8 Incondors Turm

Die Erde zitterte, und in den Ohren der Gefährten dröhnte das verklingende Tosen der Lawine. Schnee wirbelte hoch hinauf in die Luft und rieselte dann wieder auf sie herab. Rabe flog wie ein erschrockener Vogel auf. Die verängstigten Pferde bäumten sich auf und versuchten, dem Eunuchen die Zügel aus der Hand zu reißen. Eines der Tiere schaffte es und schoß nach vorn, wo es mit einem Schrei, der mit übelkeitserregender Plötzlichkeit abbrach, im Abgrund verschwand. Bohan und Nereni waren unter den Hufen der wild ausschlagenden Tiere zu Boden gefallen, und Aurian kämpfte mit aller Kraft darum, das Gleichgewicht zu halten, indem sie sich grimmig an den Zügel ihres rasenden Reittieres klammerte. Dann wurde die Welt langsam wieder ruhig.

»Anvar!« Mit schwerem Herzen versuchte Aurian, auf den Rand des Abhangs zuzutaumeln, aber mehrere Hände hielten sie zurück. Nach einem verzweifelten Kampf wurde ihr klar, daß Yazour und Eliizar an ihren Armen hingen. »Warte, Aurian«, drängte der junge Krieger sie, »sonst verlieren wir dich auch noch!«

Während die Echos der Lawine langsam erstarben, trat Aurian in Begleitung von Yazour und Eliizar nach vorn und blickte voller Angst hinunter in den Paß. Kristallisierte Wolken aus pudrigem Eis hingen wie ein silberner Nebel in der Luft über den Schneemassen und verhüllten Rabe neben ihnen. »Wir müssen warten, bis der Schneestaub sich legt.« Sie klang sehr niedergeschlagen. »Ich kann da unten nichts erkennen.«

Aurian fluchte. »Ihr könnt ja warten. Ich gehe jedenfalls sofort.«

»Laß mich gehen – ich kann mich auf diesem glatten Boden schneller bewegen.« Es war Shia. »Folgt mir – aber paßt gut auf, meine Freunde. Wir wollen heute keine weiteren Stürze mehr.« Mit einem einzigen Satz war die große Katze verschwunden.

Hinter der Magusch rafften Bohan und Nereni sich mühsam auf. Bis auf ein oder zwei blaue Flecken schien der Eunuch unverletzt zu sein und machte sich nun humpelnd daran, die Zügel der Pferde wieder zu ergreifen. Eliizar mußte einer durch und durch erschütterten Nereni erst auf die Beine helfen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und Blut sickerte aus einer Schnittwunde an ihrer Stirn, wo eines der Pferde sie mit dem Huf getroffen hatte. Aurian war wie betäubt vor Schreck und über Anvars Verschwinden – sie konnte sich nicht dazu überwinden, es anders zu nennen – und dachte benommen, daß Nereni Glück hatte, überhaupt noch am Leben zu sein. Und damit kehrten ihre Gedanken wieder zu Anvar zurück.

Der felsige Weg des Passes war durch die Lawine beinahe völlig vom Schnee befreit worden. Das, was noch von ihm übrig war, hatte die Lawine so zusammengepreßt, daß es aussah wie Glas. Aurian durchlief ein Schaudern des Entsetzens. Unwillkürlich griff sie nach ihrem Gürtel, nach dem Stab der Erde, der ihr dabei helfen sollte, das Gleichgewicht zu halten – und hielt jäh inne, ihre Augen weit aufgerissen vor Schreck. Bei den Göttern, wenn der Stab verlorengegangen war! … Sie schrieb alle Vorsicht in den Wind und rannte den Berghang hinab.

Glücklicherweise holte Yazour sie ein, bevor sie mehr als ein oder zwei Schritte weit gekommen war – und selbst das war beinahe genug gewesen, um sie den Hohlweg hinunterstürzen zu lassen. Er bekam gerade noch rechtzeitig ihren Arm zu fassen, als sie das Gleichgewicht verlor. »Paß auf!« schalt er sie und reichte ihr einen der kräftigen Spazierstöcke, die Bohan, bevor sie den Wald verließen, für seine Begleiter geschnitzt hatte. »Du hättest warten sollen.«

»Aber …«, protestierte Aurian.

Der Krieger brachte sie zu Schweigen. »Ich weiß«, sagte er traurig. »Wir haben jedoch keine andere Wahl – wir müssen langsam gehen, wenn wir unversehrt unten ankommen wollen.«

Obwohl Aurian außer sich war vor Angst um Anvar und den. Stab, war es unmöglich, den Paß einigermaßen schnell hinunterzuklettern. Zwischen dem schweren, grauen Himmel und den steilen, zu beiden Seiten aufragenden Wänden konnte man kaum etwas sehen, und der Weg war wie Glas unter ihren Füßen. Aurian mußte jeden ihrer Schritte genau überprüfen, bevor sie ihr Gewicht verlagerte, und um die Dinge noch schlimmer zu machen, brachte ihr über dem Kind gewölbter Leib sie noch zusätzlich aus dem Gleichgewicht.

Auf halbem Weg nach unten kamen sie an dem unglücklichen Pferd vorbei. Es lag mit zerbrochenen Gliedern und blutüberströmt neben dem Pfad, Hals und Beine in unmöglichen Winkeln von sich gestreckt. Aurian wandte sich mit einem Kloß im Hals und zusammengebissenen Zähnen ab, denn sie konnte nicht aufhören, an Anvar zu denken. Yazours Hand schloß sich über ihrem Arm. Ein Blick auf sein grimmiges, bleiches Gesicht, und Aurian wußte, daß seine Gedanken in die gleiche Richtung gingen wie ihre. »Vielleicht sollten wir auf die anderen warten?« schlug er zaghaft vor.

Die Magusch schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, die Sache aufzuschieben.«

Und gerade da, im dunkelsten aller Augenblicke, explodierte Shias Stimme in Aurians Gedanken. »Anvar lebt!« Es war nur gut, daß die Lawine bereits zu Tal gerollt war. Aurian stieß einen Freudenschrei aus, der sie wieder einmal das Gleichgewicht kostete, und rutschte den Pfad hinunter. Yazour fing sie auf, und gemeinsam rutschten sie noch einige Meter weiter, bevor sie unsicher vor der steinernen Mauer des Hohlwegs zum Stehen kamen, während Yazour die Luft mit Flüchen versengte. Aurian drückte ihn an sich. »Es geht ihm gut, Yazour! Shia sagt, er ist in Ordnung!«

Der Krieger hörte jäh auf zu fluchen. »Ihr Zauberer! Wie, im Namen des Schnitters, hat er das geschafft?«

Anvar lag halb betäubt in einem Schneehaufen am unteren Ende des Pfades und fragte sich genau in diesem Augenblick dasselbe. Shia sah ihn ängstlich an und stupste ihn von Zeit zu Zeit mit ihrem großen, schwarzen Maul. »Nichts gebrochen?« fragte sie scharf.

»Ich glaube nicht … Ich kann meine Arme und Beine noch bewegen …«

»Das würde ich dir auch sehr empfehlen, denn sonst erfrierst du!«

Anvar stöhnte und benutzte den Stab, um seinen schmerzenden Körper auf unsichere Füße zu ziehen. Er hatte das magische Artefakt auf jedem Zentimeter seines wilden und erschreckenden Sturzes mit aller Kraft umklammert gehalten. Shia drückte ihren massiven Leib gegen Anvar und stützte ihn, als er ins Taumeln geriet. »Idiot!« fauchte sie. »Aurian hat dich gewarnt und dir gesagt, du solltest stehenbleiben!« Mit flammenden, goldenen Augen sah sie ihn über die Schulter hinweg an, und der Magusch, der seine Hände in dem dicken, warmen Pelz ihres Rückens vergraben hatte, bedachte sie mit einem einfältigen Lächeln. Ihrer Gedankenstimme, die wegen ihrer Angst um ihn zwar scharf klang, fehlte jedoch der harte Tonfall echten Zorns, und er wußte, daß sie dankbar dafür war, ihn lebendig und mehr oder weniger in einem Stück wiederzusehen. Anvar war immer noch ein wenig schwindlig von dem Sturz, und plötzlich ließ er sich wieder in den Schnee sinken. Dann schmiegte er sich eng an die große Katze – und das nicht nur, um bei ihr Wärme zu finden.

»Ich bin auch froh, dich wiederzusehen«, sagte er mit ernster Stimme.

Noch glücklicher war er jedoch, Aurian zusammen mit Yazour den Pfad hinunterschlittern zu sehen. Yazours Gesicht verzog sich zu einem Grinsen der Erleichterung, als er ihn erblickte. Der Krieger schlug Anvar so fest auf die Schulter, daß der Magusch zusammenzuckte. Dann zog er sich taktvoll zu dem schlüpfrigen Hohlweg zurück, um Eliizar mit den Pferden zu helfen und die beiden Magusch mit Shia alleinzulassen. Aurian sah jämmerlich aus, und auf ihrem aschfahlen Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck. Anvar wappnete sich gegen den Sturm ihres Zorns, obwohl er wußte, daß er ihn diesmal wirklich verdient hatte. »Es tut mir leid«, sagte er zu ihr. »Du hast mich gewarnt, und ich hätte auf dich hören müssen.«

Die Magusch ließ sich im Schnee neben Anvar auf die Knie sinken; sie hätte ihn am liebsten verflucht und mit ihren Fäusten auf ihn eingeschlagen, weil er ihr solche Qualen zugefügt hatte. Aber sie brachte es nicht fertig. Als sie ihn dort sah, zitternd und mit blauen Lippen, seine Kleider zerrissen und naß, seine Haut aufgeschürft und an manchen Stellen voll blauer Flecken – nun, wie konnte sie da wütend sein, wo sie doch so froh war, ihn lebendig wiederzuhaben? Sie hätte ihn am liebsten umarmt – und um ein Haar hätte sie vor Erleichterung darüber, ihn sicher wiederzusehen, geweint. Aber das grauenvolle Gefühl des Entsetzens, als sie ihn verloren wähnte, war noch nicht von ihr abgefallen und lag wie ein Bleiklumpen in den Tiefen ihres Magens. Statt seines Gesichtes sah sie plötzlich die kalten, leblosen Züge Forrals, nachdem der Todesgeist sein Leben ausgelöscht hatte.

Aurian spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Statt sich der trostlosen und furchtbaren Möglichkeit eines neuerlichen Verlustes zu stellen, suchte sie Zuflucht in energischen Worten. »Ich verstehe es, Anvar. Ich hätte es wissen müssen – der Stab hat zuviel Macht. Ich erinnere mich noch daran, wie es in Dhiammara war, als ich ihn zum ersten Mal in Händen hatte und die Stadt um mich herum zerfiel.«

Anvar sah sie überrascht an. »Aber das war nicht deine Schuld. Das war doch gewiß ein Zauber des Drachenvolks.«

»Nun, das mag sein«, gab Aurian zu, »aber selbst wenn die Zerstörung meine Schuld gewesen wäre, hätte ich nichts dagegen tun können. Was heute geschehen ist, war ein Fehler. Da du den Stab bereits in der Wüste benutzt hast, dachte ich, es wäre schon in Ordnung, aber damals konnte sich die Kraft des Stabes auf den Kampf richten – sie mußte irgendwo hin. Als du in dieser Lawine verschwunden bist – bei den Göttern, ich dachte …«

Als Anvar ihr einen Arm um die Schultern legte, wußte Aurian, daß sie sich verraten hatte. »Und Shia hat mich einen Idioten genannt!« schalt er sie. »Warum machst du dir Vorwürfe? Du hast mir den Stab anvertraut und mich gewarnt, vorsichtig zu sein – wieso soll das Ganze jetzt plötzlich deine Schuld sein? Außerdem«, fuhr er fort, »war es der Stab, der mir das Leben gerettet hat, glaube ich. Seine Kraft schien mich zu umgeben und die schlimmste Wucht des Sturzes abzufangen. Ich erinnere mich daran, wie ich mich immer wieder überschlagen habe; es ging alles so schnell … Dank den Göttern war der größte Teil der Lawine bereits vorüber, bevor ich zu fallen begann, sonst wäre ich jetzt gewiß tot.« Anvar schauderte und schwieg.

Aurian wollte nicht daran denken. »Komm schon«, sagte sie energisch, »du darfst nicht einfach dasitzen und dich zu Tode frieren. Laß uns ein paar trockene Kleider für dich aussuchen. Wir müssen jetzt weitergehen. Wir haben bessere Chancen, diese Nacht zu überleben, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit diesen Turm finden.« Mit diesen Worten half sie dem durchgeschüttelten Magusch auf die Beine und nahm ihm den Stab der Erde aus der Hand. Ohne sich dann noch einmal nach Anvar umzusehen, stolperte sie zu der Stelle, wo Eliizar und die anderen gerade damit beschäftigt waren, die Pferde den Pfad hinunterzuführen.

Verwirrt und nicht wenig verletzt durch die plötzliche Wandlung in Aurians Verhalten, begann Anvar zu fluchen. »Die Götter mögen mir helfen, ich werde sie nie verstehen.« Obwohl er mit sich selbst gesprochen hatte, fing Shia seinen Blick auf.

»Ihr Verhalten scheint mir vollkommen klar zu sein.«

»Du kannst ja auch ihre Gedanken lesen, verdammt!« murmelte Anvar leise vor sich hin, während er zu den anderen hinüberhumpelte.

Eliizar wirkte vollkommen untröstlich. »Wir haben beim Abstieg noch ein Pferd verloren«, erklärte der Schwertmeister Aurian, als Anvar hinzukam. »Als es ausrutschte, konnte ich es nicht festhalten.«

»Das Tier hat sich ein Bein gebrochen«, ergänzte Yazour mit leiser Stimme. »Wir mußten es von seinem Leiden erlösen.« Er seufzte.

»Es war nicht eure Schuld«, tröstete Aurian sie. »Ich dachte mir schon, daß es schwierig werden würde, die Pferde herunterzubringen. Ihr habt eure Sache gut gemacht, denn die anderen sind immerhin heil hier angekommen.«

»Sehr wahr«, erwiderte Yazour grimmig. Er zeigte auf die müden, entkräfteten Tiere. Anvar sah, daß eines von ihnen einen Fuß vorsichtig vom Boden weghielt, und ein anderes hatte sich in der Nähe des Knies einen bösen Schnitt zugezogen. »Diese beiden hätten wir auch noch verloren, hätte Bohan nicht die Kraft gehabt, sie festzuhalten, als sie ausgerutscht sind.«

Eliizars Miene hellte sich bei Anvars Erscheinen auf, und Nereni, deren Gesicht blutig und verschrammt war, stieß einen schrillen Freudenschrei aus und umarmte ihn. Aurian, die die verletzten Pferde untersuchte, überließ es Nereni, Salbe auf Anvars Wunden aufzutragen und ihm trockene Kleidung zu suchen. Sie selbst nahm überhaupt keine Notiz mehr von ihm.


Der Abstieg durch den tiefen Schnee am Fuß des Hohlwegs war genauso furchtbar wie der Marsch zum Paß hin, und die Gefährten brauchten lange, um sich ihren Weg durch die zusammengestauchten Schneewehen zu bahnen, als sie ins Tal hinunterkamen. Während sie sich immer weiter mühten, verdunkelte sich langsam der Himmel; ob es an der Abenddämmerung oder an einem neuen Unwetter lag, hätte Anvar nicht sagen können, denn er hatte im Schneesturm jeden Überblick über die Zeit verloren. Und schließlich stellte es sich heraus, daß es beides war.

Der Turm lag am entgegengesetzten Ende des Tales, hoch oben auf einem zerklüfteten, mit Bäumen umsäumten Hügel. Als sie eine Ansammlung verkümmerter Pinien erreichten und die massige Gestalt des Gebäudes über sich aufragen sahen, war die Luft wieder einmal voller dichter Schneeflocken. Bei dem Gedanken an die Gefahr, in der kommenden Nacht zu erfrieren, machten sich alle mit letzter Kraft daran, abgebrochene Äste zusammenzusuchen, die sie den müden Pferden für den letzten Aufstieg über den steilen, schlüpfrigen Pfad auf den Rücken banden.

Die viereckige, schon halb zerfallene Silhouette des uralten Turms ragte schwarz in den Himmel auf. Die Tür war zugefroren, und Bohan mußte die ganze Kraft seiner mächtigen Schultern aufwenden, bevor die schwere Holzplatte endlich mit knirschender Klage aufsprang. Im Inneren war es stockdunkel, und die Kameraden, die nicht wußten, was sie dort erwartete, blieben widerwillig am Eingang zurück. Yazour zog an Anvars Ärmel. »Anvar, kannst du Licht machen?«

Durchgefroren und erschöpft, wie er war, und mit einem Verstand, der durch den Schock seines gewaltigen Sturzes noch halb betäubt war, fiel es Anvar schwer, sich auf die Worte des Kriegers zu konzentrieren. Nach einiger Zeit nickte er jedoch und versuchte, die Kraft zusammenraffen, die notwendig war, um einen Feuerball zu schaffen. Nichts geschah. Er fluchte und versuchte es noch einmal, schloß seine Augen und konzentrierte sich mit solcher Macht, daß ihm Schweiß auf die Stirn trat. Die kleinen Schweißperlen gefroren zu Eis, aber es geschah immer noch nichts. Sein müdes Gehirn weigerte sich einfach, seinem Willen zu gehorchen.

»Hier.«

Anvar öffnete die Augen und sah Aurian, die ihm den Erdenstab entgegenstreckte. Nach seinem jüngsten Mißgeschick und der Kühle, die sie anschließend ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte, war er erstaunt darüber, daß sie ihm das kostbare Artefakt noch einmal anvertrauen wollte. »Bist du sicher?« Hinter dieser einen Frage standen tausend andere. Die Magusch nickte nur und legte ihm den Stab in die Hand. Wieder spürte Anvar, wie die Kraft des Stabes wie flüssiges Feuer durch seine Adern rann und unzerstörbare Hoffnung in seinem Herzen aufflammte. Er hob den Stab und hörte ein gedämpftes Aufkeuchen der anderen hinter sich, als die Spitze in zischende Flammen ausbrach und den Weg, der in das düstere Maul des Gebäudes führte, in helles Licht tauchte.

Die Kameraden folgten Anvar in den Turm hinein und in die einzige, kreisförmige Kammer, die sich in seinem Inneren befand. Bohan nahm ein Bündel Holz von dem Rücken eines Pferdes und warf es in den leeren Kamin. Anvar stieß den flammenden Stab mitten ins Herz der kleineren Aste, die zum Anzünden des Feuers gedacht waren, und alle brachen in Jubel aus, als das feuchte Holz zu glimmen begann und die ersten hellen Flammen aufloderten. Erst da gestattete er dem Feuer des Stabes zu ersterben. Es fiel ihm schwer, sich von solcher Pracht zu trennen. Als er sich widerwillig umdrehte, um Aurian das Artefakt zurückzugeben, zog sie eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Behalt ihn«, murmelte sie, »zumindest für den Augenblick. Mir nützt er ja nichts, solange ich in diesem Zustand bin.«

Oh, wie sehr er doch versucht war, ihr Angebot anzunehmen, aber … »Nein«, sagte Anvar. »Du hast ihn gefunden. Du hast ihn wiedererschaffen – er gehört eindeutig dir. Du wirst ihn schon sehr bald wieder gebrauchen können.« Aber sie hatte sich bereits abgewandt. Seufzend und sehr vorsichtig lehnte Anvar den Stab in einer schattigen Ecke an die Wand, wo er keinen Schaden nehmen konnte.

Die lodernden Flammen und die dampfende Hitze der Pferde und der Menschen, die sich auf kleinem Raum zusammendrängten, erwärmten das kahle Turmzimmer schon sehr bald. Während Nereni, die im Angesicht sicherer Wände und eines Kamins neue Kraft zu finden schien, ihre Vorräte plünderte, um einen ihrer herzhaften Eintöpfe zuzubereiten, und Yazour die verletzten Pferde verarztete, machten sich Eliizar und Bohan Fackeln und brachen auf, um den Turm auszukundschaften. Nach kurzer Zeit kehrten sie mit der Neuigkeit zurück, daß der Turm aus drei Stockwerken bestände. Über der groben Steinkammer lag ein weiteres, kreisförmiges Zimmer mit einer wackligen Leiter, die durch eine Falltür hindurch auf das flache Dach darüber führte. Unter der Kammer im Erdgeschoß lag, verbunden durch eine schmale Treppenflucht, ein feuchter, aber massiver Kerker, der in das Fundament hineingehauen war.

Das Abendessen war eine schweigsame Angelegenheit, denn jeder aus der müden, ausgehungerten, kleinen Schar schenkte dem Essen mehr Aufmerksamkeit als dem Gespräch. Im Laufe der Zeit, und nachdem sie ein gewisses Maß an Behaglichkeit erzielt hatten, begannen sich jedoch alle ein wenig zu entspannen – mit Ausnahme der beiden Magusch. Nereni mußte Aurian sehr bedrängen, damit sie überhaupt etwas aß, und dann saß sie schweigend und geistesabwesend da, ohne sich auch nur im geringsten am Gespräch zu beteiligen. Anvar war fast genauso schlimm und konnte dem exzellenten Mahl kaum gerecht werden.

Später, als die anderen in einen erschöpften Schlummer gefallen waren, stellte er fest, daß er selbst nicht schlafen konnte. Seine Enttäuschung über Aurian erreichte langsam einen Punkt, an dem sie sich in Zorn verwandelte. Was stimmte nicht mit ihr? Sie konnte ihm doch unmöglich seinen Sturz so übelnehmen? Nun ja, er hätte durch seine Voreiligkeit den Stab verlieren können, aber am Ende war doch alles gutgegangen. Nachdem er sich eine Weile unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, gab Anvar den Versuch, einzuschlafen, endgültig auf. Er zündete eine Fackel an und kroch nach oben auf das Dach, wo er in der kühlen Einsamkeit der verschneiten Nacht ein wenig innere Ruhe zu finden hoffte.


Aurian erwachte aus einem Schlaf, der lange auf sich hatte warten lassen und in dem sie immer wieder von den ruhelosen Bewegungen des Kindes in ihrem Leib gestört worden war. Verschlafen vor sich hinmurmelnd, drehte sie sich um, um eine bequemere Lage zu finden, und Shia, die sie mit ihrer Unruhe geweckt hatte, öffnete ein Auge. »Grübelst du immer noch?« fragte die Katze spitz.

Aurian seufzte und setzte sich auf. Wie sehr sie sich doch nach einer Flasche von dem Pfirsichlikör sehnte, den sie und Forral so gern getrunken hatten. Ach, sich herrlich zu betrinken, für eine Weile alles zu vergessen und allem zu entkommen – vor allem dem Wirrwarr der widersprüchlichen Gefühle, die sie zu verzehren schienen, wann immer sie an die beiden einzigen Männer dachte, die ihr je am Herzen gelegen hatten. Shia beobachtete sie immer noch und wartete offensichtlich auf eine Antwort.

»Na schön«, sagte Aurian resigniert. »Als Anvar heute in diese Lawine stürzte, dachte ich, er wäre tot. Es hat so weh getan, Shia, so weh wie damals, als ich Forral verlor. Ich möchte so nicht mehr empfinden – niemals wieder und für keinen Menschen. Einmal war mehr als genug.« Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. »Außerdem«, fuhr sie fort, »lenkt mich dieses ganze lächerliche Getue von meinem Kampf gegen Miathan ab, und das ist doch unsere Hauptsorge. Ich habe keine Zeit für solche Sachen, Shia. Es könnte uns unser Leben kosten.«

»Also ziehst du dich von Anvar zurück und versuchst, deine Gefühle zu vergraben«, überlegte Shia. »Nun, in einer so kleinen Gesellschaft wie unserer kannst du ihm nicht aus dem Weg gehen. Es sieht so aus, als müßtest du ihn wegschicken oder selbst gehen.«

Aurian starrte Shia entsetzt an. Was? Ihre Mission allein erfüllen, ohne Anvar? »Aber das kann ich nicht!«

Die große Katze seufzte. »Warum müßt ihr Menschen die Dinge immer so kompliziert machen? Ich vermute, daß das Problem sich lösen wird, sobald du aufhörst, gegen deine eigenen Gefühle anzukämpfen.« Sie sah Aurian tief in die Augen. »Hör mir zu, meine Freundin. Warum quälst du dich so? Du hast ihn spätestens seit der Wüste geliebt, obwohl ich vermute, daß die Saat dazu schon lange davor gesät worden ist. Niemand lebt ewig, Aurian. Auch ich nicht. Ich schmeichle mir, daß du ein gewisses Maß an Traurigkeit über meinen Verlust empfinden würdest – möchtest du deswegen auch unsere Freundschaft lösen?«

»Natürlich nicht!«

»Warum muß dann der arme Anvar so leiden?« Aurian verspürte Shias geistiges Gegenstück zu einem Schulterzucken. »Immerhin«, fuhr die Katze hinterhältig fort, »besteht jede Chance, daß er dich überleben wird!«

Mit einem schuldbewußten Seitenblick auf ihre schlafenden Freunde versuchte Aurian, ihr Gelächter zu dämpfen. »Meine liebste Shia, was würde ich nur ohne dich anfangen? Du hast das erstaunlichste Talent dafür, mich zu trösten und mir gleichzeitig klarzumachen, was für eine Närrin ich doch bin!«

»Ihr gebt mir ja auch reichlich Gelegenheit zum Üben, du und Anvar«, erwiderte Shia trocken. »Geh zu ihm und sprich mit ihm – er ist auf dem Dach«, fügte sie hilfsbereit hinzu, während Aurian, der es plötzlich leichter ums Herz war als in der ganzen letzten Zeit, bereits die Turmtreppe hinaufeilte. Sie war so mit ihren Gedanken an Anvar beschäftigt, daß sie überhaupt nicht bemerkte, daß Rabe verschwunden war.


Schwarzkralle fühlte sich unwohl in dem Pinienwald unterhalb des Turms. Dieser schien von allen Seiten auf ihn einzustürzen, versperrte ihm den Blick auf den offenen Himmel und rückte ihm so nahe, daß er kaum noch atmen konnte. Und trotz all der Widerstandskraft seiner Rasse gegen die Kälte schauderte er doch, als er versuchte, durch den wirbelnden Schnee und den Wirrwarr der Bäume, die seine Beute verbargen, hindurchzuspähen. »Ist es nicht langsam an der Zeit, daß wir zum Angriff übergehen?« flüsterte er dem Prinzen zu. »Meine Krieger sind dieser endlosen Warterei überdrüssig.«

»Hab Geduld, du Idiot!« fuhr Harihn ihn an. »Beim Schnitter, Hoherpriester, denk an unseren Plan! Die Prinzessin wird herkommen und uns Bescheid sagen, wenn sie schlafen. Wir müssen auf ihre Nachricht warten – dann greifen meine Männer den Turm an, und deine Krieger kommen von oben hinzu. Und Schwarzkralle – denk daran, daß ich sie lebendig haben will!«

Der Hohepriester der Geflügelten nickte ungeduldig und kämpfte gegen seine Verärgerung an. Bei Yinze – hielt sein Verbündeter ihn vielleicht für einen kompletten Narren? Aber nackte Angst hinderte ihn daran, dem Prinzen eine heftige Erwiderung zu geben. Denn hinter dem törichten, leeren Ausdruck auf Harihns hübschem Gesicht brannte der harte und furchterregende Blick des Erzmagusch Miathan!


»Harihn?« Rabe stolperte durch die Büsche und wünschte, die Nacht wäre heller, so daß sie hätte fliegen können. Es wäre einfacher und weit weniger schmerzhaft gewesen, dachte sie, als sie das Blut von einem neuen Kratzer leckte. Bei den Augen Yinzes, wo steckte er nur?

Sehr zur Erleichterung des geflügelten Mädchens gaben die elastischen Zweige vor ihr endlich nach, und sie fand sich auf einer Lichtung wieder. Rabe runzelte verwirrt die Stirn und stampfte gereizt mit den Füßen auf. Harihn hatte ihr versprochen, sie auf einer Lichtung in der Nähe des Turms zu treffen, aber diese hier war offensichtlich nicht die richtige. Und doch … Rabe blinzelte in die Düsternis. War das nicht eine Bewegung, da drüben in den Büschen auf der anderen Seite? Dieser Schatten war doch gewiß kein Baum, sondern die hohe, aufrechte Gestalt eines Mannes?

»Harihn?« Rabe machte einen Schritt nach vorn. Zu spät hörte sie das Rascheln hinter sich, ein Rascheln zu beiden Seiten. Bevor sie noch Zeit hatte, die Flucht zu ergreifen, prallte ein schweres Gewicht auf sie, preßte sie zu Boden und drückte ihr Gesicht in den Schnee und die heruntergefallenen Piniennadeln. Dann waren plötzlich viele Hände auf ihr, Hände, die nach ihren Flügeln und ihren Gliedmaßen griffen. Obwohl sie sich heftig wehrte, mit flatternden Hügelspitzen und krallenscharfen Fingernägeln um sich schlug, war sie doch hoffnungslos unterlegen. Bevor sie noch um Hilfe schreien konnte, packte eine Hand ihren Kiefer, stopfte ihr einen dicken Knebel aus Stoff in den Mund und band ihn mit einem anderen Stoffstück fest. Dann wurden ihr Hügel, Handgelenke und Knöchel fest mit Lederriemen zusammengebunden – aber noch grausamer war die Hand der Furcht, die ihr Herz umklammerte. Harihn, dachte sie verzweifelt. Wo bist du?

Rabe fand es nur allzubald heraus. Ein mit einem Stiefel bekleideter Fuß rollte sie auf den Rücken, und durch tränengefüllte Augen blickte sie empor in das Gesicht ihres einstmaligen Geliebten. »Nein!« Das Wort war nur ein gedämpftes Flüstern durch Rabes Knebel – es war mehr ihr Geist, der vor Zorn und Angst aufgeschrien hatte. Der Prinz hatte sie betrogen!

»Ah …« Das Herz des geflügelten Mädchens krampfte sich bei dem Klang der trockenen, vertrauten Stimme zusammen, die schon seit so langer Zeit ihre Alpträume heimgesucht hatte. Eingehüllt in das staubige Schwarz seiner Schwingen, trat der Hohepriester Schwarzkralle hinter dem Prinzen hervor. »Endlich mein!« Er kniete neben ihr nieder, und Rabe schloß bei seiner Berührung erzitternd die Augen.

»Mach voran, Schwarzkralle! Du kannst dein Spielzeug später genießen.« Harihns Stimme war hart und kalt. »Meine Seite unseres Handels habe ich erfüllt, aber wir müssen die anderen haben, bevor deine Beute in Sicherheit ist.«

»Achte auf deinen Ton, wenn du den neuen König des Himmelsvolkes ansprichst!« fuhr Schwarzkralle ihn schroff an. Dennoch gehorchte er und stand augenblicklich auf. Rabe versteifte sich bei seinen Worten. König? Aber das konnte doch nur bedeuten, daß ihre Mutter tot war! Als der Klang der sich von der Lichtung entfernenden Schritte langsam verhallte, schloß Rabe in tiefster Verzweiflung die Augen und begann zu schluchzen.

Es kostete die Magusch ungeheure Anstrengung, sich über die wacklige Leiter aufs Dach zu ziehen. Als sie dann Anvar sah, der sich in der windgeschützten Ecke einer zerfallenen Schießscharte zusammenkauerte, hätte sie um ein Haar den Mut verloren. Aber er blickte auf, denn er war sich wie immer ihrer Gegenwart bewußt, und der Anblick seines traurigen, müden Gesichts stärkte ihre Entschlossenheit. Sie hockte sich neben ihn, aber ihre Worte gingen in dem Heulen des Windes unter. »Komm hinein, Anvar!« rief sie. »Du frierst dich noch zu Tode!«

Die obere Kammer des Turms besaß einen Kamin und einige wenige, von Spinnweben überzogene alte Möbelstücke mit merkwürdigen Mustern, die die Geflügelten benutzt haben mußten, als sie hier Wache gehalten hatten. Anvar schmetterte einen hohen Hocker gegen die Wand und warf die Trümmer in die Feuerstelle, wo er sie mit einem zischenden Feuerball entzündete. Als die Flammen aufloderten, machte er sich über die Überreste eines spindeldürren Tisches her, und Aurian trat, als sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck bemerkte, unwillkürlich einen Schritt zurück. Seine ersten Worte waren eine vollkommene Überraschung für sie.

»Aurian, du bist wohl nicht ganz bei Trost, daß du diese halb verrottete Leiter benutzt hast! Wenn du gestürzt wärst, hättest du das Kind verlieren können!« Dann schien er sich plötzlich seiner Worte bewußt zu werden und wandte sich von ihr ab. »Nicht, daß es mich etwas anginge«, murmelte er, und seine Stimme war voller Bitterkeit.

Aurian holte tief Luft und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es geht dich sehr wohl etwas an, Anvar«, sagte sie sanft. »Das heißt – wenn du es immer noch möchtest.«

Einen Augenblick lang stand er einfach reglos da. Dann drehte er sich um und sah ihr ins Gesicht. »Wie meinst du das?« fragte er.

Aurian schluckte, und ihre Kehle war plötzlich trocken. »Ich hätte schon früher etwas sagen sollen – vielleicht nach der Wüste oder ganz gewiß nach der Lawine heute. Aber ich hatte solche Angst.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Oh, verflucht noch mal!« Sie schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel über ihre Nase. Dann versuchte sie, sich von ihm zu lösen, aber er hielt sie fest.

»Weißt du, ich glaube, diese abscheuliche Angewohnheit werde ich dir wohl nie mehr austreiben!« Aller Zorn war aus Anvars Gesicht gewichen. Er führte sie ans Feuer und half ihr, sich auf dem Boden neben dem Kamin niederzusetzen. ‘ Dann nahm er die Trümmer des zerbrochenen Tisches und legte sie in die ersterbenden Flammen, während Aurian weitersprach, bevor sie den Mut dazu verlor. »Ich habe dich glauben lassen, daß ich dich nicht liebte, aber das war eine Lüge. Ich habe auch mich selbst belogen. Ich hatte Angst, denn nach Forrals Tod wollte ich solchen Schmerz niemals mehr erleben! Und wir sind in so großer Gefahr …«

»Und wo liegt das Problem? Du hast Angst, ich könnte auch getötet werden? Oh, mein Liebling …« Anvar legte seine Arme um sie und hielt sie ganz fest an sich gedrückt, bis Aurian endlich seine Umarmung voller Glück erwiderte. Sie genoß seine Nähe und seine Berührung und spürte das Rasen seines Herzens, das zu dem freudigen Schlagen ihres eigenen paßte. Aber da war noch etwas, etwas sehr Wichtiges, das sie bisher ungesagt gelassen hatte.

Sie hob ihr Gesicht von Anvars Schulter, um ihn anzusehen. »Ich kann Forral nicht vergessen, weißt du«, sagte sie bleich. »Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht wollen.«

Anvar schüttelte den Kopf. »Ich erwarte nicht von dir, daß du ihn vergißt, mein Liebstes, und genausowenig werde ich ihn je vergessen. Forral war mir ein wahrer Freund, und ich halte seine Erinnerung in Ehren. Die Dinge haben sich so schnell entwickelt nach seinem Tod, und mir wäre es lieber, wenn du mit deinem ganzen Herzen zu mir kämst, als geplagt von Zweifeln.«

Aurian streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. »Ich habe genug Zweifel gehabt.« Sie ließ ihre Handflächen über seine breiten Schultern gleiten, schmiegte sich eng an ihn – und versteifte sich, als ein schnarrendes Geräusch über ihrem Kopf das zarte Gewebe von Liebe und Sehnsucht, das Anvar und sie eingehüllt hatte, plötzlich zerriß.

»Anvar – hast du das gehört?«

Anvars Augen waren vor Schreck geweitet. »Es ist auf dem Dach …«

Die Falltür in der Decke flog auf, und seine Schneelast klatschte donnernd auf den Boden, während gleichzeitig ein Strom winterkalter Luft die schwache Wärme des Zimmers durchströmte. Fluchend quälte Aurian sich auf, als ein Paar Beine auf der zerbrechlichen Leiter erschien. Augenblicklich griff sie nach dem Schwert, das immer an ihrer Seite hing, und schwang es mit aller Kraft in einem weiten Bogen, bis ihre Handgelenke den Aufprall spürten, mit dem sich die Klinge durch Fleisch und Holz in Knochen hineinbohrte. Die Leiter splitterte, und der Mann stürzte schreiend zu Boden; ein Bein war am Knie abgetrennt, aus dem anderen spritzte Blut. Aurian sprang unbeholfen zurück und verfluchte ihren hinderlichen Bauch, aber Anvar gab ihr Halt, so daß sie das Gleichgewicht wiederfand.

»Geflügelte!« rief Anvar, der sie hastig vor den heftig flatternden Flügelspitzen ihres sich krümmenden Opfers in Sicherheit brachte. Eine weitere Gestalt fiel durch die Öffnung, und Hügel breiteten sich aus, die den engen Raum in dem Zimmer beinahe ganz ausfüllten. Aurian versuchte, sich auf den neuen Feind zu stürzen, bevor er sich erholen konnte, aber dieser hatte sein Schwert bereits in der Hand und trieb sie mühelos zurück, denn er hatte erkannt, daß die Notwendigkeit, ihr ungeborenes Kind zu schützen, sie behinderte. Unerbittlich drängte er vorwärts und machte unter der Falltür Platz, so daß weitere Feinde eintreten konnten.

Aus den Augenwinkeln sah Aurian Anvar, wie er unter den aufblitzenden Schwertern hinwegtauchte, um nach der Waffe des ersten gefallenen Kriegers zu greifen, aber sie mußte sich auf ihren eigenen Gegner konzentrieren – bis ein Schmerzensschrei ihr das Blut in den Adern erstarren ließ.


Da wandte sie die Augen von ihrem Angreifer ab, um einen Blick auf Anvar zu erhaschen, der gerade seine blutige Klinge aus der Brust des nächsten Mannes zog, der durch die Falltür gesprungen war. Aber schon folgte ein weiterer und trat die Leiche seines Vorgängers beiseite. Dann ließ sich hinter ihm noch ein Geflügelter durch die Öffnung ins Zimmer fallen. Ihr Gegner, der ihre Unaufmerksamkeit gespürt hatte, machte einen jähen Schritt nach vorn und hätte um ein Haar ihre Deckung durchbrochen. Seltsamerweise verspürte Aurian keine Angst, sondern nur eine Woge des Zorns darüber, daß er sie davon abhielt, Anvar zu Hilfe zu eilen. Sie riß ihre Klinge mit einer flinken Kreisbewegung, die Forral ihr beigebracht hatte, zur Seite, und das Schwert ihres Feindes flog durch die Luft, so daß sie ihm mit einem letzten Hieb die Kehle durchschneiden konnte – was sie sofort bedauerte, als ihr sein Blut ins Gesicht spritzte. Beherzt löste sie jedoch eine Hand von ihrem Schwert, um sich die Augen abzuwischen, obwohl der metallische Geruch des Blutes sie würgen ließ. Dann sprang sie über die Leiche hinweg, kam aber ruckartig zum Stehen, als sich die Hand des Mannes im Todeskampf um ihren Knöchel klammerte und ihren Fuß mit einem eisernen Griff festhielt.

Anvar kämpfte mit zwei Gegnern, die ihn gnadenlos attackierten und ihn in die tödliche Falle der Ecke zwischen dem Kaminsims und der Wand trieben. Da sie sich weder befreien konnte noch auch nur einen Augenblick Zeit verschwenden durfte, riß Aurian mit der linken Hand ein Messer aus ihrem Ärmel, warf es – mit der tödlichen Genauigkeit, die sie von Parric gelernt hatte – und hörte ein gequältes Aufstöhnen, als es sich mit seiner ganzen Schneide in den Rücken seines Opfers bohrte, genau zwischen die großen Schwingen. Der andere Krieger sah sich um, als sein Kamerad zu Boden fiel – ein fataler Fehler. Schreiend krümmte er sich zusammen und umklammerte die blutigen Windungen seiner Eingeweide, die Anvars Klinge ihm aus dem Leib gerissen hatte.

Aurian durchtrennte den Arm, der sie festhielt, mit einem einzigen Streich ihres Schwertes. Als die Hand zu Boden fiel, stürzte sie durchs Zimmer und zog Anvar mit sich zur Tür, während immer mehr Feinde sich durch die Falltür im Dach zu ihnen hinunterließen. Irgend jemand hieb mit seinem Schwert auf das Loch ein, um die Öffnung zu vergrößern. Die kleine Kammer war plötzlich zum Bersten voll mit Kriegern, und die beiden Magusch sahen sich gezwungen, über die Leichen der Gefallenen zurückzuweichen, wobei sie den Angreifern einen verzweifelten Kampf lieferten. Aber als sie die Tür erreichten, verwandelte sich Aurians Erleichterung in Entsetzen, als sie aus dem Raum unter sich ebenfalls Kampfgeräusche hörte. Sie waren umzingelt!

Dann erinnerte sich die Magusch an Shia, und eine wilde Hoffnung stieg in ihrem Herzen auf, die jedoch gleich zunichte wurde, als sie den Geist ihrer Freundin berührte. Die Antwort war kurz und schroff, da die Katze unten selbst um ihr Leben kämpfte. »Bohan kämpft – Eliizar verletzt – kann dich nicht erreichen …«

»Lauf weg, Shia!« sagte Aurian zu ihr. »Nimm den Erdenstab und lauf!«

»Hast du den Verstand verloren? Ich werde dich nicht im Stich lassen!«

»Du mußt. Wenn wir den Stab verlieren, sind wir am Ende.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann erklang Shias Gedankenstimme von neuem: »Ich habe ihn. Ich gehe!«

Aurian erschien ein verschwommenes Bild von Klauen und Blut, während die große Katze sich ihren Weg ins Freie kämpfte. Dann war sie verschwunden, irgendwo im Unwetter. Irgend jemand packte die Magusch von hinten und riß sie zurück, während bisher unsichtbar gebliebene Angreifer die Treppe hinaufstürmten. Plötzlich wurde Aurian zurückgerissen, und sie spürte den kalten Biß von Stahl auf ihrer Kehle.

»Laßt eure Waffen fallen!«

Aurian erkannte die Stimme hinter ihrem Rücken. Harihn! Verbündet mit den Geflügelten? Sie wurde steif vor Zorn, und die Klinge schnitt in die straffe Haut ihres Halses, so daß ein dünner Strom warmen Blutes über ihre Haut floß. In hilfloser Wut ließ sie ihre Waffe fallen und sah noch, wie sich auf Anvars Gesicht Zorn und Entsetzen mischten. Dann fiel auch sein Schwert klirrend zu Boden, und er wurde von geflügelten Kriegern umzingelt und davongezogen. Trotz heftigster Gegenwehr drängten sie ihn schon nach kurzer Zeit an die gegenüberliegende Wand des Raumes. Aurian sah, wie seine Augen in eisigem Zorn hell aufflackerten, während er seine Kräfte sammelte und …

»Vergiß es, Anvar«, fuhr Harihn ihn an. »Beim ersten Zeichen von Magie, das von dir kommt, werden meine Krieger ihr die Kehle durchschneiden.« Aurian sah, wie das Feuer in Anvars Augen erstarb und sein Zorn im Angesicht der bitteren Niederlage dahinschwand. Dann wurden ihre Hände von hinten ergriffen, zurückgerissen und gefesselt, während Anvars geflügelte Wächter mit ihm in gleicher Weise verfuhren.

»Wie nett von euch, daß ihr euch zu mir gesellt habt.« Mit einem sardonischen Lächeln trat Harihn vor die Magusch hin. »Dank des Verrats der kleinen Rabe seid ihr jetzt meine Gefangenen.« Dann gab er den Befehl, Aurian das Messer von der Kehle zu nehmen, und schlug sie ins Gesicht. Der Schlag brachte sie aus dem Gleichgewicht, und sie fiel, aber ihre Wachen fingen sie auf und zwangen sie auf die Knie. Trotz des Klingeins in ihren Ohren hörte sie ein Handgemenge.

»Laßt sie in Ruhe!« Anvars Schrei ging in dem ekelhaften Geräusch eines heftigen Schlags unter. Dann krachte die Hand des Prinzen auf die andere Seite ihres Gesichts. Ihr Kopf wurde zur Seite gerissen, und sie schmeckte Blut, wo sie sich auf die Lippe gebissen hatte.

»Ich warne dich, Anvar«, sagte Harihn drohend. »Noch eine Bewegung von dir, und sie wird diejenige sein, die dafür leidet.«

Seine Stimme war nicht die Stimme des Prinzen. Aurian blickte durch Tränen des Schmerzes auf, und ihr Herz verwandelte sich in ihrem Leib zu Asche. Die hübschen, vertrauten Züge dieses Gesichts waren die Harihns – aber die grimmige Bosheit, die hinter seinen Augen brannte, konnte nur dem Erzmagusch gehören!

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