In dem nach Pinien duftenden Schutzzelt aus umgestürzten Bäumen lag Aurian gegen ein Polster von Bündeln und gefalteten Decken gelehnt. Shia, deren aufgerissene Fußsohlen mit Salbe bestrichen und in Lumpen eingehüllt waren, döste neben ihr vor sich hin. Sie schnurrte im Schlaf und legte Aurian ihren Kopf auf den Schoß. Anvar hatte sich auf der anderen Seite der Magusch zusammengerollt und seine schwindelerregend blauen Augen zu einem tiefen Schlaf purer Erschöpfung geschlossen. Sein feines, dunkelblondes Haar, das während ihrer Reise durch die Wüste heller geworden und von sonnenlichtgleichen Strähnen durchzogen war, fiel ihm übers Gesicht und bewegte sich leicht im Rhythmus seines Atems. Er hatte sich ein wenig Ruhe wohl verdient, dachte Aurian. Als Eliseth sie angegriffen hatte, hatte er ihnen allen das Leben gerettet und sich für einen nur halb ausgebildeten Magusch bewundernswert geschlagen.
Aurian schreckte vor der Tatsache zurück, daß Anvars Ergebenheit auf Gefühlen beruhte, die viel tiefer gingen als gewöhnliche Freundschaft. Die Erinnerung an Forral war noch zu stark. Und doch hatte sie es vorgezogen, bei Anvar zu bleiben, statt dem Schatten ihres ermordeten Liebsten in den Tod zu folgen … Aurian schüttelte den Kopf, als wolle sie die heftigen Schuldgefühle, die mit diesen Gedanken einhergingen, von sich werfen, aber es lag große Zuneigung in ihrem Blick, als sie Anvar sanft die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und die Decke wieder hochzog, die ihm von den Schultern gerutscht war. Aurians ungeborenes Kind bewegte sich ruhelos in ihrem Leib hin und her, verstört durch das Unbehagen seiner Mutter, und die Magusch ließ ihre Gedanken zu ihm wandern, um Forrals Sohn zu beruhigen.
»Schläfst du eigentlich niemals?« Shias Gedankenstimme war streng, aber Aurian hörte die verborgene Besorgnis darin. Die Katze sah sie ernst und ohne zu blinzeln aus ihren gelben Augen an. »Aurian, warum quälst du dich so? Dein Junges hat ein Anrecht auf dich, das stimmt; aber dieser andere, um den du dich sorgst, ist tot – er braucht deine Hilfe nicht mehr.« Als Aurian bei diesen offenen Worten zusammenzuckte, wurde Shias Ton weicher und enthielt nun das Echo von etwas, das die Magusch mittlerweile als ein Lächeln zu erkennen vermochte. »Was Anvar betrifft, brauchst du dich nun wirklich nicht zu sorgen. Er ist stark, und seine Stärke nimmt immer noch zu. Er wird warten.«
»Ich habe ihn nie darum gebeten, auf mich zu warten«, wandte Aurian ein.
In Shias Gedanken war ein Schulterzucken zu lesen. »Er wird warten – ob du ihn darum bittest oder nicht.«
Aurian schlief wieder ein und wurde eine Weile später von dem köstlichen Duft gebratenen Fleisches geweckt. Anvar war bereits auf und half Nereni dabei, die Vorbereitungen für ihr Festessen zu treffen. Die kleine Frau hatte den ganzen Nachmittag lang gearbeitet. Sie hatte Bohan und Eliizar in den Wald geschickt, um eine bestimmte Art von Knollen zu suchen, die sie in der Asche ihres Feuers backen wollte. Außerdem hatte sie um Beeren und andere eßbare Früchte des Waldes gebeten, die sie zu dem Wildbret, das sie vorbereitet hatte, servieren wollte. Yazour, der sah, was auf ihn zukam, hatte eich prompt erboten, fischen zu gehen. Kurz vor dem Abendessen kehrte er zurück, fröhlich pfeifend und mit leeren Händen, was ihm ein Stirnrunzeln von Nereni eintrug. »Was hätte ich denn machen sollen?« protestierte er mit unschuldiger Miene. »Sie haben einfach nicht angebissen.«
Aurian und Anvar grinsten sich an, denn sie hatten die kleine List des Kriegers durchschaut. Wie gut es doch tat, endlich wieder mit den anderen zusammen und in Sicherheit zu sein. Dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen: Etwas hatte sie die ganze Zeit über nicht losgelassen, und nun begriff sie, was die Erschöpfung und die Freude verdrängt hatte. »Wo, um alles in der Welt, ist Rabe?« fragte sie.
»Sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht, durch den Wald zu streichen und zu jagen«, erwiderte Nereni. »Sie bringt immer Vögel und andere Tiere mit, aber ich mache mir große Sorgen. Was ist, wenn sie einem wilden Tier über den Weg läuft?«
»Du machst dir zu viele Gedanken«, sagte Eliizar zu seiner Frau. »Wenn ein Wolf oder ein Bär kommt, braucht sie doch nur wegzufliegen.«
»Das stimmt«, pflichtete Aurian ihm bei, aber dennoch wunderte sie sich über Rabes Alleingänge.
Rabe hockte unglücklich zwischen den dürren Ästen einer Tanne und sah zu, wie sich das Zwielicht durch das dunkle Gewirr der Bäume stahl. Im Norden erglühten die hohen Gipfel noch immer in dem feurigen Licht des Sonnenuntergangs, und das geflügelte Mädchen zog bei diesem Anblick die Augenbrauen zusammen. Da sie an die langen Tage ihres Zuhauses in den Bergen gewöhnt war, konnte sie sich nicht mit der Tatsache abfinden, daß das Licht in diesem verwünschten Tiefland so schnell dahinschwand.
Sie kämpfte Tränen der Verbitterung nieder. Das war nicht ihre Art zu jagen – sich durch die erdrückende Masse von Bäumen zu schleichen. Sie vermißte den weiten Kampfplatz des offenen Himmels; ihre Freude bei der Jagd waren Geschwindigkeit und Geschicklichkeit. In Aerillia, ihrem verlorenen Zuhause, hatte sie zum Spaß gejagt und ihr gefiedertes Opfer freigelassen, so daß es in Frieden weitersingen und jubilieren konnte. Sie hatte damals noch nicht gewußt, was es hieß, selbst gejagt zu werden – ein Leben als Verbannter ohne Zuflucht zu führen, von den Forderungen eines leeren Magens beherrscht zu werden. Jetzt waren diese Dinge ihr nur allzu vertraut!
Rabe verfluchte Schwarzkralle, der sie gezwungen hatte, voller Angst von ihrem rechtmäßigen Platz als Prinzessin des geflügelten Volkes zu fliehen. Er mußte aufgehalten werden – und bei Yinze, dem Himmelsgott, sie würde es tun! Wenn ihre Kameraden aus der Wüste sie auch im Stich gelassen hatten – jetzt endlich hatte sie jemanden gefunden, der das nicht tun würde. Bei dem Gedanken an Harihn mußte sie ein Zittern unterdrücken, das von ihrem Schuldbewußtsein herrührte. Die Himmelsleute vermählten sich für ein ganzes Leben, und ihr Volk wäre entsetzt über das, was sie und dieser Mensch gemacht hatten. Aber er war so gut zu ihr gewesen … Bei dem Gedanken an ihn wurde ihre grimmige Stimmung weicher. Sie würde es den anderen schon zeigen. Aurian, die ihrem Flehen um Hilfe nicht hatte zuhören wollen – und Anvar, von dem sie sich Besseres erhofft hatte …
Das war ein wunder Punkt für Rabe, aber sie zwang sich, an etwas anderes zu denken, während ihr knurrender Magen sie ermahnte, sich auf die Jagd zu konzentrieren. Geduldig, aufmerksam und mit einem großen Stein in der Hand spähte sie in die dicke Schicht von Bodennebel, die sich bei der Abenddämmerung im Wald bildete. Plötzlich wurde ein Rascheln im Gebüsch laut, und dann ertönte ein schriller Schrei. Rabe schleuderte ihren Stein. In einem Gewirr von Flügeln stürzte der Fasan aus seiner Deckung hervor, und mit der sauberen, flinken Anmut eines Falken stieß sie auf ihn herab. Noch im Flug packte sie das Tier und brach ihm in einem einzigen Gestöber von Federn mit einem gekonnten Ruck das Genick.
»Gut gefangen, mein Juwel!« Die Stimme kam leise, aber deutlich aus einer Lücke zwischen den Bäumen unter ihr.
Rabes Blut jubilierte in ihren Adern. Endlich war Harihn wiedergekommen! Glühend vor Aufregung machte sie in einem atemberaubenden Manöver kehrt, um durch den schmalen Schlitz zwischen dem Wirrwarr der Äste hindurchzuschießen. Es waren Tage vergangen, seit sie Harihn das letzte Mal gesehen hatte, und sie hatte sich ohne ihn so einsam gefühlt! Ihre Flügel wirbelten den Nebel zu hauchzarten Sommerfäden auf, und endlich stand Rabe, noch keuchend von den Anstrengungen der Jagd, vor ihrem Geliebten.
Harihn trat fluchend aus dem Gebüsch hervor und fuhr sich mit den Fingern durch sein zerzaustes Haar. Blätter und kleine Äste fielen daraus zu Boden. Diese Lichtung war so gut versteckt, daß nur das geflügelte Mädchen sie ohne große Mühe erreichen konnte. Die Abenddämmerung war früher gekommen, als er erwartet hatte, so daß er gezwungen gewesen war, sich stolpernd und taumelnd seinen Weg durch die Halbdunkelheit zu bahnen. Beim Schnitter, hoffentlich ist diese Sache auch wirklich die Mühe wert, dachte er.
»Harihn?« Er hörte ein Rascheln über seinem Kopf und das Knistern von Zweigen, und plötzlich landete Rabe vor seinen Füßen. Der Prinz der Khazalim zögerte, wie immer hin- und hergerissen zwischen dem Bewußtsein ihrer seltsam fremdartigen Schönheit und seinem Widerwillen bei dem Gedanken, sich mit einer Kreatur zu paaren, die nicht menschlich war. Dann war wieder die Stimme in seinen Gedanken, die ihn ungeduldig weiterdrängte. »Nun mach schon, du Narr – bevor sie Verdacht schöpft!«
Harihn stöhnte und kämpfte gegen die heiße Aufwallung seines Blutes, während sein verräterischer Körper seinem anschwellenden Verlangen nachgab. Es war immer dasselbe – seit er sie verführt hatte, auf das Drängen der Stimme hin, die an dem Tag, an dem er den Wald betreten hatte, in seinen Verstand eingedrungen war. Manchmal fragte er sich, ob er recht hatte, der Stimme zu vertrauen – aber sie hatte ihm angeboten, was er haben wollte: die Macht, den Thron seines Vaters zu erlangen, und Rache an Anvar dafür, daß er ihm Aurians Treue gestohlen hatte, die ihm Macht und so vieles mehr hätte schenken können.
»Komm schon, was ist los mit dir? Nimm sie dir, wenn es das ist, was sie will!« fuhr die Stimme ihn an. »Wir brauchen ihre Mitarbeit!«
Zu Harihns Entsetzen spürte er, wie er unbeabsichtigt einen Schritt nach vorn machte und seine Glieder sich aus eigener Kraft bewegten, während der Eindringling die Herrschaft über sie übernahm.
Rabe sah ihren Geliebten zögernd an. Harihn schien heute abend so seltsam. Sein gelocktes, schwarzes Haar war von silbernen Tröpfchen bekränzt und ließ ihn vor der Zeit ergrauen. Er sah aus, als sei er gealtert, dachte sie. Seine sanften Züge hatten scharfe Kanten angenommen, als hätte sich ein älteres, härteres Gesicht über das seine gelegt. Seine Augen brannten sich in ihre hinein, und zum ersten Mal hatte sie Angst.
»Es wird Zeit«, knurrte Harihn. Nur das – kein Lächeln, kein Kuß, kein Wort des Grußes. Bevor Rabe sich noch bewegen konnte, packte er sie, legten einen Fuß hinter ihren Knöchel und warf sie zu Boden, wo er sie mit seinem Gewicht niederdrückte. Federn flogen wie schwarzer Schnee um sie herum, als ihre Hügel sich in den Büschen verfingen. Er zerriß ihr Gewand, erstickte ihren Protest mit brutalen Küssen, und seine Hände mißhandelten ihre Brüste. Dann war sein Knie zwischen ihren Beinen und stieß sie grob auseinander. »Harihn, nein!« keuchte Rabe. Mit einem Fluch zog er seine Hand zurück, und ihre Wangen brannten, als er sie mit einem heftigen Schlag zum Schweigen brachte. Tränen liefen über ihre Schläfen und erkalteten in der wirren Wolke ihres Haars.
Hart und fordernd stieß er in sie hinein, und Rabe stöhnte vor Schmerz. »Nein!« kreischte sie und schleuderte ihm Rüche in der Sprache der Geflügelten entgegen. Dann wehrte sie sich mit ihren scharfen, klauenartigen Nägeln und versuchte schließlich, sie ihm in die Augen zu bohren.
Harihn wich zur Seite aus; tiefe, klaffende Wunden zogen sich über seine Wangen. »Du Barbarin!« knurrte er. Sein Blut tropfte heiß auf ihr Gesicht, und er küßte sie wieder, diesmal etwas sanfter.
»Vergib mir«, wisperte er. »Wir waren so lange voneinander getrennt, und du bist so schön …«
Seine Hand drängte sich zwischen ihre Leiber, schlüpfte zwischen Rabes Beine, und sie wimmerte vor Vergnügen und wölbte sich ihm entgegen. »Ich hasse dich«, ächzte sie. »Ich hasse dich«, jubilierte sie wieder und wieder zu dem schneller werdenden Rhythmus seiner heftigen Stöße. »Ich werde dich töten! Ah!« Während sie dem Höhepunkt immer näher kam, zerrissen ihre Krallen sein Gewand und bohrten sich in die weiche Haut seines Rückens.
Klebrig, schmutzig, blutend und voller blauer Flecken rollten sie voneinander weg und rangen um Atem. Harihn blinzelte, als wache er gerade aus einem Traum auf. Rabe beobachtete ihn durch ihre Wimpern hindurch, als er plötzlich die Hand hob, um ihr die schweißnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen, die an ihren Wangen klebten. Dann küßte er ihr geschundenes Gesicht, und sein Atem kribbelte leise auf ihrer feuchten Haut. »Armes Kind – kannst du mir verzeihen?« murmelte er. Rabe, die noch ganz im Bann der Leidenschaft stand, die sie schließlich und endlich doch noch ergriffen hatte, nickte nur. Er hatte sich gerade noch rechtzeitig verändert – als wäre er eine Zeitlang jemand anderes gewesen, bevor der wahre Harihn zurückgekehrt war, um sie vor tiefster Demütigung zu bewahren. Dafür war sie sehr dankbar. Er konnte ja nicht wissen, dachte die Prinzessin, daß sie gezwungen war, ihm zu verzeihen. Das Himmelsvolk vermählte sich auf Lebenszeit, und es gab kein Zurück mehr für sie.
Ein Zittern durchlief sie, aber Rabe war nicht umsonst eine Prinzessin. Sie berührte die Kratzer auf Harihns Gesicht, und als er zusammenzuckte, verzogen ihre Lippen sich zu einem selbstgefälligen, kleinen Lächeln. »Ich hab’s dir heimgezahlt«, sagte sie zu ihm, und der Schatten hob sich aus seinen Augen.
»Hexe«, murmelte er.
»Das geschieht dir ganz recht!« Es war einer der Ausdrücke, die Nereni so oft gebrauchte, und bei der Erinnerung daran richtete Rabe sich plötzlich mit einem Ruck auf. »Yinze auf einem Baumwipfel! Nereni erwartet mich schon lange zurück.«
Harihns Lächeln erlosch. Dann, wie die Sonne, die sich hinter einer Wolke verbarg, bevor sie wieder erschien, kehrte es zurück, aber finsterer diesmal. Jetzt war es wieder wie am Anfang, als er sie so gewaltsam genommen hatte … Rabe streckte ihre Krallen aus, aber Harihn rührte sich nicht. »Ich habe eine Überraschung für dich, Prinzessin«, sagte er zu ihr. »Die Magusch sind sicher aus der Wüste zurückgekehrt, und Nereni plant, das glückliche Wiedersehen mit einem Festmahl zu feiern.«
»Ein Festmahl?« rief Rabe. »Während mein Königreich dem Untergang geweiht ist und keiner von ihnen auch nur einen Finger hebt, um mir zu helfen …«
»Pst.« Harihn brachte sie mit einem Kuß zum Schweigen. Beim Schnitter, was für eine leichtgläubige Närrin sie doch war! »Du brauchst sie nicht, mein Juwel, denn unsere Zeit ist reif. Du weißt, ich habe einen machtvollen Verbündeten. Ich werde ihm helfen, Aurian und Anvar gefangenzunehmen, und er wird dir jeden Beistand gewähren, den du brauchst, um dein Königreich zurückzuerlangen.«
»Das will ich hoffen. Die anderen haben mir ja herzlich wenig geholfen.« Die Stimme des geflügelten Mädchen offenbarte ihre Verbitterung, und Harihn lächelte in der Dunkelheit. Es war so leicht, sie zu beeinflussen. »Überrede deine Kameraden, ins Gebirge zu gehen, zu Incondors Turm, dem uralten Wachposten deines Volks«, sagte er zu ihr. »Wenn sie dort ankommen, bevor Aurian ihre Macht zurückerhält, können meine Leute ihnen mühelos auflauern.«
Rabe dachte an Nereni und zögerte. »Harihn – versprichst du, daß sie nicht zu Schaden kommen werden?«
»Das verspreche ich dir, meine Liebste.« Die Dunkelheit verbarg die Lüge in Harihns Gesicht. Nerenis Mann hatte ihn betrogen, ebenso wie der abtrünnige Yazour und der Eunuch Bohan. Sie verdienten den Tod – auch Nereni. Harihn lächelte bei dem Gedanken. Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, sie noch einmal zu nehmen, strich er ihr übers Haar und beugte sich herunter, um ihre Lippen noch einmal einzufangen.
Später, als er sich mühsam den Weg zurück zu seinem Lager ertastete, lächelte Harihn immer noch; währenddessen kehrte Rabe zu ihrem eigenen Lager zurück und flog hoch über den Bäumen hinweg, während die Berge in die Nacht hineinglitten.
Binnen kurzer Zeit hatte der Prinz seine Gefolgsleute zu hektischen Aktivitäten getrieben. »Meine restlichen Krieger werden heute abend nach Norden aufbrechen, wo ich in Kürze zu ihnen stoßen werde«, erklärte er seinen Bediensteten. »In meiner Abwesenheit müßt ihr hierbleiben und Vorräte für uns anlegen. Geflügelte werden kommen, um abzuholen, was ihr gesammelt habt.« Seine Gefolgsleute, überrascht von dieser plötzliche Änderung seiner Pläne, sahen den Prinzen wachsam an und flüsterten hinter seinem Rücken. Er war nicht mehr er selbst gewesen, seit er einen Fuß in diesen Wald gesetzt hatte, und manchmal hatten sie ihn sogar dabei erwischt, wie er zu sich selbst sprach, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Und was seine Verbindung mit diesen geflügelten Kreaturen betraf – das überstieg bei weitem alle Regeln des Anstands.
Harihns Verhalten wurde immer seltsamer. Schon bald nach ihrer Ankunft an diesem Ort hatte er die meisten seiner Soldaten weggeschickt. Sie sollten mit großen Mengen an Vorräten mit einem geflügelten Krieger als Führer nach Norden reiten. Auf diese Weise war sein Gefolge nur mit einer vollkommen unzureichenden Wache zurückgeblieben – und jetzt wollte er sie ganz im Stich lassen. Aber sie waren Khazalim, und der Gehorsam den Mächtigen gegenüber war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Harihn war ihr Prinz. Er hatte versprochen, zu ihnen zurückzukehren, und mit diesem Versprechen mußten sie sich zufriedengeben. Harihns Leute seufzten – aber sie gehorchten.
Die Xandim waren niemals eine Rasse gewesen, die sich um Dächer oder Mauern geschert hatte. Es war wirklich ein Glück, dachte Chiamh, daß ein Volk, dem es so sehr an allen Fähigkeiten gebrach, die zum Hausbau notwendig waren, eine vorgefertigte Festung gefunden hatte. Niemand wußte, wer sie erbaut hatte; die Großmutter des Windauges schrieb es der alten Rasse der Mächtigen von jenseits des Meeres zu. Chiamh bezweifelte das, obwohl die Schöpfer dieser Festung über unglaubliche Macht verfügt haben mußten, denn sie hatte die Unbilden der Zeit überlebt – und zwar zu Recht. Es gehörte mehr dazu als das Vorüberstreichen der Jahrhunderte, um ein so solides Bauwerk zu zerstören.
Geborgen in einer tiefen Einbuchtung in den Felsen lag die Fest der Xandim, ein massives Bollwerk, das die hohen, steinernen Wände des Windschleierbergs noch überragte. Das Gebäude war ein ausgehöhltes Quadrat, in dessen Mitte sich ein großer Hof befand. Die Hauptwohnbereiche grenzten an die Felswände. Obwohl die Feste beeindruckend geräumig schien, war ihre wirklich Größe von außen nicht zu ermessen, denn das Gebäude ragte tief in die Felsen hinein, wo meilenlange Korridore und eine Vielzahl von Gemächern aus dem Berg herausgehauen worden waren. In Notzeiten war die Festung groß genug, um die ganze Xandimrasse aufzunehmen – aber das war nicht ihre herausragendste Eigenschaft. Wirklich einmalig war, daß das ganze Gebäude – innen wie außen – aus einem einzigen Stein bestand!
Der grüne Abhang unter dem Bergfried war mit anderen kleineren Gebäuden übersät. Jetzt, da ihre Umrisse unter üppigen Gräsern, weichen Moosen und gold- und silberfarbenen Flechten verborgen waren, sahen sie von außen wie roh behauene Steine aus, die von den Felswänden herabgestürzt waren. Ihr Aussehen verriet jedoch auch ihre wahre Natur. Chiamhs Nachforschungen hatten ergeben, daß diese Gebilde keineswegs Felsbrocken waren. Sie breiteten sich unterhalb der Erde weiter aus und schienen – wie die Festung – Auswüchse des Muttergesteins des Berges zu sein. Jedes dieser Gebilde hatte eine kleine, quadratische Tür und ein Loch in seinem Dach, das Licht hereinließ und dem Rauch aus dem Herd die Möglichkeit gab zu entweichen. Noch erstaunlicher jedoch war das Innere dieser Gebilde, denn die Mauern und der Fußboden waren angehoben und ausgefurcht worden, um Betten, Regale und Bänke zu formen. Wie die Festung, so war auch ihr Ursprung ein Rätsel, aber die Xandim hatten diese Gebilde als Teil der Landschaft akzeptiert. Wenn das Wetter nicht gerade extrem unfreundlich war, kümmerten sie sich kaum um diese vorgefertigten Heime.
Die Xandim waren ein zähes, bewegliches Volk, das meist draußen lebte und die Freiheit vorübergehender Zufluchtsorte in den stürmischen Vorgebirgen oder den offenen Ebenen mehr schätzte als fertige Niederlassungen und Wände aus Stein. Als Menschen jagten, fischten, sammelten und handelten sie – und in ihrer Pferdegestalt grasten sie die weiten Ebenen ab, wo ihr Futter im Überfluß wuchs. Sie hatten eine einfache, geschriebene Zeichensprache, kümmerten sich jedoch selten um solche Äußerlichkeiten. Statt dessen erzählten sie einander Geschichten, je unglaubwürdiger um so besser, und sangen miteinander ihre Lieder. Ihre Geschichte wurde von Mund zu Mund weitergegeben, ein Umstand, der Chiamh überaus mißfiel. Er war sicher, daß vieles von ihrer Geschichte verlorengegangen und die Überlieferung der Reste zum größten Teil durcheinandergeraten war.
Das Windauge kam durchnäßt, zerschunden und atemlos vor dem gewaltigen Torbogen der Festung an. Das Gebäude war ihm unheimlich, als würde er von unsichtbaren Augen unter seinen Dachfirsten beobachtet. Nervös blickte er an dem hoch aufragenden Bauwerk empor. Die ungewöhnliche Silberäderung in dem groben, braunen Stein glitzerte sanft in dem Nachglühen der Abenddämmerung, und in dem trügerischen Geisterlicht sahen die Türme, Fenster, Balkone und Stützpfeiler des Gebäudes in Chiamhs kurzsichtigen Augen wie die ehrwürdigen Züge eines zerfurchten, alten Gesichtes aus. Zum ersten Mal fragte er sich, warum er nie auf den Gedanken gekommen war, sich diese Feste einmal mit seiner Andersicht anzuschauen. Nur die Göttin wußte, was eine solche Vision offenbaren mochte – aber im Augenblick hatte er für solch frivole Experimente keine Zeit.
Als erstes mußte er herausfinden, was mit den fremdländischen Gefangenen geschehen war. Waren sie schon angekommen? Seine Visionen waren korrekt, was die Zusammenhänge betraf, aber sie konnten verwirrend und unsicher sein, wenn es um die Zeit ging. Und obwohl er das Windauge war, genoß Chiamh doch nicht so großes Ansehen beim Rudelfürsten, daß es ihm erlaubt gewesen wäre, die Kerker zu betreten. Die Rettung der Fremden mußte warten, bis ihre Verhandlung beendet war, bis er sie erreichen konnte. Außerdem wollte das Windauge mehr über sie wissen, bevor er sich weiter in die Sache verstrickte. Glücklicherweise gab es eine Möglichkeit, herauszufinden, was er wissen mußte – falls die Fremden bereits hier waren.
Es war gerade Zeit für den Wachwechsel – eine vollkommen zwanglose Angelegenheit, denn die unabhängigen Xandim hatten nichts übrig für Formalitäten und Bevormundung. Chiamh seufzte. Daß er ausgerechnet jetzt ankommen mußte, wo er es mit doppelt so vielen Wachen zu tun haben würde wie sonst! Als er sich den Wachen näherte, erkannte Chiamh den ranghöchsten Offizier. Es war Galdrus, ein Muskelpaket ohne Verstand, dessen Kopf dicker war als der Stein der Festung, und Chiamhs Mut sank. Da es Galdrus sowohl an Intelligenz als auch an Vorstellungskraft mangelte, hatte er großen Spaß daran, sich über das kurzsichtige Windauge lustig zu machen. Aber die Wachen hatten Chiamh bereits gesehen, und er hatte keine Chance mehr, seinen Weg unbeobachtet fortzusetzen. Also tat er sein Bestes, um sich in die Würde seines Amtes zu hüllen, straffte seine Schultern und ging auf die Gruppe der Krieger zu, die plaudernd am Tor stand.
Wie Chiamh erwartet hatte, begannen die Männer, ihn zu verhöhnen, noch bevor er die oberste Treppenstufe erreicht hatte.
»Was hat dich denn aus deinem Loch gescheucht, kleiner Maulwurf?« spottete Galdrus, was seinen Kameraden ein Lachen entlockte.
Chiamh biß die Zähne zusammen. »Laß mich durch«, sagte er leise. »Ich habe hier etwas Dringendes zu erledigen.«
»Oh! Das Windauge hat hier etwas Dringendes zu erledigen! Was ist es denn, Chiamh – bist du vielleicht gekommen, um dir saubere Wäsche zu holen?«
Chiamh ignorierte das Kichern der Wachen, die sich über sein schmutziges, zerlumptes Aussehen lustig machten. Die Göttin allein wußte, wie er nach seinem überstürzten, unachtsamen Lauf den Berg hinunter aussah. Das Windauge verfluchte die Röte, die seine Wangen erhitzte, hob das Kinn und stolzierte entschlossen hinein – und schlug auf der Schwelle der Länge nach hin, den Schaft eines Speers zwischen den Beinen. »Huch – tut mir leid, Großer«, kicherte Galdrus. Seine Augen waren weit aufgerissen in gespieltem Entsetzen. »Bitte verwandle mich jetzt nicht in eine schreckliche Bestie!«
Das Windauge raffte sich mühsam auf und rieb sich unter dem hämischen Gelächter der Wachen das Knie, das er sich an der steinernen Treppenstufe aufgeschlagen hatte. Chiamhs Gesicht brannte. Das einzige, woran er denken konnte, war Flucht, bevor seine Peiniger ihn noch weiter quälen konnten.
»Willst du ihnen das etwa durchgehen lassen?«
Chiamh wirbelte herum und suchte die Stimme, die ihm diese Bemerkung ins Ohr geflüstert hatte. Die Wachen krümmten sich vor Lachen – von denen konnte es doch kaum einer gewesen sein? Die Stimme hatte viel tiefer geklungen – irgendwie älter als die hämischen Stimmen dieser Männer.
Galdrus hatte sein Zögern bemerkt. »Ja?« Das Wort war eine offene Herausforderung. »Möchtest du etwas, Chiamh? Sollen wir dir vielleicht sagen, wo das Badezimmer liegt?« Dann hob er seine Nase hoch in die Luft und hielt sie sich mit zwei Fingern zu, worauf sein aufmerksames Publikum nur um so lauter lachte.
»Stell dich diesen Kerlen, du Narr! Wenn du jetzt weglaufet, werden sie dich den Rest deiner Tage quälen.«
O Göttin, dachte Chiamh. Nur die Verrückten hören Stimmen! Er versuchte zu fliehen, in die Festung zu entkommen, aber als sein Fuß die Türschwelle berührte …
»DREH DICH UM UND ZEIG IHNEN, WER DU BIST!«
Diesmal war es kein Rüstern – das laute Gebrüll hätte ihn beinahe umgeworfen. Die Wachen mußten es auch gehört haben – aber nein. Sie hielten sich immer noch die Nasen zu und rissen dumme Witze. Plötzlich hatte Chiamh genug. Wo auch immer die Stimme hergekommen war, sie hatte recht. Obwohl der Sturm sich ein wenig gelegt hatte, fegte der Wind immer noch um die Ecken des Gebäudes; mehr als genug für seine Zwecke. Chiamhs Blick wurde glasig und klärte sich dann wieder, während er seine Andersicht herbeirief. Er packte eine große Handvoll des schimmernden Windes, zog sie in die Form eines gräßlichen, geifernden Dämons und schleuderte ihn vor die höhnisch grinsenden Wachen.
Galdrus fiel schreiend auf die Knie. Einige der Männer zogen ihre Waffen, mit Gesichtern, die starr vor Angst waren, während andere versuchten zu fliehen, aber in der Ecke neben der Tür des großen, steinernen Bollwerks gefangensaßen. Chiamh lachte. Bevor das laute Gewimmer der Wachen die Aufmerksamkeit der Leute in der Festung erregen konnte, holte er seine Vision wieder zu sich zurück, schleuderte die Hände weit von sich, befreite und zerstreute die Winde und löste den Dämon so wieder auf.
Die Wachen rafften sich langsam auf, und in ihren Gesichtern stand eine häßliche Mischung aus Zorn, Abscheu und Demütigung. Dem Geruch nach zu urteilen, hatte mehr als einer von ihnen sich besudelt. Das Windauge kicherte. »Vielleicht solltet ihr euch jetzt selbst in Richtung Badezimmer begeben«, sagte er mit strahlendem Lächeln und ging hinein.
Die Andersicht verließ Chiamh, als er die Festung betrat, und mit ihr auch das berauschende Gefühl des Triumphs. Seine Rache war süß und wohlverdient gewesen, aber im nachhinein erfüllte ihn nun ein Gefühl von Scham und Beklommenheit. Ich habe meine Kräfte nicht bekommen, um sie zu mißbrauchen, dachte er bei dem Gedanken an die Furcht und den Haß auf den Gesichtern der Wachen. Ich habe sie vielleicht gelehrt, daß man sich besser nicht über mich lustig macht, aber ich habe heute keine Freunde gewonnen.
»Unfug, kleiner Seher! Sie waren nicht deine Freunde und wären es auch nie geworden. Sie fürchteten deine Kraß und haben sich deshalb über dich lustig gemacht – aber heute hast du sie gelehrt, dich zu respektieren, was nur gut ist.«
»Wer bist du?« rief Chiamh und zog damit die neugierigen Blick der anderen Leute in den Korridoren auf sich. Er bekam keine Antwort, aber er hatte auch bereits gelernt, keine zu erwarten. »Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen«, murmelte er, »komme, was da wolle.« Aber das war kaum der geeignete Zeitpunkt, seiner Neugier nachzugeben. Zuerst einmal hatte er etwas Wichtigeres zu erledigen: Er mußte die Gefangenen finden.
Chiamh sah sich in der Eingangshalle der Festung um und erbebte. Wie sehr er diesen Ort doch haßte! Sein Körper war feucht von klebrigem Angstschweiß. Wie immer war er sich der gewaltigen Steinmasse, die ihn hier umgab, bewußt und fühlte sich erdrückt und klein. Verloren und unsicher und halb blind tastete er sich weiter, denn ohne die Winde in diesem luftleeren Steingrab war Chiamh gezwungen, sich auf seine elend schlechten Augen zu verlassen.
In glücklicheren Zeiten waren die von Fackeln erleuchteten Korridore der Festung beinahe vollkommen verlassen. Nicht einmal der Rudelfürst verbrachte viel Zeit hier, und die meisten der Xandim gingen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod durchs Leben, ohne jemals einen Fuß in dieses Gebäude zu setzen. Es wurde von Kriegern bewacht, die sich mit ihrer Wache abwechselten, denn niemand wollte für längere Zeit hier festsitzen. Jetzt jedoch hatte der finstere Winter, der das Land in seinen Klauen hielt, diesen Ort bis zur Unkenntlichkeit verändert, denn die Xandim hatten die Schwächsten ihres Volkes hierhergebracht – die Jungen, die Kranken und die Alten –, damit sie in diesen massiven, schützenden Wänden Zuflucht suchen konnten.
Überall spielten Kinder, und ihr Lärm war in dem beengten Raum beinahe ohrenbetäubend; sie spielten in den Korridoren und jagten wie kreischende Wurfgeschosse an Chiamh vorbei. Alte Leute männlichen wie weiblichen Geschlechts, die Taschen und Bündel mitgebracht hatten und die Durchgänge so in ein Labyrinth aus unzähligen Hindernissen verwandelten, erhoben protestierend ihre Stimmen gegen die Jugend, was nicht gerade dazu beitrug, den Lärm zu verringern.
Die Neuigkeit, daß Fremde im Land der Xandim gefangengenommen worden waren, hatte sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet und größte Neugier geweckt. Zusätzlich zu denen, die in der Feste Schutz gesucht hatten, kamen nun auch noch viele andere her, um nach Möglichkeit einen Blick auf die Fremden zu erhaschen und die Verhandlung mitzuerleben, die am folgenden Vormittag stattfinden würde. Durch einige Gesprächsfetzen, die er aufgeschnappt hatte, fand Chiamh heraus, daß die Fremden bereits hierhergebracht und in die Kerker gesperrt worden waren, wo sie dem Gericht des Rudelführers entgegensahen.
Als Chiamh endlich nach einer Reihe von Irrwegen seine Gemächer erreichte, verspürte er eine gewaltige Erleichterung. Er trat in sein Zimmer und rümpfte die Nase angesichts des modrigen Geruchs, der dort herrschte. Seit seinem letzten Besuch vor einigen Monaten hatte man seine Räume offensichtlich nicht saubergemacht. Seine Füße hinterließen eine deutliche Spur in dem Staub, der den Boden bedeckte, und das Windauge nieste. Chiamh seufzte. So etwas wäre seiner Großmutter nie passiert. Ihre Gemächer hatten sich im äußeren Teil des Bergfrieds befunden, dort, wo es Fenster gab, um die süßen Brisen des Windes und das aufmunternde Licht des Tages einzulassen. Er, Chiamh, dagegen war gezwungen, sich mit diesem düsteren Rattenloch tief in den Eingeweiden der Felsen zufrieden zu geben, aber wenigstens lagen seine Räume in bequemer Nähe zu den Kerkern – und gerade jetzt war das genau das, was er brauchte. Sobald er Kontakt zu den Gefangenen aufgenommen hatte, konnte er vielleicht herausfinden, in welcher Verbindung sie zu den hellen Mächten standen – und er erhoffte sich auch einen Hinweis, welche Rolle Schiannath, der Ausgestoßene, in den kommenden Ereignissen spielen sollte.
Das Windauge erinnerte sich mit Scham an seine Mitwirkung bei der Zeremonie, mit der der Krieger und seine Schwester verbannt worden waren. Als Schiannaths Herausforderung fehlgeschlagen war, wurde er, wie es die Tradition wollte, verbannt, und Iscalda, die eine tiefe Zuneigung zu ihrem Bruder verband, hatte darauf bestanden, ihm zu folgen. Chiamh war gezwungen gewesen, seine Kraft zu gebrauchen, um ihrer beider Namen aus dem Wind und möglichst auch aus der Erinnerung des Stammes zu löschen.
Der Rudelführer hatte Iscaldas Bestrafung noch eine grausame, zusätzliche Klausel hinzugefügt. Sie war seine Verlobte gewesen und hatte ihn aus Treue zu ihrem Bruder im Stich gelassen. Obwohl die Xandim die Fähigkeit besaßen, sich ganz nach Belieben von menschlicher Gestalt in Pferdegestalt zu verwandeln, konnten sie nur als Menschen Kinder zeugen. Es gab jedoch einen uralten Zauber, der von Windauge zu Windauge weitergegeben wurde und die Verwandlung unterbinden konnte, so daß das Opfer in seinem Pferdeleib gefangen blieb. Der Rudelfürst hatte darauf bestanden, daß Iscalda mit diesem Fluch belegt wurde, so daß sie und ihr Bruder nie ein Kind zeugen konnten.
Chiamh riß seine Gedanken mit Gewalt von dieser Erinnerung los. Obwohl der Rudelfürst ihn zu dieser Tat gezwungen hatte, erfüllte sie ihn doch immer noch mit Scham. Aber er würde seinem Ziel, die Gefangenen zu finden, nicht näherkommen, indem er weiter bei dieser Schande verweilte.
Chiamh ging hinüber zur Wand und ließ seine Hände über den Stein gleiten; er suchte einen Riß in der glatten Oberfläche. Obwohl dieses Gebäude aus einem einzigen, nahtlosen Stein bestand, gab es diese kleinen Risse doch überall. Das Windauge vermutete, daß die Festung durch diese winzigen Spalten, die den Stein durchzogen, belüftet wurde. Sein kurzsichtiger Blick war ihm nur von geringem Nutzen, aber im Laufe der Jahre hatten seine Hände eine geradezu unheimliche Empfindlichkeit für die Luftströme entwickelt, die die Werkzeuge seiner Macht waren – er brauchte nur den Hauch eines Windzugs zu finden …
Wieder einmal spürte das Windauge die vertraute, schmelzende Kühle, als seine Andersicht über es kam. Diesmal war Chiamh so versessen auf das, was er vorhatte, daß es ihm nicht einmal in den Sinn kam, Angst zu haben. Ah, da hatte er ihn. Er konnte den Luftzug sehen – ein winziges, gewundenes, silbernes Band … Chiamh goß das mystische Bewußtsein seiner Andersicht in die beweglichen Luftpfade und begann ihnen zu folgen; sein Bewußtsein verließ seinen Körper, um wie ein Aal durch die winzige Spalte in dem Stein zu schlüpfen und dem Luftstrom durch ein Labyrinth schmälster Klüfte zu folgen.
Chiamh kroch langsam vorwärts und tastete sich blind durch die hauchdünnen Risse im Felsen. Er folgte den feinsten Veränderungen des Luftstroms und bewegte sich stetig auf den Ort ungesundester Feuchtigkeit zu. Endlich, nachdem er mehreren falschen Spuren gefolgt war, die ihn in verlassene Gemächer und Zellen gerührt hatten, wurde seine Geduld belohnt. Er spürte ein leises Kribbeln, als die Luft um ihn herum mit dem undeutlichen Ton von Stimmen vibrierte, die eine fremde Sprache sprachen. Triumphierend ließ das Windauge sein Bewußtsein durch einen Spalt im Felsen gleiten, fand sich im tiefsten Teil der Kerker wieder und hatte plötzlich die Fremdländer aus seiner Vision vor sich.
Auf und ab, auf und ab lief Meiriel in dem schmalen Raum ihrer Zelle. Es gab kein Licht. Sie hatten sie hier hineingesteckt, hatten sie zu der Qual endloser Dunkelheit in diesem unterirdischen Grab verdammt, dessen Tür mit Magie verriegelt und verschlossen war. Sie. Eliseth und Bragar. Die Heilerin ballte die Fäuste zusammen, bis ihr die Fingernägel in die Handflächen schnitten, und ein undeutliches Knurren entstieg den Tiefen ihrer Kehle. Sie hatten jetzt die Macht – sie und diese blindwütigen, entstellten Kreaturen, die Finbarr ermordet hatten.
Meiriels Lippen zogen sich zu einem wilden Fauchen zurück. »Ich kenne dich, Miathan«, zischte sie: »Mich kannst du nicht hintergehen! Ich sehe alles, auch hier unten im Dunkeln. Ich sehe, wie du dich in Schmerzen windest, sehe diese schwarzen, verkohlten Löcher in deinem Kopf – und die noch schwärzeren Löcher in deiner Seele! Ich sehe das Kind in Aurians Bauch – das Monster, das du geschaffen hast – den Dämon, den ich zerstören muß …«
Während eines wilden und ereignisreichen Lebens hatte der Kavalleriemeister herausgefunden, daß alle Gefängnisse mehr oder weniger gleich aussahen. Parric, dem die Zellen der Garnison in seinen Jugendtagen nicht fremd gewesen waren, fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt – feuchte Steinwände, glimmende, qualmende Fackeln und das verlauste, stinkende Stroh in der Ecke. Aber Dank sei den Göttern, daß sie alle zusammen waren. Hätte man ihn allein in einen der Kerker gesperrt und ihn so gezwungen, über das Schicksal seiner Kameraden nachzudenken, hätte er seiner Angst vielleicht nachgegeben. So wie die Dinge lagen, konnte er die anderen nun seit Tagen zum ersten Mal wieder sehen – allerdings war ihr Anblick keineswegs beruhigend. Auf Sangras Gesicht zeigten sich Schmutz und blaue Flecken; mit grimmiger Entschlossenheit erwiderte sie in dem dämmrigen Licht seinen Blick. Elewin, unter dessen Augen dunkle Schatten lagen, hustete Blut. Und Meiriel – bei den Göttern, wenn sie doch nur dieses endlose Auf- und Abgehen seinließe! Sie murmelte etwas von Tod und Dunkelheit, und der Wahnsinn hatte ihr Gesicht zu einer wilden, grausamen Grimasse verzerrt. Parric war verärgert. Nein, er war fuchsteufelswild und unerträglich frustriert. Er vergaß die Gefahr, in der er selbst schwebte, er sah nur seine Kameraden und wie sie litten.
»Laßt mich hier raus!« Der Kavalleriemeister hämmerte mit den Fäusten auf die unnachgiebige Tür ein. »Ihr sollt verflucht ein, laßt mich mit irgend jemandem reden!« Er wirbelte herum und stürzte sich auf Meiriel. »Du sprichst ihre Sprache! Sag es ihnen, du Hexe! Sag ihnen, daß wir nicht ihre Feinde sind!«
»Ach, seid ihr das nicht?« Die Stimme war sanft und schwer faßbar und schien von überallher zu kommen.
»Großer Chathak!« hauchte Sangra. »Ist das wirklich?«
Parric starrte mit offenem Mund die Wand an. Der Kerker, der ohnehin kühl war, war plötzlich noch kälter geworden. Ein Windstoß ging durch die Zelle und wehte die widerliche Feuchtigkeit fort. Dort in der Ecke stand ein junger Mann, an dem eigentlich nichts Besonderes war – außer daß der Kavalleriemeister durch seinen Körper hindurch die tropfende Fackel und die rauhen Steinmauern des Gefängnisses sehen konnte.
Parric machte einen Schritt zurück; er verspürte ein Kribbeln auf der Kopfhaut, und sein Mund war plötzlich wie ausgedörrt. Ein Geist? Normalerweise hätte der Kavalleriemeister über einen solchen Unsinn nur gelacht, aber nachdem er in Nexis die Nacht der Todesgeister miterlebt hatte, hatte sich seine Beziehung zum Unsichtbaren verändert. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, und kalte Schauer jagten über sein Fleisch. Instinktiv griff er nach dem Schwert, das die feindlichen Krieger ihm weggenommen hatten.
»Wer sind die hellen Mächte?« wollte die Erscheinung wissen. Parric war verwirrt, denn die Worte schienen in seiner eigenen, nördlichen Sprache gesprochen zu sein, aber nach der Bewegung der Lippen der Geistergestalt war es ganz offensichtlich, daß die Erscheinung eine andere Sprache sprach. Parric runzelte die Stirn. Es schien, als würden sich die Worte, wenn sie die Lippen des Geistes verließen, in der Luft umdrehen, um so an seine Ohren zu dringen, daß er sie verstehen konnte. Die Erscheinung sprach jedoch noch immer, und Parric riß seine Aufmerksamkeit mit Gewalt von dem Rätsel los, um sich auf die Worte des Geistes konzentrieren zu können.
»Ich muß es wissen«, beharrte die Erscheinung. »Wer sind die bösen Mächte, die die Nordwinde reiten und den Winter bringen?«
»Der Erzmagusch Miathan ist böse.« Parric war erleichtert darüber, daß Meiriel so weit in die Realität zurückgekehrt war, um endlich etwas zu sagen. Das Übernatürliche war die Domäne der Magusch, und im Augenblick hätte er einfach keine Antwort zustandegebracht. Die Erscheinung runzelte die Stirn. »Wer ist der Erzmagusch Miathan?«
Der Kavalleriemeister war froh, die Erklärungen zum Erzmagusch Meiriel überlassen zu können. Unglücklicherweise schien der Geist mit ihrem unzusammenhängenden Bericht über Miathans Grausamkeiten nicht zufrieden zu sein. »Erklär mir das!« forderte der Geist. »Du hast von den dunklen Mächten gesprochen, aber was ist mit den hellen Mächten? Wer sind die Hellen, zu deren Unterstützung ihr hierhergekommen seid?«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Hellen, aber ich bin hierhergekommen, um nach der Lady Aurian zu suchen.« Endlich hatte Parric seine Stimme wiedergefunden. Hilfesuchend blickte er zu Elewin hinüber, aber der alte Mann war zu tief in seinem Fieber versunken, um antworten zu können. Der Kavalleriemeister mußte die Last der Erzählung also selbst auf sich nehmen, was bei weitem keine leichte Aufgabe war. Die ganze Angelegenheit kam ihm immer unwirklicher vor, wie er da in dem Kerker eines fremden Landes saß und einem Geist von seiner Freundschaft mit Forral und von Aurian erzählte, die Forrals Kind unter dem Herzen trug, und von Forrals Ermordung durch Miathan. Mit unbeholfenen Worten erzählte er, wie Aurian und ihr Diener Anvar aus Nexis geflohen waren und warum man sie hier im Süden vermutete. Schließlich erzählte er dem Geist, wie er und Vannor ihren Rebellentrupp aufgebaut hatten – und wie er sie alleingelassen hatte und zu dieser übereilten, impulsiven Reise aufgebrochen war, um Aurian zu suchen.
Als er geendet hatte, ergriff Sangra das Wort. »Jetzt haben wir dir deine Fragen beantwortet, nun beantworte du unsere. Wer bist du? Wie kommt es, daß du durch Wände gehen kannst? Warum …« Aber der Geist war verschwunden.
Während Chiamh sich zurück zu seinen Gemächern tastete und den Strömungen frischerer Luft durch die Spalten im Stein folgte, überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Obwohl er keinen Hinweis darauf erhalten hatte, welche Rolle Schiannath in dieser Angelegenheit spielte, hatte er doch das meiste von dem, was er wissen wollte, erfahren. Die dunklen Mächte und die hellen – endlich war ihm alles klar, und er wußte jetzt mehr als je zuvor, daß er diese Fremden vor seinem eigenen Volk retten mußte. Aber wie?
Das Windauge, das ganz in seinen Gedanken verloren war, konzentrierte sich nicht auf das, was es tat. Verstrickt in eine Reihe von Plänen, die immer komplizierter und undurchführbarer wurden, brauchte er eine ganze Zeit, um zu begreifen, daß er schon lange in seinen Gemächern hätte ankommen müssen. Ruckartig wachte Chiamh aus seinen Tagträumen auf, um herauszufinden, daß er sich in den pfad- und weglosen Labyrinthen der Felsspalten im Körper der Festung verirrt hatte. Er hatte keine Ahnung, wo er war – und keine Möglichkeit, in seinen Körper zurückzukehren.