10 Aerillia

Man hatte Rabe wieder in ihr altes Turmzimmer im Königinnenturm gebracht, und sie fand sich umgeben von den blaßroten Marmorwänden wieder, die ihr gehört hatten, seit sie sich erinnern konnte. Das Zimmer hatte sich nicht verändert. Es war noch genauso, wie sie es hinterlassen hatte, als sie in jener stürmischen Nacht geflohen war – wie lange das jetzt her zu sein schien! Alle alten Möbel waren noch da: ihr rundes mit Pelzen behängtes Bett, in dem sie sich so manche Nacht unter dem Schutz ihrer an den Körper gelegten Schwingen zusammengerollt hatte; dieselben warmen Teppiche auf dem Boden und das Nachttischchen aus einem seltenen, kostbaren Holz mit einem Spiegel aus poliertem Silber. Und dort – eine massive und auch zarte Arbeit aus funkelndem, geschmiedetem Eisen – stand der hohe Hocker mit seinem weichen Sitzpolster, auf dem sie viele Stunden lang neben dem Fenster gesessen hatte, um die sich stetig verändernden Wolkenberge zu betrachten und das Sonnenlicht hinter den Hügeln.

Da hingen auch ihre ausgefransten, alten Wandbehänge, die sie zu sehr geliebt hatte, als daß sie sie hätte ersetzen wollen: Sie zeigten Geflügelte, die wie Adler über einem von schneehellen Gipfeln umsäumten Abgrund schwebten und über Täler, die einst grün gewesen waren. In den hinter den Wandbehängen verborgenen Nischen fand Rabe die Lieblingsspielzeuge ihrer Kindheit noch immer an Ort und Stelle; alt und verbeult jetzt, aber zu innig geliebt, um sie je wegzuwerfen. Die einzige Veränderung in dem Zimmer war das Eisengitter, das jetzt ihr Fenster versperrte.

Sie war noch immer wie betäubt von dem Schock über Harihns Betrug. Mit einem wachsenden Gefühl von Unwirklichkeit betrachtete Rabe ihr Zimmer. Ihre Flucht und all die darauf folgenden Abenteuer schienen ihr jetzt, in der alten, vertrauten Umgebung ihrer Kindheit, wie ein verblassender Traum. Oder war die kurze Zeit der Freiheit die einzige Wirklichkeit gewesen, und dies hier war der Traum?

Die Kammer mochte noch dieselbe sein, aber Rabe hatte sich so verändert, daß von dem jungen, unschuldigen Mädchen, das vor etwa drei Monaten aus diesem Fenster geklettert war, kaum noch etwas übriggeblieben war. In diesen drei Monaten war sie erwachsen geworden – erwachsen und, wie es schien, alt und verbittert und voller Reue. O Yinze, wie sehr sie sich haßte! Wie konnte sie nur so blind, so einfältig und so falsch gegenüber ihren neuen Freunden gewesen sein? Sie hatte die Kameraden verraten, die ihr in der Wüste geholfen und sie als eine der Ihren aufgenommen hatten. Sie hatte die arme, alte, mütterliche Nereni betrogen, die sich immer so gut um sie gekümmert hatte, die ihr vertraut hatte. Sie hatte sich hoffnungslos besudelt mit einem Fremden, einem Außenseiter, einem auf dem Boden kriechenden Menschen, der sie benutzt und mißbraucht hatte, als sei sie nichts als eben der wertlose Abfall, zu dem sie nun geworden war. Und jetzt hatte der Kreis sich geschlossen. Sie war wieder in den abscheulichen Fängen Schwarzkralles – und zweifellos hatte sie es nicht besser verdient.

Ihre Mutter, die Königin, war tot. Infolge ihrer schrecklichen und beängstigenden Erlebnisse hatte das geflügelte Mädchen gerade erst begonnen, diese Tatsache zu begreifen. Flammenschwinge war niemals freundlich und sanft gewesen wie Nereni – sie war schließlich eine Königin gewesen mit einer Verantwortung, die ihre Gedanken und ihre Zeit für sich forderte. Sie war gezwungen gewesen, ihre Tochter mit fester Hand aufzuziehen, um sie auf ihre zukünftigen Pflichten vorzubereiten. Beim Himmelsvolk mußte der Monarch allein herrschen und allein leben. Dennoch wußte Rabe, daß ihre Mutter sie geliebt hatte und daß sie es ihr gezeigt hatte, wann immer sie nur konnte. Flammenschwinge war stolz auf sie gewesen, und der Prinzessin wurde übel bei dem Gedanken, wie grausam sie diesen Stolz verraten hatte. Wußte ihre Mutter es? Wußten die Toten alles, sobald sie ins Jenseits gegangen waren, so wie die Priester des Yinze es immer behaupteten? Rabe warf sich weinend aufs Bett. »Mutter, es tut mir so leid!«

Das geflügelte Mädchen weinte eine lange Zeit, aber endlich legte sich ihre Erregung; sie war zu erschöpft und zu müde, um noch mehr zu weinen. Also wischte sie sich ihre Augen mit der Pelzdecke des Bettes ab und sah sich noch einmal in dem Zimmer um, das jetzt ihr Gefängnis war. Man hatte ihr eine Mahlzeit dagelassen, aber sie war zu unglücklich, um zu essen. Sie fühlte sich beschmutzt und besudelt, und ihre Tränen hatten nicht dazu beigetragen, die Schuldgefühle aus ihrem Gewissen fortzuspülen. Auf dem Tisch stand eine silberne Flasche mit Wein. Rabe füllte einen Becher bis zum Rand und leerte ihn mit einem Zug, wobei sie wegen des unbekannten Brennens in ihrer Kehle ein wenig würgen mußte. Mit neuerlichem Schuldbewußtsein erinnerte sie sich daran, daß Flammenschwinge ihr nie gestattet hatte, dieses Zeug zu trinken. Aber ihr Verstand wandte sich nun von der Schuld der Vergangenheit dem Entsetzen der Zukunft zu. Schon bald würde Schwarzkralle zu ihr kommen – und sie würde gut daran tun, dafür zu sorgen, daß ihre Sinne so weit wie möglich eingelullt waren.

O Vater im Himmel – würde sie sich jemals wieder rein und sauber fühlen? Rabe schenkte sich noch mehr Wein ein und nahm den Becher mit, während sie durch den mit Vorhängen verhüllten Bogengang tat, der in ihr Badezimmer führte. In dem Marmorfußboden befand sich ein Loch mit einem Abzugskanal. Zog man an einem seidenen Band, ergoß sich Wasser in das Becken. Das Wasser stammte aus den riesigen Gipfelzisternen, die den Regen und den geschmolzenen Schnee von den Bergen auffingen. Rabe trank ihren Wein aus und stellte den Becher beiseite; dann schleuderte sie ihren abgetragenen, an vielen Stellen geflickten Lederrock von sich – eben jenen Rock, in dem sie damals in ihre allzu kurze Freiheit geflohen war. Sie ließ ihn durch ihre Hände gleiten und blickte mit von Tränen verschwommenen Augen auf Nerenis saubere, winzige Stiche, bevor sie das Kleidungsstück mit einem bitteren Fluch zu Boden warf.

Sobald sie sich abgetrocknet hatte und in ihr Zimmer zurückgekehrt war, machte sie sich daran, ihr in Unordnung geratenes Gefieder geduldig zu putzen, wobei sie die zerzausten Federn mit ihren zu Klauen gebogenen Fingernägeln zurechtzog und immer wieder innehielt, um noch einen Schluck Wein zu trinken. Es war lange her, seit sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte, und das ungewohnte Getränk tat ein übriges, so daß es ihr bald schwindlig wurde. Das Gefühl ängstigte sie zuerst, aber dann gewöhnte sie sich schnell daran, und nach einer Weile begann sie, es zu genießen. Ein Plan kam ihr in den Sinn, während sie sich weiterputzte; noch kein ganz vollständiger Plan, aber er bot ihr eine leise Hoffnung, daß sie den Aufmerksamkeiten Schwarzkralles vielleicht doch noch entkommen könnte. Der Sitte nach vermählten die Himmelsleute sich nur einmal in ihrem Leben und dann für immer; keiner von ihnen würde jemanden berühren, der bereits einem anderen gehört hatte.

So tief war sie in Gedanken versunken, daß sie erst gar nicht reagierte, als Schwarzkralle eintrat. Dann jedoch drehte sie sich mit pochendem Herzen zu ihm um. Der Hohepriester sagte nichts. Er stand einfach nur in der Tür und ließ seine gierigen Blicke über ihren Körper gleiten. Hinter ihm standen zwei glotzäugige Wachen, Kriegerpriester in der Livree des Tempels. Zeugen, dachte Rabe. Hervorragend. Ohne den Wein hätte sie es niemals fertiggebracht. Obwohl Rabe, als sie seine Augen auf sich spürte, eine Gänsehaut bekam und das Blut ihr vor Schande zu Kopf stieg, machte sie sich nicht die Mühe, ihre Nacktheit zu verbergen. Sie zwang sich, den Kopf zu heben und dem Hohenpriester unverfroren in die Augen zu sehen, obwohl es das schwerste war, was sie je in ihrem Leben getan hatte.

»Du kommst zu spät, Schwarzkralle«, fauchte das geflügelte Mädchen. »Das heißt, es sei denn, du willst dich mit einer Frau beschmutzen, die bereits besudelt ist. Dein Mitverschwörer hat dich hintergangen, Hoherpriester. Der Mensch hat mich bereits gehabt – und nicht nur einmal, sondern viele Male.« Rabe hörte das entsetzte Aufkeuchen der Tempelwächter und zwang sich, Schwarzkralle ins Gesicht zu lachen.

Der Hohepriester fiel in ihr Gelächter ein, und Rabe wußte, daß sie verloren hatte. »Das hat Harihn mir erzählt«, kicherte Schwarzkralle mit einem wissenden Grinsen. »Er sagt, du hättest dich als sehr begabte Schülerin erwiesen, meine kleine Prinzessin, und er hofft, er hätte dir genug beigebracht, damit du mich in den langen, kalten Nächten von Aerillia unterhalten kannst.«

Mit diesen Worten erstickte er Rabes Gelächter so wirksam, als hätte er ihr die Kehle durchgeschnitten.

»Du Närrin«, höhnte Schwarzkralle. »Hättest du einen geflügelten Mann erwähnt, wäre es vielleicht anders gewesen, obwohl ich mich, da der Thron auf dem Spiel steht, auch dann noch hätte überwinden können, dich zu nehmen. Aber so, wie die Dinge liegen – welchen Unterschied macht schon ein Mensch? Sie sind nicht von unserer Rasse. Du hättest dich genausogut mit einem Bergschaf besudeln können – die Wirkung wäre die gleiche gewesen.«

Er trat ins Zimmer und schenkte sich einen Becher Wein ein, wobei er einen verwunderten Blick auf die halb geleerte Flasche warf. »Auf Schande«, verspottete er sie, »auf Schande, Lüsternheit und Trunksucht. Nehmen denn die Laster, die du bei diesen erdgebundenen, kriechenden Insekten gelernt hast, gar kein Ende mehr?« Er zuckte mit den Schultern. »Egal. In der Hauptsache ist es deine Hand, die ich begehre – obwohl ich mich in angemessener Zeit auch deines Körpers bedienen werde. Die Verbindung mit der Thronerbin wird meinen Anspruch auf die Königswürde über alle Zweifel hinaus bekräftigen – und nach der Tradition mußt du als Jungfrau zu mir kommen, zumindest in gewissem Sinne.« Er stieß ein abscheuliches Kichern aus. »Menschen, wie ich bereits sagte, können da kaum mitgezählt werden. Und da unsere Verbindung erst stattfinden kann, wenn der Mond zugenommen und wieder abgenommen hat – denn das ist die Zeitspanne, die der Trauerzeit für die jüngst beklagte Königin gewidmet ist –, muß ich mich bis dahin zurückhalten, aber die Erwartung des Kommenden hat ja ihre eigenen Freuden.«

Während er sprach, spürte Rabe ein dumpfes Entsetzen in sich aufsteigen, aber als sie hörte, wie Schwarzkralle das Gedenken an ihre Mutter in den Schmutz zog, kochte sie vor Zorn, und plötzlich war sie jenseits aller Selbstbeherrschung – und jenseits aller Klugheit. »Du widerliche Kreatur!« Sie schleuderte dem Hohenpriester ihren Wein mitsamt dem Kelch ins Gesicht. »Du wirst niemals auch nur einen Finger an mich legen, nicht solange ich lebe, das schwöre ich. Und ich werde eines Tages erleben, wie du für alle Ewigkeiten in Qualen verrottest! Nicht alle meine Leute sind dir ergeben, Schwarzkralle – verräterischer, mordender Emporkömmling-, glaubst du denn, du kannst mich mit deinen Gittern und deinen Wachen aufhalten? Ich werde mich an dir rächen, sobald – «

Sein Schlag schleuderte das geflügelte Mädchen quer durchs Zimmer. »Törichtes, irregeleitetes Kind.« Schwarzkralle stand über ihr und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du denn geglaubt, ich würde dir die Chance geben, jemals wieder zu entfliehen und einen Aufstand anzuführen?« Seine Augen waren mitleidlos und hart. Rabe schrak vor ihm zurück, und ein Schaudern furchtbarer Vorahnungen durchlief sie. Der Hohepriester trieb sie gnadenlos in die Enge und spielte mit seinem Opfer, um dessen Leiden noch zu verlängern. »Es gibt gewisse Gesetze bei den Geflügelten, meine Prinzessin, die nicht einmal du umgehen kannst. Welcher von deinen Leuten würde schon einer verkrüppelten Königin folgen?«

Er winkte seine Krieger herbei, und zum ersten Mal sah Rabe, daß sie mit schweren Keulen bewaffnet waren. Ihr Herz erstarrte zu Eis. »Nein!« wisperte sie, als sie näher kamen. »Nein …«

Schwarzkralle stand da und sah zu; gelassen nippte er an seinem Wein und genoß den Klang ihrer Schreie. Die schweren Eisenknüppel wurden gehoben, wieder und wieder, und krachten mit ihrem ganzen Gewicht auf die zarten Knochen von Rabes Hügeln nieder.


Nachher konnte sich Anvar kaum noch an seine Reise durch Luft und Wolken hindurch zur Zitadelle des Himmelsvolkes erinnern. Das einzige, das ihm im Gedächtnis haften blieb, waren verschwommene Eindrücke: die nur halb wahrgenommenen Gestalten von vier Geflügelten, die das Netz um ihn herum festhielten, dunkle Silhouetten gegen den düsteren Nachthimmel und das unaufhörliche, rhythmische Schlagen ihrer niemals ermüdenden Schwingen; die Unannehmlichkeiten von Schwindel und Übelkeit, die ihm das hin- und herschwingende Netz verursachte; die schneidende Kälte, die sich in sein Gesicht brannte wie Miathans Klinge es getan hatte. Das Gittermuster der rauhen Netzseile grub sich in seine Haut. Er spürte einen wilden Schmerz von der Brandwunde an seiner Wange und das dumpfe Pochen der Prellungen an den Stellen, an denen er von seinen Wächtern geschlagen und mißhandelt worden war. Aber obwohl der Magusch noch immer halb betäubt war, gaben Furcht, Angst und Verzweiflung seinem Bewußtsein die Kraft, sich immer mehr an die Oberfläche zu kämpfen.

Plötzlich war Anvar, als wache er aus den unerbittlichen Fängen eines furchtbaren Alptraums auf: Dort unter sich, in der Morgendämmerung, lag Aerillia. Einen kurzen Augenblick lang vergaß er alle Gedanken an seine eigene Notlage, denn der erste Anblick der Stadt war absolut atemberaubend. Der größte Teil des Himmels verschwand hinter einer dicken Schicht gewaltiger Wolken, die das Purpurgrau von Schiefer hatten; aber die aufgehende Sonne schlüpfte durch einen schmalen Spalt zwischen der wie mit weißen Reißzähnen versehenen Bergkette und dem düsteren Himmel darüber. Die feine Architektur Aerillias spiegelte die Sonnenstrahlen wider und glitzerte wie ein netzartiges Perlendiadem auf der zerklüfteten Braue des Berggipfels. Als sie etwas näher kamen, nahmen die Türme und Zinnen der Stadt unter Anvars staunendem Blick langsam Gestalt an – unglaublich zarte Gebilde lagen in Stein gehauen vor ihm, einem Stein, der aus der Ferne so zart wie gesponnene Netze aus milchigem Glas schien. Jetzt wußte Anvar auch, woher die schimmernden Steine kamen, aus denen die uralten Gebäude der Akademie gebaut waren. Aber die Anlage von Aerillia war so fremd und dabei von so vollkommener Schönheit … Ungeachtet seiner eigenen Qual und seiner verzweifelten Angst um Aurian betrachtete der junge Magusch die vor ihm liegende Stadt mit Staunen und Bewunderung.

Aus dem lebenden Berg gehauen, bildeten die Turmspitzen phantastische Gestalten und Strukturen, die kein erdgebundener Erbauer sich jemals auch nur erträumt hätte. Ansammlungen von Wohngebäuden schienen aus den Felswänden herauszuwachsen wie die zarten Korallen, die Anvar unter Wasser in der warmen, südlichen Bucht gesehen hatte, wo Aurian ihm das Schwimmen beigebracht hatte. Andere Gebäude schienen wie Blasen oder Wassertropfen oder Eiszapfen in der Luft zu schweben; sie hingen von vorspringenden Felskanten herunter oder klebten an einem schreckenerregenden Abgrund. Wieder andere dagegen wuchsen in Spiralen, Schneckengebilden oder Flöten mit spitz zulaufenden Türmen empor; ihre schlanken Spitzen waren so hoch, daß sie hinter einem Schleier tiefhängender, zerklüfteter Wolkenbanner lagen. Der Stein, aus dem sie gebaut waren, glühte rosa, cremefarben und golden in dem zarten Licht der Morgendämmerung vor dem grimmigen, bedrohlichen Hintergrund des schiefergrauen Himmels. Dann senkte sich die unterste Wolke wie ein Deckel herab und legte sich vor die Sonne, und die Stadt wurde zu einem Gespenst ihres früheren Selbst, wie eine mit flüchtigen Federstrichen hingeworfene Skizze aus Silber und Grau.

Der Wind wehte jetzt schärfer. Als der Magusch, der in dem Netz zwischen seinen Wächtern hing, sich der Stadt näherte, vernahm er ein verzweifeltes, mißtönendes Wehklagen, das ihn bis in die Wurzeln seiner Zähne schmerzte, und das in den Knochen seines Schädels vibrierte und seine Seele mit einem überwältigenden Gefühl der Unterdrückung und des Entsetzens erfüllte. Das Geräusch wurde lauter und schriller, als sie sich der Stadt näherten, bis die Wolken, die den Gipfel von Aerillia einhüllten, wie ein zur Seite gezogener Vorhang verschwanden. Anvar blickte auf und erstarrte in entsetzter Ungläubigkeit.

Dort, auf der obersten Zinne des Bergs, ragte ein gewaltiges, grauenhaftes Gebäude aus nachtschwarzem Stein in den Himmel. In jeden Zoll des asymmetrischen, mit Strebepfeilern gestützten Monstrums waren höhnisch grinsende, widerwärtig häßliche Bilder von Dämonen geschnitzt, gehörnt und geschnäbelt und feuerschnaubend – und geflügelt wie große Rabenvögel, die verwesende Leichen zwischen ihren Fängen hielten. Anvar, der gegen einen heftigen Drang, sich zu übergeben, kämpfte, vermochte es nicht, den Blick abzuwenden. Das geduckte, verzerrte Bauwerk wurde von fünf nach innen gewölbten Türmen gekrönt, die wie ebenholzschwarze Klauen in den Himmel ragten – die Quelle dieser grauenerregenden Klage, die qualvoll in Anvars Ohren pulsierte. Jeder dieser Türme war mit einer Vielzahl von Löchern durchbohrt, Löchern, die dunkel und rund waren wie die Augenhöhlen in einem Schädel. Durch diese Löcher hindurch wurden die sich frei bewegenden Winde eingefangen, verformt und verzerrt und dann in diesem entstellten, gequälten Klang wieder ausgespien, um den gefühllosen Gipfeln ihre Qual entgegenzuschreien.

Der zitternde Magusch war erleichtert, als seine Eskorte ihn weiter nach unten brachte und das groteske Gebäude hinter den hoch aufragenden Wänden eines Felsvorsprungs verschwand. Der Klang folgte ihm jedoch und quälte ihn weiterhin. Unterhalb der Stadt stürzte der Berg zu einem jähen, gesichtslosen Felsen hinunter, und nach einer Weile sah Anvar eine Öffnung in dem Gestein vor sich, ein klaffendes, schwarzes Maul mit scharfen, stalaktitenartigen Zähnen. Die Maschen schnitten in seine Haut, als seine geflügelten Wächter das Netz zusammenzogen und mit ungeheurer Geschwindigkeit auf die Öffnung zuflogen. Anvar krümmte sich und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als die gezackten Felsen, die die Öffnung umgaben, auf ihn zujagten. Zu klein! Es ist zu klein, verdammt noch mal! Wir werden …

Einen Augenblick lang bekam Anvar keine Luft mehr, als das Netz gegen den oberen Rand des Höhleneingangs prallte. Als die Geflügelten ihn losließen, überschlug er sich mehrfach, wurde von seinem eigenen Schwung immer weiter getragen und so fest in die Maschen eingewickelt, daß er kaum noch atmen konnte. Er krachte an der Rückseite der Höhle gegen die Wand, und für eine kurze Zeit wurde ihm schwindelerregend schwarz vor Augen.

Der in seinem Netz gefangene Magusch hörte das Rascheln von Federn, als die Geflügelten sich vor ihm aufstellten; ihre halb ausgebreiteten Schwingen füllten den Raum in der Höhle und ließen kaum einen Lichtschimmer hinein. »Ist er bei Bewußtsein?« erkundigte sich einer von ihnen.

Flügel wurden zusammengefaltet. Anvar blinzelte in das plötzliche Licht und sah ein scharfknochiges Gesicht über sich. Es schien verkehrt herum zu hängen. »Er wacht auf.«

»Dann wollen wir uns beeilen.« Anvar spürte, wie Stahl sich auf seine Haut senkte, als die Männer mit ihren Messern durch die Maschen des Netzes stachen, um seine Fesseln zu durchtrennen. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen schnell durch die Öffnung der Höhle – wäre die Vorstellung nicht so lächerlich gewesen, hätte Anvar gedacht, daß sie Angst vor ihm hatten. Jedenfalls ließen sie den Magusch allein mit der Aufgabe, sich so gut er konnte aus seinem Netz zu befreien, während sich das zischende Schlagen ihrer Hügel in der Ferne verlor.

Steif und wie betäubt von der Kälte, der Müdigkeit und all seinen Verletzungen, brauchte Anvar eine lange und verzweifelte Zeit, bevor er sich aus den fest um ihn herum gebundenen Maschen befreien konnte. So fest war er in das Netz eingewickelt, daß der Magusch sich mehr als einmal um ein Haar damit erwürgt hätte, als er sich auf dem unebenen Boden der Höhle hin- und herwand. Wieder und wieder mußte er sich mit einer verzweifelten Willensanstrengung dazu zwingen, seine Panik niederzukämpfen und nicht wild um sich zu schlagen, denn damit zog er das Netz nur um so fester zu. Er mußte sich zwingen, sich zu entspannen und seine Situation zu durchdenken. Schließlich raffte er sich zu einem neuen Versuch auf, sich von den Seilen, die in seinen Körper schnitten, zu befreien. Obwohl es in der offenen Höhle furchtbar kalt war, durchnäßte schon bald der Schweiß seinen ganzen Körper und strömte ihm in kleinen Bächen übers Gesicht, wo die Feuchtigkeit auf der blasig gewordenen Haut der Wunde auf seiner Wange brannte. Die ganze Zeit über, während er sich abmühte, sich zu befreien, wurden seine Chancen immer geringer.

Als dem Magusch endlich die offensichtliche Lösung in den Sinn kam, schämte er sich, daß er nicht früher daran gedacht hatte. Was dachte er sich dabei, zu kämpfen wie ein hirnloses Kaninchen in einer Falle oder wie irgendein gewöhnlicher, hilfloser Sterblicher, dem keine Magie zur Verfügung stand? Was hätte Aurian gesagt, wenn sie ihn so hätte sehen können? Oh, bei den Göttern, der Gedanke an sie – in Miathans Macht – war eine furchtbare Qual für ihn. Anvar schluckte. Nicht jetzt, sagte er sich. Du brauchst deine ganze Konzentration, um aus diesem verfluchten Netz herauszukommen.

Aber zunächst mußte er sich ein wenig ausruhen, um seine Kräfte zu sammeln. Erst da wurde es Anvar wirklich bewußt, daß es in der Höhle grausam kalt war. Er tat sein Bestes, um die Kälte zu ignorieren, und beschäftigte sich statt dessen in Gedanken mit dem Problem, wie er seine Kraft am wirkungsvollsten einsetzen konnte, um dieses Netz loszuwerden. Widerwillig beschloß er, daß es wohl Feuer sein müßte – nicht sein bevorzugtes Element und entschieden riskant, so nah an seiner Haut. Nach Miathans Quälerei war der Gedanke daran, sich wieder zu verbrennen, so furchtbar, daß er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam.

Dennoch mußte es Feuer sein. Glücklicherweise würde er nur einen winzigen Feuerball benötigen. Zu mehr hätte er auch nicht die Energie gehabt, und da seine Kontrolle über das Feuer nicht so gut war, war das Risiko, sich selbst zu verbrennen, bei einer kleinen Flamme geringer. Also reckte der Magusch seinen Hals so weit es ging, um an seiner Brust herunterzublicken, dort wo die Maschen drei- oder viermal um seinen Körper geschlungen waren. Um seine Arme freizubekommen, mußte dieser Wirrwarr von Seilen als erstes verschwinden.

Er biß sich auf die Lippen – wie viele Male hatte er Aurian das tun sehen, wenn sie einen Zauber aufbaute. Dann griff Anvar tief in sich hinein, um den Ursprung seiner Kraft zu finden. Ah! Mit der ganzen Kraft seines Willens drängte er die Magie, die er fand, zusammen, fester und fester, bis sie einen winzigen Funken wild glühender Energie formte. Vor seinem inneren Auge führte der Magusch sie an den Ort, an dem er sie haben wollte, wo sich die Maschen über seiner Brust kreuzten – dann nährte er die kleine Flamme mit aller Kraft seiner Liebe zur Magie, er hegte sie, ermutigte sie, zu wachsen und zu gedeihen – nur ein klein wenig zuerst – dann noch etwas mehr …

Der scharfe Geruch versengten Hanfs stach ihm in die Nase, und ein kleines Rauchwölkchen stieg vor ihm auf. Dann begann das Seil vor Anvars Augen Strang um Strang schwarz zu werden und rot aufzuglühen, entzwei zu reißen und sich Faden für Faden aufzulösen, während ein kleiner Feuerfunke an jedem abgerissenen Ende aufglomm wie das Auge eines Drachen.

Schließlich stieg dem Magusch sein Erfolg zu Kopf – oder vielleicht lag es auch nur daran, daß das Seil trocken wie Zunder war. Jedenfalls brach ein Teil des Seils von der Größe von Anvars Hand in Flammen aus. Mit einem lauten Schrei rollte er sich zur Seite und versuchte, das Feuer zu löschen. Plötzlich riß das Seil entzwei, und seine Arme waren frei. Durch seine Bewegung hatte er die Flammen fast völlig gelöscht, und nun schlug er mit verzweifelter Kraft auf den glimmenden Rest ein, bis er sicher war, daß das Netz nicht mehr brannte. Halb fluchend, halb lachend vor Erleichterung, setzte Anvar sich auf und begann, mit zitternden Händen den Wirrwarr um seine Beine herum zu lösen.

Endlich war er frei, aber er war so lange gefesselt gewesen, daß seine Beine ihn zuerst nicht tragen wollten. Also kroch er zur Öffnung der Höhle hinüber, wo der Wind auf einer Seite einen kleinen Haufen Schnee hingeweht hatte. Er hatte sich seine Hände beim Löschen seines selbstgemachten Feuers nicht schlimm verbrannt, steckte sie aber dennoch in den lindernden Schnee, bis alle Hitze aus seinen Handflächen gewichen war. Dann strich er sich ein wenig von dem Schnee auf die kribbelnde Haut seiner Brust, wo die Flammen ihm ebenfalls zu nahe gekommen waren.

Als das erledigt war, versuchte Anvar, aus seinem Gefängnis hinauszuschauen, aber wieder einmal hatte sich ein Unwetter herabgesenkt, und er konnte jenseits der Öffnung nichts sehen als dunkelgraue Wolken und dichte, wogende Schneevorhänge. Wie weit es bis zum Boden war, wußte er nicht, doch eines stand fest – wenn sie ihn hier eingesperrt hatten, dann mußte es verdammt tief sein! Aber wie dem auch sei, er konnte nichts tun, solange er nichts sehen konnte. Mit einem verbitterten Seufzer kroch Anvar zurück in sein Gefängnis und stellte fest, daß es besser ausgestattet war, als er erwartet hatte. Schwarzkralle hatte offensichtlich Boten vorgeschickt. In einer Ecke standen zwei große Wasserkrüge und ein mit Nahrungsmitteln großzügig gefüllter Korb. Dahinter lag auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle ein großer Haufen Feuerholz. Sehr vorsichtig und mit der Erinnerung an sein jüngstes Mißgeschick, das noch nicht allzu lange zurücklag, machte Anvar sich daran, ein Feuer zu entzünden. Er mußte ein wenig mit einem rauchenden Ast herumprobieren, um den besten Ort für ein Feuer zu finden, einen Platz, an dem der lebhafte Zug vom Eingang den Rauch aus der Höhle hinausblasen würde, ohne daß der Magusch sich dabei zu Tode fror. Nach einer Weile fand er die ideale Stelle, dort wo die linke Wand der Höhle ein wenig in diese hineinragte, ein kleiner Ausläufer des Felsens, der an seiner höchsten Stelle etwa halb so groß war wie Anvar. Hinter diesem Felsvorsprung lag eine geschützte Ecke, von der aus der Rauch über die Felsbank und aus der Höhle hinauswehen konnte.

Das Feuer gab Anvar neuen Mut. Die safranfarbenen Flammen verscheuchten die Finsternis aus der Höhle, und das Krachen und Zischen der brennenden Feuerscheite half, die kreischenden, nervenaufreibende Klage des gräßlichen Gebäudes auf dem Gipfel zu übertönen. Die Flamme tanzte und sprach und mußte gefüttert werden – sie erschien ihm wie ein lebendiges Wesen und gab ihm das Gefühl, nicht allein zu sein. Trotzdem war es immer noch bitterkalt in der Höhle. Eine Zeitlang fragte sich Anvar, warum seine Feinde sich erst solche Mühe gegeben hatten, wenn sie ihn dann erfrieren ließen, bis ihm eine genauere Erkundung seiner Höhle die Antwort gab – eine Antwort, die sein Blut vor Entsetzen erstarren ließ.

Nicht weit entfernt von dem Essen lag in einer schattigen Ecke im hinteren Teil der Höhle ein dicker Stapel dunkler Tierhäute; er hatte sie übersehen, bis die Flammen sie mit ihrem Licht erhellt hatten. Anvar, der zutiefst erleichtert war, ging schnell hinüber, um eines der Felle zu ergreifen – und riß seine Hand mit einem wilden, heißen Fluch zurück. Wie gut er diesen Pelz kannte – seine Tiefe und Dichte, das schwere, seidige Haar. Diese blutdurstigen Ungeheuer erwarteten von ihm, daß er sich in die Pelze von Shias Freunden hüllte!

»Mörder!« heulte er auf. Dann schlug er mit der Faust gegen die Höhlenwand. »Lieber erfriere ich! Ich will lieber erfrieren und tausend Tode sterben, als die Felle dieser abgeschlachteten Katzen zu tragen!« Anvar dachte an Shia, an ihre Treue und ihren Mut, an ihr Verständnis und ihren scharfen, trockenen Humor, an die geschmeidige, anmutige Schönheit ihrer graziösen, mit stählernen Muskeln versehenen Gestalt, an die Pracht ihrer golden glühenden Augen. Doch Shia mit ihrem unerschöpflichen Fundus an gesundem Menschenverstand wäre die erste gewesen, ihm zu raten, praktisch zu denken: sein eigenes Leben zu retten. Er hatte keine andere Wahl.

Anvar holte tief Luft, bevor er sich eines der Felle um die Schultern legte, obwohl sich seine Haut zusammenzog, als er den Pelz spürte, so als sei er noch immer von Blut durchtränkt, und das Gewicht auf seinem Rücken war eine Last der Schuld, weil er von dem Tod des armen Geschöpfes profitierte. War das Shias Freundin gewesen? Ihr Gefährte vielleicht – oder ihr Kind? Mit einem Schaudern zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Die arme Katze war tot, genauso wie ihre Kameraden. Er konnte nichts tun, um sie wieder lebendig zu machen, und er mußte überleben. Irgendwie mußte er eine Möglichkeit finden, diesem Gefängnis zu entkommen und Aurian zu Hilfe zu eilen. Wenn es ihm dabei möglich sein sollte, denjenigen, die diese Grausamkeit begangen hatten, einen Schlag zu versetzen, dann, bei allen Göttern, würde er diese Katzen, die ihm mit ihrem Tod das Leben gerettet hatten, zumindest rächen können.

Anvar verbarg das Gesicht in den Händen und kämpfte gegen die Tränen an. Er war bis zu diesem Zeitpunkt unfähig gewesen, an Aurian zu denken – der Schmerz über ihren Verlust war so unerträglich gewesen, daß sein Verstand davor zurückgeschreckt war. Die Erinnerung an Shia und die mitleiderregenden Überreste ihrer armen, dahingemordeten Gefährten hatte dazu beigetragen, all seine Trauer zutage zu fördern – aber im Augenblick war es noch wichtiger zu überleben. Wenn er in dieser verfluchten Höhle an Kälte und Hunger starb, würde er damit Aurian nicht helfen. Anvar wischte sich das Gesicht mit seinem Ärmel ab – eine unbewußte Nachahmung seiner verlorenen Liebsten – und stand auf, um neues Holz auf sein Feuer zu legen.

Mittlerweile fühlte der Magusch sich schwindlig, und ihm war übel geworden vor Hunger und Durst. Neben den Wasserkrügen fand er einen Becher und nahm einen tiefen Zug, bevor er das Trinkgefäß wieder und wieder füllte und schließlich den Korb zum Feuer zog und seinen Inhalt durchstöberte.

Er fand flache Stücke eines schweren, feuchten Brotes, das offensichtlich nicht aus Korn gebacken war. Aber hier oben wuchs natürlich kein Korn mehr. Vielleicht war es irgendeine Art Knolle, dachte Anvar, während er das Brot mit Heißhunger verschlang. Nereni hatte im Wald mit ähnlichen Pflanzen experimentiert. Schließlich machte er sich über eine geröstete Ziegenkeule her und über das Fleisch irgendeines riesigen Federviehs, das delikat gewürzt und geräuchert war. Es gab kein Gemüse und keine Früchte, aber wenn Rabe die Wahrheit gesagt hatte, hatte Aerillia sich zu lange in den Fängen des Winters befunden, um ihn mit solchem Luxus ausstatten zu können. Auf dem Boden des Korbs fand Anvar noch etwas Ziegenkäse und, was das beste von allem war, eine Flasche mit einem roten, dünnen Wein.

Endlich hatte der Magusch auch wieder etwas Appetit. Seine Kehle war wie ausgedörrt und schmerzte, und sein Magen krampfte sich zusammen, aber er erwärmte über dem Feuer etwas von dem scharfen, mit ein wenig Wasser verdünnten Wein. Dann machte er sich in seiner geschützten Ecke ein Nest aus Katzenfellen und rollte sich darin zusammen.

Obwohl ihm heiß war und er vor Fieber zitterte, fiel Anvar in überraschend kurzer Zeit in Schlaf, wobei er den Gedanken an Aurian wie einen Talisman an sein Herz drückte.

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