15

Hawkwood rümpfte die Nase. Pisse, man konnte den Geruch nicht mit etwas anderem verwechseln. Er war da und beleidigte mit jedem Atemzug seine Nase. Da das Atmen unvermeidlich war, konnte er nicht viel mehr tun, als den Geruch so weit wie möglich zu ignorieren. Das war schwierig, denn er kam von dem Mann, der neben ihm saß. Es war merkwürdig, dachte Hawkwood, denn ehe er den Gestank des Hulk von sich selbst abgewaschen hatte, hätte er es wahrscheinlich kaum gemerkt. Jetzt musste er alle Willenskraft aufbringen, um sich nicht die Nase zuzuhalten.

Die schwarzgekleidete Gestalt merkte, dass Hawkwood angewidert war, und sah ihn an. »Das bin ich nicht. Es ist die verdammte Farbe. Und wenn Sie denken, ich stinke, dann schätzen Sie sich glücklich, dass ich neben Ihnen sitze und nicht Billy dort hinten.« Sein Daumen zeigte nach hinten. »Denn der stinkt noch viel schlimmer!«

Lasseur, der seinen Platz geräumt und sich nach hinten zu den Särgen gesetzt hatte, verzog ebenfalls das Gesicht.

Hawkwoods Kenntnis der Alchemie ging gegen null. Er hatte keine Ahnung, wodurch die Farbe in der Dunkelheit leuchtete, und es interessierte ihn auch herzlich wenig, obwohl er zugeben musste, dass die Wirkung ziemlich dramatisch war, besonders wenn es unerwartet kam. Wahrscheinlich hatte Asa Higgs irgend so einen Spuk erwartet, aber selbst er war vor Schreck fast vom Bock gefallen, zum Gaudium der beiden Gespenster, als sie sahen, wer da im Wagen saß.

Die Totenköpfe waren mit einer wachsartigen Masse auf eng anliegende schwarze Kapuzen gemalt, ähnlich denen, wie sie Scharfrichter trugen. Im Mondlicht und umrahmt von den Falten des Mönchsgewandes war der Effekt spektakulär und für Uneingeweihte grauenvoll. Ganz bestimmt war es ein wirksames Mittel, um unangemeldete Besucher, die vielleicht eine gewisse Neugier trieb, schnell wieder in die Flucht zu schlagen.

Aber wozu?

Der Weg ging stetig bergauf. Schließlich sah Hawkwood ein Licht durch die Bäume schimmern. Man sah ein Gebäude, aber die Umrisse waren noch unscharf. Erst als sie um die letzte Kurve bogen und der Weg wieder eben wurde, erkannte er, was es war.

Das Torhaus mit den kleinen Zinnen sah alt aus, ebenso die hohe graue Steinmauer, die sich zu beiden Seiten anschloss. Mitten durch das Gebäude führte ein normannischer Torbogen. Zwei Männer in Arbeitskleidung, aber bewaffnet mit Keulen und Pistolen, bewachten das Tor. Der übelriechende Mönch nickte kurz und die Wächter traten zur Seite und ließen sie passieren.

Der Totengräber schnalzte mit der Zunge und trieb das Pferd wieder an. »Willkommen im Haunt.«

»Haunt?«, wiederholte Lasseur hinten.

»Schlupfwinkel der Mönche. Wenigstens nennen wir es jetzt so. Früher war es das Kloster St. Anselm; das meiste ist verfallen, aber einiges steht noch. Sie werden es gleich selbst sehen. Hat im Laufe der Zeit schon viele verschiedene Eigentümer gehabt. Ein Squire aus der Gegend hatte sich das Haus gebaut und hier gewohnt. Nach seinem Tod war es noch eine Weile’ne Farm, dann hat Mr. Morgan es übernommen. Der hat ihm auch den Namen gegeben, weil man sich Geschichten erzählt, dass hier Mönche rumspuken sollen. So hält er sich Neugierige vom Leib, die hier rumschnüffeln wollen. Immer wenn wir nachts Ware befördern, müssen Typen wie Del hier rumkaspern und allen Leuten Angst und Schrecken einjagen.«

Der falsche Mönch grinste. Er hatte einen sehr wirren Lockenkopf, ein mageres Gesicht, das an ein Frettchen erinnerte und Zähne wie ein Maultier. Fast wäre Hawkwood die Bemerkung entschlüpft, dass er doch eigentlich gar keine Maske brauche.

Der Mönch warf dem Totengräber einen missbilligenden Blick zu. »Du brauchst gar nicht so zu feixen, Asa Higgs. Es funktioniert, und das weißt du auch. Ich habe gesehen, wie Leute sich nassgemacht haben, wenn wir ihnen erschienen sind. Ein paar sind sogar vor Angst tot umgefallen.«

»Das wird wohl eher an eurem verdammten Gestank gelegen haben«, murmelte Higgs.

»Ich hab’s dir doch gesagt«, protestierte Del beleidigt, »das bin ich nicht, das ist diese verfluchte Farbe.«

Während Del und der Totengräber die phosphoreszierenden Eigenschaften von Pisse und Pigmenten erörterten, sahen Hawkwood und Lasseur sich skeptisch an. Jeder von ihnen wusste, dass auch der andere an das Gespräch mit Jess Flynn und Tom Gadd zurück dachte.

Ein Gebäude tauchte auf, aber in der Dunkelheit war es schwer, Einzelheiten zu erkennen. Hawkwood nahm an, dass es sich um das Hauptgebäude handeln müsse. Er sah solide Mauern, Giebelfenster und hohe Schornsteine. Hinter dem Haus erkannte er die Umrisse weiterer Gebäude, einige davon schienen intakt zu sein, während andere ganz offenbar Ruinen waren. Der Größe nach mussten es ehemalige Klostergebäude sein. Er dachte wieder an das Torhaus und die Mauer und überlegte, wie lang diese wohl sein mochte. Das wiederum warf die Frage auf, wie viele weitere Wachen hier in den Wäldern umherstreiften, denn wenn dies auch ursprünglich einmal ein Ort des Gebets und der Meditation gewesen sein mochte, jetzt war es etwas ganz anderes. Soweit er es beurteilen konnte, hatte der Haunt alle Merkmale eines bewachten Geländes.

Der Totengräber fuhr auf den Hof und hielt den Wagen vor einer Reihe von Holztüren an, die zum Teil offen standen. Licht fiel nach draußen, in der Luft hing Stallgeruch.

Del kletterte vom Wagen, wobei er fast über den Saum seiner Kutte gestolpert wäre. »Der Boss wollte, dass ich euch gleich zu ihm bringe. Wir probieren’s erst mal hier. Eine Stute ist trächtig. Er glaubt, dass das Fohlen heute Nacht kommen wird. Am besten wartest du hier, Asa.« Er winkte Hawkwood und Lasseur. »Ihr beide kommt mit.«

Del ging voran in die Ställe. Zwei Männer standen ganz hinten vor einer Box. Als sie die Schritte hörten, sahen sie sich um. Der eine ging gebeugt, er hatte schütteres Haar und krumme Beine. Er trug eine dunkle Weste und eine abgewetzte Lederschürze und hielt eine Laterne in der Hand. Der andere Mann war größer und schlanker, sein zurückgekämmtes Haar war silbergrau, genau wie sein Bart, der kurz und säuberlich gestutzt war. Mit seinem gefurchten Gesicht und den blauen Augen hätte er ein distinguierter Rechtsanwalt oder ein gütiger Onkel sein können, wenn da nicht der verkürzte Arm gewesen wäre, der gleich unter dem Ellbogen in einer Ledermanschette endete.

Dels Blick fiel auf den graubärtigen Mann. »Mr. Pepper.« Sein Ton war äußerst unterwürfig.

»Del«, sagte Pepper. In seiner Stimme war keine Spur von Wärme.

Wohl doch kein so gütiger Onkel, dachte Hawkwood und fragte sich, wer Pepper wohl sein mochte und ob der verlorene Unterarm bedeutete, dass er im Krieg gewesen war.

»Asa hat sie mitgebracht«, sagte Del und deutete mit dem Daumen über seine Schulter.

In Peppers blauen Augen zeigte sich ein Funken von Interesse. Er sah Hawkwood und Lasseur von oben bis unten an. »Und die Fässer?«

»Die sind draußen auf dem Wagen«, erwiderte Del nervös.

»Gut, dann geh und hilf Asa beim Abladen. Ihr könnt sie an den gewohnten Platz stellen.«

Del nickte. Hawkwood fand, dass er noch immer etwas eingeschüchtert wirkte. Beim Anblick von Pepper war der Grund nicht schwer zu erraten. Der Mann strahlte etwas Bösartiges aus, selbst wenn er sich bisher kaum bewegt hatte. Erleichtert und mit einem schnellen Nicken in Richtung der beiden Männer verschwand Del mit wehender Kutte.

»Wo ist die verdammte Laterne, Thaddäus?«

Die Frage kam von jemandem, der hinter Pepper stand.

Die Stute stand mit gespreizten Beinen in der Box, ihre Flanken glänzten vor Schweiß. Der aufgetriebene Leib sprach für sich. Ein untersetzter, breitschultriger Mann mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar und dunklem Bart, der die Ärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt hatte, streichelte zärtlich den Hals des Tieres. Er hatte Hawkwoods und Lasseurs Ankunft bisher nicht zur Kenntnis genommen.

Der Mann und Pepper gingen wieder in die Box und hielten die Laterne hoch. Die Stute sah sich um. Ihre sanften braunen Augen leuchteten im Kerzenlicht. Sie trat ruhelos von einem Bein aufs andere und scharrte im Stroh.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte der dunkelhaarige Mann. Er trat schnell zurück. »Machen wir ihr Platz.«

Als habe sie die Worte verstanden, spannte sich die Stute plötzlich an und wieherte leise, worauf ein Strom von Fruchtwasser aus der Geburtsöffnung schoss, über ihre Hinterbeine lief und das Stroh in der Box durchnässte. Mit angespannten Bauchmuskeln und immer noch ausströmendem Wasser ging die Stute in die Knie und legte sich auf die Seite. Der Strom von Fruchtwasser schien nicht enden zu wollen. Schließlich, nachdem sie mehrere Gallonen verloren hatte, versiegte die Flut, und die Stute kam wieder zu Atem. In ihrem Bauch regte sich etwas.

»Das Fohlen dreht sich«, sagte der bärtige Mann.

Die Stute legte den Kopf aufs Stroh, als wolle sie ihre Kräfte sammeln. Dann hob sie den Kopf und wieherte leise. Ihre Hinterbeine zitterten und unter ihrem Schwanz erschien eine kleine weiße Blase. Die Männer beobachteten, wie der Ballon sich weitete und länger wurde. In dieser Membran sah man zwei dunkle Gliedmaßen, lang und dünn wie Stöcke. Hawkwood erkannte, dass es die Vorderbeine sein mussten. Die Stute beruhigte sich wieder, aber sie atmete schwer, und ihr Leib arbeitete mit. Sie presste wieder. Etwas Dreieckiges erschien, das auf den Beinen lag. Es war der Kopf des Fohlens. Die Fruchtblase, die von Adern durchzogen war, wurde weiter in die Länge gezogen, bis sie plötzlich zerriss und ein kleiner Huf zum Vorschein kam. Die Stute ruhte sich einen Moment aus, dann presste sie wieder mit aller Macht. Es passierte nichts. Sie versuchte es wieder. Immer noch keine Bewegung.

»Komm, mein Mädchen«, ermunterte sie der bärtige Mann.

Die Stute presste wieder, doch der Kopf und die Vorderbeine des Fohlens rührten sich nicht vom Fleck. Der Bärtige fluchte leise.

»Sieht aus, als ob’s festsitzt, Mr. Morgan«, sagte der Mann mit der Laterne. »Wollen wir’n bisschen nachhelfen?«

Morgan sah auf die Stute hinunter. Seine Lippen bewegten sich, und Hawkwood fragte sich, ob er wohl betete.

Die Hinterbeine der Stute schlugen erschöpft gegen das Stroh, während sie einen erneuten Versuch machte, das Fohlen auszustoßen. Sie schnaubte hilflos und legte den Kopf wieder hin.

Morgan trat in die Box. »Halt mal das Licht hoch.«

Die Laterne wurde hoch gehalten, und Morgan hockte sich vor das Hinterteil der Stute. Er schob den Schwanz zur Seite und ergriff die Vorderbeine des Fohlens über den Fesseln. »So, mein Mädchen, jetzt probieren wir’s noch mal.« Er stemmte sich gegen die Wand und zog vorsichtig.

Als ob sie wusste, dass man ihr helfen wollte, presste die Stute abermals, den Kopf immer noch auf dem Strohlager. Morgan packte fester zu und veränderte den Winkel etwas, in dem die Vorderfüße des Fohlens lagen. Die Stute spannte sich wieder an, Morgans Armmuskeln traten hervor.

Plötzlich lief es wie Wellen über die Flanken der Stute. Morgan fuhr fort, gleichmäßig zu ziehen. Zwei schmale Schultern erschienen. Die Stute presste ein letztes Mal, und Morgan ließ los. Ein paar Sekunden später lag das Fohlen als nasses Häufchen im Stroh.

Sanft entfernte Morgan die Membran von Maul und Nase des Fohlens. Das Tier hob den Kopf und Morgan brummte zufrieden. Vorsichtig, um die Nabelschnur nicht zu zerreißen, zog Morgan das Fohlen weiter vor, damit die Stute es sehen konnte. Er stand auf, und als er die Box verlassen hatte, hatte sich das Fohlen ebenfalls auf den Bauch gedreht und hob den Kopf. Die Stute erhob sich auf die Knie, schnüffelte an ihrem Neugeborenen und leckte den Rest der Fruchtblase weg.

Morgan wischte sich die Hände mit Stroh ab und sah sich um. »Captains Lasseur und Hooper, wie ich vermute? Willkommen, meine Herren, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Ezekiel Morgan.«

Hawkwood schätzte, dass Morgan und Pepper etwa gleich alt sein mussten. Aus Peppers grauem Haar und den Lachfältchen in Morgans Gesicht schloss er, dass keiner von beiden jünger als fünfzig war, obwohl sie, was Haltung und Bewegung anbetraf, nicht wie alte Männer wirkten. Wenn sie nebeneinanderstanden, war der Größenunterschied noch auffallender. Morgans Kopf reichte gerade bis zu Peppers Schulter. Im Licht der Laterne waren Morgans Augen die helleren: dunkel, tiefliegend, intelligent und wachsam.

Morgan warf das beschmutzte Stroh beiseite. »Entschuldigung, dass ich Ihrer Ankunft nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmen konnte. Aber wie Sie sehen, hatte ich hier gerade eine dringende Sache zu erledigen« Morgan hielt ihnen die Hand hin. Sein Handschlag war fest und immer noch etwas feucht. Hawkwood fühlte Hornhaut. »Sie haben meinen Geschäftspartner, Cephus Pepper, bereits kennengelernt?« Morgan deutete auf den grauhaarigen Mann.

Pepper hielt ihnen nicht die Hand hin, stattdessen erwiderte er Hawkwoods Blick einige Sekunden, dann nickte er kurz.

Morgan neigte den Kopf leicht zur Seite. »Sie haben eine ziemliche Reise hinter sich. Die Sache in Warden hat uns zu schaffen gemacht. Wir hatten dort keinen Zwischenfall erwartet.«

»Wir auch nicht«, sagte Hawkwood. »Wie viele Männer haben Sie verloren?«

»Zum Glück keinen, aber drei sind verwundet worden.«

»Wir haben gesehen, wie Isaac fiel«, sagte Lasseur.

Morgan nickte. »Der hatte Glück. Die Kugel traf ihn an der Schulter, aber er wird keinen bleibenden Schaden zurückbehalten.«

»Und die Angreifer?«, fragte Hawkwood. »Waren die hinter uns her oder hinter der Ware?«

Morgan sah Hawkwood leicht ironisch an. »Ist schon gut, Captain, Sie können ruhig schlafen. Die waren hinter der Ware her, nicht hinter Ihnen. Jemand hat ihnen einen Tipp gegeben. Meine Leute ziehen schon Erkundigungen ein. Wenn wir wissen, wer es war, werden wir uns um ihn kümmern.« Morgan neigte den Kopf zur Seite. »Gideon sagte, es ging um Haaresbreite, Sie hätten das Boot gerade noch erwischt.«

Hawkwood zuckte die Schultern. »Besser nass als tot. Was ist mit dem Zoll? Haben die jemanden verloren? Es wurde viel geschossen. Es sah aus, als wären auch Dragoner dabei gewesen.«

Morgan runzelte die Stirn. »Drei Zöllner sind verwundet worden, ein Dragoner ist tot. Ein Pferd ist auch umgekommen, das ist verdammt schade.« Er sah zur Box hinüber. »Gute Reitpferde sind knapp.«

Gute Dragoner auch, dachte Hawkwood. »Sie hatten Verstärkung auf den Klippen.«

»Das haben wir immer. Es macht sich bezahlt, vorsichtig zu sein. Hat Jessie Flynn sich gut um Sie gekümmert?«

Hawkwood nickte. »Wir können nicht klagen. Den Überfall auf dem Weg hierher hätten wir aber nicht gebraucht. Ihr Mann Higgs bekam ja fast einen Herzschlag.«

Eine Sekunde lang schien der bärtige Mann überrascht, doch dann verstand er. »Ach, Sie meinen unsere Mönchsphantome. Ich muss zugeben, die sind ein bisschen geschmacklos, aber es funktioniert. Die haben Sie etwas erschreckt, ja?«

»Nur ihr Geruch.«

»Ach, das wird unser Del sein. Würzig, nicht wahr?«

»Also ist’s doch nicht die Farbe«, sagte Hawkwood.

Morgan zog einen Mundwinkel hoch. »Nein. Die Farbe wird mit vergorener Pferdepisse gemacht. Das ist es, was sie zum Leuchten bringt. Aber der Geruch verliert sich. Nein, das war ganz und gar Del. Deshalb beschäftigen wir ihn gern an der frischen Luft, möglichst weit weg vom Haus.«

»Sie machen die Farbe aus Pferdepisse?«, sagte Lasseur.

Wieder das leicht spöttische Lächeln auf dem bärtigen Gesicht. »Nicht wir selbst. Dafür haben wir Leute. Fragen Sie mich nicht, wie die das machen. Irgendein komplizierter chemischer Prozess.« Morgan verstummte, dann sagte er: »Ich habe gehört, Sie haben einen ziemlichen Aufruhr veranstaltet, ehe Sie sich verabschiedet haben.«

Lasseur hob den Kopf.

Er weiß von Seth Tyler, war der erste Gedanke, der Hawkwood durch den Kopf schoss. Er wusste, dass Lasseur dasselbe dachte, obwohl das Gesicht des Privateers keinerlei Gefühlsregung zeigte.

Wie hatte er es erfahren? Hatte Tyler es ihm gesagt?

Doch dann sprach Morgan weiter: »Es war ein Glück, dass wir Sie rausholen konnten, ehe Sie verlegt wurden«, und den Männern wurde klar, dass Morgan von den Ereignissen auf der Rapacious sprach.

Hawkwood atmete unhörbar auf. Doch gleichzeitig wunderte er sich, woher Morgan wissen konnte, was auf dem Hulk vorgefallen war. Der Mann hatte offenbar ein weit verzweigtes Netz von Informanten.

»Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie hören«, sagte Lasseur. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos.

Morgan hob den Kopf. »Oh, das tue ich auch nicht, Captain, aber Sie sollten sich auch nicht unterschätzen.« Er sah Hawkwood an. »Und Ihnen möchte ich dasselbe sagen, Captain Hooper, aber wenn Sie mir verzeihen - Bescheidenheit ist nicht gerade die Eigenschaft, die mir bei Amerikanern zuerst einfällt, jedenfalls wenn ich nach denen gehe, die ich kennengelernt habe.«

»Haben Sie denn viele von uns kennengelernt?«

»Ein paar. Und ich muss sagen, sie sind immer so erfrischend frei heraus gewesen, wenn es um ihre eigenen Fähigkeiten ging. Ich weiß nicht, ob man es Selbstbewusstsein nennen soll oder ob es einfach eine verdammte Arroganz ist, aber auf jeden Fall ist es eine beeindruckende Eigenschaft. Damit haben Sie die Revolution gewonnen und einen neuen Staat gegründet. Dagegen gibt’s nichts einzuwenden.«

»Wir haben es eben nur nicht gern, wenn jemand glaubt, uns sagen zu müssen, was wir zu tun haben«, sagte Hawkwood.

Morgans dunkle Augen blitzten. »Ha! Hast du das gehört, Cephus? Aus dem machen wir noch einen richtigen Schmuggler!«

Pepper sagte nichts. Langsam wurde klar, dass Morgans Leutnant kein Freund vieler Worte war.

»Wie geht’s unserem Neuankömmling, Thaddäus?«, wandte Morgan sich an den Stallburschen, der sich noch immer mit der Stute und dem Fohlen beschäftigte und von der Unterhaltung hinter sich offenbar nichts mitbekommen hatte.

»Sehr gut, Mr. Morgan. Die Nachgeburt kommt auch gleich.«

»Gut. Behalt sie im Auge.« Morgan wandte sich wieder um.

»Warum sind wir hier?«, fragte Hawkwood.

Die Frage schien Morgan unvorbereitet zu treffen. Pepper kniff die Augen zusammen.

Doch Morgan lächelte schon wieder. »Mein Gott, Ihnen kann man nichts vormachen, Captain Hooper, was? Macht nichts, ich mag ehrliche Menschen. Sie sind hier, weil ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte.«

Lasseur zog die Brauen zusammen. »Was für einen Vorschlag?«

»Wenn alles gutgeht, einen äußerst profitablen.«

»Was ist mit unserer Überfahrt nach Frankreich?«, fragte Hawkwood.

»Keine Sorge, Sie werden beide heil und gesund dort ankommen, nur mit einem kleinen Extrageschenk, damit Sie sich an uns erinnern.«

»Und was sollte das sein?«

Morgan sah aus, als amüsierten ihn Hawkwoods direkte Fragen noch immer. »Alles zu seiner Zeit, Captain.« Er zog eine Uhr aus der Westentasche. »Es ist zu spät, um jetzt Einzelheiten zu besprechen. Ich habe hier noch zu tun, und sie hatten auch einen langen Tag. Warum ruhen Sie sich jetzt nicht aus und wir reden am Morgen darüber? Ich werde dann alles erklären, dann brauche ich es auch nicht zweimal zu machen. Was sagen Sie dazu?«

Haben wir eine Wahl?, dachte Hawkwood und überlegte, was Morgan wohl damit gemeint haben könnte, er müsse es dann nicht zweimal erklären.

Ehe einer von ihnen eine Chance hatte, zu antworten, nickte Morgan zufrieden. »Also abgemacht. Cephus wird Ihnen Ihre Zelle zeigen. Es ist schon in Ordnung, Captain«, sagte er lachend, als er Lasseurs erschrockenes Gesicht sah. »Nur ein kleiner Scherz von mir. Sie sind ganz sicher. Hier gibt es keine Gefängniswärter.« Morgan wandte sich um, dann blieb er stehen, als sei ihm eben etwas eingefallen. »Ich würde Ihnen aber raten - obwohl Sie sich natürlich frei bewegen können -, dass es am besten wäre, wenn Sie nicht zu weit gehen würden. Wie Sie gesehen haben, habe ich Männer, die die äußere Mauer bewachen, und nachdem ich keine Mühe gescheut habe, Sie bis hierher zu bringen, wäre es doch verdammt schade, wenn Sie zu weit wanderten und einer meiner Männer Ihnen eine Kugel durch den Kopf jagte, weil er Sie für einen Einbrecher hält.«

Morgan lachte über Lasseur Gesichtsausdruck, aber seine Augen blickten finster. »Es sind schon ganz andere Dinge hier passiert, Captain, glauben Sie mir.«

Sie kamen aus dem Stall und sahen, dass der Wagen verschwunden war. Hawkwood vermutete, dass Asa Higgs und Del irgendwo die Fässer abluden; entweder das, oder der Totengräber war bereits wieder auf dem Rückweg zur Küste, während Del zusammen mit Billy, seinem ebenso kräftig duftenden Kumpel, wieder die Wälder unsicher machte.

Eine Laterne in der Hand, führte sie der wortkarge Pepper über den Hof und um mehrere Ecken, bis sie schließlich einen Innenhof erreichten, der von einem Kreuzgang umschlossen war. Dieser Teil des Hauses war sehr alt und offenbar ein Überrest des ursprünglichen Klosters. Die alten Steinplatten unter den Bögen des Kreuzganges glänzten im Mondlicht wie die Oberfläche eines Teiches. Es war nicht schwer, sich Mönche in dunklen Kutten vorzustellen, die hier stumm meditierend umhergewandelt waren, wobei jeder ihrer frommen Schritte im Laufe der Jahrhunderte die Steine ein wenig mehr abgenutzt hatte.

Pepper hielt sich nicht lange auf, sondern führte sie in der Ecke des Kreuzganges durch einen Torbogen. Sie gingen einen dunklen Korridor entlang bis zu einer niedrigen Holztür. Als Pepper die Tür aufstieß und zurücktrat, verstanden sie Morgans kleinen Scherz.

Die Zelle, denn um eine solche hatte es sich früher sicher gehandelt, war einfach möbliert und bot gerade genug Platz für zwei schmale Pritschen, einen Stuhl und einen kleinen Tisch, auf dem ein Leuchter mit einem Kerzenstummel stand, daneben lagen ein paar Wachsstöcke. Gegenüber der Tür war hoch oben in der Wand ein kleines Fenster, das kaum diesen Namen verdiente, und durch das ein schmaler Mondstrahl fiel. Das Einzige, was fehlte, war das Kruzifix an der Wand.

Pepper nahm einen der Wachsstöcke und übertrug damit das Licht von der Laterne auf den Leuchter. »Der Schlafsaal ist voll, deshalb sind Sie hier. Sie werden’s ganz bequem haben. Denken Sie daran, was Mr. Morgan Ihnen gesagt hat. Bleiben Sie dicht am Haus, es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Hier den Korridor entlang gibt’s einen Waschraum und ein Klo.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er den Raum und machte die Tür hinter sich zu. Hawkwood und Lasseur standen da und sahen sich an. Durch die dicke Holztür konnten sie nicht hören, ob Pepper weggegangen war, oder ob er, das Ohr an die Tür gelegt, noch draußen stand.

Hawkwood probierte die Türklinke. Zwar hatte er nicht gehört, dass ein Schlüssel umgedreht worden war, aber es hätte ihn nicht überrascht, wenn Pepper sie eingeschlossen hätte. Die Tür ließ sich ohne Mühe öffnen. Der Gang draußen war dunkel, leer und still.

»Nun ja«, sagte Lasseur und probierte die Pritsche aus. Er verzog schmerzhaft das Gesicht, als er merkte, wie dünn der Strohsack war. »Das Abenteuer geht weiter. Was hältst du von Monsieur Morgan?«

»Ich glaube, dass man jemand, der sich mit einem Haufen bewaffneter Wachen umgibt, ernst nehmen sollte.«

Lasseur lachte leise, das Kerzenlicht spielte auf seinem aristokratischen Gesicht. »Und Pepper?«

»Pepper ist gefährlich«, sagte Hawkwood ohne zu zögern.

Lasseur dachte eine Weile darüber nach. »Dieser Vorschlag, von dem Morgan sprach, was glaubst du, was das sein wird?«

»Auf jeden Fall werden wir nichts umsonst bekommen«, sagte Hawkwood, »so viel ist klar.«

Lasseur sah sich im Raum um. »Also schlafen wir drüber.«

Hawkwood streckte sich auf der zweiten Pritsche aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Zunächst mal«, sagte er.


Morgengrauen.

Hawkwood warf seine Decke zur Seite, setzte sich auf und zog die Stiefel an. Er sah zu Lasseur hinüber. Der Franzose hatte den Kopf zur Wand gedreht und schien noch zu schlafen.

Hawkwood nahm seine Jacke und verließ die Zelle. Er ging zum Klo und pinkelte, dann wusch er sich an einem der Steinbecken im Waschraum das Gesicht mit kaltem Wasser. Er fuhr sich mit den Fingern über das stoppelige Kinn und überlegte kurz, ob er sich einen Bart wachsen lassen sollte. Doch dann stellte er sich Maddie Teagues Gesicht vor, wenn er mit Vollbart bei ihr auftauchen würde. Doch keine so gute Idee, entschied er.

Er zog die Jacke wieder an. Zeit für einen Morgenspaziergang.

Er ging den Weg zum Kreuzgang zurück, dann verließ er den Schutz der Gewölbe, trat aus dem Hauptgebäude und ging nach draußen. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgestellt, die Hände in die Taschen gesteckt und war für alle gut sichtbar. Gemäß dem Grundsatz, dass es nicht klug ist, einen Terrier in ein Rattenloch zu schicken, wenn man nicht mindestens einen Ausweg kennt, wusste Hawkwood, dass es auch hier seine erste Aufgabe sein musste, den Grundriss des Haunt zu erkunden und herauszufinden, wie effizient das Anwesen bewacht war.

Hawkwood hatte keine Uhr. Er schätzte, dass es etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang sein musste. Es sah aus, als würde es wieder ein schöner Tag werden. Die blasse Sonne hatte den Morgennebel schon zum größten Teil aufgelöst, nur über dem taufeuchten Gras hingen noch ein paar dünne Schwaden. In den nahen Wäldern hörte man Ringeltauben gurren und umherflattern und von den Wiesen weiter unten drang das schwermütige Muhen der Kühe durch die morgendliche Stille herauf. Es war nicht schwer sich vorzustellen, warum ein Mönchsorden sich diese friedliche Umgebung für eines ihrer Klöster ausgesucht hatte. Das erhöhte Gelände und die Abgeschiedenheit hatten den frommen Männern sicher das Gefühl gegeben, hier Gott näher zu sein.

Hawkwood bezweifelte, dass für den augenblicklichen Landbesitzer ähnliche spirituelle Erwägungen eine Rolle gespielt hatten. Ezekiel Morgan hatte diesen Ort in erster Linie aus logistischen Gründen gewählt. Man hätte blind sein müssen, um nicht die strategischen Vorteile dieser Lage zu erkennen, von der aus man einen so weiten Blick über die Umgebung hatte. Selbst wenn man den umliegenden Wald berücksichtigte, war es äußerst unwahrscheinlich, dass es einem größeren Trupp gelingen könnte, unbemerkt in den Haunt einzudringen.

Er sah zurück. Jetzt, bei Tageslicht, erfasste er erst das gesamte Herrschaftsgebiet von Ezekiel Morgan. Jess Flynns kleiner Hof hätte hier bestimmt mehrmals hineingepasst. Wenn die Größe des Anwesens ein Maßstab war, dann war mit dem Schmuggelgeschäft weitaus mehr Geld zu verdienen, als Hawkwood es sich vorgestellt hatte. Kein Wunder, dass der Mann so einen Aufwand mit der Bewachung trieb.

Außer dem Haus und den Stallungen entdeckte Hawkwood eine Reihe weiterer Außengebäude und eine große Scheune. Er sah auch mehrere Koppeln, auf denen Pferde grasten. Man konnte die Mauerreste des ehemaligen Klosters leicht an ihrem Alter und an der Bauweise erkennen. Von der Kapelle standen nur noch die Außenmauern, das Dach war seit langem eingefallen, und das Kirchenschiff war ungeschützt Wind und Wetter preisgegeben. Die hohen Fenster, die einst mit kunstvollen bunten Bildern verglast gewesen sein mochten, sahen jetzt aus wie blinde Augenhöhlen in einer Reihe grauer Totenschädel. Zwischen den Mauern der Ruinen grasten schwarzwollige Schafe.

Hawkwood atmete tief durch. Die Luft war frisch und duftete nach Gras und Blüten, der allgegenwärtige Gestank der überfüllten Londoner Straßen schien eine Ewigkeit entfernt. Auch der Geruch des Hulk war nur noch eine blasse Erinnerung.

Die neun Fuß hohe Mauer um das Anwesen schien auf den ersten Blick intakt zu sein, aber als Hawkwood weiterging, bemerkte er Stellen, wo sie repariert worden war. Ein Stück weiter entfernt sah er Teile, die eingestürzt waren.

Die Lücken waren mit Palisadenhölzern überbrückt worden, die jedoch nicht sehr widerstandsfähig aussahen. Man sah jedoch auch, dass es nur eine vorübergehende Maßnahme war, denn überall lagen schon Handwerkszeug und Steine bereit, außerdem Eimer und Säcke mit Sand und Kalk zum Mischen von Mörtel.

Die Mauer verschwand im Wald, aber Hawkwood war überzeugt, dass sie entweder unbeschädigt war, oder dass schadhafte Stellen, genau wie die anderen, vorübergehend gesichert waren, bis sie repariert werden konnten. Er hatte genug gesehen und wusste jetzt, dass Morgan, genau wie ein guter General, seinem Schutzwall größte Aufmerksamkeit widmete. Hawkwood erinnerte sich an die Stadtmauern, die er in Spanien gesehen hatte; auch hier war die Kirche immer auf dem höchsten Punkt gebaut worden.

Das Auftauchen weiterer Frühaufsteher war nicht weiter überraschend. Hier gab es Viehhaltung, also musste es auch Personal geben, das sich darum kümmerte. Zwischen Scheune und Stallgebäude tauchten zwei Gestalten auf. Es war auch nicht schwer gewesen, Morgans Wachen zu entdecken, die außen an der Mauer patrouillierten. Sie hielten sich zwar in einigem Abstand, aber dicht genug, dass Hawkwood die Schlagstöcke in ihren Händen und die Pistolen im Gürtel erkennen konnte. Sie hatten ihm keine Schwierigkeiten gemacht, denn Hawkwood hatte nicht versucht, sich zu verstecken, sondern war ganz offen aufgetreten, deshalb hatten sie in ihm keine Bedrohung gesehen. Er hob die Hand, um ein Wiedererkennen anzudeuten, und setzte seinen Rundgang ungestört fort. Das mangelnde Interesse, das die Wachen ihm entgegenbrachten, ließ darauf schließen, dass sie vielleicht doch nicht ganz so gewissenhaft waren, wie ihr Arbeitgeber annahm, was wiederum bedeutete, dass der Haunt doch nicht ganz so sicher abgeriegelt war wie Morgan dachte. Möglicherweise waren die Männer nach einer durchwachten Nacht nachlässig geworden waren, und Hawkwood registrierte diese Information, die vielleicht einmal nützlich sein könnte.

Aus dem Gras, das die Schafe sehr kurz gehalten hatten, erhoben sich vor ihm die Außenmauern eines uralten Gebäudes. Die leeren Torbögen wirkten wie offene Mäuler. Um die bemoosten Steine wuchs Unkraut. Er wollte gerade vorbeigehen, als er durch einen Mauerspalt eine dunkle vierbeinige Gestalt sah. Als der Hund Hawkwood entdeckte, blieb er wie angewurzelt stehen.

Hawkwood erstarrte ebenfalls.

Es war ein riesiger Hund mit gestromtem Fell, der mindestens drei Fuß Schulterhöhe hatte. Als ein zweiter Hund, genau so groß wie der erste, um die Ecke getrabt kam, krampfte sich Hawkwoods Magen zusammen. Dieses Tier war hellbraun, Gesicht und Schnauze waren schwarz.

Der gestromte Hund knurrte. Es war einer der unheimlichsten Laute, die Hawkwood je gehört hatte. Er kam tief aus der Brust des Tieres und ließ die Luft vibrieren.

Die Hunde taten einen Schritt auf ihn zu, völlig lautlos auf dem noch feuchten Gras.

Hinter ihnen erschienen jetzt zwei weitere Gestalten. Eine war groß und hatte einen grauen Bart, die andere war kleiner, hatte einen Stiernacken und trug einen kräftigen Spazierstock aus Schlehdorn.

»Captain Hooper!«, rief Ezekiel Morgan gut gelaunt. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Sie sind früh auf. Ich hoffe, Sie fanden Ihre Unterkunft bequem?«

Hawkwood merkte erst jetzt, dass er den Atem angehalten hatte. Langsam atmete er aus. Er gab sich Mühe, die Hunde nicht anzusehen, was nicht ganz einfach war, denn erstens ließen sie ihn nicht aus den Augen, und zweitens wusste er, wie kräftig ihr Gebiss beschaffen war.

»Neues Quartier, neues Bett. Man braucht immer eine Weile, bis man sich eingewöhnt hat. Ich dachte, ich gehe ein bisschen an die frische Luft. Sie wissen ja, wie es ist.«

Er hatte nicht gelogen. Er hatte schlecht geschlafen, aus genau den Gründen, die er genannt hatte. Lasseurs Schnarchen hatte auch nicht gerade geholfen.

Morgan breitete die Arme aus und tat einen tiefen Atemzug. »Ein Morgenspaziergang? Ausgezeichnete Idee! Wer könnte es einem verdenken, an einem Morgen wie diesem? Da freut man sich doch, am Leben zu sein. Ist Captain Lasseur nicht mitgegangen?«

Hawkwood fragte sich, ob der Mann neben Morgan sich auch freute, am Leben zu sein. Schwer zu sagen. Cephus Peppers Gesicht war völlig ausdruckslos.

»Der schläft noch. Was macht das Neugeborene?«

Morgan klopfte mit dem Stock gegen seinen Stiefelschaft. »Das Fohlen? Das ist wohlauf. Die Stute ist eine gute Mutter. Den beiden geht’s gut, denke ich.«

Morgan machte keine Anstalten, die Hunde zu sich zu rufen. Hawkwood wusste, der Mann wollte zeigen, wer hier das Sagen hatte: Es war Morgans Anwesen, und man lebte nach Morgans Gesetzen.

»Schöne Tiere«, sagte Hawkwood, der es noch immer für vernünftiger hielt, stillzustehen und keine plötzliche Bewegung zu machen.

»Thor und Odin«, sagte Morgan. »Thor ist der gestromte. « Liebevoll betrachtete er die Hunde. »Die Mastiffs kamen mit den Phöniziern nach Europa, wussten Sie das?«

Die Hunde stellten die Ohren auf, als sie ihre Namen hörten. Sie sahen Morgan an, als warteten sie auf seinen Befehl. Es war das erste Mal, dass sie Hawkwood aus den Augen ließen.

»Ich kann nicht behaupten, dass ich schon mal darüber nachgedacht habe«, sagte Hawkwood.

»Sie waren schon vor Cäsar hier«, fuhr Morgan fort, der Hawkwoods zurückhaltende Antwort gar nicht beachtet hatte. »Die Römer nahmen sie mit nach Italien und richteten sie zum Kampf in der Arena ab. Sie ließen sie gegen Bären antreten. Sie haben sie auch auf dem Schlachtfeld eingesetzt. Man sagt, dass auch auf dem ersten Schiff, das in der Neuen Welt landete, ein Mastiff war. Interessant, dass es ausgerechnet die Phönizier waren, finden Sie nicht? Das waren auch Kaufleute, wie ich. Vielleicht habe ich irgendwann im Laufe der Zeit etwas von ihnen geerbt. Das wäre doch was, nicht wahr?«

Hawkwood betrachtete die Hunde. Und die Mastiffs betrachteten ihn, unerschrocken und aufmerksam, wobei ihre Zungen zwischen den gewaltigen Kiefern heraushingen.

Morgan lächelte freundlich. »Hätten Sie Lust, uns Gesellschaft zu leisten, Captain? Cephus und ich gehen oft um diese Zeit hier draußen spazieren. So bekommen die Hunde die Bewegung, die sie brauchen, und wir bringen inzwischen die Welt in Ordnung.«

Hawkwood nickte und überlegte, ob diese Einladung erfolgt war, weil Morgan nicht wollte, dass er allein hier umherwanderte.

Morgan schnippte mit den Fingern, und mit einer Handbewegung schickte er die Hunde los, die mit der Nase auf dem Boden losstürmten. Hawkwood ging neben ihm und passte seinen Schritt an. Pepper ging einige Schritte voraus.

»Man hat uns gesagt, Sie kontrollieren den gesamten Handel entlang der Küste hier«, sagte Hawkwood. Er hatte den Eindruck, als zuckte Pepper kurz zusammen.

Morgan veränderte sein Tempo nicht, sondern ging ruhig weiter. Er hielt seinen Stock waagerecht auf dem Rücken.

»So, hat man das gesagt?«

»Stimmt es?«

Morgan lächelte. »Sehen Sie sich um, Captain. Was glauben Sie denn?«

»Ich glaube, dass ich im falschen Geschäft bin.«

Noch immer lächelnd, sagte Morgan: »Ich würde sagen, Sie haben Ihre Frage selbst beantwortet. Es hängt doch alles von Angebot und Nachfrage ab. Wenn die verdammte Regierung nicht so darauf versessen wäre, uns mit Steuern zu ruinieren, glauben Sie denn, dass wir dieses Gespräch überhaupt hätten?«

»Regierungen brauchen Steuergelder, um ihre Kriege zu finanzieren«, sagte Hawkwood. »Es ist die einzige Möglichkeit, an das nötige Geld zu kommen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man Engländer, Franzose oder Amerikaner ist; wenn man sein Land verteidigen will, muss man dafür bezahlen. Dafür wurden Steuern ja überhaupt erfunden.«

Morgan schüttelte den Kopf. »Ich habe ja grundsätzlich nichts dagegen, aber es ist der hohe Steuersatz und die Tatsache, dass sie jedes Vergnügen besteuern, niemals das Unangenehme. Verdammt noch mal, die besteuern ja sogar Spielkarten! Können Sie sich das vorstellen? Das ist ja fast so dämlich wie diese idiotische Fenstersteuer! Wenn so ein armer Kerl den ganzen Tag schwer auf dem Feld arbeitet, dann hat er sich meiner Meinung nach abends seine Pfeife, seine Runde Whist und sein Glas Brandy ehrlich verdient, ohne dass er der Regierung für dieses Privileg noch zusätzlich Geld in den Rachen schmeißen sollte. Deshalb sehe ich es so: Wenn ich das Leben dieses Mannes etwas leichter machen kann, dann ist das kein Verbrechen. Und wenn ich gleichzeitig der Regierung auch noch ein Schnippchen schlagen kann, dann ist das erst recht in Ordnung.«

Morgan stieß mit der Stiefelspitze einen Stein aus dem Weg. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Captain. Ich unterhalte hier keinen Wohltätigkeitsverein. Sie sagten vorhin, dass Sie glauben, Sie sind im falschen Geschäft. Ja, genau das ist es - ein Geschäft. Ich sah eine Chance, und ich habe sie ergriffen. Ich bin schon lange dabei, und die Erträge sind ausgezeichnet - wie bei den meisten meiner anderen Geschäfte zum Glück auch.«

»Sie müssen aber auch erhebliche Ausgaben haben«, sagte Hawkwood.

Ohne seinen Schritt zu unterbrechen, zuckte Morgan die Schultern. »Löhne, Transport und Verteilung, Lagerung: Das ist genau wie in jedem anderen Geschäft. Nur muss ich ein paar Leute mehr schmieren, das ist der ganze Unterschied.«

Mehr als nur ein paar, dachte Hawkwood. Er wandte den Kopf und merkte, dass Morgan ihn fragend ansah.

»Was hatten Sie denn erwartet, Captain? Wir leben schließlich im neunzehnten Jahrhundert, oder hatten Sie das vergessen? Wenn Sie dachten, solche Geschäfte werden von zwei Fischern im Ruderboot abgewickelt, dann müssen Sie schleunigst umdenken. Die Zeiten sind längst vorbei. Ach, ich will gar nicht sagen, dass das nicht auch noch passiert, aber so wird das große Geld nicht gemacht. Nein, man kauft ganze Ladungen und legt sich einen möglichst guten Steuerberater zu - dann kann man Geld verdienen.«

»Sie meinen, wie neulich nachts in …« Hawkwood tat, als habe er den Namen vergessen, »… wo war das gleich wieder?«

»In Warden.« Morgan rief Pepper zu: »Wie viele Fässer waren das, Cephus?«

»Fünfundzwanzig«, sagte Pepper, ohne sich umzudrehen. »Plus sechs Ballen Tabak.«

Morgan nickte. »Fünfundzwanzig Fässer. Das ist kein Großhandel, Captain Hooper. Das sind kleine Fische. Ich hatte schon Ladungen, wo wir achtzig Ponys brauchten, um die Ware zu transportieren. Vorige Woche hatte ich zweihundertfünfzig Männer im Einsatz; fünfzig, um die Ware an Land zu bringen, die anderen zweihundert, um die Umgebung zu sichern.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie hier so viele Leute untergebracht haben?« Hawkwood deutete mit dem Kopf hinüber zu dem Haus und dem anderen Gebäude, wo er und Lasseur die Nacht zugebracht hatten.

Morgan schüttelte den Kopf. »Ich stelle sie ein, wie ich sie brauche. Wenn es etwas gibt, woran es mir nicht mangelt, dann sind es Arbeitskräfte. Und ich bezahle sie gut. Ein Arbeiter verdient, wenn er Glück hat, einen Schilling am Tag. Ich zahle Fassträgern das Vierfache für nur eine Nacht. Und meinen Kundschaftern zahle ich zehnmal so viel. Die wissen, dass ich mich um sie kümmere. Ich habe immer einen Arzt an der Hand, falls etwas passiert, und wenn es zum Schlimmsten kommt, dann kümmere ich mich um ihre Familien. Ich habe eine Rechtsanwaltskanzlei, die sie immer gegen Bürgschaft rauspaukt, wenn sie gefasst werden und vor einem Richter erscheinen müssen. Niemand, der für mich arbeitet, kommt ins Gefängnis, Captain. Darauf können Sie sich verlassen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

»Steuerberater, Ärzte und Rechtsanwälte?«, sagte Hawkwood. »Ich bin beeindruckt.«

»Das sollten Sie auch sein.« Morgan blieb stehen, stützte sich auf seinen Stock und sah hinüber zum Haus und der Klosterruine, als bewundere er alles zum ersten Mal.

»Nun, über das Ergebnis kann man nicht streiten, das muss ich zugeben«, sagte Hawkwood, der Morgans Blick gefolgt war. »Es ist ein prächtiges Anwesen.«

Morgan drehte sich um und verbeugte sich ironisch. »Vielen Dank, Captain. Obwohl es nicht allein mein Verdienst ist. Die meiste Arbeit war bereits für mich erledigt. Ich hatte eigentlich erwogen, die Ruinen abreißen und das ganze Grundstück räumen zu lassen, aber der Pfarrer protestierte. Er sagte, ich würde ewige Verdammnis riskieren, wenn ich auch nur einen Stein entfernte. Allerdings war er ziemlich angeheitert, als er das sagte, denn ich hatte ihm gerade ein Fässchen meines besten Branntweins zukommen lassen, also hat er es vielleicht nicht ganz ernst gemeint.«

»Aber Sie haben es sicherheitshalber trotzdem nicht riskiert?«

»Es wäre dumm, dem Allmächtigen ins Handwerk zu pfuschen, Captain Hooper.«

»Von den geistlichen Herren ganz zu schweigen«, sagte Hawkwood.

»In der Tat. Besonders Reverend Starkweather. Seine Sonntagspredigten sind immer besonders gut besucht.« Morgan schwieg, dann grinste er. »Nein, er kann sich wirklich nicht beklagen, denn wenigstens fahre ich mit der Tradition von St. Anselm fort.«

»Inwiefern?«

»Ich nehme immer noch Pilger auf.«

»Pilger?«

»Hier pflegte man Pilger auf dem Weg nach Canterbury zu beherbergen, bis König Henry die Mönche alle hinauswerfen ließ. Heutzutage gewähren wir Leuten wie Ihnen einen Zufluchtsort. Merkwürdig, wie manches sich fügt, finden Sie nicht?«

»Dann wurden auch schon andere Gefangene hierhergebracht?«

Morgan lächelte. »Nur die, die uns vielversprechend schienen.«

»Haben Sie denen auch ein Angebot gemacht?«

Pepper war in einiger Entfernung ebenfalls stehen geblieben, und Hawkwood bemerkte, wie er bei dieser Frage erstarrte. Das Lächeln auf Morgans Gesicht veränderte sich kaum, obwohl die Lachfältchen um seine Augen vielleicht nicht mehr ganz so zahlreich waren. Hawkwood bemerkte, dass die Hunde ebenfalls stehen geblieben waren. Der gestromte rannte über den Rasen, um ausführlich das Hinterteil seines Kumpels zu beschnüffeln.

»Sie wissen von unserem Kampf auf dem Schiff«, sagte Hawkwood. »Und Sie sprachen von unserer Verlegung. Sie haben offenbar ein gutes Spionagesystem.«

»Ich habe meine Informationsquellen.«

»Die Wächter?«

»Die sind nützlich, wenn es darum geht, in die andere Richtung zu schauen, oder Nachrichten weiterzugeben, aber auf den Schiffen arbeiten viele Menschen und ich kann es mir leisten, ein großes Informationsnetz zu unterhalten - an Land und auf dem Wasser. Geld redet immer.«

In diesem Augenblick wurde irgendwo im Kloster eine Handglocke geläutet. Die Hunde hoben die Köpfe.

Morgenandacht?, dachte Hawkwood verblüfft. Jetzt fehlt bloß noch, dass Morgan hier Gebetsstunden abhält.

»Ach«, sagte Morgan aufgeräumt und schwang sich den Spazierstock über die Schulter, »es wird Zeit, dass wir zurückgehen.« Er pfiff nach den Hunden und machte sich auf den Weg zum Haus. »Wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie Captain Lasseur wecken können. Sagen Sie ihm, Frühstück gibt’s im Refektorium. Es wird uns Gelegenheit geben, Sie mit den anderen bekanntzumachen.«

»Welche anderen?«

Morgan lächelte. »Ihre Mitpilger.«

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