13

Hawkwood hatte die Augen geschlossen. Es war merkwürdig, dachte er, dass er noch immer den Geruch des Hulk in der Nase hatte. Die Vernunft sagte ihm, dass der Gestank des Gefängnisschiffs unmöglich bis hierher getragen werden könne, und doch hätte er schwören können, er war da, ein ekelerregendes Phantom, das seine Geruchsnerven belästigte.

Obwohl er wusste, dass es lächerlich war, öffnete er die Augen, um sich zu überzeugen, dass er nicht wieder auf dem Geschützdeck war. Er sah die Wiese, den Bach und die umliegenden Wälder und empfand ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung. Er saß auf einem Holzklotz, den Rücken an die Scheunenwand gelehnt.

Er prüfte schnüffelnd die Luft. Seine Nackenhaare sträubten sich. Im selben Moment wusste er, dass es keine Einbildung war. Dieser Gestank war tatsächlich da, und seine Ursache lag näher, als er vermutet hatte. Es war seine eigene Ausdünstung, die er roch. Er trug den Makel des Hulk noch immer mit sich herum. Er hing in seinen Kleidern, und auch sein Schweiß roch danach. Er hielt seinen Ärmel an die Nase und zuckte angewidert zurück. Er konnte sogar die Makrelen riechen. Kein Wunder, dass der Totengräber sie am anderen Ende des Wagens hatte sitzen lassen; und kein Wunder, dass die Frau sie so misstrauisch angesehen und ihnen zu verstehen gegeben hatte, sie sollten sich vom Haus fernhalten. Die Frage ging ihm durch den Kopf, ob das wohl auch der Grund war, warum alle so darauf bedacht gewesen waren, sie möglichst schnell an den Nächsten weiterzureichen? Weil jeder ihrer Fluchthelfer den Gestank nur für eine kurze Zeit aushalten konnte? Mit einem Ruck setzte er sich auf.

Lasseur, der neben ihm gedöst hatte, spürte die Bewegung und war sofort wach. »Was ist los?« Seine Augen suchten den Waldrand ab.

Hawkwood stand auf. »Ich werde jetzt ein Bad nehmen.« Er ging in die Scheune, holte seine Decke und machte sich auf zum Bach.

Verwundert sah Lasseur ihm nach. Dann hob er seinen Ärmel, steckte die Nase in seine Achselhöhle und fuhr ebenfalls zurück.

Der Privateer hatte immer großen Wert darauf gelegt, gepflegt auszusehen. Auf persönliche Sauberkeit zu achten war nicht schwer auf See, wo man von Wasser umgeben war. Unter diesen Umständen war auch das Wäschewaschen kein Problem und sicher viel einfacher als für einen Soldaten im Feld. Seit seiner Gefangennahme jedoch war das alles anders geworden.

Zwar hatte es auf dem Hulk Waschgelegenheiten gegeben, sie waren jedoch angesichts der Anzahl der Gefangenen völlig unzureichend. Seife war äußerst knapp, oft hatte es gar keine gegeben. Lasseurs letztes Bad war am Tage seiner Ankunft gewesen, als er und Hawkwood und die anderen in die Wasserfässer auf dem Quarterdeck steigen mussten. Seitdem war Seife genauso knapp gewesen wie frisches Obst.

Es war merkwürdig und eigentlich ziemlich beunruhigend, wie leicht man alle guten Angewohnheiten vergessen konnte, und zwar so gründlich, dass er und Hooper gegen den Gestank auf den Schiffen genauso immun geworden waren, wie Murat es vorhergesagt hatte. Keiner von ihnen merkte, welchen Duft sie verströmten.

Lasseur musterte seine Kleidung. Es war nicht abzustreiten, sie starrte vor Dreck und musste ebenfalls dringend gewaschen werden. Er fand, dass es nicht genügte, sie nur mit klarem Wasser zu waschen, deshalb machte er sich auf zum Farmhaus.

Der Hund lag vor der Tür. Als Lasseur sich näherte, stand er auf und bellte kurz.

Die Frau kam um das Haus, einen Weidenkorb im Arm. In dem Korb war Wäsche, und hinter ihr sah Lasseur eine Wäscheleine, die zwischen den Apfelbäumen gespannt war.

Der Hund hatte seine Aufgabe als Wächter erfüllt und setzte sich neben die Frau. Lasseur nahm an, dass er von ihm beobachtet wurde, obwohl es schwer war, durch das dichte Fell die Augen des Tieres zu sehen.

Dagegen sah er die Augen der Frau sehr gut. Es fiel ihm auf, dass ihr wieder eine Haarsträhne lose über die Wange hing. Zu gern hätte er gewusst, wie alt sie war. Sie hatte Fältchen um die Augen, nicht tief, aber ohne sie, dachte er für sich, wäre ihr Gesicht nicht so ausdrucksvoll. Sie mochte um die dreißig sein, und er dachte daran, dass seine Frau Marie, wenn sie noch am Leben wäre, ebenso alt wäre. Plötzlich überkam ihn ein überwältigendes Gefühl von Verlust und Sehnsucht. Er schluckte und hoffte, dass die Frau diesen Moment der Schwäche nicht bemerkt hatte.

»Verzeihen Sie, Madame. Dürfte ich Sie um etwas Seife bitten? Mein Freund und ich möchten baden und unsere Kleider waschen.«

Er zerrte an seinem Hemd, als wolle er es an die Nase halten, und riskierte ein Lächeln.

Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur stumm an. Lasseur wunderte sich, wie eingeschüchtert er sich vorkam. Verlegen knöpfte er seine Jacke zu und fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar. Er fragte sich, wie schlimm er wohl stank. Er war froh, dass er nicht näher getreten war.

»Warten Sie«, sagte sie kurz. Sie stellte den Korb hin und verschwand im Haus.

Lasseur und der Hund musterten sich stumm. Lasseur konnte nichts weiter sehen als eine rosa Zunge, die zwischen braunen Haarzotteln heraushing.

Lasseur hockte sich hin. »Hallo, Rab. Braver Hund.«

Der Schwanz bewegte sich kurz.

Lasseur schnippte leise mit den Fingern.

Diesmal folgte ein klares Wedeln, möglicherweise spitzte der Hund auch die Ohren.

Zwei weitere Schnipser.

Der Hund kam zu ihm und leckte seine ausgestreckte Hand. Dem Tier machte der Gestank offenbar nichts aus.

Als die Frau aus dem Haus kam, stand Lasseur auf.

»Hier -« Auf Armeslänge streckte sie ihm ein Stück Seife entgegen. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Es wird wohl auch Zeit.«

Sie wandte sich um und hob den Korb wieder auf.

Lasseur merkte, wie er rot wurde. »Vielen Dank, Madame. Ich bringe sie dann zurück.« Er nahm die Seife und versuchte es nochmals mit einem Lächeln. »Das ist ein netter Hund.«

»Und er lässt sich leicht ablenken.« Die Frau sah den Hund an, und ein kurzer Ausdruck, den man beinahe als liebevoll hätte bezeichnen können, huschte über ihr Gesicht - aber vielleicht war es Lasseur nur so vorgekommen.

Der Hund sah zu ihr auf.

»Ich habe oft festgestellt, dass Hunde ausgezeichnete Menschenkenner sind«, sagte Lasseur.

»Er ist alt. Manchmal ist er etwas verwirrt.«

»Das Gefühl kenne ich«, sagte Lasseur. Er verbeugte sich kurz. »Nochmals vielen Dank für die Seife.«

Die Frau nickte, aber ihr Blick blieb neutral. Ernüchtert wandte Lasseur sich zum Gehen.

Die Frau und der Hund sahen ihm nach. Sie ging zu den Apfelbäumen. Plötzlich blieb sie stehen und sah sich nach dem Hund um, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte und immer noch Lasseur nachsah.

»Rab.«

Der Hund wedelte mit dem Schwanz und kam angetrabt.

»Na, komm schon, Alter.«

Sie sah Lasseur nach, der gerade um die Scheune verschwand.

Hawkwood überprüfte gerade seine Verbände, als Lasseur auftauchte. Er grinste und warf ihm die Seife zu.

Hawkwood starrte ihn an.

»Ja, sie mag mich wirklich«, sagte Lasseur.


»Wenn dies mein letztes Stündchen wäre, würde ich als glücklicher Mann sterben«, sagte Lasseur zufrieden.

Die Männer saßen am Bach. Sie hatten sich die Decken um die Taille gewickelt und ihre Füße baumelten im kühlen Wasser, Hemden, Unterwäsche und Hosen lagen zum Trocknen in der Sonne.

Lasseur griff in seine Jackentasche und nahm mit einem zufriedenen Seufzer seine letzte Zigarre heraus. »Die habe ich für eine besondere Gelegenheit aufgehoben. Ich würde sagen, die Tatsache, dass wir jetzt den Gestank vom Hulk los sind, ist eine solche. Was meinst du?«

»Ich meine, du solltest dir deine Decke wieder umwickeln«, sagte Hawkwood. »Sie rutscht.«

Lasseur ordnete seine provisorische Bekleidung. »Mir kommt es vor, als ob ich eine dieser verdammten Togen anhabe.« Er stellte fest, dass er nichts hatte, um die Zigarre anzuzünden, also steckte er sie zwischen die Lippen und kaute nachdenklich darauf herum. »Wie ihr Mann wohl gestorben ist? Ob er im Krieg war?« Er sah hinter sich zum Haus, aber die Scheune war dazwischen.

»Wenn es so wäre«, sagte Hawkwood, »dann hätte ich gedacht, dass feindliche Kriegsgefangene das Letzte wären, was sie hier auf ihrem Grundstück haben wollte.«

Lasseur nahm die Zigarre aus dem Mund. »Du hast Recht. Das war keine sehr vernünftige Vermutung.« Er sah sich um und betrachtete die Scheune und die anderen Gebäude.

»Du kannst sie ja fragen«, sagte Hawkwood. »Da sie dich offenbar mag.«

»Vielleicht habe ich da etwas übertrieben«, sagte Lasseur. Er steckte die Zigarre wieder in den Mund, nahm ein paar kalte Züge, dann nahm er sie wieder heraus und rollte sie nachdenklich zwischen den Fingern. »Ich denke gerade darüber nach, dass diese Farm gar nicht groß ist, sie ist kleiner als die Farm, auf der meine Frau aufgewachsen ist. Trotzdem macht sie auch bei dieser Größe viel Arbeit. Das kann für eine alleinstehende Frau kein leichtes Leben sein.«

Das Leben war nie leicht für allein stehende Frauen, dachte Hawkwood, und doch, nach allem, was er gesehen hatte, könnte es viel schlimmer sein. Sie könnte zum Beispiel allein in der Stadt leben. Hier hatte sie alles, was sie brauchte. Ein Dach über dem Kopf, und mit den Tieren und dem Garten konnte sie sich auch ernähren und brauchte nicht zu stehlen oder sich an irgendeiner Straßenecke feilzubieten.

Den Mann namens Thomas hatten sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Hawkwood fragte sich, was es wohl mit ihm auf sich hatte.

Seit sie auf der Farm waren, hatte sie kaum mit ihnen gesprochen, selbst wenn sie in einem Korb das Essen zur Scheune brachte. Er dachte über ihr Verhalten nach. Von Anfang an war es nicht besonders entgegenkommend gewesen. Für sie musste ihr Aufenthalt hier eine Zumutung sein. Aber er hatte den Eindruck, das wäre auch nicht anders, wenn sie Engländer wären. Die anderen, die ihnen geholfen hatten - der Schäfer, der Wirt, der Kapitän und der Totengräber -, waren alle wesentlich weniger zurückhaltend gewesen; vielleicht lag es daran, dass sie alle ihr Einkommen irgendwie außerhalb des Gesetzes verdienten, und auch wenn sie die Obrigkeit nicht direkt hassten, so hatten sie ihr gegenüber doch ein ziemlich gespaltenes Verhältnis. Wie Gideon, der Kapitän, richtig gesagt hatte, waren sie nichts anderes als zwei weitere Stück Schmuggelware.

Aber warum sollte eine Frau sich bereiterklären, Feinden bei der Flucht in die Heimat zu helfen? Ihrem Gespräch mit dem Totengräber hatte er entnommen, dass sie gegen ihren Willen Schmuggelware versteckt hielt.

Er fragte sich, wer dieser Morgan war. Die Fässer, die sie erwähnte, ließen darauf schließen, dass er zum Schmugglerring gehörte, aber wo stand er in der Hierarchie? War er wichtig, oder war er nur jemand, der die Sachen weiterreichte?

Auf jeden Fall war Ludds Überzeugung, dass Schmuggler den geflohenen Gefangenen halfen, richtig gewesen. Aber selbst Ludd hätte nie geahnt, wie viel Planung dahinterstand und wie gut alles organisiert war. Offenbar steckten ein paar sehr kluge Köpfe dahinter. Aber wer waren die?

Hawkwood griff nach seinem Hemd und der Hose. Sie waren schon trocken, und er zog sich an, Lasseur ebenfalls.

»Ich bin gespannt, was als Nächstes passiert«, sagte Lasseur, als er seine Stiefel anzog. »Was glaubst du, wie lange wir hier bleiben werden?«

»Es könnte schon eine Weile dauern. Die Briten haben den Ärmel ziemlich fest zugenäht mit ihrer Blockade.« Der Ausdruck ging ihm mühelos über die Lippen, obwohl Hawkwood nicht verstehen konnte, warum die Franzosen den Kanal ausgerechnet nach einem Kleidungsstück benannt hatten.

»Aber die Schmuggler kommen und gehen anscheinend, wie sie wollen«, gab Lasseur zu bedenken.

»Wahrscheinlich gibt es härtere Strafen für das Befördern von Flüchtlingen«, meinte Hawkwood. »Es kommt dem Hochverrat gefährlich nahe. Das würden sie nicht riskieren, wenn es nicht ganz sicher wäre.«

Ein körperlich gesunder Seemann, der beim Aufbringen eines Schmuggelschiffes gefasst wurde, wurde in die Navy gepresst. Die Strafe für das Befördern geflohener Gefangener war Deportation, möglicherweise für immer. Kein Schmuggler würde es riskieren, mit geflohenen Gefangenen über den Kanal zu fahren, wenn er nicht fest damit rechnen konnte, dass alles glattginge.

Lasseur nickte düster.

»Mach nicht so ein trübes Gesicht«, sagte Hawkwood. »Wir sind erst zwei Tage hier. Überall ist es doch besser als auf dem stinkenden Schiff.«

Lasseur zog an seiner Zigarre. Dann schlug er Hawkwood auf die Schulter. »Du hast Recht, mein Freund. Wir haben frische Luft, den Himmel über uns und einigermaßen saubere Hemden am Leib. Wenn ich jetzt noch auf meinem Schiff wäre, wäre das Leben fast perfekt.«

Hawkwood schloss die Augen und ließ sich von der Nachmittagssone bescheinen.

»Ich habe von Lucien geträumt«, sagte Lasseur.

Hawkwood sah ihn an.

Er wusste, dass es etwas war, was Lasseur beschäftigte. Der Franzose war in der Nacht ziemlich unruhig gewesen. Hawkwood hatte es gemerkt, weil auch er schlecht geschlafen hatte, und es war ihm aufgefallen, wie Lasseur sich in den frühen Morgenstunden unruhig auf seinem Lager gewälzt hatte.

»Er musste mit ansehen, wie sein Vater starb«, sagte Lasseur. »Das war auch der Grund, warum er allein war. Er war Schiffsjunge auf dem Schiff seines Vaters, und sie wurden von einem englischen Kutter überrascht. Sie zogen die Segel ein, aber aus irgendeinem Grund wollte der Kutterkapitän sich wohl einen Spaß machen. Er richtete die Kanonen auf sie und machte Kleinholz aus dem Schiff. Luciens Vater wurde von einem Splitter getötet, ein Mitglied der Besatzung ging mit dem Schiff unter. Der andere wurde gefangen genommen, aber sie wurden getrennt. Ich nehme an, er wurde auf ein anderes Gefängnisschiff gebracht.« Lasseur schwieg, dann sagte er: »Wenn wir uns nicht eingemischt hätten, wäre er noch am Leben.«

»Als Spielzeug für Matisse und seine Bande«, sagte Hawkwood. »Die hätten ihn missbraucht, und wenn der nächste hübsche Junge gekommen wäre, hätten sie sich seiner entledigt.«

»Er hatte es nicht verdient, zu sterben.«

»Nein, das stimmt. Aber wir haben ihn nicht umgebracht.«

Lasseur seufzte. »Und denkst du, das entbindet uns von der Verantwortung? Ich glaube nicht. Weißt du, ich habe mal ein Sprichwort gehört: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Ich glaube, bis jetzt hatte ich nicht wirklich verstanden, was das heißt.« Er sah Hawkwood an, seine Augen waren feucht geworden. »Ich vermisse meinen Sohn, Matthew. Ich möchte nach Hause und ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass ich ihn liebe. Dieser verfluchte Krieg …«

»Kriege fangen nicht von allein an«, sagte Hawkwood. »Wenn du jemandem die Schuld geben willst, gib sie diesen verfluchten Politikern.«

»Und wem gegenüber sind die verantwortlich? Gott? Ich bin mir nicht mal sicher, ob der überhaupt noch existiert.« Mit einer frustrierten Handbewegung stand Lasseur auf und steckte die Zigarre wieder in die Tasche. »Ach, Schluss jetzt. Ich muss wieder einen klaren Kopf bekommen. Ich mache einen kleinen Spaziergang. Und ehe du etwas sagst: Keine Angst, ich laufe schon nicht weg. Ich gehe nicht weiter als bis zum Wald, damit bleibe ich auf dem Farmgelände.« Er klopfte Hawkwood auf die Schulter. »Du bist ein guter Freund, Matthew Hooper. Ich bin froh, dass wir zusammen sind.«

Hawkwood antwortete nicht. Er sah, wie Lasseur mit gesenktem Kopf davonging. Es war unvermeidlich, dass Lasseur als Vater unter dem Mord an dem Jungen stärker litt. Er dachte über seine eigene Reaktion auf Lucien Ballards Tod nach. Er war wütend gewesen, aber im Gegensatz zu Lasseur hatte er keine Schuldgefühle gehabt. Er fragte sich, was das über ihn selbst aussagte. Hawkwood hatte die Verantwortung, Vater zu werden, immer abgelehnt. Konnte er damit leben? Ja, konnte er. Er wunderte sich, warum er sich überhaupt diese Frage stellte, besonders wo es so viele weitaus wichtigere Dinge gab, die zu klären waren. Zum Beispiel, wie er es bewerkstelligen könnte, Bow Street eine Nachricht zu schicken.

Doch was für eine Nachricht hatte er eigentlich für James Read? Ludd würde inzwischen wissen, dass er vom Schiff entkommen war. Er wusste, dass Hawkwood auf der Flucht war. Und viel weiter reichte Hawkwoods eigenes Wissen auch nicht. Er wusste immer noch nicht, wer hinter dieser organisierten Fluchthilfe stand. Solange er das nicht wusste, musste er die Täuschung aufrechterhalten und abwarten, wohin es ihn führte. Mit etwas Glück und Geschick würde er vielleicht in Kürze dahinterkommen.

Lasseur stellte bei seinem Spaziergang fest, dass es auf der Farm eine ganze Reihe von Dingen gab, die Aufmerksamkeit erforderten. In den Wänden der Scheune klafften Lücken. Eine Ecke des Kuhstalls war baufällig. Es gab Torpfosten, die ersetzt werden mussten, das Gras auf der Wiese musste gemäht werden und einige der Bäume hätten auch beschnitten werden müssen. Es waren Kleinigkeiten, aber von der Farm seiner Schwiegereltern wusste er, dass Kleinigkeiten, wenn sie nicht rechtzeitig behoben wurden, sich schnell zu größeren Problemen auswachsen konnten. Es war genau wie auf einem Schiff.

Die Frau hatte ihnen gesagt, es gebe einen Mann, der ihr half, aber bisher hatte der sich nicht gezeigt. Lasseur sah zum Haus hinüber und bemerkte den großen Holzstoß bei der Hintertür und daneben die Axt, die in einem großen Hackklotz steckte, daneben lehnte ein Reisigbesen. Ritten Hexen nicht auf Reisigbesen? Lasseur grinste.

Dann bemerkte er den Hund.

Er zögerte und blieb stehen. Das Tier benahm sich merkwürdig; es lief vor der Tür hin und her, dann blieb es stehen und kratzte an der Tür, als ob es eingelassen werden wollte. Die Frau war nirgends zu sehen. Der Hund kratzte weiter an der Tür und Lasseur hörte ihn winseln. Er kam näher.

Der Hund sah ihn kommen. Er merkte, dass das Tier zögerte, gerade so, als ob es ihn nicht erkannte. Er wartete auf das kurze Bellen, aber es kam nichts. Stattdessen ging der Hund zur Tür zurück und kratzte wieder. Dann drehte er sich um und kam mit hängendem Kopf zu Lasseur. Er sah aus, als könne er sich nicht entscheiden, ob er wedeln sollte oder nicht.

»Na, Rab«, sagte Lasseur leise, während er sich hinhockte und dem Hund die Ohren kraulte. »Was ist denn los, Junge?«

Er merkte, dass er mit dem Hund Französisch sprach, also versuchte er es auf Englisch. »Braver Hund.«

Der Hund sprang auf und lief wieder zur Tür.

Zuerst dachte Lasseur, das Winseln käme von dem Hund, aber dann merkte er, dass es in dem Haus war. Neugierig geworden, kam er näher. Je näher er der Tür kam, desto mehr klang es, als sei jemand in Not. Der Hund sah ihn aufmunternd an und schnüffelte unruhig. Es war klar, er wollte ins Haus.

Lasseur beugte sich vor und sah durch das offene Küchenfenster. Mitten im Raum stand ein großer Tisch. Darauf lag die Frau, den Rücken auf die Tischplatte gedrückt. Ihr Rock war hoch über ihre Hüften geschoben. Zwischen ihren Schenkeln und leicht nach vorn gebeugt stand ein Mann mit strähnigem Haar. Lasseur konnte sein Gesicht nicht sehen, und sein Rücken nahm ihm auch die Sicht auf das Gesicht der Frau. Der Mann griff sich zwischen die Beine. Lasseur konnte nicht erkennen, ob er an sich hantierte oder an den Kleidern der Frau. Er sah, wie sie die Hand ausstreckte und die Schulter des Mannes packte.

Lasseur trat eilig zurück, besorgt, dass sie seinen Schatten am Fenster gesehen haben könnten. Das Wimmern, das er für ein Zeichen der Bedrängnis gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Ausdruck von Leidenschaft gewesen. Er sah auf den Hund hinunter, der ihn immer noch erwartungsvoll ansah, und lächelte reumütig. »Tut mir leid, Junge, aber ich glaube, dein Frauchen würde es nicht sehr schätzen, wenn wir sie jetzt stören würden.«

Lasseur versuchte sich zu erinnern. Hatte der Hund schon vorher gebellt? Er wusste es nicht. Vermutlich war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich den Dreck vom Hulk aus den Ohren zu waschen.

Der Liebhaber war vermutlich der Mann, den sie erwähnt hatte. Er versuchte, die völlig unsinnige Eifersucht zu unterdrücken, die in ihm aufstieg.

Er wollte gerade gehen, als er ein anderes Geräusch hörte und wie angewurzelt stehen blieb. Diesmal war es kein Irrtum. Die Worte, die jetzt fielen, waren rau und kamen von dem Mann, während der darauffolgende Schrei der einer Frau war, doch er klang weniger nach gesteigerter Leidenschaft als vielmehr nach großer Not.

Lasseur trat schnell ans Fenster zurück und spähte in die Küche. Die Stellung der beiden hatte sich kaum verändert. Die Frau lag noch immer auf dem Tisch, der Mann stand zwischen ihren Beinen. Doch diesmal sah Lasseur auch den Rest. Der Mann hielt seine linke Hand fest auf den Mund der Frau gedrückt, während er mit der Rechten an seinem Hosenlatz hantierte. Ihre Hand war noch immer auf seiner Schulter, aber jetzt sah Lasseur, dass sie den Mann nicht zu sich herunterziehen, sondern ihn wegstoßen wollte.Lasseur beobachtete die Szene noch immer, als die Frau den Kopf drehte und ihm ins Gesicht sah. Sie riss die Augen auf. Lasseur sah, dass ihre Bluse zerrissen war und dass ihre linke Brust fast völlig entblößt war. Dann sah er die Tränenspuren auf ihrem Gesicht.

Der Hund raste bereits an ihm vorbei, als er die Tür mit einem so gewaltigen Schwung aufstieß, dass sie gegen die Wand krachte.

Der Mann drehte sich um, die Hand über seinem halbgeöffneten Hosenlatz. In seinem Gesicht stand der Schock. Er hatte keine Narbe, es war also nicht der Mann, den Jess als ihren Helfer beschrieben hatte.

Knurrend stürzte der Hund auf ihn zu. Für sein Alter war er plötzlich äußerst beweglich.

Instinktiv holte der Mann zu einem Fußtritt aus. Der Hund jaulte laut vor Schmerz, als der Stiefel seine Rippen traf. Die Frau schrie auf, als Lasseur einen Satz machte und dem Mann mit der Faust einen kräftigen Kinnhaken verpasste. Man hörte das satte Geräusch, das entsteht, wenn Handknöchel auf Unterkiefer treffen. Mit einem schmerzhaften Grunzen zuckte der Mann zurück, doch Lasseur hatte seine Alkoholfahne bereits wahrgenommen. Er legte gleich noch nach, indem er den Mann am Arm packte und ihm eine Handvoll Haare ausriss. Er schleuderte den Mann quer durch den Raum. Die Frau ließ sich vom Tisch gleiten und fing an, ihre Kleider in Ordnung zu bringen. Der Hund bellte den Mann wütend an, dieser entwand sich Lasseurs Griff und taumelte rückwärts durch die offene Tür nach draußen. Lasseur, die Augen dunkel vor Zorn, stürzte hinter ihm her. Der Mann befühlte seine Lippe mit der Hand. Sie war blutig. Er starrte auf das Blut, dann auf Lasseur, schließlich auf die Frau.

»Du Schlampe! Du wolltest es doch! Sag bloß, dass es nicht wahr ist!«

Sie stand in der Tür und hielt die zerrissene Bluse mit der Hand zusammen. Ihr Gesicht brannte, sie atmete schwer.

»Nicht mit dir, Seth! Mit dir niemals! Eher friert die Hölle zu.«

Der Blick des Mannes wanderte zu Lasseur, dann sah er zur Seite. Lasseurs Herz blieb stehen, als er sah, was der Mann gerade entdeckt hatte.

Sie bewegten sich gleichzeitig, aber Lasseur wusste, dass er es nicht schaffen würde, er war zu weit entfernt. Mit einem Ruck zog der Mann die Axt aus dem Hackklotz. Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Erst mach ich dich fertig, dann nehme ich sie mir vor.«

Lasseur sah sich nach einer Waffe um. Er ergriff einen Prügel und hielt ihn vor sich wie eine Keule. Es schien ein hoffnungsloses Unterfangen.

Der Hund bellte. Er hatte seinen Mut wiedergefunden und kam aus der Küche gerannt. Die Frau griff nach seinem Hals, aber er riss sich los. Ihre Bluse öffnete sich wieder und gab ihre nackte Brust frei. »Rab, nein!«

Der Mann schwang die Axt. Der Hund sprang zur Seite, und die Klinge verpasste seinen Kopf nur knapp. Doch er wurde nur noch wütender und bellte weiter.

Lasseur kam langsam näher und hielt sein Holzstück fest.

Der Mann mit der Axt grinste hämisch und zeigte braune, ungleichmäßige Zähne. Sein Haar hing in fettigen Strähnen in sein pockennarbiges Gesicht. Er war nicht sehr groß, ungefähr so groß wie Lasseur, aber seine Figur war kompakt und muskulös. »Ist das alles, was dir einfällt?« Er schwang die Axt in Richtung auf Lasseurs Kopf. Lasseur schwang die Keule und versuchte, den Schlag abzufangen. Die Klinge der Axt sauste ins Holz und riss Lasseur die Keule aus der Hand.

Lasseur hörte die Frau aufschreien: »Nein, Seth!«, aber der Angreifer kam wieder näher, die Axt hoch erhoben.

In dem Moment kam eine große, dunkle Gestalt um die Ecke.

»He!«

Der Mann mit der Axt drehte sich um.

Hawkwood schwang den Besen wie eine Peitsche.

Das Gebrüll, das der Mann ausstieß, als der Reisigbusch ihm übers Gesicht fuhr, war so laut, dass sogar der Hund schwieg. Lasseur konnte nur ahnen, wie viele Birkenzweige hier zusammengebunden waren, aber jeder einzelne hatte die Haut des Angreifers aufgerissen wie eine scharfe Kralle. Der Mann ließ die Axt fallen und stolperte davon, wobei er mit den Händen sein aufgerissenes Gesicht bedeckte, von dem das Blut zwischen den Fingern hindurchtropfte.

Lasseur hob die Axt auf. Sein unrasiertes Gesicht war eine grimmige Maske. Ehe Hawkwood ihn zurückhalten konnte, stürzte er ihm nach und warf den Angreifer zu Boden. Der Mann hob die Arme, um sich zu schützen. Sein Gesicht sah aus, als sei er gegeißelt worden.

»Nicht mehr ganz so mutig jetzt, was?«, spottete Lasseur. »Lâche!«

Er sah, wie sich der Gesichtsausdruck des Mannes unter dem strömenden Blut veränderte. Lasseur wusste sofort, dass sein Akzent ihn verraten hatte. Er hob die Axt. Der Mann duckte sich.

Eine Hand legte sich auf seinen Arm. Lasseur hörte, wie die Frau sagte: »Nein, bitte nicht!«

Lasseur schüttelte den Kopf. »Er hat Ihnen Gewalt angetan. Wollen Sie nicht, dass er bestraft wird?«

»So nicht.« Sie sah auf ihren Peiniger hinunter. Ihre Augen blitzten. »Aber wenn du dich hier noch einmal sehen lässt, Seth, dann nehme ich das Gewehr. Das schwöre ich.«

Lasseur warf einen zornigen Blick auf das blutverschmierte Gesicht.

»Wenn du ihn umbringst, Paul«, sagte Hawkwood und seine Hand wanderte von Lasseurs Arm zum Axtstiel, »und wenn wir gefasst werden, dann werden wir tatsächlich aufgehängt.«

»Er soll wissen, dass ich ihn umbringe, wenn er noch einmal in ihre Nähe kommt.«

»Das weiß er«, sagte Hawkwood. »Glaub mir, das weiß er.«

Langsam lockerte Lasseur seinen Griff und ließ es zu, dass Hawkwood ihm die Axt abnahm.

»Geh nach Hause, Seth«, sagte die Frau. Ihr Gesicht war noch immer hochrot. »Geh jetzt, solange du es noch kannst.«

Lasseur trat zurück, seine Augen waren noch immer dunkel vor Wut. Etwas unsicher stand der Mann auf. Mit einem letzten wütenden Blick drehte er sich um und stolperte auf den Wald zu, die Hand auf dem blutenden Gesicht. Erst als er zwischen den Bäumen verschwunden war, steckte Hawkwood die Axt wieder in den Hackklotz.

Lasseur hob den Besen auf und lehnte ihn an die Wand. »Eine stark unterschätzte Waffe, so ein Besen, besonders in den Händen eines Experten.« Er sah Hawkwood an, dann wandte er sich an die Frau. »Sind Sie verletzt, Madame?«

Sie starrte noch immer auf den Waldrand, dann fröstelte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht verletzt.«

»Aber Sie frieren. Hier, nehmen Sie meine Jacke.«

Lasseur zog seine Jacke aus und sie protestierte nicht, als er sie um ihre Schultern legte. Plötzlich sah sie sich besorgt um. »Rab?«

»Der ist hier«, sagte Lasseur, als der Hund schwanzwedelnd auf sie zukam.

Sie fuhr dem Hund liebevoll durchs Fell, ihr Gesicht war erleichtert.

»Kommen Sie jetzt«, sagte Lasseur behutsam.

Sie zögerte nur kurz, dann hüllte sie sich in die Jacke, zog die zerrissene Bluse über der Brust zusammen und schickte sich an, ins Haus zu gehen.

Hawkwood und Lasseur gingen neben ihr. Der Hund folgte ihnen. Als sie an die Tür kamen, schnappte sie kurz nach Luft, als sähe sie erst jetzt die Unordnung. Der Fußboden war schmutzig und von Trümmern übersät; Scherben von Tongeschirr lagen zwischen zertretenen Zweigen und Blättern. Von den Deckenbalken hingen Pflanzen und Kräuterbündel. Der Raum sah mehr wie eine Apotheke aus als eine Küche.

Sie holte tief Luft, sammelte sich und sagte: »Verzeihen Sie, Captain Lasseur. Ich habe Ihnen noch nicht für Ihr Eingreifen gedankt, und auch Ihnen danke ich, Captain Hooper.«

»Keine Ursache, Madame«, sagte Lasseur mit einer kleinen Verbeugung.

»Ich möchte nicht, dass Sie mich für undankbar halten.«

Die Rötung, die ihr Gesicht noch von der Ohrfeige hatte, ging langsam zurück.

»Nichts lag uns ferner«, sagte Lasseur. »Sie sind in Sicherheit, und das ist das Wichtigste.«

Sie nickte. »Trotzdem war es nachlässig von mir. Sie haben Ihr Leben riskiert.«

»Sie haben ihn beim Namen genannt«, sagte Lasseur. »Kennen Sie ihn?«

Sie antwortete nicht sofort. Schließlich sagte sie: »Er ist der Mann meiner Schwester.«

Lasseur zögerte, diese Antwort hatte er nicht erwartet. »Ist das schon einmal passiert?«

Sie zog seine Jacke fester um sich und schüttelte den Kopf. »Nein.«

Es entstand eine peinliche Pause.

»Wir sollten Ihnen Gelegenheit geben, sich zu erholen«, sagte Lasseur sanft. »Es sei denn, wir können etwas für Sie tun …?«

Etwas mühevoll richtete sie sich auf. »Vielen Dank, nein. Sie waren sehr freundlich.«

»Es war nichts, Madame. Jeder hätte dasselbe getan.«

Sie sah ihn an. »Es war nicht Nichts, Captain. Und nein, nicht jeder würde es tun.«

Sie drehte sich um und ging ins Haus, dann rief sie den Hund und schloss die Tür hinter sich.

Die Männer standen auf der Schwelle. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu gehen.

Als sie zur Scheune zurückgingen, sagte Lasseur: »Ich hätte ihn wahrscheinlich umgebracht, wenn du mir nicht die Axt abgenommen hättest.«

»Das glaube ich auch«, sagte Hawkwood.

Lasseur schüttelte den Kopf. »Aber du hattest Recht. Es wäre Wahnsinn gewesen.«

»Ja, das wäre es.«

»Selbst wenn er jetzt jemandem erzählen könnte, dass er uns hier gesehen hat?«

»Glaubst du das? Er hat versucht, eine Frau zu vergewaltigen. Ich würde sagen, er hat genauso viel zu verbergen wie wir.«

»Er könnte es als einen Weg sehen, sich an ihr zu rächen, weil sie ihn abgewiesen hat, und an uns, weil wir eingeschritten sind.«

»Das ist möglich«, sagte Hawkwood. »Aber mit dem zerkratzten Gesicht wird er es bestimmt vorziehen, erst mal eine Weile in Deckung zu gehen, und bis dahin sind wir wahrscheinlich schon wieder unterwegs.«

»Trotzdem sollten wir die Augen offen halten«, sagte Lasseur.

»Stimmt«, sagte Hawkwood, »das kann nicht schaden.«

Sie kamen in die Scheune.

»Ah«, sagte Lasseur, »es ist doch schön, wieder zu Hause zu sein.«


Als es dämmerte, tauchte der Hund wieder auf. Schwanzwedelnd ging er zuerst zu Lasseur, dann zu Hawkwood. Es war das erste Mal, dass das Tier sich in seiner Nähe wohlzufühlen schien. Hawkwood fühlte sich fast geschmeichelt.

Der Hund war nicht allein gekommen. Ein Schatten fiel aufs Stroh, und die Männer erhoben sich. Sie hatte sich umgezogen und wirkte wesentlich ruhiger als am Nachmittag, als sie ins Haus gegangen war. Ihre widerspenstige Haarsträhne jedoch hatte sie immer noch nicht unter Kontrolle. Sie trug in einer Hand einen Korb, in der anderen ein Kleiderbündel. Sie stellte den Korb hin.

»Ihre Jacke, Captain«, sagte sie und hielt ihm das säuberlich gefaltete Kleidungsstück hin. Ein Zucken lief über ihre Wange. »Ich hatte bemerkt, dass ein Riss im Ärmel war und habe ihn repariert. Ich will zwar nicht behaupten, dass ich eine gute Näherin bin, aber ich glaube, es ist besser als vorher.«

Lasseur nahm die Jacke. »Das war sehr liebenswürdig, Madame. Vielen Dank.«

Sie nickte. »Na ja, das war das Mindeste, was ich tun konnte.« Sie strich die Haarsträhne hinters Ohr.

»Haben Sie sich etwas erholt?«, fragte Lasseur leise.

»Ja, danke.« Verlegen strich sie ihren Rock glatt und zeigte auf den Korb. »Ich bringe Ihnen auch Ihr Abendessen. Da ist Brot und etwas Wurst, und hier ist noch eine Stachelbeertorte. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.«

Sie wandte sich zum Gehen, dann zögerte sie. »Ich habe Ihnen auch dies mitgebracht. Ich dachte, dass Sie und Captain Hooper es vielleicht benutzen möchten … das heißt, wenn Sie es nicht für anmaßend von mir halten.« Sie griff in eine Kleidertasche und nahm einen Gegenstand heraus, der in ein kleines Handtuch gewickelt war. Sie gab ihn Lasseur und trat zurück. Lasseur wickelte ihn aus. Sein Gesicht strahlte vor Freude. Er hielt das Rasiermesser hoch und fuhr mit der Hand über seine dunklen Bartstoppeln. »Vielen Dank, Madame. Wir werden ausgezeichneten Gebrauch davon machen!« Er zeigte es Hawkwood und zog lakonisch eine Augenbraue hoch, was die Frau aber nicht sah.

»Es gehörte meinem verstorbenen Mann. Ich hatte ganz vergessen, dass es noch da war. Haben Sie die Seife noch?«

»Entschuldigung«, sagte Lasseur. »Die wollte ich Ihnen ja zurückgeben.«

»Das ist nicht nötig. Bitte, behalten Sie sie.«

»Vielen Dank.«

Sie nickte, zögerte wieder und dann, als hätte sie einen Entschluss gefasst, sagte sie: »Seth Tyler … der Mann, der vorhin hier war …« Sie holte tief Luft. »Seit mein Mann tot ist, hat er mir … seine Gefühle für mich … zu erkennen gegeben. Ich habe ihm aber niemals, trotz allem, was er behauptete, Grund zu der Annahme gegeben, dass ich für seine Annäherungsversuche empfänglich bin …«

Ihr Hals hatte sich zart gerötet.

Sie strich sich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und deshalb wollte ich Ihnen sagen - ich heiße Jess. Mein Mann hieß Jack - Jack Flynn. Ich bin seit drei Jahren Witwe. Ich habe, seit mein Mann tot ist, die Farm allein bestellt, und wie Sie vielleicht bemerkt haben, bin ich keine Besuche gewohnt. So, jetzt ist es raus.«

Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt.

»Wir freuen uns, Sie kennenzulernen, Jess Flynn«, sagte Lasseur.

Ihr Unterkiefer wirkte angespannt. »Danke, Captain. Ich hoffe, Sie sind mit dem Abendessen zufrieden. Im Krug ist auch Wein, ich glaube, es ist französischer.« Sie öffnete die verkrampften Hände und drehte sich abrupt um. »Komm, Rab!«

Den Hund an der Seite, wollte sie ins Haus gehen.

»Madame Flynn?«, rief Lasseur.

Sie blieb stehen, dann drehte sie sich um. »Captain?«

»Wenn dieser Mann, Seth, zurückkommen sollte, was dann?«

Hawkwood wusste, worauf Lasseur hinauswollte. Die Frau wusste es auch. Beim nächsten Mal wäre vielleicht niemand da, um zu helfen. An ihrem Hals pulsierte ein Nerv.

»Er wird nicht zurückkommen.«

»Er hat Captain Lasseur sprechen hören«, sagte Hawkwood. »Er weiß jetzt, wer wir sind. Er könnte uns verraten.«

»Das wird er auch nicht machen.«

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Wenn er nüchtern ist, wird er wissen, dass ich Beschützer habe. Er weiß, was beim nächsten Mal mit ihm passiert.«

Hawkwood erinnerte sich an ihre Drohung, das Gewehr zu nehmen.

»Sie meinen, weil Sie bewaffnet wären?«

»Das auch.«

Die Antwort stand im Raum. Sie wollte gehen.

Lasseur starrte ihr nach. Sie war bereits an der Tür, als er sich besann.

»Da wäre noch etwas, Madame. Mir ist vorhin aufgefallen, dass es auf der Farm verschiedene Dinge gibt, die ausgebessert werden müssten. Captain Hooper und ich möchten Ihnen unsere Dienste anbieten, als Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wenn Sie das nötige Werkzeug haben, könnten wir uns nützlich machen, es würde uns auch die Zeit verkürzen. Das heißt, wenn Sie den Vorschlag … annehmen würden.«

Sie blieb stehen und sah ihn überrascht an. »Danke, Captain, das ist ein sehr großzügiges Angebot. Aber wie ich schon sagte, ich habe einen Mann, der mir hilft …«

»Na ja … also, da wir den noch nicht gesehen haben, haben wir gedacht, vielleicht …« Lasseur verstummte.

Sie hob den Kopf. »Sie dachten, ich hätte ihn nur erfunden, um Sie einzuschüchtern?« Ihre Stimme klang scharf.

»Ja, an diese Möglichkeit hatten wir tatsächlich gedacht.«

»Aha. Nun, ich versichere Ihnen, Thomas existiert wirklich. Obwohl seine Besuche … manchmal etwas … unregelmäßig sind.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Ah …«, sagte Lasseur und nickte.

»Allerdings …« Sie hielt seinem Blick stand.

Lasseur wartete.

»Ich erwarte ihn morgen. Er kann Ihnen zeigen, wo alles ist. Ich glaube, er wird sich über Ihre Hilfe freuen.« Ein letztes Nicken, und sie wandte sich um. »Er hat mich schon oft daran erinnert, dass er nicht mehr der Jüngste ist.«

Die beiden Männer sahen hinter ihr her. Hawkwood sah Lasseurs Gesichtsausdruck und hoffte inständig, dass sein Freund sich nicht lächerlich machen würde.

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