8

Die Luke war im Fußboden des Munitionslagers.

Auf ein Signal des Korsen hin bückten sich die Männer und fingen an, Bretter zu entfernen. Sie arbeiteten schnell und schweigend, indem sie die Bretter an das Schott lehnten. Es war offensichtlich eine Arbeit, die sie schon oft gemacht hatten.

»Früher gab es hier eine Luke«, sagte Matisse im Plauderton. »Sie wurde verschlossen, als das Schiff zum Gefängnis umgerüstet wurde, aber wir haben sie gefunden und wieder geöffnet. Die alten Pulvermagazine sind direkt unter uns. Die Luke wurde benutzt, um während der Schlacht Kisten mit Munition auf die Geschützdecks zu bringen. Wir wussten, dass sie hier sein musste. Diese Schiffe sind gebaut wie unsere Siebziger, es ist kein sehr großer Unterschied. Wir kennen dieses Schiff hier in- und auswendig und bei Dunkelheit gehört es uns. Eigentlich brauchten wir niemals Licht, denn wir finden uns auch im Dunkeln überall zurecht. Manche von uns haben sowieso keine Wahl.«

Das letzte Brett wurde zur Seite gelegt. Eine steile Treppe kam zum Vorschein. Matisses Männer gingen mit Laternen voran. Die meisten von ihnen hatten auch ihre flach gehämmerten Fassreifen mitgebracht. Hawkwood wusste, dass das eine absichtliche Machtdemonstration war, die ihn und Lasseur einschüchtern sollte. Sie sollten wissen, es gab kein Entrinnen. Sie wurden weder gefesselt noch von jemandem festgehalten, aber Matisse ließ sie auf diese Art und Weise wissen, dass sie sich in seiner Macht befanden. Gefangene innerhalb eines Gefängnisses. Als Hawkwood in den Laderaum trat, kam es ihm nach der Enge des Decks vor, als befinde er sich in einer Kathedrale. Zum ersten Mal seit er das Oberdeck verlassen hatte konnte er aufrecht stehen. Es war ein wunderbares Gefühl. Sie waren tief im Schiffsrumpf. Dicke hölzerne Spanten bogen sich zu beiden Seiten hoch nach oben. Der Kies, der hier als Ballast lag, knirschte unter ihren Sohlen. Matisse bahnte sich seinen Weg zwischen den Balken hindurch wie eine Spinne zwischen den Fäden ihres Netzes.

Vorratsfässer, einschließlich der Wassertonnen, standen im Kies aufgestapelt; die größeren, die mehr Gewicht aushielten, zuunterst. Man hatte Keile daruntergeschoben, damit sie gerade standen.

In diesem Laderaum herrschte ein Durcheinander von starken Gerüchen: von Flüssigkeiten, die aus den Fässern ausgetreten waren, von brackigem Wasser und verdorbenen Nahrungsmitteln, vermischt mit dem Geruch von Tauen und Teer. Es gab noch andere starke Duftnoten, aber der Hauch von Essig und Schwefel, ein Überbleibsel vom letzten Mal, als der Laderaum ausgeräuchert worden war, konnte gegen den Rattengestank nicht viel ausrichten. Bei dem reich gedeckten Tisch, den sie hier vorfanden, hatten sich die Nager stark vermehrt und alle Furcht verloren. Der aufgewirbelte Staub aus ihrem Kot lag in der Luft wie die Sporen einer Pusteblume und drang einem in die Kehle, und bei jeder Bewegung nahm man aus dem Augenwinkel das kurze Aufleuchten eines glatten, seidigen Fells wahr, wenn die Tiere sich vor dem Lichtschein der näher kommenden Laternen davonmachten.

»Oben sind die Ladeluken dicht«, sagte Matisse. »Die nächsten Lieferungen kommen erst morgen früh. Wir sind ganz unter uns.«

Auf sein Signal hin wurden die Laternen an die Balken gehängt. Als das Kerzenlicht heller wurde, griff Matisse in eine Innentasche und zog eine Brille hervor. Sorgfältig setzte er sie auf und machte viel Aufhebens darum, die Bügel hinter den Ohren zu sichern. Sofort war sein Gesicht wie verwandelt, denn die Gläser waren rund und dunkel und passten in der Größe genau in seine Augenhöhlen. Wenn man das blasse Gesicht von vorn sah, hatte es jetzt eine unheimliche und furchterregende Ähnlichkeit mit einem Totenschädel.

»Wenn Sie soweit sind, Dupin!«, sagte Matisse. Er sah Hawkwood an. »Ich muss mich entschuldigen, Captain, aber wir sind mit Pistolen und Degen etwas knapp dran. Wir mussten uns selbst helfen, wie Sie gleich sehen werden.«

Lasseur runzelte die Stirn.

Hawkwood sah auf die flach geklopften Fassreifen der Männer. Ein unbehagliches Gefühl ergriff ihn.

Dupin trat in den Ring.

»Auffangen«, sagte er.

Hawkwood hatte kaum Zeit zu reagieren. Erst beim Auffangen sah er, was es war. Es sah aus wie einer der Stöcke, die neulich beim Fechtunterricht benutzt worden waren, jedoch mit einem Zusatz: das Ende des Stocks war durch ein offenes Rasiermesser verlängert, das mit Schnur dort befestigt war.

»Was soll das denn sein?«, wollte Lasseur wissen.

Matisse legte den Kopf schräg. Die Brillengläser wirkten in seinem Gesicht wie schwarze Löcher. »Was hatten Sie sich denn unter einem ›Gottesurteil‹ vorgestellt, Captain? Einen Boxkampf?«

»Das britische Gesetz verbietet Duelle«, sagte Hawkwood. »Selbst auf Gefängnisschiffen.«

»Das britische Gesetz spielt hier keine Rolle, Captain. Wir haben unsere eigenen Gesetze - Matisses Gesetze.«

Hawkwood sah seine Waffe an. Sie war bemerkenswert leicht und fast so biegsam wie ein Florett. Die sechs Zoll lange Klinge blitzte im Laternenschein.

Matisse grinste. »Etwas primitiv vielleicht, aber in den richtigen Händen kann es sehr wirksam sein. Die Idee ist von Korporal Sarazin dort drüben. Als er auf Cabrera gefangen war, wurden dort Auseinandersetzungen damit entschieden.«

Hawkwood erkannte den Namen. Cabrera war eine winzige Insel, zehn Meilen südlich von Mallorca. Nach allem, was er darüber gehört hatte, schien die Rapacious ein Paradies zu sein. Nach dem Sieg über die Franzosen bei Baylen war es notorisch geworden, als der Comte de l’Etang sein gesamtes Corps von achtzehntausend Mann den Spaniern ausgeliefert hatte. Die höheren Offiziere waren in ihre Heimat abgeschoben worden. Die anderen wurden erst auf die Gefängnisschiffe vor Cadiz gebracht, später auf die Insel. Einige wurden später nach England verlegt. Hawkwood kam der Gedanke, dass die Gefangenen, die die Besatzung der Vengeance im Hafen von Portsmouth im Boot ausgesetzt hatte, vielleicht zu ihnen gehörten.

»Sarazin war auch eine Zeit lang in Millbay. Dort nahm man Zirkelspitzen statt Klingen, aber die fanden wir nicht so wirksam. Davon gibt’s auch nicht viele. Das liegt vermutlich am Geometrie- und Navigationsunterricht, den Ihr Freund Fouchet erteilt.« Der Korse kicherte leise.

Hawkwood starrte erst die Klinge an, dann Matisse. »Und wenn ich nicht kämpfen will?«, fragte er.

»Dann haben Sie Ihren Einsatz verspielt. Der Junge bleibt bei uns. Sein Schicksal liegt in Ihrer Hand, Captain.«

»Und wenn ich gewinne, geben Sie den Jungen dann her?«

»Ich habe es ja gesagt: Wenn das der Fall ist, lasse ich den Jungen frei. Sie haben mein Wort.«

»Wie sind die Regeln?«

»Es gibt keine Regeln«, sagte Matisse.

Einige der Männer lachten.

Lasseur zog die Brauen zusammen. »Wodurch wird der Kampf dann entschieden? Dass einer von beiden blutet?«

»Nein, dass einer von beiden aufhört zu atmen.«

Im Lagerraum wurde es still. Nur das Ächzen der Balken war zu hören.

Aus Lasseurs Gesicht war alles Blut gewichen. »Das ist doch Wahnsinn!«

»Überhaupt nicht, das ist unsere Art, hier für Ordnung zu sorgen. Ordnung muss sein. Das sehen Sie doch ein, nicht wahr? Sie sind Soldaten. Sie verstehen, dass Disziplin notwendig ist. Ohne Disziplin wäre hier das Chaos. Das geht nicht, es würde ja alles in Unordnung bringen.«

»Nein!«, sagte Lasseur. »Das können Sie nicht machen!« Er warf Hawkwood einen verzweifelten Blick zu.

»Oh, doch, das kann ich. Hier unten kann ich alles machen, was ich will.«

Er sah Hawkwood an. Es war eine offene Herausforderung.

In Hawkwoods Kopf meldete sich eine kleine Stimme. Jetzt kannst du noch weg!

»Dann gehen Sie wenigstens mit dem Jungen nach draußen«, sagte Hawkwood. »Das braucht er doch nicht zu sehen.«

Matisse schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, ich denke, es wird ihm sehr guttun. Seine erste Bluttat. Es wird einen Mann aus ihm machen. Wenn Kemel Bey seine Aufgabe erfolgreich löst, dann könnte das auch zum ersten Mal ganz andere Freuden für ihn bedeuten.« Matisse lachte leise in sich hinein und drückte die Schultern des Jungen. »Wie steht’s mit Ihrem Latein, Captain? Sie scheinen ein gebildeter Mann zu sein. Kennen Sie den Ausdruck: Jus primae noctis? Das heißt das Gesetz der ersten Nacht. Auf Französisch nennen wir es Das Recht des Herren. Mein Recht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich darauf freue. Unsere Abendunterhaltung ist in letzter Zeit schrecklich langweilig gewesen. Deshalb freuen wir uns immer über Neuankömmlinge. Das gibt uns die Gelegenheit, neue … Freunde kennenzulernen.«

Hinter Dupin bewegte sich etwas. Die stickige Luft knisterte vor Spannung, als der Mameluck sich aus dem Kreis der Männer löste und in den Lichtschein trat. Er hatte seine Jacke ausgezogen. Sein Oberkörper war nackt. Nur mit seiner Pluderhose bekleidet, stand er still und stumm wie eine Statue, seine Arme hingen locker herunter. Er sah weder nach links noch nach rechts.

Lasseur beugte sich vor und flüsterte nervös: »Bitte, sagen Sie mir, dass Sie mit ihm fertigwerden können.«

Hawkwood betrachtete den Mamelucken. Er fragte sich, was dem Mann durch den Kopf gehen mochte. Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, seine Augen zeigten keinerlei Furcht und auch sonst sah man kein Anzeichen dafür, dass der Mann das Gespräch gehört oder gar verstanden hatte. Hawkwood hatte einmal einen Roboter gesehen, eine wundersame mechanische Erfindung, die ein kleines, perfekt gebautes Männchen in Gestalt eines Türken darstellte. Mittels eines klugen Systems aus Hebeln, Stangen und Schnüren war der Roboter zum Leben erwacht, er verschränkte die Arme und nickte mit dem Kopf, er konnte sogar eine kleine Wasserpfeife rauchen. Kemel Bey sah aus wie eine lebensgroße Version dieses Spielzeugs, eine mechanische Puppe, die auf ihr Kommando wartete.

»Ich hatte auf eine schnellere Antwort gehofft«, murmelte Lasseur. Hawkwood hörte nicht zu. Er sah die Narben auf dem Körper des Mamelucken. Vorhin auf dem Unterdeck waren sie durch die Dunkelheit und die Jacke nicht sichtbar gewesen. Doch jetzt, wo er die Jacke ausgezogen hatte, waren sie im Licht der Laterne gut sichtbar. Sie schienen unsystematisch zu sein. Sie zogen sich über seinen ganzen rechten Arm, vom Handgelenk bis zur Schulter, wie ein Gewirr von Zweigen, die man achtlos auf den Boden wirft. Er hatte weitere Narben auf dem festen, muskulösen Bauch und weiter oben auf der Brust zwischen den Rippen. Die Letzteren waren jedoch alt und zogen sich als helle, leicht wulstige Streifen über die dunkle Haut. Die Narben auf seinen Armen schienen neueren Datums.

Matisses Stimme unterbrach seine Gedanken. »Lassen Sie sich durch die Narben nicht beirren, Captain Hooper. Kemel Bey ist ein ziemlicher Experte mit dem Rasiermesser, aber schließlich hatte er schon viel Übung. Wie viele waren es, Dupin, vier oder fünf?«

»Sechs«, murmelte Dupin. »Sie vergessen den Schweizer.«

»Ah, ja, der Schweizer. Den vergesse ich immer. Na ja, das passiert leicht, es ist ein Volk, das man leicht vergessen kann, genau wie ihr langweiliges kleines Land. Das ist so klein, dass man sich wundern muss, wenn überhaupt jemand weiß, wo es liegt.«

Hawkwood ahnte, dass die frischeren Narben von früheren Rasiermesser-Duellen stammten, die anderen waren wohl Erinnerungsstücke seiner Taten auf dem Schlachtfeld. Was auch ihre Ursache sein mochte, es war klar, dass Kemel Bey seine Erfahrungen mit der Waffe mit Verletzungen und vermutlich auch mit vielen Schmerzen bezahlt hatte. Hawkwood hatte selbst mehr als genug Narben, aber verglichen mit Matisses Vertreter waren es wenige.

Matisse schnippte mit den Fingern. Hawkwood zog die Jacke aus und gab sie Lasseur, der sie mit gemischten Gefühlen entgegennahm. Die Männer traten zurück und zogen Lasseur mit, so dass der Kreis größer wurde. Einige bezogen Stellung zwischen den Spanten des Schiffes, andere setzten sich auf die Tonnen. In der Mitte des Laderaums bildete sich eine kleine Arena.

Hawkwood merkte, wie am unteren Ende seines Rückens Schweißtropfen zusammenliefen. Komisch, dachte, er, dabei war seine Kehle staubtrocken. Er warf Lasseur einen Blick zu. Trotz des schlechten Lichts sah er, dass der Privateer blass war.

Dupin warf dem Mamelucken den anderen Stock zu, an den ebenfalls ein Rasiermesser gebunden war.

»Anfangen«, sagte Matisse.

Der Mameluck griff an.


Hawkwood zog scharf die Luft ein, als das Rasiermesser sich im Bogen seinem Bauch näherte, er schlug mit seinem eigenen Stock gegen die äußere Kante des Stockes herab, den der Mameluck schwang, und atmete aus, als er den Angriff abgewehrt hatte. Holz knallte auf Holz wie ein Pistolenschuss.

Hawkwood hatte den Angriff kommen sehen. Das kaum wahrnehmbare Weiten der Augen, die Anspannung in den Schultern und die fast unmerkliche Gewichtsver lagerung auf das rechte Bein hatten ihm die Absicht des Gegners verraten. Dennoch war die Geschwindigkeit des Mamelucken beeindruckend, ebenso wie seine Kraft. Die Härte des Aufpralls durchlief die Nerven in Hawkwoods Arm vom Handgelenk bis zur Schulter.

Dann drehte sich der Mameluck und mit einem rückwärts gerichteten Hieb wollte er seine Klinge auf den Rücken von Hawkwoods Schwerthand niedersausen lassen. Hawkwood drehte das Handgelenk in Querstellung und spürte den Biss des Rasiermessers, der seine Handknöchel traf.

Schnell trat Hawkwood zurück und fasste den Stock neu, wobei er den Daumen wie bei einem Rapiergriff ausstreckte und Gewicht und Biegsamkeit prüfte. Es war nicht sehr anders als bei einem Florett, mit dem man sich duellierte; etwas dicker vielleicht, aber die Länge war gleich. Der Hauptunterschied war die scharfe Klinge statt der Spitze. Diese Waffe sollte durchtrennen und spalten, nicht stechen. Es gab auch keinen Schutz für die Hand. Das war wohl die Erklärung für die Narben auf der Hand und dem Unterarm des Mamelucken, genau wie der Schnitt auf Hawkwoods Hand, der jetzt anfing zu bluten.

Wieder kam der Mameluck näher, seine schmale Klinge kam von oben und sauste diagonal durch die Luft. Hawkwood brachte seinen Stock in Stellung, um den Hieb abzufangen, diesmal war er auf den Aufprall vorbereitet und steckte ihn weg, dann verlagerte er sein Gewicht und zielte mit einer Rückhand auf die Kehle des Mamelucken. Der drehte sich zur Seite, und Hawkwood spürte den leichten Widerstand, als seine Klinge den Brustkorb des Gegners traf. Man hörte fast, wie die Zuschauer die Luft anhielten.

»Bravo, Captain!«, ertönte Matisses Stimme mit leichtem Spott.

Aber die Bewegung bedeutete, dass Hawkwood jetzt ungeschützt stand. Der Mameluck grunzte, überlegte und attackierte mit einem peitschenartigen Schlag seiner Klinge Hawkwoods linke Seite. Dieser wich zurück, aber es war zu spät. Er spürte keinen Schmerz, jedenfalls nicht gleich. Erst als er sich aufrichtete, spürte er, wie die Haut an der verletzten Stelle spannte. Er hatte keine Zeit, um nach Blut zu sehen, denn schon war der Mameluck wieder da.

Die Bewegungen des Türken wirkten gemächlich, fast lässig. Das dunkle Gesicht verriet keinerlei Gemütsregung, nicht mal ein kleines, befriedigtes Grinsen darüber, dass der andere verletzt war. Auch schien sein Atem nicht beschleunigt, obwohl Stirn, Schultern und Brust vor Schweiß glänzten.

Ein weiterer Hieb, diesmal gegen Hawkwoods freie linke Schulter. Hawkwood drehte sich blitzschnell um, zielte auf die Sehne an der Innenseite des rechten Handgelenks des Mamelucken und schlug zu.

Er merkte, wie sein Absatz im Kies versank und wusste, er hatte sein Ziel meilenweit verfehlt. Zum ersten Mal sah er etwas wie Freude in den Augen seines Gegners. Er versuchte wieder festen Halt unter die Füße zu bekommen und warf sich zur Seite. Die Klinge des Türken kam im hohen Bogen auf ihn zu.

Hätte er bereits wieder fest gestanden und sich angespannt, dann hätte das Rasiermesser des Türken ihn mit voller Wucht getroffen. Aber Hawkwood taumelte noch immer zurück. Die Klinge zog über sein Brustbein und traf Hemd und Haut gleichermaßen. Diesmal spürte er es: ein scharfer, brennender Schmerz lief über seine Brust.

Er hörte jemanden fluchen und dachte, es müsse Lasseur sein. Er stand auf, schwang seinen Stock herum, es war mehr ein wilder Hieb als ein koordinierter Gegenschlag, aber als er merkte, wie das Metall eindrang, wusste er, dass er getroffen hatte.

Hawkwoods Klinge hatte den Mamelucken auf der Rückseite des rechten Unterarmes getroffen und zwei Zoll unterhalb des Ellbogens den Muskel bis auf den Knochen durchtrennt. Der Türke brüllte vor Schmerz auf und drehte sich um. Hawkwood versuchte, zu entkommen, er sah die Gefahr näher kommen und parierte den Gegenschlag mit mehr Glück als Geschick, wobei er auf die Halsschlagader des Türken zielte.

Das hätte die Entscheidung sein können. Wie der Mameluck dem Hieb auswich, würde Hawkwood wohl nie verstehen. Doch aus welchem Grund auch immer, die Klinge verfehlte ihn um Haaresbreite. Im Bruchteil einer Sekunde versuchte Hawkwood noch nachzubessern, aber die Entscheidung war bereits gefallen. Mit der Kraft seines ganzen Körpergewichts traf sein Rasiermesser auf einen der Pfosten und brach durch.

Den umsitzenden Männern stockte der Atem.

Blut tropfte von Arm und Bauch des Mamelucken. Er atmete jetzt schwerer. Seine Mundwinkel hoben sich. Entschlossen hob er die Klinge und griff abermals an.

Doch Hawkwood war bereit. Seine rechte Hand schoss vor und dem Mamelucken flog ein Hagel kleiner Steinchen ins Gesicht. Er riss seine linke Hand hoch, um seine Augen zu schützen. Hawkwood benutzte eine Schwelle im Boden als Stütze und warf sich auf den Gegner, der vorübergehend blind war.

Hawkwoods Schulterwurf hob den Mamelucken in die Luft. Ineinander verkeilt, krachten die beiden Männer durch den Kreis der Zuschauer, die erschreckt auseinanderstoben.

Hawkwoods linke Hand packte den Schwertarm des Mamelucken. Der Türke stieß Hawkwood seine andere Faust in den Magen. Die Luft wich schlagartig aus seiner Lunge. Der Türke umklammerte mit der linken Hand Hawkwoods Hals und fing an zu drücken.

Der Körpergeruch des Mamelucken war überwältigend, eine Mischung aus Moschus, Schweiß und Blut. Hawkwood spürte, wie sein Hals immer enger wurde. Ein roter Nebel erschien vor seinen Augen. Da rammte er dem Türken sein Knie zwischen die Beine und hob die freie Hand. Er hörte ein kurzes Aufstöhnen, merkte, wie der Griff um seinen Hals sich lockerte, bog das Handgelenk des Türken zurück und rammte seinen Kopf mit voller Wucht gegen die ungeschützte Nase des anderen. Der Kopf des Mamelucken flog zurück. Hawkwood trat nach links zur Seite, packte mit der Rechten den Schwertarm des anderen und während er dessen Handgelenk verdrehte, bis es unbeweglich war, ließ er mit der linken Hand los und schlug mit dem Handballen gegen dessen Ellbogengelenk. Es krachte dumpf. Ein Schauer durchzog den Türken. Seine Hand öffnete sich und das Rasiermesser fiel in den Kies. Hawkwood verstärkte den Druck auf den verletzten Arm. Der Mameluck fiel auf die Knie. Er stieß ein lautes Schmerzgeheul aus. Aus seiner gebrochenen Nase lief Blut über sein Kinn. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank er auf das Deck nieder.

Hawkwood richtete sich auf, aber Lasseur schrie ihm eine Warnung zu.

Blitzschnell drehte Hawkwood sich um. Der Mameluck hatte das Rasiermesser aufgehoben. Er hockte auf einem Knie. Sein rechter Arm hing nutzlos herunter. Das Rasiermesser blitzte. Auf seinem Gesicht lag jetzt ein brutaler Ausdruck.

Hawkwoods rechter Fuß schoss vor. Der Absatz traf den Mamelucken am Unterkiefer. Die dunklen Augen rollten unkontrolliert, er brach zusammen und lag still.

Eine schockierte Stille trat ein.

Dupin war der Erste, der hervortrat. Er bückte sich und hob den Kopf des Mamelucken an. Er ließ ihn wieder fallen, starrte Hawkwood an und wandte sich dann an Matisse. »Sein Genick ist gebrochen.«

»Zufrieden?«, fragte Hawkwood kühl.

»Sehr eindrucksvoll«, sagte Matisse leise. »Nicht ganz das Ergebnis, das ich mir vorgestellt hatte. Sie haben meinen Vertreter erledigt, und überzeugend dazu. Wer hätte das gedacht? Sie mögen ein Offizier sein, Captain Hooper, aber eine innere Stimme sagt mir, dass Sie kein Gentleman sind.« Die dunklen Brillengläser blitzten im Laternenschein.

»Ich nehme das als Kompliment«, sagte Hawkwood. Er war plötzlich sehr müde und hatte ein überwältigendes Verlangen nach einem starken Drink.

Lasseur löste sich aus der Reihe der Zuschauer. »Sie haben sich etwas Zeit gelassen, mein Freund. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«

»Da waren Sie nicht der Einzige«, sagte Hawkwood müde und zuckte zusammen. Er wies Lasseurs ausgestreckten Arm zurück und hob das blutgetränkte Hemd an, um seine Verletzungen zu begutachten, wobei er auch seine blutigen Knöchel sah. Der Schnitt in seiner linken Seite war nicht sehr tief, würde aber ein paar Stiche gebrauchen können. Was den Schnitt auf seiner Brust anging, so würde diese Narbe wahrscheinlich schlimmer aussehen, als es tatsächlich war. Noch mehr Kriegswunden, dachte Hawkwood. Er wusste, dass er Glück gehabt hatte. Er sah hinunter auf die Leiche des Mamelucken. Wie leicht hätte es anders ausgehen können.

Lasseur folgte seinem Blick und sein Gesicht verdunkelte sich. Er wandte sich nach dort, wo Matisse stand, den Arm um Lucien Ballards Schulter gelegt. »Es ist vorbei. Ihr Mann hat verloren. Jetzt geben Sie uns den Jungen.«

Matisse sagte: »Es tut mir leid, Captain. Ich verstehe nicht. Warum sollte ich das tun?«

Hawkwood wurde es eiskalt.

Lasseur nickte in Richtung des toten Türken. »Unser Abkommen. Sie sagten, wenn Captain Hooper Ihren Vertreter besiegt, würden Sie uns den Jungen aushändigen.«

»Sie irren sich, Captain. Das habe ich nie gesagt.«

»Was?«, sagte Lasseur. Seine Stimme bebte vor Zorn.

Ein kleines Lächeln umspielte den Mund des Korsen. Seine Hand lag leicht auf Lucien Ballards Nacken. Der Junge starrte auf die Leiche des Mamelucken. Er schien gelähmt vor Entsetzen.

Hawkwood sah in die Runde. Wenn jetzt eine Stecknadel zu Boden gefallen wäre, hätte es wie ein Kanonenschlag gewirkt.

»Die Sache ist die, Captain«, sagte Matisse, »je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass es nicht richtig wäre. Ich habe einen Ruf, den ich mir bewahren muss. Ich kann nicht einfach Neulinge hier herunterkommen lassen und mir sagen lassen, was ich zu tun habe. Wenn ich das zulasse, was hält dann jeden anderen Wurm davon ab, ebenfalls aus dem Gebälk gekrochen zu kommen und meine Autorität infrage zu stellen? Wie sähe es denn aus, wenn ich Ihnen den Jungen aushändigte? Es könnte mir als Schwäche ausgelegt werden. Es würde jeden anderen hier an Bord größenwahnsinnig werden lassen. Wo sollte das hinführen? Und noch wichtiger, was hätte ich davon?«

»Haben Sie schon mal daran gedacht, dass Sie sich damit vielleicht so etwas wie Respekt verschaffen könnten?«, sagte Hawkwood.

»Respekt?« Der Korse lachte dreckig. »Das ist es ja gerade, Captain. Ich will keinen Respekt. Ich will, dass man mich fürchtet. Wer mich fürchtet, der gehorcht mir auch. So entsteht Ordnung aus Chaos. Denken Sie, ich setze wegen eines kleinen Jungen meine Autorität hier aufs Spiel?«

»Wenn Sie gar nicht die Absicht hatten, Ihr Wort zu halten, was sollte das dann?«, fragte Lasseur und zeigte wütend auf den toten Türken.

Der Korse zuckte die Schultern. »Wir müssen alle Opfer bringen. Aber wer sagt denn, dass ich mein Wort nicht halte? Ich nicht, Captain. Sie haben lediglich die Bedingungen nicht richtig verstanden. Ich habe nie gesagt, dass ich Ihnen den Jungen aushändige. Was ich sagte, war, dass ich ihn freigebe.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Lasseur. »Wo ist denn der Unterschied?«

Matisse nahm das Gesicht des Jungen in seine Hände. Liebevoll streichelte er die glatte Wange, dann drehte er mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf zur Seite. Es krachte leise und Lucien Ballards Körper wurde schlaff. Matisse zuckte wegwerfend die Schultern, schob die Kinderleiche zur Seite und wischte sich die Hände ab. »Da, fertig. Ich habe ihn freigegeben. Das Problem ist gelöst.« Mit einer Kopfbewegung in Dupins Richtung sagte er: »Bringt sie beide um.«

Lasseurs Wutschrei hallte im Laderaum wider. Ehe jemand ihn zurückhalten konnte, machte er einen Satz, hob das heruntergefallene Rasiermesser des Mamelucken auf und ging damit auf Matisses Kehle los.

Wenn Matisse geschockt war, dann blieb es hinter den dunklen Brillengläsern verborgen. Nur sein Mund bewegte sich, stumm öffnete und schloss er ihn, während er vergeblich versuchte, mit den Händen an seinem Hals das Blut aufzuhalten, das wie eine Fontäne aus seiner verletzten Halsschlagader spritzte.

Als der Korse als blutendes Bündel über Lucien Ballards reglosem Körper zusammengebrochen war, drehte Lasseur sich blitzartig um, das Rasiermesser noch immer in der Hand. Seine Zähne waren entblößt. Er sah aus wie ein Berserker, ein Eindruck, der durch das Blut auf Gesicht und Kleidern noch verstärkt wurde. Schnell trat er neben Hawkwood. Die beiden drehten sich, so dass sie Rücken an Rücken standen.

»Wer ist der Nächste?«, brüllte Lasseur.

Auf Hawkwoods rechter Seite fluchte jemand. Einer von Matisses Männern trat aus dem Schatten, den Fassreifen erhoben. Hawkwood duckte sich und rammte seinen Ellbogen in den Bauch des Angreifers. Der Mann taumelte. Hawkwood trat ihm mit voller Wucht gegen ein Knie, und als der Mann zu Boden ging, entwand Hawkwood ihm den Fassreifen und hieb ihm damit über den Hinterkopf.

Hinter ihm schwang Lasseur, das wutverzerrte Gesicht voller Blut, wie ein Besessener das Rasiermesser. Ein weiterer Gefolgsmann Matisses taumelte schreiend zurück, seine Wange war bis auf den Kiefer aufgeschlitzt. »Kommt her, ihr gottverdammten Schweine!«, brüllte Lasseur. »Ich nehme euch alle mit!«

Hawkwood spürte, wie es an seiner linken Seite warm herunterlief, und er wusste, in dem Gefecht mit seinem letzten Gegner war die Wunde, die der Türke ihm beigebracht hatte, noch vertieft worden. Seine rechte Hand war ebenfalls blutüberströmt. Er packte den Fassreifen fester. Blut drang aus der Verletzung auf seinen Handknöcheln und sickerte zwischen seinen geschlossenen Fingern hindurch.

Hawkwood musste daran denken, wie ironisch es war, dass er sterben sollte, während ein Franzose ihn von hinten verteidigte. Nathaniel Jago wäre amüsiert gewesen, nein, er hätte es sogar für einen verdammt guten Witz gehalten.

Er wunderte sich auch, dass Matisses Männer noch immer bereit waren zu kämpfen, obwohl ihr Anführer doch tot war. Es schien keinen Sinn zu haben, es sei denn, sie dachten, dass er und Lasseur Anspruch auf Matisses Königreich erheben würden. Aber jetzt war keine Zeit, darüber zu diskutieren.

Plötzlich stieß Lasseur einen Fluch aus. Hawkwood nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass jemand mit einem Fassreifen auf seinen Kopf zielte. Er merkte, dass Lasseur den Abstand zwischen ihnen vergrößert hatte, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Man hörte einen Schlag, Metall auf Holz, dann einen Aufschrei, und dann musste er in seiner eigenen Ecke kämpfen, als zwei weitere von Matisses Männern angriffen. Hawkwood schwang das Metallband, um die Hiebe abzuwehren. Er schaffte es, einem zu entgehen, aber die selbstgemachte Klinge des anderen traf ihn von oben auf der Schulter. Sein linker Arm fühlte sich taub an.

Lasseur teilte immer noch Hiebe aus, als man etwas splittern hörte. Dann folgte das Geräusch eines Körpers, der auf Kies fällt, und dann ein gackerndes Freudengelächter, das nur von einem von Matisses Männern kommen konnte. Er hörte, wie Lasseur etwas rief, konnte es aber nicht verstehen. Dann sah er Dupin, jedoch zu spät. Der korsische Leutnant war hinter ihm und schwang den flach geschlagenen Reifen wie eine Keule über sich.

Hawkwood fühlte einen heftigen Schlag auf dem Rücken, etwas Hartes versetzte ihm einen Streifhieb gegen den Hinterkopf, und er fiel. Er versuchte, den Fassreifen festzuhalten, aber er fühlte seine Finger nicht mehr. Sie waren ebenfalls taub.

Er schlug aufs Deck und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch.

»Hübsche Stiefel.« Dupin stand über ihm und grinste ihn an. Hilflos sah Hawkwood, wie der Reifen sich senkte. Dann hörte er einen lauten Knall und Dupins Hinterkopf explodierte.

Es folgten mehrere Detonationen, dann eine Menge Menschen, und plötzlich war der Lagerraum voll roter Uniformen. Er sah sich nach Lasseur um und versuchte, sich aufzusetzen, aber es war ihm nicht möglich. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er platzen. Es war weniger schmerzhaft, einfach liegen zu bleiben und sich treiben zu lassen. Das schien zu funktionieren. Seine Glieder verloren alles Gefühl. Es war nicht unangenehm. Plötzlich berührte eine Hand, die aus dem Nichts kam, seine Stirn, und er zuckte zurück. Bei der Bewegung schoss ein Schmerz durch seinen Kopf und in seine Brust. Dann fühlte er einen Arm unter seiner Schulter und sah ein Gesicht. Es war bärtig und kam ihm irgendwie bekannt vor.

Er dachte noch immer darüber nach, als es vor seinen Augen dunkel wurde.

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