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Der schwarze Schiffsbug stand vor dem bleigrauen Himmel und erhob sich vor den Männern im Großboot gleich einer der gigantischen Felsklippen, wie man sie auf den Hebriden findet.

Die Männer schwiegen, ganz mit ihren Gedanken beschäftigt und eingeschüchtert von dem bedrohlichen Anblick dieses Schiffes. Nur ab und zu wurde die Stille unterbrochen vom dumpfen Klirren der Fußfesseln, dem Knarren der Riemen und dem Plätschern der Wellen, die gegen die Seite des Bootes schwappten, das durch das kalte, graue Wasser gerudert wurde.

Jemand schluchzte, und einige der Männer bekreuzigten sich. Andere beugten den Kopf und begannen flüsternd zu beten. Sie waren fünfzehn Männer im Boot, dazu die Ruderer und die beiden Soldaten der Navy, die sie bewachten. Bis auf wenige Ausnahmen waren ihre Kleider abgerissen, ihre Gesichter blass, unrasiert und von Angst gezeichnet; Angst nicht nur vor dem hoffnungslosen Anblick, den das Schiff bot, sondern auch von dem Gestank, der von ihm ausging.

Dieser Gestank wurde von einem leichten Ostwind über den Fluss getragen, und sie hatten ihn schon wahrgenommen, ehe sie ins Großboot gestiegen waren. Zuerst hatten die Männer kaum darauf geachtet, weil sie dachten, der Geruch ginge von ihren eigenen ungewaschenen Körpern aus, aber langsam begann es ihnen zu dämmern. Seit das Boot von der Kaimauer abgestoßen hatte, waren sie wie gelähmt bei dem Gedanken an das Schicksal, das ihnen bevorstand. Wie um das wachsende Grauen ihrer Passagiere noch zu verstärken, tauschten die Wachen vielsagende Blicke aus und zogen sich ihre Halstücher über Mund und Nase.

Das Boot näherte sich dem Heck des Schiffes. Hoch oben, unter den Heckfenstern, sah man ein Namensschild, das einst in Goldprägung gestrahlt haben mochte, jetzt aber unwiederbringlich blind geworden war und das Schiff als die Rapacious auswies.

Aus der Nähe wirkte das Schiff noch furchteinflößender. Der dunkle Rumpf sah eher wie ein riesiger, rauchgeschwärzter Sarkophag aus, nichts erinnerte an das ehemals stolze Schiff der Navy. Es hatte keinen Besanmast mehr, und Großmast sowie Fockmast waren auf ein Drittel ihrer früheren Länge gekürzt worden, so dass nur noch die unteren Rahe vorhanden waren. Zwischen ihnen war von vorn nach achtern ein Gewirr aus Wäscheleinen gespannt, an denen etwas flatterte, das man auf die Entfernung für Signalflaggen hätte halten können, was sich aber bei näherem Hinsehen als eine Ansammlung zerfetzter Strümpfe, Hemden und Hosen entpuppte. Durch ihr Alter sowie vom ständigen Tragen und Waschen hatten sämtliche Kleidungsstücke ein einheitliches Grau angenommen, wobei die meisten von ihnen ohnehin überwiegend aus mehr Löchern als Stoff bestanden.

Dies waren nicht die einzigen Veränderungen, die man an dem einst so stolzen Schiff vorgenommen hatte. Das Bugspriet war entfernt worden, und wo einst das Hüttendeck war, stand jetzt lediglich ein kleiner rußgeschwärzter Ziegelbau mit schrägem Dach und einem Schornstein, aus dem Rauch aufstieg. Ein ähnliches Gebäude zierte die Back. Ihr Aussehen ließ darauf schließen, dass schon viele Jahre vergangen waren, seit die Rapacious zum letzten Mal den Kanonendonner einer Seeschlacht gehört hatte. Das bestätigte auch das Fehlen jeglicher Geschütze; an den Geschützöffnungen waren die Kanonenmündungen durch feste Eisengitter ersetzt worden.

Durch das Kürzen der Masten und die fehlenden Kanonen war das Schiff wesentlich leichter geworden, wodurch es viel höher im Wasser lag, als es für ein Schiff dieser Größe üblich war. Auf Höhe des Orlopdecks, das normalerweise unterhalb des Wasserspiegels gelegen hätte, zog sich ein Laufsteg aus Metallgittern außen am Schiffsrumpf entlang, von dem mehrere Holztreppen zu einer kleinen Plattform führten, die, ähnlich einer Kanzel, sich neben der Lücke in der Reling befand, durch die man an Bord gelangte.

Das Schiff war mit dicken Ketten an Bug und Heck im Flussbett verankert. Hinter ihr, in Linie achteraus und jeweils eine Kabellänge voneinander entfernt, lagen noch vier weitere Schiffe in ähnlich desolatem Zustand mitten im Fluss, ihre stumpfen Bugs flussabwärts gerichtet.

Rings umher lag eine verwirrende Vielfalt weiterer Schiffe vor Anker: Briggs und Kutter, auch Fregatten und Glattdeck-Schlupps, Schiffe mit gelbem oder schwarz glänzendem Bug, mit Masten, die hoch und stolz aufragten und von denen statt armseliger Wäsche bunte Wimpel flatterten. Englands ganzer Stolz, und bereit, in den Krieg zu ziehen.

Verglichen mit diesen Schiffen und getrennt vom Rest der Flotte sahen die Rapacious und ihre Schwesterschiffe aus, als habe man sie abgeschrieben und dem Verfall preisgegeben; wie die Opfer einer furchtbaren, tödlichen Krankheit.

Mittschiffs im Großboot saß ein Mann, der die Klagen seiner Gefährten ignorierte, er betrachtete das Schiff eher mit Interesse als mit Furcht. Auf der linken Seite seines Gesichts zeichneten sich zwei Narben ab. Die erste lief am Bogen des Jochbeins entlang, etwa einen Zoll unter dem linken Auge. Die zweite Narbe, weniger frisch, zog sich einen Zoll unterhalb der ersten dahin. Sein langes Haar war dunkel bis auf einige graue Strähnen an der Schläfe. Seine Jacke und die Hose waren abgetragen und von unbestimmter Farbe, jedoch in besserem Zustand als die Kleider einiger der Männer, die sich um ihn drängten, und die man eher als Fetzen hätte bezeichnen müssen. Und während die meisten seiner Gefährten entweder barfuß waren oder nur sehr dürftiges Schuhwerk trugen, steckten seine Füße in festen, wenn auch stark abgewetzten Militärstiefeln.

»Ich würde gern wissen, was Sie denken, mein Freund.«

Der Mann hatte Französisch gesprochen. Er saß zur Rechten des dunkelhaarigen Mannes und wirkte fast aristokratisch in seiner dunkelgrauen Jacke und den schmutzigen weißen Kniehosen.

Matthew Hawkwood antwortete nicht, sondern starrte weiter über das Wasser auf den schwarzen Schiffsrumpf.

»Ich habe gehört, sie sei in Kopenhagen dabei gewesen«, fuhr der Sprecher leise fort. »Sie war eine Vierundsiebziger. Die Idee hatten sie von uns, sie stockten ihre Siebziger auf. Jetzt ist das auch für sie zum Standard geworden. Man kann’s den Bastarden ja nicht verdenken. Das sind gute Schiffe mit guter Feuerkraft, was gibt es an ihnen auszusetzen?«

Der Sprecher, der Lasseur hieß, grinste plötzlich, ganz im Gegensatz zu den übrigen ernsten Gesichtern, die sie umgaben. Sein sauber getrimmter Spitzbart und das Grinsen verliehen seinem Gesicht einen verwegenen Ausdruck.

Das Grinsen erstarb jedoch, als man von jenseits des Bugs jämmerliche Schreie hörte.

Vor ihnen lag im Schatten des verwahrlosten Schiffsrumpfes ein weiteres Großboot an dem Floß vertäut, von dem man auf das Schiff gelangte. Ein paar Männer waren bereits ausgestiegen. Auf dem Steg zusammengedrängt, schickten sie sich gerade an, unter den strengen Blicken der bewaffneten Wachen die Stufen hinaufzusteigen. Einige der Männer hatten Schwierigkeiten beim Gehen. Zwei von ihnen krochen auf allen vieren auf dem Metallgitter entlang. Sie kamen nur langsam vorwärts. Schließlich erbarmten sich ihre Gefährten und halfen ihnen auf, um sie dann, die Arme um ihre eigenen Schultern gelegt, mit hinaufzuzerren.

Auf dem ersten Großboot waren einige Männer zurückgeblieben. Ihrer Körperhaltung nach zu urteilen würde keiner von ihnen aus eigener Kraft auf das Schiff gelangen können. Ihre verzweifelten Hilferufe hallten über das Wasser. Die beiden Bewacher sahen nach oben zur Schiffsreling, als warteten sie auf einen Befehl, unterdessen versetzten sie den hilflosen Männern im Boot immer wieder Stöße mit den Kolben und Mündungen ihrer Musketen.

Lasseur verzog grimmig das Gesicht.

Seine wütende Reaktion sprang auf die Männer über, die um ihn saßen und leise murrten.

»Ruhe!« Der Befehl kam von einem der Navysoldaten, der die Gefangenen streng ansah und mit seiner Muskete herumfuchtelte, auf die ein Bajonett aufgepflanzt war. »Oder ich steche euch alle ab, so wahr mir Gott helfe!« Und mit mühsam unterdrückter Verachtung fügte er hinzu: »Verdammte Froschfresser!«

An der Schiffsreling war ein Gesicht aufgetaucht. Jemand winkte und gab einen Befehl, den man nicht hören konnte. Einer der Navysoldaten im Boot reagierte mit einem halbherzigen Salut, dann wandte er sich kopfschüttelnd an seinen Kameraden. Die Ruderer hoben die Riemen an und stiegen zusammen mit den beiden Bewachern vom Großboot auf das Floß. Dann drehte sich einer von ihnen um und gab dem Boot mit dem Ruder einen Stoß, während einer der anderen die Leine losmachte, mit der es am Floß vertäut war, und sie ins Wasser gleiten ließ. Das Großboot wurde von der Strömung erfasst und trieb langsam vom Schiffsrumpf fort. Als es in etwa dreißig Yards Entfernung lag, wurde die Leine wieder festgemacht und das Boot samt seiner bedauernswerten Fracht den Gezeiten überlassen.

Von den Männern auf dem Metallsteg hörte man ärgerliches Schimpfen, aber ihre Proteste wurden mit unbarmherzigen Kolbenschlägen der Wachen quittiert. Die Männer zogen sich zurück und begannen, langsam und mühevoll die Treppe hochzusteigen. Mit grimmigem Gesicht sah Hawkwood zu, wie die Männer am Schiffsrumpf nach oben stiegen. Lasseur folgte seinem Blick und sagte leise: »Bei den Spaniern wären wir besser dran gewesen.«

»Diese Mistkerle«, unterbrach sie eine empörte Stimme hinter ihnen. »Das habe ich schon mal erlebt.«

Hawkwood und Lasseur drehten sich um. Der Sprecher war ein magerer Mann, hohlwangig und mit tränenden Augen. Er hatte einen grauen Stoppelbart.

»Ich war letzten Winter in Portsmouth, auf der Vengeance, als ein Gefangenentransport aus Cadiz ankam. Alles in allem ungefähr dreißig Mann. Klapperdürr waren sie, leichenblass, kein Gramm Fleisch auf den Knochen und nicht einer mit’ner heilen Hose. Nur zehn von ihnen schafften’s allein auf die Vengeance. Die anderen waren zu schwach, um aus dem Boot zu steigen. Der Chirurg der Vengeance weigerte sich, sie aufzunehmen. Befahl, sie aufs Krankenschiff zu bringen. Aber der Commander der Pegasus wollte sie nicht ungewaschen an Bord haben. Also befahl der Chirurg der Vengeance, sie ins Wasser zu schmeißen, damit sie sauber würden, und überließ es der Pegasus, hinterher ihre Leichen rauszufischen. Die meisten waren schon tot, ehe das Boot der Pegasus sie überhaupt erreichte.« Der Mann nickte in Richtung des treibenden Bootes. »Sieht ganz so aus, als ob das dort ebenfalls passiert.«

»Mein Gott«, sagte Lasseur und verfiel in nachdenkliches Schweigen, während ihr eigenes Großboot, für das der Platz nun frei geworden war, längsseits gebracht wurde.

Hawkwood betrachtete die Fesseln an seinen Fußgelenken. Wenn man die Männer auf dem treibenden Großboot, die vermutlich ebenfalls Fußfesseln trugen, über Bord werfen sollte, würden sie verloren sein und wie Steine sinken.

Er warf einen Blick auf seine Reisegenossen. Niemand blickte zu ihm herüber. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, dieses Schiff anzustarren. Sie reckten die Hälse, um die riesige hölzerne Festung zu bestaunen, die über ihnen aufragte. Die Beklommenheit, die alle auf dem Großboot ergriffen hatte, war fast greifbar; es war, als hätte eine schwarze Gewitterwolke sich über sie gesenkt. Selbst die Bewacher hinter ihren Gesichtsmasken schienen jetzt etwas weniger selbstsicher.

Immer noch hörte er Weinen. Es kam vom Heck her. Der Junge konnte nicht mehr als zehn oder höchstens zwölf Jahre alt sein. Sein Gesicht war von Tränen überströmt. Er sah auf, trocknete die Augen mit den Handballen und wandte sich ab, wobei seine schmalen Schultern zitterten. Seine Kleider hingen in Fetzen herunter. Er gehörte zu dem Gefangenentransport, zu dem auch Hawkwood und Lasseur gehörten, der an diesem Tag vom Gefängnis in Maidstone abgeholt worden war. Ein Schiffsjunge oder Pulveraffe, vermutete Hawkwood, oder wie immer die französische Version heißen mochte, und zweifellos der jüngste Passagier auf diesem Boot. Es war unwahrscheinlich, dass der Junge allein festgenommen worden war, aber er schien keinen Begleiter zu haben, keinen Schiffskameraden, der ihn trösten konnte. Hawkwood fragte sich, wo der Junge in Gefangenschaft geraten und wie er vom Rest der Besatzung getrennt worden war.

Er hörte den Befehl, die Ruder einzuziehen. Wenige Sekunden später war das Großboot am Floß vertäut und der Transfer begann.

Der Gestank aus den offenen Geschützöffnungen verschlug einem den Atem. Die Flussmündung war zu beiden Seiten von Marschland gesäumt. An warmen Tagen, wenn der Wind über das flache Land strich, war der Geruch hier schon schlimm genug, aber der bestialische Gestank, der aus dem Inneren der Rapacious drang, war weitaus schlimmer als jeder Geruch, der sich von der Marsch herüberwälzte. Es war noch schlimmer als ein Konvoi von Fäkalienkähnen.

Hawkwood schulterte seinen Ranzen. Er war einer der wenigen, die ein Gepäckstück hatten. Die meisten besaßen nur das, was sie am Leibe trugen.

Die Navysoldaten fingen an, die Gefangenen mit den Kolben ihrer Musketen vorwärtszustoßen. »Verflucht noch mal, bewegt eure Ärsche! Ich sag es nicht noch mal! Kein Wunder, dass ihr den verdammten Krieg verliert! Nutzloses Pack!«

Mit klirrenden Fußschellen kletterten die Männer aus dem Boot und auf das Floß.

»Bewegt euch!« Die Bewacher fuhren fort, die Männer mit ihren Musketen den Steg entlangzutreiben. Die Fußfesseln erschwerten jede Bewegung, aber die Wachen machten keine Zugeständnisse. »Ein bisschen dalli! Mann, ihr Kerle stinkt ja zum Himmel!«

Ein endloser Strom von Beleidigungen ergoss sich über die Männer, und während viele von denen, die den Laufsteg entlangschlurften, die groben Worte wohl kaum verstanden, ließen der Ton und die Antreiberei keinen Zweifel daran, was von ihnen erwartet wurde.

Langsam, einer nach dem anderen, stiegen die Männer mit klirrenden Fesseln nach oben auf das Schiff.

»Weitergehen, verdammt noch mal!«

Hawkwood trat von der Treppe auf die Kanzel, Lasseur dicht neben ihm. Hier, wo es eng war, hatte sich ein Stau gebildet. Beide Männer starrten hinunter in den Schiffsrumpf, und Lasseur zuckte unwillkürlich zurück. Dann beugte sich der Franzose vor und brachte seinen Mund dicht an Hawkwoods Ohr. Sein Gesicht war eine Grimasse.

»Willkommen in der Hölle«, sagte er.

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