Freude, sie wiederzusehen, offensichtlich echt gewesen war, hatte der frühere Schwertmeister kaum etwas gesagt und schien vor ihrer Berührung sogar zurückzuschrecken, während Nereni es geschafft hatte, der Magusch geflissentlich aus dem Weg zu gehen, indem sie so tat, als sei sie ganz mit den Vorräten beschäftigt, die die Soldaten ihnen zurückgelassen hatten.

Mit leichtem Druck auf ihren Arm zog Yazour Aurian zur Seite, so daß sie in das vom Feuer erleuchtete Turmzimmer sehen konnte. »Hab Geduld mit ihnen, Herrin. Der Wolfling macht ihnen Angst.« Er zeigte auf das schlafende Junge, das in eine Decke gehüllt war und nun in den Armen des strahlenden Eunuchen lag, der von dem winzigen Wesen hellauf entzückt war. Der junge Krieger runzelte leicht die Stirn. »Ich muß allerdings zugeben, Aurian, daß ich, als du mir davon erzählt hast …« Er brach mitten im Wort ab, und die Magusch spürte, wie ein Schaudern durch seinen geschmeidigen Körper lief.

»Es wird alles in Ordnung kommen, Yazour«, beruhigte Aurian ihn. »Sobald ich den Stab von Anvar zurückbekommen habe, sollte es mir möglich sein, Miathans Fluch wieder aufzuheben.«

»Das hoffe ich sehr.« Yazour warf einen traurigen Blick auf das Wolfsjunge und legte einen Arm um die Schultern der Magusch. »Arme Aurian! Nach all deinem langen Warten diesem Wesen hier gegegenüberzustehen, statt dem Kind, nach dem du dich so gesehnt hast.«

Im Angesicht seines Mitleids spürte Aurian, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte. »Es ist nichts verkehrt mit Wolf!« rief sie wild. Yazour erschrak über ihre Heftigkeit, und sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Es tut mir leid«, seufzte sie. »Wie kann ich auch erwarten, daß ihr das versteht? Und was noch schlimmer ist, wie kann ich Eliizar und Nereni beruhigen, da die beiden doch solche Angst vor Magie haben?«

Das war nur eines von Aurians Problemen. Bevor die Himmelsleute zurückkehrten, um sie nach Aerillia zu tragen – was sie hoffentlich tun würden –, mußte sie den Schwertmeister und seine Frau irgendwie beruhigen und außerdem für die Zeit ihrer Abwesenheit eine Nahrungsquelle für ihr Kind finden. Es blieb auch noch die Frage zu klären, was mit den überlebenden Soldaten von Harihn geschehen sollte, die zur Zeit dank dem Kavalleriehauptmann und seiner merkwürdigen Armee sicher im Kerker eingeschlossen waren. Und wie würden Parric und die Xandim in ihre Pläne passen? Mit einem schiefen Lächeln erinnerte Aurian sich an den Rat, den Forral ihr vor so langer Zeit einmal gegeben hatte: »Mach immer nur einen Schritt gleichzeitig und kümmere dich um das Wichtigste zuerst. Dann wirst du in aller Regel feststellen, daß der Rest sich ganz von allein regelt

Unbewußt nahm die Magusch die Last der Verantwortung wieder auf, die sie in der Zeit, in der sie ohne ihre Kräfte gewesen war, abgelegt hatte. »Genau!« sagte sie entschlossen. »Yazour, ich möchte, daß du jetzt sofort mit Harihns Soldaten sprichst. Du hast sie früher befehligt – sie sollten dir eigentlich immer noch vertrauen. Nach dem, was Parric sagt, kann nicht einmal er als Rudelfürst die Xandim dazu bewegen, ihren Feinden Zuflucht zu bieten, aber noch ist nicht alles verloren. Viele von ihnen haben Menschen, die ihnen am Herzen liegen, im Wald zurückgelassen, und das Land zwischen der Wüste und den Bergen ist reich und sicher. Sag ihnen, daß wir sie freilassen, wenn wir aufbrechen, und daß sie in den Wald zurückkehren und sich dort niederlassen sollen.« Einen Augenblick lang leuchtete ihr Gesicht auf, und ein schelmisches Lächeln zeigte sich in ihren Zügen. »Wer weiß – wir sind vielleicht verantwortlich für die Gründung eines ganz neuen Königreiches!«

»Lady, vielen Dank!« Die Erleichterung in Yazours Gesicht war unübersehbar. Aurian wußte, daß er sich über die Leute, die in Harihns Diensten geblieben waren, Sorgen machte. Schnell wie der Blitz war er verschwunden und lief zu den Kerkern hinunter.

Was ihren Sohn betraf … Aurian trat allein hinaus in das Dickicht das den Turm umgab, und sandte ihren Willen aus, um noch einmal die Wölfe herbeizurufen.

Das Rudel hatte sich nicht weit vom Turm entfernt und war binnen wenigen Sekunden bei der Magusch. Nach einer kurzen Besprechung mit dem Leitwolfpaar fand Aurian ein anderes Paar – denn Wölfe hatten, wie Falken, einen Lebensbund und blieben für immer beieinander –, das bereit war, seine Brüder zu verlassen und mit Menschen zusammenzuleben, um dabei zu helfen, ihren kleinen Sohn aufzuziehen. Obwohl die Wölfe gerade keinen eigenen Welpen hatten, machten Aurians heilende Kräfte es dem Weibchen schon bald möglich, die Milch zu produzieren, die das kleine Junge brauchte. Nachdem Aurian sich mit von Herzen kommenden Dankesworten von den Rudelführern verabschiedet hatte, kehrte sie zum Turm zurück; Wolfs neue Pflegeeltern glitten wie schweigende Schatten hinter ihr her.

Leider war es schwieriger, als sie gedacht hatte, Eliizar und Nereni von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Nur die Drohung, den Kleinen bei dem Wolfsrudel draußen in der Wildnis zu lassen, gab schließlich den Ausschlag. Nerenis Zweifel lösten jedoch das Problem Bohan. Aurian wollte ihn nicht mit nach Aerillia nehmen, hatte aber erwartet, daß sie große Schwierigkeiten haben würde, ihn dazu zu bringen, noch einmal von ihrer Seite zu weichen, und sie wollte auf keinen Fall seine Gefühle verletzen. Aber so, wie die Dinge lagen, hatte der Eunuch sich bereits mit wildem Beschützerdrang dem Wolfling zugewandt und war nur allzugern bereit, als seine Leibwache zurückzubleiben.

Zum Schluß blieb nur noch Parric, der vor Wut schäumte, weil er als Rudelfürst gezwungen war, bei den Xandim zu bleiben, und nicht mit Aurian nach Aerillia kommen durfte. Als sie auch dieses letzte Problem gelöst hatte, war sie die ewigen Auseinandersetzungen von Herzen leid und hatte nichts anderes mehr im Sinn als ihre Angst um Anvar. Um sich ein wenig abzulenken, heilte sie Yazour und ebenso Eliizar (trotz seines offensichtlichen Widerwillens), Bohan und Elewin, der noch immer unter den Nachwirkungen der langen, hastigen Reise durch die Berge litt, die er mit den Xandim unternommen hatte. Parric hatte den alten Haushofmeister eigentlich in der Festung zurücklassen wollen, aber Chiamh und Sangra waren dagegen gewesen. Nicht alle Xandim hatten sich Parrics Streitmacht angeschlossen, und nicht alle waren von seinem Recht auf den Titel des Rudelfürsten überzeugt. Hätten sie Elewin in der Festung zurückgelassen, hätte er die Rückkehr seiner Freunde wahrscheinlich nicht mehr erlebt. Nun beharrte er stur darauf, daß allein das Wiedersehen mit Aurian ihn um Jahre jünger gemacht hätte. Aurian wußte jedoch, daß er zutiefst enttäuscht darüber war, nicht auch Anvar wiedergefunden zu haben, und daß er ihre Sorge um das Schicksal des verschwundenen Magusch von ganzem Herzen teilte.

Nereni hatte eine Mahlzeit zubereitet, und während des Essens, das sie in dem engen Turmzimmer gemeinsam einnahmen, hatten die Kameraden endlich die Chance, einander zu erzählen, was ihnen in der langen Zeit ihrer Trennung widerfahren war. Aurian freute sich über ihr Wiedersehen mit ihren lange entbehrten Freunden, und ihre Freude steigerte sich noch, als sie das Sausen von Schwingen hörte, das die Rückkehr der Himmelsleute verhieß.


Die Brücke der singenden Sterne war ein funkelnder, zarter Regenbogen, der sich von der Küste bis zur Insel über die dunklen Wasser des Zeitlosen Sees erstreckte. Wie Anvar erwartet hatte, waren die Sterne unter seinen Füßen so hart wie Steine. Was er jedoch nicht erwartet hatte, war ihre Reaktion auf die Berührung durch seine Füße. Mit jedem Schritt, den Anvar auf die Brücke setzte, gaben die Sternensteine unirdische Klänge von sich. Jeder Schritt schlug einen anderen Akkord an, bis Anvar feststellte, daß er seine Schritte mit Bedacht wählte, hier und dort verschieden betonte; er schuf auf dieser magischen Brücke sein eigenes Lied: seine Seelenmelodie.

Je näher Anvar der Insel kam, um so tiefer empfand er die Gegenwart eines gewaltigen, mächtigen, nachdenklichen Wesens auf der anderen Seite. Je näher er kam, um so mehr nahm sein Selbstgesang feste Gestalt an und um so wacher schien das Wesen zu werden, das die Musik, die er schuf, hörte und billigte.

Die Brücke endete auf der Insel auf einem dunklen Steinsockel. Mit einem schmerzhaften Ruck mußte sich der Magusch von der Brücke aus Gesang losreißen. Augenblicklich verstummte die Musik. Die Stille wirkte wie ein Hammerschlag. Vor Anvars entsetzten Augen begann die Brücke zu schimmern und zu zittern, bis sie sich schließlich mit einem sanften Seufzen auflöste. Ein Sternenregen ging auf den See nieder, überzog seine Oberfläche mit Dunstschleiern und ließ nichts zurück als eine schmerzliche Leere in den Tiefen von Anvars Seele. Traurig wandte Anvar sich von der zerstörten Idylle ab und erblickte vor sich einen Pfad, der von dem Sockel nach oben führte und schließlich hinter einer Biegung verschwand. Der Magusch seufzte, stützte sich schwer auf den Stab der Erde und begann, den Pfad zu erklimmen. Der Weg, der in den zerklüfteten Felsen hineingeschnitten war, als wäre der Stein so weich wie Butter, schlängelte sich steil nach oben. Er schien endlos zu sein. Dem Magusch wurde schwindlig, und als er oben angekommen war, rang er keuchend nach Luft. Der Pfad endete abrupt vor einem letzten, steilen Turm – und dem schwarzen Eingang einer Höhle. Anvar spürte ein Kribbeln von Magie in seinen Fingern und hob die wieder von flackerndem, blauen Maguschlicht umhüllte Hand, um so seinen Weg in die Höhle hineinzufinden.

Es erwies sich von Vorteil, daß er das Licht hatte. Nachdem er ein paar Schritte ins Innere der Höhle gegangen war, endete sie abrupt vor einer undurchdringlichen Wand – und einem klaffenden Abgrund, der vor seinen Füßen tief in die Dunkelheit hinabstürzte. Mit wild hämmerndem Herzen kniete Anvar vorsichtig am Rand nieder. Das glänzende, blaue Licht ließ eine Wendeltreppe erkennen, die in den Felsen hineingehauen war und in das Herz der Insel hinunterführte.

»Ich kann es einfach nicht glauben!« explodierte Anvar mit einem Zorn, der es mit Aurians schlimmsten Wutanfällen aufnehmen konnte. Unter wilden Flüchen stieg er hinab, begleitet von düsteren, haßerfüllten Gedanken an den umnachteten Idioten, der nicht in der Lage gewesen war, einen direkten Weg, einen waagerechten Tunnel durch das Gestein auf dem Grund der Insel zu erschaffen.

Anvars Nörgeleien endeten abrupt, als ihm klar wurde, daß er sich überhaupt nicht mehr auf der Insel befand. Am Fuße der Treppe fand er sich plötzlich inmitten eines Waldes wieder. Es war ein vollkommener Wald – geschnitzt aus Stein. Der Magusch blieb mit offenem Munde stehen. Die Illusion war makellos. Jeder Ast, jeder Zweig, jedes zarte Jadeblatt war raffiniert und vollendet geschnitzt bis hin zu dem winzigsten Detail. Steinvögel hockten hier und dort, mit offenen Schnäbeln, als wären sie mitten in ihrem Gesang versteinert, und ihre Flügel waren halb geöffnet, als wollten sie gerade die Flucht ergreifen. Winzige Granitraupen schlängelten sich über die zarten Äste. Blüten aus durchscheinendem Quarz öffneten sich an den Zweigen, und ein kühles, silbriges Licht sickerte durch die Bäume, ein Licht, dessen Quelle durch das Spitzenwerk der Blätter verborgen blieb.

Die Stimme, die dann endlich ertönte, war weiblich und überaus ungewöhnlich: Nicht alt, nicht jung, gelang es ihr, beschwingt und melodisch zu klingen und doch zur gleichen Zeit auch tief, hart und krächzend.

»Willkommen im Wald, im Herzen des Steins – oder im Stein, im Herzen des Waldes. Wie immer du willst«, kicherte die unheimliche Stimme. »Komm, junger Zauberer, immer der Nase nach, denn an diesem Ort führen alle Wege zu mir.«

Das Gefühl von Macht in dieser Stille war überwältigend. Obwohl Anvars sämtliche Instinkte aufschrien und ihn zur Flucht drängten, wußte er, daß es doch kein Zurück gab. Mit einem kurzen Achselzucken ging er weiter, weiter und weiter, durch endlose Reihen von Bäumen hindurch.

Steinerne Stämme, steinerne Aste, Vögel und Insekten – alle waren deutlich und unheimlich in dem trügerisch flackernden Licht zu erkennen, das von irgendwo über dem Wald kam. Der Magusch war voller Ehrfurcht für die Größe dieses Ortes, als wäre er nur ein kleines Kind, das sich in die Säulenhalle eines großen Regenten verirrt hatte. Obwohl die Magie dieses zeitlosen Waldes ihm Hunger und Durst ersparte, wurden seine Beine langsam schwach, und seine Füße hämmerten in seinen Stiefeln. Anvar versuchte, diese Unbequemlichkeiten zu ignorieren. Er mußte wachsam bleiben und sich auf die kommende Begegnung vorbereiten.

Plötzlich hörte der Wald auf. Anvar taumelte hinaus in einen riesigen, offenen Raum – eine gewaltige Höhle vielleicht, obwohl es schwer war, den Ort genau zu beschreiben, denn er war so groß, daß seine Grenzen – falls er überhaupt Grenzen hatte – in weiter Ferne in der Dunkelheit untergingen. Der Boden war mit einer Art Moos überwuchert, das aus winzigen, kribbelnden Stacheln bestand. Es war so etwas wie ein kristallisiertes Mineral, das den ganzen sanft geschwungenen Hügel bedeckte, der sich vor ihm erhob. Auf dem Gipfel stand der gewaltigste Baum, den Anvar je gesehen hatte, sein Umfang war größer als der des riesigen Wetterdoms der Akademie, sein Stamm viel größer als der Maguschturm. So groß war er, daß er sich in der Dunkelheit hoch über Anvar verlor. Der Magusch hatte nun endlich auch die Quelle des verwirrenden, silbernen Lichts gefunden, das den Wald erhellte. Dem Baum war ein reiches Leuchten eigen, das aus seinem Innern kam, als sei er mit gefangenem Mondlicht erfüllt.

Die ungeheuren Ausmaße dieses alten Titanen überwältigten Anvars Sinne. Um seine Gedanken ein wenig zu ordnen, betrachtete er nur den unteren Teil des Baums und konzentrierte sich auf Einzelheiten. Stein oder Holz? Obwohl der Magusch ganz nah heranging, war es ihm unmöglich, das herauszufinden. Das Material des Baums war von der gleichen dumpfen, grauen Körnigkeit wie sie auch die geschnitzte Tür Zwischen den Welten aufwies, durch die er zum Brunnen der Seelen gelangt war.

»Gut beobachtet, o Zauberer! Das Portal des Brunnens der Seelen wurde tatsächlich aus einem Zweig dieses Baumes geschnitzt. Aber wie kommt es, daß du diesen gefährlichen Weg gegangen bist? Und warum bist du immer noch hier und kannst dich daran erinnern?«

Anvar, den die Stimme erschreckt hatte, blickte zu dem Baum hinauf. Und dort, etwa drei Manneshöhen vom Boden entfernt, wo es vorher nichts gegeben hatte als den glatten und ausdruckslosen Stamm, befand sich jetzt eine Tür, eine runde Tür, die einem Astloch im Holz ähnelte. Eine grobe Treppe, scheinbar ein natürlicher Teil des Baums und nicht künstlich angelegt, schien sich in gewaltige Höhen zu strecken. Die Treppe wurde nach oben hin breiter und bildete einen Treppenabsatz und eine Plattform vor dem Eingang.

Die Tür schwang langsam auf. Dort, eingehüllt in das schimmernde, goldene Licht, das aus dem Innern des Baums leuchtete, stand ein … Anvar blinzelte und rieb sich die Augen. Die Gestalt war ein Adler – nein, ein altes Weib … Nein. Es war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Die trügerische Gestalt war von Kopf bis Fuß in einen Umhang aus schwarzen Federn, einer weißen Kapuze und einem weißen Saum gehüllt. Eine Sekunde lang verschwamm Anvars Blick, und er sah einen Igel, dann wieder eine Frau. Ihr Gesicht erkannte er nun; er hatte es bereits auf der Schnitzerei im Tunnel auf dem Weg zum Zeitlosen See gesehen. Was er für eine Kapuze aus weißen Federn gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine wirbelnde Mähne aus schneeweißem Haar. Ihre Augen … Anvar hatte erwartet, daß sie dunkel sein würden wie die eines Falken oder golden wie die eines Adlers, aber statt dessen waren sie ganz bleich, beinahe farblos, so daß sie sich ganz dem weißen Gesicht und dem wintrigen Haar anpaßten. Diese Augen richteten sich jetzt mit beunruhigender Festigkeit auf den Magusch.

»Nun? Ich habe dir eine Frage gestellt. Wie ist es möglich, daß du das Todesportal durchschritten und überlebt hast?«

Angesichts der Ungeduld der Cailleach mußte Anvar sich mit aller Kraft bemühen, seine durcheinander geratenen Gedanken wieder zu sammeln. Er verbeugte sich tief, bevor er antwortete. »Herrin, ich denke, du kennst die Antwort auf deine Frage bereits. Hast du nicht, während ich wie gebannt vor deinem Bild im Tunnel stand, alles erfahren, was ich weiß, und alles, was ich je erlebt habe?«

»Wie gebannt, hm?« Die Mondsteinaugen hatten plötzlich einen Glanz, der voller Zustimmung war – und voll von etwas anderem. »Du hast nicht nur eine gute Beobachtungsgabe, du hast auch einiges Talent im Umgang mit Worten, junger Zauberer. Und natürlich hast du recht. Ansonsten hätte ich vielleicht gedacht, du seiest gekommen, um mich aus meinem einsamen Exil zu befreien.« Ihr kurzes Lächeln erstarb, noch bevor es ihre Augen erreichen konnte, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder kalt. »So, wie die Dinge liegen, bin ich mir wohl bewußt, daß du gekommen bist, um mir die Harfe zu stehlen.«

»Zu stehlen, Herrin?« Anvar versuchte, seine Angst nicht zu zeigen. »Das sind harte Worte. Ich hoffte allerdings, dich überreden zu können, sie mir zu überlassen. Sie wurde von Magusch in der irdischen Welt angefertigt, und dorthin gehört sie auch. Ich muß sie unbedingt haben, um meine Welt vor dem Bösen zu retten.«

»Was? Was willst du tun? Und ganz allein? Bist du also ein großer Held, der eigens dazu gemacht wurde, die Welt zu retten?« Sie versuchte nicht einmal, den Hohn in ihrer Stimme zu verbergen. Anvar, der eine überstürzte Erwiderung nur mit Mühe unterdrücken konnte, hatte sich gerade noch rechtzeitig wieder unter Kontrolle. Es würde ihm nichts nützen, wenn er vergaß, wie mächtig und wie gefährlich dieses Geschöpf in Wahrheit war.

»Kein Held«, sagte er zu der Cailleach. »Das habe ich nie gewollt, nichts dergleichen. Das einzige, was ich wollte, waren meine Kräfte und Aurian. Ganz besonders Aurian. Aber das ist immer noch besser, als die Harfe für zerstörerische Zwecke zu mißbrauchen, oder? Und es ist besser, als etwas so Wunderbares hier verrotten zu lassen, ungeliebt und unbenutzt, unerreichbar von der Welt, in der es geschaffen wurde. Selbst jetzt kann ich die Harfe hören; sie ruft nach mir wie ein Kind, das sich verirrt hat; sie bittet mich, sie nach Hause zu bringen.« Als er diese letzten Worte aussprach, begriff er, daß sie der Wahrheit entsprachen. Der betörende Sternengesang war nicht mit der Brücke gestorben, sondern murmelte leise weiter, irgendwo ganz weit hinten in seinen Gedanken. Aber jetzt trug die Musik Worte zu ihm herüber: halb verstanden zunächst, aber doch mit jedem Augenblick klarer.

Die Cailleach hob eine Augenbraue. »Die Harfe singt dir zu?«

Aber Anvar hörte das Zittern des Zweifels hinter ihrem Hohn, sah, wie ihre Augen kaum merklich flackerten, bevor sie ihn erneut mit Blicken zu durchbohren schien. Doch es war tatsächlich wahr, die Harfe sang ihm zu, sang mit der kristallenen Sternenmusik der Brücke, sang zu ihm in den Tiefen seines Bewußtseins. Und die Harfe sagte ihm auch, wie er der Cailleach antworten mußte. »Natürlich singt sie mir zu. Das weißt du doch. Wer hat den Wellen des Sees verboten, mir Schaden zuzufügen? Wer hat die Brücke der Sterne gebaut, über die ich hierhergekommen bin? Zuerst dachte ich, das alles sei dein Werk gewesen, aber jetzt weiß ich es besser.« Anvar hob den Kopf und sah der Cailleach in die Augen. Ihre Blicke schlugen aufeinander wie zwei stählerne Klingen. Die Herrin der Nebel war die erste, die den Blick senkte. Als sie den Magusch wieder ansah, lächelte sie.

Keine Spur mehr von dem alten Weib. Keine Spur mehr vom Adler. Ihr Gesicht war makellos jung und verführerisch. Wunderschön. Unwiderstehlich. Anvars Herz schlug schneller. »Narr«, sang die Harfe weit hinten in seinem Verstand. »Tor! Hüte dich vor Betrug …« So, wie die Macht des Erdenstabs einen eindeutig männlichen Aspekt hatte, so war die Melodie der Harfe unbestreitbar weiblich.

»Wo bist du?« rief der Magusch ihr in Gedanken zu. »Wie kann ich dich finden?«

»Im Innern. Im Innern …« Anvar blickte grinsend zu der Cailleach auf. »Warum bittest du mich nicht hinein?« Da sah er plötzlich in ihren Augen so etwas wie Triumph aufblitzen. Sie winkte ihn die gewundene Treppe hinauf, und als er in das goldene Glühen jenseits des Portals trat, hörte er, wie sich die Tür hinter ihm schloß wie die stählernen Klauen einer Falle.

Das goldene Licht schien im Innern noch viel heller. Es verwirrte seine Augen, brannte sich in sein Gehirn. Es war wie ein Sturz mitten in das Herz der Sonne hinein. Anvar taumelte nach vorn, blind, schwindlig, orientierungslos. Er hörte das gackernde Triumphgelächter eines alten Weibs – oder war es der harte Schrei eines Raubvogels? Arme schlangen sich um seinen Hals, zogen ihn zu Boden, klauenscharfe Nägel durchbohrten seine Haut. Ein sich windender Körper klammerte sich an ihn und preßte sich an sein Fleisch. Feuchte Lippen legten sich auf seinen Mund, saugten seinen Atem ein, zogen die Lebenskraft aus seinem Körper heraus. Anvar kämpfte, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, und ertrank in einer gewaltigen Woge, ertrank in der Lust dieser Kreatur …

»Der Stab, du Narr! Benutze den Stab, bevor sie ihn dir wegnimmt’.« Der Gesang der Harfe schnitt schrill durch sein dahintreibendes Bewußtsein. So groß war seine Macht, daß Anvar instinktiv gehorchte. Er hob seine rechte Hand und ließ den Stab der Erde mit einem gewaltigen Krachen auf das Haupt des monströsen Sukkubus niedersausen.

Die Vampirgeliebte verschwand. Die Luft zerriß unter einem gewaltigen Schrei, und die Welt versank in Dunkelheit.

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