16

»Und das ist Leutnant Gilles Denard«, sagte Rousseau und seine Augen zwinkerten nervös hinter der Nickelbrille.

Denard, ein sympathischer Mann mit Halbglatze, der etwa Ende dreißig sein mochte, streckte die Hand über den Tisch aus. »Es ist mir eine Ehre, Captain.«

»Ebenfalls«, sagte Lasseur. »Darf ich Ihnen Captain Matthew Hooper vorstellen, einer unserer amerikanischen Verbündeten. Übrigens spricht er ausgezeichnet Französisch.«

Denard schüttelte Hawkwood die Hand. »Willkommen, Captain. Ich liebe Ihr Land sehr. Ich bin schon ein paarmal mit dem Schiff in Boston gewesen. Kennen Sie die Stadt? Es gibt ganz wunderbare Gasthäuser dort. Eines meiner liebsten war in der Washington Street. The Lion, das einem Colonel Doty gehörte, ja, ich glaube, so hieß er. Kennen Sie es?«

»Ich glaube, Sie meinen The Lamb«, sagte Hawkwood. »The Lion ist weiter nördlich.«

Denard runzelte die Stirn, dann lachte er. »Tatsächlich, ich glaube, Sie haben Recht! Na ja, es ist auch schon etwas her seit meinem letzten Besuch.«

»Gilles hat unter Surcouf gedient«, sagte Rousseau.

»Wann wurden Sie gefangen genommen?«, fragte Lasseur.

Denard spitzte die Lippen. »Juni 08. Ich war in Cadiz, dann wurde ich auf die Prudent gebracht, die vor Portsmouth liegt. Da war ich ein Jahr, ehe ich schließlich auf der Poseidon landete. Dort habe ich Rousseau hier kennengelernt.«

Bis auf die Poseidon sagten andere Schiffsnamen Hawkwood nichts. Er wusste, dass es eine Poseidon gab, weil sie einer der Hulks in der Medway vor Chatham war, von denen Ludd gesprochen hatte, als er in der Bow Street seinen Auftrag entgegennahm.

Sie saßen im Refektorium, das auf der anderen Seite des Klostergartens lag, gegenüber der Seite, wo sich Hawkwoods und Lasseurs Zelle befand. Der Raum war lang und rechteckig und hatte eine niedrige Decke mit schwarzen Balken. Zwei schwere Eichentische, ein langer und ein kurzer, bildeten ein T, das in der Mitte stand und sich fast über den gesamten Raum erstreckte. Auf den Tischen stand das Frühstück: frisch gebackenes Brot, Schinken, Bratwürste, Eier und Kaffee. Morgan hatte mit der Verpflegung nicht gegeizt.

»Sind Sie beide zusammen geflüchtet?«, fragte Lasseur, indem er nach der Kanne griff und sich einen Becher Kaffee einschenkte. Die Kanne in der Hand, sah er Hawkwood fragend an. Dieser nickte und Lasseur füllte auch seinen Becher wieder.

Rousseau nickte. »Wir haben uns mustergültig benommen, bis wir Hafterleichterung bekamen. Dann machten wir eines Tages einen Spaziergang und kamen nicht wieder. Und Sie?«

»Wir sind gestorben«, sagte Lasseur grinsend. Dann erklärte er.

»Mein Gott!« Denard sah ihn sprachlos an.

Hawkwood nahm einen Schluck Kaffee. Er war stark und hatte einen bitteren Nachgeschmack. Es erinnerte ihn an das Gebräu, mit dem er sich oft am Lagerfeuer hatte begnügen müssen.

Rousseau stellte nacheinander die anderen Männer am Tisch vor. Insgesamt waren es acht.

»Leutnants Souville und Le Jeune von der Bristol. Leberte kommt von der Buckingham. Louis Beaudouin dort drüben hat es geschafft, von der Brunswick zu flüchten, und Masson und Bonnefoux dort am Ende sind Ihnen vielleicht dem Namen nach bekannt. Sie sind von Ihrem Schiff, der Rapacious.« Rousseau lachte leise. »Ich möchte nicht in der Haut dieses Commanders stecken bei den vielen Gefangenen, die dem weggelaufen sind.«

»Captain Hellard lässt Sie auch herzlich grüßen«, sagte Lasseur. »Er lässt Ihnen sagen, dass er Sie sehr vermisst und dass Sie bitte bald zurückkommen möchten.«

Während Lasseur seine Späße machte, nahm Hawkwood einen weiteren Schluck Kaffe und hakte im Geiste die Namen auf der Liste ab, die Ludd ihm gegeben hatte. Zusammen mit den beiden Männern, die auf dem Hulk ermordet und beseitigt worden waren, stimmte die Anzahl. Nun wusste er also über alle geflüchteten Gefangenen Bescheid, damit war wenigstens dieses Rätsel aufgeklärt.

Er fragte sich, ob Masson und Bonnefoux von den beiden Ermordeten wussten. Doch er fand, dass es keinen Sinn hätte, ihnen davon zu erzählen.

»Wie sind Sie vom Schiff gekommen?«, fragte Hawkwood die ehemaligen Gefangenen von der Rapacious.

Es war Masson, ein magerer Mann mit großem Adamsapfel, der antwortete. »Wir versteckten uns in zwei leeren Wasserfässern. Was ist daran so lustig?«, fragte er, verwirrt von Lasseurs amüsiertem Gesichtsausdruck.

Lasseur schüttelte den Kopf.

»Wie haben die anderen Ihr Verschwinden vertuscht?«

»Sie haben wahrscheinlich das Abzählen durcheinandergebracht«, erwiderte Bonnefoux ohne zu zögern. »Wissen Sie das nicht?«

Hawkwood schüttelte den Kopf. »Unser Abschied war … etwas hastig. Wir haben es nie erfahren.«

Bonnefoux grinste. Er hatte bemerkenswert ebenmäßige, weiße Zähne.

Im Laufe der Zeit hatten sie sich Werkzeug beschafft. Mit Bohrern, die bei Arbeitseinsätzen geklaut worden waren und einer Säge, die aus einem Fassreifen gemacht war, schnitten sie runde Löcher mit abgeschrägten Kanten in die Planken zwischen Oberdeck, Geschützdeck und Orlopdeck. Während die Gefangenen beim Hinabsteigen gezählt wurden, stiegen einige von ihnen durch die Löcher wieder nach oben, stellten sich zu den übrigen und wurden nochmals gezählt. Hinterher wurden die Löcher geschlossen, bis zum nächsten Ausbruch.

So verdammt einfach, dachte Hawkwood. Und solange die Gefangenen ihre Nerven behielten und die Wachen den Trick nicht bemerkten, gab es keinen Grund, ihn nicht immer wieder anzuwenden.

Hawkwood nahm an, dass Murat und die anderen seine und Lasseurs Flucht auf die gleiche Art und Weise vertuschen wollten, nachdem sie die beiden Leichen aus den Betten wieder in den Nebenraum gelegt hatten, um auf die nächste Beerdigungsfahrt zu warten. Doch dann überlegte er, dass der Trick nur funktioniert hätte, wenn die Milizionäre ihn und Lasseur eine Weile nicht vermisst hätten, was nicht sehr wahrscheinlich war, weil Hellard ja ihre Verlegung auf die Samson bereits angeordnet hatte. Die schnelle Entdeckung ihrer Flucht hätte es unmöglich gemacht, den Trick mit dem Loch anzuwenden, was vielleicht seine gute Seite hatte, weil die Löcher in den Decks bis jetzt noch nicht entdeckt worden waren - zumindest bis zum nächsten erfolgreichen Ausbruch.

Souville und Le Jeune hatten fast die gleiche Methode benutzt, um von der Bristol zu fliehen. Mit ähnlichem Werkzeug hatten sie ein Loch in die Seite des Schiffs gesägt, dicht über dem Wasserspiegel, aber unter dem Steg, auf dem die Wachen patrouillierten. Sie hatten vier Wochen gebraucht, um ein Stück Holz einzufärben und so zuzuschneiden, dass es über ihre Arbeitsstelle im Schiffsrumpf passte. Dann waren sie bei Dunkelheit durch das Loch geschlüpft und an Land geschwommen, wo einer von Morgans Kontaktleuten auf sie wartete.

»Übrigens«, sagte Rousseau zu Lasseur, »wenn Sie etwas wirklich Komisches hören wollen, dann fragen Sie Louis mal, wie er entwischt ist.«

»Wie sind Sie denn vom Schiff gekommen?«, fragte Lasseur.

Beaudouin grinste. »In einem schicken blauen Häubchen.«

Hawkwood und Lasseur hörten mit Erstaunen, dass die Brunswick für die Bewohner von Chatham eine regelrechte Attraktion geworden war. Für ein paar Münzen und mit dem Einverständnis des Captains ruderten ansässige Fischer die Einheimischen regelmäßig zum Hulk hinüber. Dort wurden sie auf das Quarterdeck geführt, um von dort aus die Gefangenen anzugaffen. Noch erstaunlicher war es, dass viele dieser Besucher Frauen waren, und das hatte Beaudouin auf seine Idee gebracht.

Im verzweifelten Bemühen, die Zeit auf dem Schiff totzuschlagen, waren die Gefangenen auf die Idee gekommen, eine Theatergruppe zu gründen, mit der sie für ihre Mitgefangenen kleine Stücke aufführten, die sie selbst geschrieben hatten. Der Höhepunkt ihrer Darbietung sollte ein romantisches Melodram sein, in dem es um einen Piraten und seine Braut ging.

»Ich spielte die Braut«, erzählte Beaudouin lachend, »weil ich ein so zartes Gesichtchen habe. Natürlich hatte ich damals keinen Schnurrbart«, fügte er ernst hinzu.

Die Theatergruppe hatte ihre Kostüme selbst gemacht. Das Anfertigen der Kostüme für die Frauenrollen jedoch hatte erhebliche Schwierigkeiten aufgeworfen, also hatte man an die weiblichen Bewohner von Chatham appelliert. Die Spenden waren sackweise gekommen. So kam Beaudouin zu seiner Verkleidung, es fehlte nur noch die passende Gelegenheit.

Er wählte den Moment an einem der Besuchertage. Beaudouin hatte sich in der Nähe einer der Luken zum Quarterdeck versteckt, wo er sich unter die Besucher mischte, die gerade das Schiff verlassen wollten. Er raschelte mit seinen Petticoats und hielt sich zierlich ein Taschentuch vor das Gesicht, als sei er ganz überwältigt von dem Geruch und all dem Schrecklichen, das er soeben gesehen hatte. Der schlimmste Moment kam, als er sich der Annäherungsversuche eines Milizionärs erwehren musste, der Beaudouins Bemühen, sein Gesicht zu verstecken, für kokettes Flirten hielt.

»Es hätte mir ja nicht so viel ausgemacht«, sagte Beaudouin lachend, »aber der Kerl war potthässlich.« Er wandte sich an Leberte, einen elegant aussehenden Mann mit gepflegtem Backenbart und einem so dramatischen Schnurrbart, dass Beaudouins Bemühungen dagegen schwach aussahen.

»Pierre, warum erzählst du uns nicht, wie du es geschafft hast?«

Die anderen grinsten.

Lebertes Flucht von der Buckingham war aus mehreren Gründen spektakulär gewesen. Sie war ihm gelungen, weil er die Kontrollgänge der Milizionäre auf der Gangway draußen genau beobachtet hatte. Er hatte die Zeit gestoppt, die ein Wachsoldat brauchte, um die gesamte Länge des Eisenstegs zurückzugehen, wobei er nicht sehen konnte, was hinter ihm geschah. Als Nächstes hatte er »aus Versehen« ein Kohlblatt über Bord fallen lassen, um zu sehen, wie lange es brauchte, um im Wasser zu landen. Dann wartete er auf den höchsten Stand der Flut, und als die Wache den Rückweg auf dem Steg angetreten hatte, machte er den Hechtsprung in die Freiheit. Es war am Spätnachmittag, und Lebertes Sprung über Bord war für alle völlig überraschend gekommen, auch für seine Kameraden. Bis die Milizionäre sich von ihrem Schrecken erholt und beschlossen hatten, was zu tun sei, war Leberte unter dem Schiffsrumpf schon zum Bug geschwommen, wo er mit Hilfe eines Schnorchels unter Wasser blieb. Den Schnorchel hatte er aus dem Röhrenknochen eines Hammels gemacht, den er sich von einem der Köche hatte geben lassen unter dem Vorwand, er wolle sich eine Flöte schnitzen. Er blieb verborgen, bis die Suche nach seiner Leiche flussabwärts in einiger Entfernung vom Schiff fortgesetzt wurde. Als es dunkel wurde, schwamm er an Land und versteckte sich.

»Nun erzähl ihnen auch noch, was das Beste daran war«, grinste Beaudouin.

Es war weder das kalte Wasser gewesen, noch die Tatsache, dass er durch ein enges Röhrchen atmen musste, was Lebertes Entschlusskraft bis zum Äußersten gefordert hatte, sondern die schreckliche Gewissheit, dass sich sein Versteck genau unter der Schiffslatrine befand.

Lasseur hob beschwörend die Hände hoch und sagte schnell: »Danke, danke, mein Freund. Bitte ersparen Sie uns die Einzelheiten.«

Leberte war Leutnant des 93. Régiment d’Infanterie de Ligne und der einzige weitere Seemann unter den Anwesenden. Im Gegensatz zu den Briten hatten die Franzosen keine Navysoldaten. Diese Funktion wurde von regulären Infanterieeinheiten übernommen, die unter der Schirmherrschaft des Ministère de la Navy operierten. Leberte hatte eine Einheit auf einer Fregatte befehligt, als er bei einem Gefecht vor Ushant gefangen genommen wurde.

Ehe er im Haunt angekommen war, war er zwei Wochen lang auf der Flucht gewesen, hatte sich in Hecken und Dickicht versteckt und sich von dem ernährt, was er auf Feldern und in Obstgärten fand, bis er schließlich in eine Scheune gekrochen war, wo man ihn entdeckt hatte. Leberte, völlig erschöpft, hatte sich der Gnade des Bauern anheimgegeben. Aus Angst, dass bei einer Durchsuchung seines Grundstücks die zwei Dutzend Fässer mit Branntwein und die drei Ballen Tabak in seinem Keller ans Licht kommen würden, war der Bauer nicht zur Polizei, sondern zu Ezekiel Morgan gelaufen, der getreu seinem Ruf als Geschäftsmann Leberte ausrichten ließ, dass seine sichere Rückkehr nach Frankreich einzig und allein vom Fahrgeld abhing.

Zum Glück war die Familie seiner Frau wohlhabend. Die Transaktion wurde über Fectors Bank in Dover abgewickelt, und Hawkwood zweifelte nicht daran, dass Morgans tüchtiger Steuerberater auch dabei die Hand im Spiel gehabt hatte.

Es war ein Glücksfall für Leberte, dachte Hawkwood, dass er imstande gewesen war, die Überfahrt nach Frankreich zu bezahlen. Er fragte sich, welches Schicksal den Leutnant erwartet hätte, wenn er es nicht gekonnt hätte.

Leberte zuckte philosophisch die Schultern, als Hawkwood ihm diese Frage stellte. »Dann hätte ich den Weg wohl irgendwie selbst finden müssen, nicht wahr?«, sagte er.

Die anderen sieben waren verschieden lange hier. Rousseau und Denard waren schon am längsten da, fast fünf Wochen, was mit Ludds Angaben übereinstimmte, wie Hawkwood ausrechnete. Alle hatten bei Bauern in der Gegend Unterschlupf gefunden, jedoch waren Hawkwood und Lasseur die Einzigen, die bei Jess Flynn gewesen waren.

Während Hawkwood den Erzählungen der Männer zuhörte, wurde ihm langsam klar, wie groß der Aktionsradius von Morgan war. Mit Ausnahme von Leberte, der auf eigene Initiative gehandelt hatte, war der Weg in die Freiheit für alle anderen von einem Gefangenenkomitee und Morgans Informanten organisiert worden.

Rousseau und Denard, die den Vorteil hatten, bereits an Land zu sein, waren nach einem direkten Gespräch mit dem Wirt ihres Gasthauses geflohen - ein weiterer Beweis dafür, wie weit Morgans Einfluss reichte.

»Warum hat man Sie nicht an die Küste gebracht?«, fragte Hawkwood. Dabei sah er Lasseur an.

»Zu gefährlich.« Die Antwort kam von Denard. »Die Briten haben ihre Küstenwache verstärkt. Wir warten auf den richtigen Moment.« Er zuckte die Schultern. »Zumindest war das die Erklärung, die man uns bis vor zwei Tagen gab.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Hawkwood.

Denard sah die anderen Männer an, dann wandte er sich wieder an Hawkwood. »Uns wurde gesagt, unsere Schiffspassage nach Frankreich sei endlich geregelt und dass es sich jetzt nur noch um ein paar Tage handelt, dass man uns aber erst noch wegen irgendeiner Sache um Hilfe bitten wollte. Als wir unseren Freund Morgan fragten, welche Art von Hilfe, lachte er nur und sagte, dass er etwas im Ärmel habe, wovon uns die Augen übergehen würden.«

»Aber er sagte nicht, was es ist?«

Denard schüttelte den Kopf. »Aber trotzdem, es könnte alles viel schlimmer sein. Hier haben wir wenigstens eine Unterkunft und unser Essen, und es geht uns doch ganz gut. Besser als auf diesen verfluchten Schiffen, das könnt ihr doch nicht abstreiten.«

»Aber wir sind noch nicht zu Hause«, sagte Souville. »Wir haben die Warterei satt. Wir haben alle unsere Überfahrt bezahlt und wollen jetzt einfach nur nach Hause.«

Alle nickten zustimmend.

»Wie ist es mit Ihnen und Captain Lasseur?«, fragte Rousseau.

»Wir vermuten, dass man uns den gleichen Vorschlag machen wird«, sagte Hawkwood.

»Und Sie wissen auch nicht, worum es sich handelt?«

In dem Moment ging die Tür auf und Morgan und Pepper traten ein. Leberte sagte leise: »Sieht aus, als ob wir’s gleich erfahren werden.«

Die Männer sahen erwartungsvoll, wie Ezekiel Morgan zum Kopf des Tisches ging und sich im Raum umsah, Pepper an seiner Seite.

Morgan sprach Französisch. »Guten Morgen, meine Herren.« Er sah Hawkwood an. »Ich nehme an, Sie haben keine Einwände, Captain Hooper? Ich weiß, Sie sprechen Französisch, während einige Ihrer Mitreisenden kein Englisch können. Es macht die Sache einfacher für uns alle.«

Morgans Französisch war sehr gut; Hawkwood nahm an, er hatte es durch seine jahrelangen Geschäftsbeziehungen auf der anderen Seite des Kanals gelernt. Pepper, dessen Blick ebenfalls im Raum umherschweifte, wirkte äußerst ruhig. Hawkwood nahm an, dass sein Französisch ebenfalls perfekt war.

»Danke, Captain.« Morgan überflog die Gesichter der Männer am Tisch. »Also, meine Herren, zur Sache. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, von Ihren Lieben getrennt zu sein, und obwohl Sie alle viel Geduld hatten, haben Sie sich bestimmt gefragt, was es mit dieser Verzögerung auf sich hat. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich denke, es ist Zeit, dass ich Ihnen eine Erklärung liefere, nicht wahr?«

Morgan wandte sich an Pepper und streckte die Hand aus. Pepper griff in seine Jacke und zog einen kleinen Beutel heraus. Er gab ihn Morgan.

»Danke, Cephus.«

Morgan wog den Beutel in der Hand. Sie hörten das unverwechselbare Klingen von Münzen. Morgan löste die Schnur, drehte den Beutel um und ließ den Inhalt herausfallen.

Ein kleiner Goldregen ergoss sich über die Tischplatte.

Morgan warf den Beutel zur Seite. Die überraschten Männer reckten die Hälse.

Die Münzen waren klein, etwas weniger als einen Zoll im Durchmesser. Diejenigen, die das Gesicht nach oben hatten, trugen ein Porträt, das einen römischen Kaiser darzustellen schien, mit wallendem Haar und Lorbeerkranz. Das Mondgesicht und die schweren Wangen jedoch waren nicht die eines Römers. Die Inschrift um den Kopf lautete - GEORGIVS III DEI GRATIA - und der spatenförmige Schild auf der anderen Seite bestätigten die Identität. Hawkwood wusste sofort, was er hier vor sich hatte. Er sagte aber nichts, denn er nahm an, dass die anderen am Tisch es auch wussten.

»Meine Herren«, sagte Morgan, »ich möchte Ihnen von den Guinea Boats erzählen.«

Lasseur hob abrupt den Kopf.

Morgan hatte es bemerkt. »Sie kennen den Ausdruck, Captain Lasseur?«

Lasseur nickte. »Ich habe mal eins gesehen.« Er nahm eine der Münzen in die Hand und sah sie aufmerksam an. »Es war vor Grand Fort-Philippe. Eine Galeere, sie lag tief im Wasser und fuhr sehr schnell.«

»Warum erzählen Sie Ihren Landsleuten und Captain Hooper nicht, wofür sie gebraucht werden«, sagte Morgan.

Lasseur drehte die Münze in der Hand. »Sie haben diesen Namen, weil Schmuggler damit englische Guineen über den Ärmelkanal nach Frankreich bringen.«

Masson zog die Brauen zusammen. »Wozu brauchen wir Franzosen englische Guineen?«

»Es sind nicht die Guineen«, sagte Lasseur und legte die Münze wieder auf den Tisch. »Es geht um das Gold.«

Massons Stirn blieb finster.

»Der Kaiser braucht es, um unsere Truppen zu bezahlen«, sagte Lasseur.

Im Raum war es totenstill.

Schließlich sagte Denard: »Unsere Truppen?«

Lasseur nickte.

Hawkwood sagte: »Wollen Sie damit sagen, dass die Briten englische Guineen über den Kanal schmuggeln, damit Bonaparte seine Armee bezahlen kann?«

»Ich sagte Ihnen ja, es geht hier allein um das Gold. Nur dass es eben zufällig in der Form von Guineen ist.«

»Und sie bezahlen die Leute mit Guineen

»Manchmal schon, glaube ich. Sonst werden sie auch eingeschmolzen, und es werden neue Münzen geprägt.«

Beaudouin sah Leberte an. »Bist du schon mal mit Guineen bezahlt worden, Pierre?«

»Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal bezahlt worden bin«, sagte Leberte. Sehnsüchtig starrte er die Münzen an.

»Und Sie, Captain Hooper?«

Hawkwood schüttelte den Kopf.

Denard starrte Morgan an. Auf seinem Gesicht spiegelten sich die Fragen wider, die offenbar durch seinen Kopf rasten.

Morgan nickte. »Es ist die volle Wahrheit, meine Herren, ich versichere es Ihnen. Und es passiert schon jahrelang. Es gehört alles zum Geschäft.«

»Es macht doch keinen Sinn«, sagte Souville, der ebenfalls verwirrt aussah. »Warum sollten die Engländer so was machen? Sie müssten doch wissen, dass sie damit nur den Krieg verlängern, wodurch noch mehr von ihren Leuten umkommen.« Er starrte Morgan an. »Hassen Sie Ihr Land wirklich so sehr?«

Morgan zuckte wegwerfend die Schultern. »Ich bewerte es nicht nach diesen Kriterien, Leutnant. Es ist nichts Persönliches, sondern eine reine Geschäftssache.«

Souville schüttelte verwundert den Kopf. »Dann ist das ein sehr merkwürdiges Geschäft.«

Die erste Geschäftsregel, dachte Hawkwood. War es denn etwa merkwürdiger, als feindlichen Soldaten zur Flucht in die Heimat zu verhelfen, so dass sie wieder anfangen konnten zu kämpfen?

Morgan bedachte Souville mit einem fast mitleidigen Lächeln. »Ich kann verstehen, dass Sie das so sehen. Es wäre interessant, Ihrem Kaiser dieselbe Frage zu stellen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Bonnefoux widerwillig.

»Denken Sie denn, es sind nur Schmuggler, die solche Sachen machen, mein Freund?«

Ehe Bonnefoux etwas erwidern konnte, sagte Morgan mit mitleidigem Lächeln: »Falls Sie das denken sollten, dann haben Sie sich geirrt.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Bonnefoux skeptisch.

Morgan beugte sich vor und sah Bonnefoux durchdringend an. »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass zur selben Zeit, als Sie auf diesem stinkenden Hulk eingesperrt waren, und während Ihre Kameraden tot im Feld lagen oder von Kanonen zerfetzt wurden, englische und französische Händler weiter ihre Geschäfte gemacht und Geld verdient haben, und alles mit Einverständnis und dem Segen ihrer beiden Regierungen?«

Bonnefoux starrte ihn verständnislos an, genau wie alle anderen am Tisch.

»Und ich rede nicht von Leuten wie mir, Leutnant. Ich spreche nicht von Schmugglern. Ich meine ganz respektable Geschäftsleute.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, unterbrach Le Jeune ihn.

Morgan stellte sich aufrecht hin und ließ den Blick über die versammelten Männer schweifen. »Eine Frage: Abgesehen davon, dass Sie versuchen, den Feind auf dem Schlachtfeld zu besiegen, was ist Ihrer Meinung nach die sicherste Methode, den Feind in die Knie zu zwingen?«

»Ihre Handelswege anzugreifen.« Lasseurs Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Richtig! Sie haben’s erfasst, Captain. Und Sie sollten’s ja auch wissen, nicht wahr?« Morgan hob die Hand und ballte die Faust. »Es ist, wie wenn man eine Festung belagert und gleichzeitig ihren Brunnen vergiftet. Wenn man das tut, quetscht man den Feind aus wie eine Zitrone. Noch schlimmer, man verhindert, dass er Geld verdient. Bonaparte weiß, dass unsere Stärke die Königliche Navy ist. Er weiß auch, dass sie mit den Gewinnen aus unserem Überseehandel unterhalten wird. Deshalb hat er Frankreichs Alliierten verboten, mit uns Handel zu treiben. Das war sein Plan, wie er uns in die Knie zwingen wollte. Nur haben wir leider bei Trafalgar den größten Teil seiner Navy ausgeschaltet. Wir haben auch verhindert, dass er in Kopenhagen Kontrolle über die dänische Flotte bekam, und deshalb musste er sich auf Privateers wie Captain Lasseur verlassen. Das hat auch eine Weile funktioniert, Ihre Kaperschiffe waren verdammt erfolgreich. Aber dann entschloss sich unsere Regierung, das Feuer mit Feuer zu beantworten und ordnete an, alle neutralen Schiffe, die auf dem Weg nach Frankreich waren, in britische Häfen zu zwingen. Das Ergebnis war, dass beide Seiten darunter litten, denn beide Länder haben noch immer Männer auf See und auf dem Schlachtfeld, und ihr Unterhalt ist teuer. Soldaten brauchen Musketen, und Musketen brauchen Kugeln, und die Navy braucht Schiffe und Kanonen. Also was tun?«

Morgan lächelte raffiniert. »Also, kommen Sie, meine Herren. Wir befinden uns zwar im Krieg miteinander, aber das muss doch nicht heißen, dass wir uns nicht wie zivilisierte Menschen benehmen können. Sie hatten doch nicht wirklich geglaubt, dass tausend Jahre Handelsbeziehungen zum Stillstand kommen, nur weil unsere Generäle sich in den Haaren liegen, oder? Natürlich nicht; und deshalb vergeben unsere Regierungen als eine Geste der Kooperation Lizenzen an einige unserer Geschäftsleute, damit sie mit Ihren Geschäftsleuten weiter Handel treiben können, obwohl wir uns im Krieg befinden. Das wird bereits seit drei Jahren so praktiziert. Sie schicken uns Getreide und Brandy und gute Weine, und wir schicken Ihnen dafür Wolle, Baumwolle und Zinn. Und während Ihre Kameraden gekämpft haben und gefallen sind, haben britische und französische Geschäftsleute sich dumm und dämlich verdient - und das alles vollkommen legal.«

Im Raum war es still geworden. Das Frühstück lag vergessen und unberührt da.

Morgan breitete die Hände aus. »Also, fragen Sie sich: Wer ist hier der eigentliche Übeltäter? Wenigstens streite ich nicht ab, wer ich bin und was ich mache. Übrigens operieren wir Schmuggler ebenfalls mit Bonapartes Segen. Warum? Weil er uns braucht, weil er, genau wie unsere Händler, für seine Handelswaren so viele Absatzmärkte haben will wie möglich. Und darum können unsere Schiffe problemlos französische Häfen anlaufen. Er weiß, dass Schmuggler die Kontakte und Kunden haben, von denen legitime Händler nur träumen können.«

»Und Gold ist der Schlüssel zu allem?«, fragte Hawkwood.

Morgan drehte sich um und deutete mit dem Finger auf ihn. »Ganz genau, Captain Hooper. Gold allein ist der Schlüssel. Es ist weder Brandy noch Baumwolle, was die Welt am Laufen hält, sondern Gold. Der Wert der Goldreserven entscheidet, wie reich ein Land ist. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber’97 gab es einen großen Run auf unsere Banken. Die Regierung hatte eine solche Angst, das Gold könnte uns ausgehen, dass sie sämtliche Exporte verbot. Sie verbot auch der Bank von England, es auszugeben. Sie nannten es hochtrabend den ›Bank Restrictions Act‹. Diese verdammten Idioten dachten tatsächlich, sie könnten sich auf Papiergeld verlassen.« Morgan schüttelte den Kopf. »Aber wir alle wissen, wie viel das im Krieg wert ist, nicht wahr? Und wenn man eine Armee und eine Navy zu finanzieren hat, sind das schlechte Vorzeichen.

Also fingen die britischen Händler an, ihre Rechnungen mit Gold zu bezahlen. Aber sie konnten englisches Gold nicht exportieren, deshalb kauften sie fremdes. Und als das langsam zur Neige ging, griffen sie auf unsere Reserven zurück, und das ließ die Preise hochschießen, und das hat dann alles verändert.«

Morgan erwärmte sich für sein Thema, während Hawkwoods Gesichtsausdruck immer interessierter wurde.

»Sehen Sie, es dauerte gar nicht lange, bis irgend so ein heller Kopf darauf kam, dass man, wenn man in London mit britischem Geld Gold kauft und es dann auf dem Kontinent, wo Gold einen besseren Preis erzielt, für britisches Geld wieder verkauft, gut daran verdienen kann. Und als wir erfuhren, dass Bonaparte Gold brauchte, um seine Armeen zu bezahlen, konnten wir unser Glück kaum fassen. Mithilfe unserer Kontakte in London fingen wir an, ihm britische Guineen zu schicken. Wen kümmert es, dass sie an den Feind gehen, solange wir daran verdienen?

Und für uns Schmuggler ist das doppelt gut, denn solange wir ihn mit Guineen versorgen, hält Bonaparte seine Häfen für uns offen, und wir können ihm zu noch mehr Geld verhelfen, indem wir ihm seinen Brandy, seine Seide und alle möglichen anderen Luxuswaren abkaufen. Und so sind alle zufrieden.« Morgans Gesicht verdüsterte sich. »Oder zumindest waren wir es so lange, bis der verfluchte Zoll dazwischenkam und uns alles aus dem Ruder lief.«

In seiner Wut hatte Morgan seine Zuhörer vergessen und den letzten Satz auf Englisch gesagt.

»Ruder?«, sagte Lasseur, verwirrt von dem plötzlichen Wechsel in die andere Sprache.

»Haben uns doch unsere verdammten Schiffe genommen, oder etwa nicht?«

Morgan hielt inne und bemerkte seinen Irrtum. Er machte eine entschuldigende Handbewegung und sprach auf Französisch weiter. »Anordnung der Regierung, alle Galeeren im Südosten aufzubringen und zu zerstören. Dover, Folkstone, Sandgate, Hythe - es gibt kaum eine Stadt, die nicht betroffen ist. Allein in Deal wurden fast zwanzig Schiffe beschlagnahmt. Damit ist diese Stadt schon zum zweiten Mal mit voller Wucht getroffen worden. Ich war’84 dabei, als Pitt seine Truppen dort hinschickte. Er wollte den Bewohnern eine Lektion erteilen, wegen ihrer Beteiligung am Schmuggel. Setzten die gesamte Flotte in Brand. Alle Schiffe - in einer Nacht verbrannt.«

Morgan schüttelte verächtlich den Kopf. »Und dann wundern sie sich, wenn die Bewohner von Deal zur Rebellion neigen. Sie würden auch rebellieren, wenn Sie Ihre Lebensgrundlage in Flammen aufgehen sähen. Mein Gott, und’08 war die Regierung froh, die Hilfe von Deal anzunehmen, als es darum ging, die dänische Flotte nach England zurückzubringen, und ihre Galeeren in Walcheren zu benutzen, und sie haben auch nichts dagegen, wenn wir ihnen weitergeben, was wir über Boneys Umtriebe erfahren. Aber wenn so ein armes Arschloch von Fischer oder Fußsoldat versucht, seine Familie zu ernähren, indem er ein paar Fässer an Land schleppt, dann ist das natürlich was ganz anderes. Und glauben Sie, dass auch nur ein Mensch jemals an eine Entschädigung denkt, wenn einem Mann das Boot weggenommen oder verbrannt wird? Einen Teufel werden die tun!«

Morgan sammelte die Münzen wieder ein und tat sie zurück in den Beutel. Trotz seines offensichtlichen Ärgers waren seine Bewegungen langsam und kontrolliert.

Nachdem die letzte Münze verschwunden war, sah er auf und seufzte. Als er weiter sprach, war seine Stimme ruhig. »Ich sagte Ihnen vorhin, es sei nichts Persönliches, sondern nur ein Geschäft. Nun, das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn die beschlagnahmten Galeeren gehörten mir. Ich arbeite mit ihnen, weil sie unabhängig vom Wind sind. Sie sind schnell und manövrierfähig und man braucht keine große Mannschaft. Ein gutes Team kann den Kanal in zwei Stunden überqueren. Aber ohne Galeeren ist das Risiko, mit einem Goldtransport abgefangen zu werden, wesentlich größer. Und wenn ich nicht liefere, macht Bonaparte seine Häfen dicht, und damit entgeht mir das Geschäft. Ich habe Kunden, die von mir abhängen. Ich habe Verpflichtungen, Investoren, die es nicht gut aufnehmen würden, wenn ich sie im Stich ließe. Mein Ruf steht auf dem Spiel. Und das macht die Sache auch persönlich.« Morgan unterbrach sich, dann sagte er: »Und darum sind Sie hier, meine Herren. Der Teufel soll die Bastarde von der Regierung holen; mit Ihrer Hilfe werde ich denen eine Lektion erteilen, die sie nie vergessen werden.«

»Wie?«, fragte Lasseur.

»Ich werde es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen. Sie haben mir etwas weggenommen, also werde ich ihnen auch etwas wegnehmen. Die glauben, sie haben die Goldtransporte gestoppt. Ich werde sie eines anderen belehren. Ich werde dafür sorgen, dass Bonaparte sein Gold bekommt.«

»Hawkwood sagte: »Und wie wollen Sie das machen?«

»Ich werde es stehlen.«

»Von der Regierung?«

»Nicht direkt.«

»Von wem dann?«

Morgan lachte. »Von Wellington.«

»Lord Wellington?«, fragte Hawkwood vorsichtig.

Morgan warf Pepper den Beutel mit den Münzen zu, der ihn geschickt mit einer Hand auffing. »Kennen Sie noch einen anderen?«

Hawkwood ignorierte die Gegenfrage. »Das Letzte, was ich hörte, war, dass Wellington noch in Spanien ist. Wie wollen Sie denn sein Gold stehlen?«

»Nun, genaugenommen gehört es der Armee, denn damit sollen ja Old Noseys Truppen bezahlt werden.«

»Sie wollen, dass wir Ihnen helfen, der britischen Armee Gold zu stehlen?« Rousseau zwinkerte hinter seinen Brillengläsern.

Hawkwood warf einen schnellen Blick über die Gesichter rings am Tisch. Alle waren gleichermaßen fassungslos.

Nach einer längeren Pause fragte Souville endlich: »Wie viel Gold?«

Morgan legte die Handflächen auf den Tisch und beugte sich vor. »Im Werte von fünfhunderttausend Pfund.«

Beaudouin, dessen Augen weit aufgerissen waren, brach als Erster das Schweigen. »Wie viel ist das in Francs?«

»Ungefähr zwölf Millionen«, sagte Rousseau, der sich zurücklehnte und seine Brille mit einem Hemdzipfel putzte.

»Allmächtiger!«, entfuhr es Leberte.

Morgan sah sich im Raum um. »Darf ich davon ausgehen, dass ich Ihr Interesse geweckt habe, meine Herren?«

Das kannst du wohl sagen, dachte Hawkwood, dem fast schwindelig war.

»Dieses Gold«, sagte Lasseur vorsichtig, »wo ist es denn jetzt?«

»Es ist weniger wichtig, wo es im Moment ist. Worauf es ankommt, ist, wo es in vier Tagen sein wird.«

»Und wo ist das?«

»In Deal.«

»In Deal?« Lasseur sah Morgan ungläubig an.

»Das ist schon seit Jahren der Umschlagplatz für Gold.« Morgan lächelte spöttisch. »Sie müssen zugeben, es entbehrt nicht einer gewissen Ironie.«

»Und wo in Deal?« Le Jeune klang misstrauisch.

»Dort gibt’s eine Festung«, sagte Lasseur und sah Morgan an, damit der es bestätigte.

»Ja, die gibt es dort, aber dort wird das Gold nicht gelagert, Captain. Das ist ja das Schöne an der Sache.«

Lasseur runzelte zweifelnd die Stirn. »Wo dann?«

»In der Residenz der Admiralität.«

»Warum in aller Welt sollten sie es denn dort lagern?«

»Weil sie dort alles Gold lagern, das durch die Stadt fließt. Ehe die Regierung das Haus kaufte, gehörte es einem Bankier. Es gibt noch immer einen Tresorraum dort, und alles Hartgeld sowie die Goldbarren liegen dort. Entweder es kommt mit dem Schiff, um unter Bewachung nach London transportiert zu werden, oder es kommt von einer Londoner Bank, um ins Ausland geschickt zu werden, meist geht es nach Spanien, um dort die Truppen zu bezahlen.«

»Und wie wollen Sie an das Gold kommen? Wollen Sie anklopfen und bitten, dass man es Ihnen aushändigt?« Lasseur sah äußerst skeptisch aus.

»Ich hatte mir etwas vorgestellt, was sie vielleicht schneller überzeugen würde.«

Hawkwood stellte fest, dass bisher noch keiner die wichtigste Frage gestellt hatte. Es sah aus, als müsse er es tun.

»Warum wir? Was ist mit Ihrer eigenen Mannschaft? Sie sagten mir heute Morgen, wenn es etwas gäbe, woran es Ihnen nicht mangele, dann seien es Arbeitskräfte.«

Morgan nickte. »Das ist richtig, Captain, und es entspricht auch der Wahrheit. Aber es kann nie schaden, Extrakräfte zu rekrutieren, besonders Männer, die gezeigt haben, dass sie sich vor einer Herausforderung nicht fürchten und die gewillt sind, etwas zu riskieren, um ihr Ziel zu erreichen. Diesen Anforderungen entsprechen Sie alle. Sie haben auf den Gefängnisschiffen die Hölle erlebt, und trotzdem haben Sie sich durch Ihre Gefangennahme nicht unterkriegen lassen. Sie sind durch Scharfsinn entkommen und sind noch am Leben. Das zeigt mir, dass Sie über den nötigen Charakter verfügen. Sie sind alle erfahrene Seeleute und Soldaten. Das bedeutet, dass Sie Disziplin gewohnt sind und im Team arbeiten können. Doch noch wichtiger, Sie haben keinerlei Treuepflicht gegenüber König George, deshalb bezweifle ich, dass Sie unsere Absicht verraten werden. Um es kurz zu machen, meine Herren, mein Angebot ist wie folgt: Ich biete Ihnen die Gelegenheit, sich an dem Land zu rächen, das Sie schlimmer behandelt hat als Ratten im Käfig. Man sagt, Rache sei süß. Was sagen Sie? Wollen Sie davon kosten?«

Morgans Augen blitzten. »Denken Sie an den Ruhm. Statt mit eingekniffenem Schwanz als Kriegsgefangene nach Hause zu kommen, kommen Sie als freie Bürger, mit Reichtümern beladen. Bei Gott, meine Herren, man wird Sie wie Helden willkommen heißen! Wenn Ihr Kaiser hört, was Sie für ihn getan haben, haben Sie für immer ausgesorgt!«

»Und Sie machen das, weil man Ihre Boote beschlagnahmt hat?«, sagte Lasseur, wobei er Morgan fest ansah.

»Ich tue es aus zwei Gründen, Captain. Der erste ist, dass ich ihnen heimzahlen will, was sie mir und den Einwohnern von Deal weggenommen haben. Der zweite ist - nun, wie ich vermute, würde mir Ihr Kaiser für zwölf Millionen Francs so manchen Gefallen tun. Er wird seine Häfen offen halten und ich werde weiterhin meine Geschäfte machen, mit etwas Glück kann ich neue Galeeren bauen. Das Letzte, was ich brauchen kann, ist, dass der Nachschub zum Erliegen kommt. Ich will meiner Konkurrenz keine Tür öffnen.«

»Ich dachte, Sie hätten keine Konkurrenz«, sagte Hawkwood.

Morgan sah ihn scharf an. »Es gibt überall einen Platzhirsch. Im Moment bin ich das, und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt. Sehen Sie es als Speziallieferung an. Eine Geste meines guten Willens.«

»Sie erwähnten eine Begleitung«, sagte Hawkwood.

»Das ist nichts, womit wir nicht fertig werden«, sagte Morgan zuversichtlich.

»Vielleicht sollten Sie uns erlauben, darüber zu urteilen«, sagte Lasseur trocken.

Morgan sah Pepper an.

Der schien endlich aufzuwachen. »Eine kleine Einheit von Navysoldaten.«

»Ist das alles?«, sagte Lasseur. »Sie hatten mir einen Moment Angst gemacht, ich dachte, es würde schwierig sein.«

»Wie klein?«, fragte Hawkwood.

»Sollen nicht mehr als dreißig Mann sein. Aber die werden kein Problem sein.«

»Warum nicht?«

»Weil sie nicht dauernd auf das Gold aufpassen werden.«

»Wie meinen Sie das?«

Morgan antwortete. »Weil es in der Admiralität keine Möglichkeit gibt, Truppen unterzubringen. Sie ist zu klein, und außerdem ist es ein Wohnhaus. Wenn das Gold erst im Tresor ist, werden die Wachen auf der Festung stationiert sein.«

»Ich dachte, in Deal gibt es eine Kaserne«, sagte Lasseur.

»In der Stadt sind auch Truppen stationiert?«, fragte Le Jeune dazwischen.

»Die haben mehr symbolische Bedeutung. Gewöhnlich waren es zwei Kompanien aus Freiwilligen, aber die sind aufgelöst worden. Die Pläne für eine Miliz sind nie in die Wirklichkeit umgesetzt worden, weil die Stadtbewohner sich dagegen wehrten. Die Kaserne wird meist als Unterkunft für durchreisende Truppen benutzt. Und sie liegt sowieso fast näher bei Walmer als bei Deal. Auf der Festung ist eine Kompanie Bombardiere für die Kanonen. Davon abgesehen …«

»Kanonen?«, unterbrach Hawkwood. »Sagten Sie Kanonen?«

»Neun Sechsunddreißigpfünder, aber die sind alle aufs Meer gerichtet. Die erwarten keinen Überfall vom Land her.«

»Also keine weiteren Truppen?«

»Außer denen auf der Festung sind die nächsten dann zwei Meilen weiter im Norden. Auf der Straße nach Sandwich liegt noch ein Küstenbataillon, aber das ist keine Bedrohung. Die werden wir schon beschäftigen.«

»Und was ist mit den Truppen auf der Festung?«, fragte Le Jeune.

»Auch die werden beschäftigt sein, genau wie die Navy. Ich plane ein Ablenkungsmanöver, damit sie ausgeschaltet sind.«

»Und wie wollen Sie fortkommen?«, fragte Hawkwood.

»Vor der Küste wird ein Schiff liegen, das uns über den Kanal bringt.«

»Direkt unter der Nase dieser Bombardiere mit ihren Sechsunddreißigpfündern«, gab Hawkwood zu bedenken.

Morgan schüttelte den Kopf. »Die werden genug mit ihrer Rückseite zu tun haben, und selbst wenn sie das nicht täten, würden sie uns nicht sehen.«

»Warum nicht?«

»Weil wir den Überfall bei Nacht machen werden. In der Dunkelheit werden wir nicht zu sehen sein. Es wird auch leichter sein, ein großes Durcheinander zu veranstalten, und wir können die Flut nutzen.«

»Wie ist es mit dem Gewicht?«, fragte Lasseur.

»Mehr oder weniger vier Tonnen. Zwei stabile Wagen mit besonderer Verstärkung werden ausreichen.«

»Es wird aber immer noch ganz schön zu tragen geben.« Lasseur spitzte die Lippen, als er darüber nachdachte, was das bedeutete.

»Wir müssen nicht weit gehen. Von der Tür der Admiralität bis zum Strand sind es keine vierhundert Yards. Es ist ein gerader Weg ohne Hindernisse. Und selbst wenn wir nur die Hälfte von dem verdammten Zeug mitnehmen, werden wir einen schönen Gewinn machen.«

»Wie wollen Sie in den Tresor kommen?«, fragte Hawkwood.

»Das ist auch kein Problem.«

Doch mehr als das sagte Morgan zu diesem Thema nicht. Er wollte offenbar zu diesem Zeitpunkt nicht zu viel verraten.

Er hat den Haken meisterhaft geködert, dachte Hawkwood. Er sah auf die vor Eifer geröteten Gesichter der Männer. Morgan hatte ihnen geschmeichelt, und es hatte gewirkt.

Rousseau nahm seine Brille ab. Seine Augen blitzten spitzbübisch. »Und unsere Kommission, wie viel hatten Sie sich da vorgestellt?« Er hielt Morgans Blick stand. »Denn Sie werden dem Kaiser das Gold ja nicht schenken, nicht wahr? Auch wenn Sie nicht direkt dafür bezahlt haben, werden Sie es ihm aber verkaufen, genau wie die anderen Waren, die Sie liefern.«

Alles sah zum oberen Ende des Tisches.

Morgan lächelte. »Ich hatte schon darauf gewartet, wann diese Frage kommen würde.«

Die Männer am Tisch setzten sich gerade hin, als ihnen klar wurde, was Morgans Bemerkung bedeutete.

Rousseau hauchte seine Brillengläser an, putzte sie mit dem Ärmel und setzte die Brille wieder auf.

»Was ist denn so der übliche Verdienst bei einem Guineentransport?«, fragte Masson. Er wollte die Frage so nonchalant wie möglich klingen lassen, was ihm aber gründlich missglückte.

Morgan sah Pepper an, aber das Gesicht seines Leutnants blieb so nichtssagend wie immer. Morgan sah Masson an. »Zehn Prozent.«

»Wenn das so ist«, sagte Rousseau, »wollen wir nicht unverschämt sein. Warum sagen wir nicht fünfzehn Prozent vom Reinerlös?«

»Es ist alles Reinerlös«, sagte Masson, »überleg doch mal.«

»Das klingt gut«, sagte Le Jeune und sah Morgan spekulierend an.

Hawkwood versuchte, es im Kopf auszurechnen. Fünfzehn Prozent von zwölf Millionen Francs - oder eher vierzehn, wenn Morgan seinen gewöhnlich sehr günstigen Umtauschkurs durchsetzte - waren ein Vermögen, egal, ob in Francs oder Sterling.

Morgan starrte Pepper an. Wieder sagte Pepper nichts, aber diesmal tauschten die beiden einen Blick, den beide verstanden.

Morgan nickte langsam. »In Ordnung; also fünfzehn.«

Ein breites Grinsen erschien auf allen Gesichtern.

»Also, meine Herren, dann wären wir uns ja einig. Und nun, kann ich auf Sie zählen?«

Hawkwood sah in die Runde. Unter den Männern war nicht einer, der nicht aussah wie eine Katze, der man einen Teller Sahne vorgesetzt hatte, bis auf Pepper natürlich. Gab es nichts, was Bewegung in dieses graubärtige Gesicht bringen konnte?

Le Jeune war der Erste, der antwortete. Er nickte lachend. »Mein Gott, ich bin dabei!«

»Ich auch!«, sagte Bonnefoux eifrig. »Wenn ich mich damit an den Mistkerlen rächen kann!«

Morgans Blick wanderte durch den Raum. »Was ist mit den anderen von Ihnen?«

»Verdammt, Sie haben Recht, wir machen auch mit!« Masson schlug Souville auf die Schulter. »Das lassen wir uns nicht entgehen, was, Jungs?«

Hawkwood überlegte, warum Morgan sich die Mühe machte, überhaupt zu fragen, denn die Gier auf den Gesichtern der Männer hätte eigentlich genügen müssen, um zu wissen, dass er sie völlig in der Hand hatte. Jeglicher Ärger über die Verzögerung der Heimreise war in dem Augenblick vergessen gewesen, als die Goldmünzen über den Tisch gerollt waren. Hawkwood sah Lasseur an. Der Privateer hob fragend eine Augenbraue.

»Captain Lasseur«, sagte Morgan liebenswürdig, »wir haben noch nichts von Ihnen gehört.«

Lasseur brach den Blickkontakt mit Hawkwood ab und wandte sich ihm zu. »Sie haben Ihre Pläne gut dargelegt, mein Freund. Ich bin fast überzeugt.« Der Privateer lächelte. Es war das erste Mal, seit sie die Witwe verlassen hatten, dass er einen Funken Humor zeigte. »Aber für eine Kommission von zwanzig Prozent wären auch meine letzten Zweifel ausgeräumt.«

Pepper drehte ruckartig den Kopf.

Morgan starrte Lasseur an. Sein Gesicht war undurchdringlich.

Die Welt drehte sich langsamer.

Dann nickte Morgan. »Einverstanden.« Er wandte sich an Hawkwood. »Sieht aus, als seien Sie der Einzige, der noch übrig ist, Captain Hooper. Sind Sie dabei oder nicht?«

Das ist doch vollkommen irrsinnig, dachte Hawkwood. Dies ging weiter als alles, was Ludd oder James Read sich je hätten vorstellen können. Er sah Lasseur an. Der Privateer kniff ein Auge zu.

Oh Gott, dachte Hawkwood.

In seinem Kopf drehte es sich, als er Morgan ansah und grinste.

»Das kann ich mir nicht entgehen lassen. Ich bin auch dabei.«

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