19

Manchmal hatte er das Gefühl, als falle er; dann war es wieder wie ein Schweben, bei dem er wie in einem schwachen Gezeitenwechsel hin und her trieb, ohne Ziel und ohne Bestimmung, nie ganz bis zu den hohen Wellen hin und nie ganz bis ans Land. Einen Augenblick war ihm kalt, im nächsten fühlte er sich derart in Schweiß gebadet, dass er glaubte, darin ertrinken zu müssen. Und bei jedem dieser Anfälle hatte er einen merkwürdigen Geschmack wahrgenommen - bitter, aber nicht unangenehm -, der auf seiner Zunge und in seinem Rachen war.

Es gab auch Schatten und Stimmen. Aber wie alle Schatten waren auch diese konturlos, und die Worte, die er zu hören glaubte, waren wie das Rauschen von trockenem Laub im Wind. Manchmal waren sie in der Nähe und fast hörbar, dann wieder war es nur ein Flüstern, als seien die Sprecher weit weg und wollten nicht gehört werden. Er nahm an, dass sie über ihn sprachen, und hatte sich angestrengt, es zu hören, aber je mehr er sich anstrengte, desto schwerer war es, etwas zu verstehen.

Er hatte auch eine nebelhafte Erinnerung, dass man ihm einen Löffel an die Lippen gehalten hatte, von dem er etwas schlucken sollte, aber er hatte keinerlei Erinnerung daran, was es gewesen sein könnte. Einmal hörte er einen Hund bellen und wollte schreien, aber dann war es plötzlich still geworden. Die Enge in seiner Brust ließ nach, das Gefühl ging vorüber und er fürchtete sich nicht mehr.

Als er die Augen öffnete, dachte er einen entsetzlichen Moment lang, er sei wieder im Krankenrevier auf dem Hulk. Wenn das Stechen an der Seite seines Kopfes auch nicht besonders schmerzhaft war, so weckte es doch schreckliche Erinnerungen daran, bis er ein kühles feuchtes Tuch spürte und sanfte Finger, die etwas auf seinen Kopf rieben und die Schmerzen linderten. Eine Frauenstimme sagte leise: »Er ist aufgewacht.«

Die Stimme war ihm irgendwie bekannt.

Maddie?, Dachte Hawkwood.

Er drehte den Kopf. Er lag in einem schmalen Bett. Daneben stand ein Nachttisch, auf dem ein Leuchter mit einer Kerze stand, die aber nicht brannte, daneben eine Schüssel und mehrere blaue Glasbehälter. Was darin war, wusste er nicht.

Ein Frauengesicht beugte sich über ihn. Es war nicht Maddie Teague.

»Hallo, Captain«, sagte Jess Flynn.

»Wird auch Zeit«, sagte Lasseur, der hinter ihr auftauchte. »Wie fühlst du dich?«

Hawkwood sah die beiden an und wusste nicht, ob er träumte oder wachte. Er berührte mit den Fingern seinen Kopf und zuckte zusammen. »Ich hab’s satt, auf den Kopf gehauen zu werden.« Er zog die Hand zurück. Sie waren klebrig, als habe er in Bienenwachs gegriffen. Er rieb die Finger aneinander.

»Keine Sorge, Captain, es ist nur eine Salbe. Ich mache sie selbst aus besonderen Ölen und Kräutern«, sagte Jess Flynn. »Sie ist gut gegen Schmerzen und hat Heilkräfte. Sie hatten einen Streifschuss und waren bewusstlos. Aber Sie hatten großes Glück; es hat geblutet, und Sie hatten etwas Fieber, aber wirklich schlimm war es nicht.«

»Zum Glück war es nur dein Kopf«, sagte Lasseur lächelnd. »Wenn er dich woanders getroffen hätte, hätte ich mir Sorgen gemacht.«

Als Hawkwood sich bewegte, stellte er fest, dass ihm sonst nichts wehtat, was ihn ermutigte, sich aufzusetzen. Auch das gelang ihm mit nur geringen Schmerzen. Er sah sich um. Der Raum war klein und hatte eine schräge Decke. Durch das halbgeöffnete Fenster sah er die Unterseite des Dachvorsprungs. Im Zimmer war ein einfacher Frisiertisch mit einem Spiegel, auf dem eine weitere Schüssel und ein Krug standen. Vor dem Tisch war ein Stuhl, an der Wand stand ein schmaler Kleiderschrank.

Er sah an sich hinunter. Er hatte ein Nachthemd an, das ihm nicht gehörte. Seine eigenen Kleider waren verschwunden, jedoch standen seine Stiefel neben dem Kleiderschrank.

»Es gehörte meinem Mann«, sagte Jess Flynn und zeigte auf das Nachthemd. Sie wechselte einen Blick mit Lasseur und lächelte. »Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie reden können.« Sie drückte das nasse Tuch über der Schüssel aus und stand auf. Auf dem Weg zur Tür streifte ihre Hand die von Lasseur. Der sah ihr nach, dann zog er den Stuhl ans Bett und setzte sich hin.

Hawkwood konnte noch immer nicht glauben, wo er war.

»Wie in aller Welt sind wir denn hierher gekommen?«

Lasseur grinste. »Mit einem Boot.«

»Was?« Hawkwood spürte einen kurzen Schmerz.

Lasseur legte ihm die Hand auf den Arm. Sein Gesicht war besorgt. »Woran kannst du dich denn erinnern?«

»Ich sah, dass du auf Del geschossen hattest. Danach … nichts mehr. Wie meinst du das, mit einem Boot?«

»Das ist eine lange Geschichte. Erinnerst du dich, dass ich dich zum Fluss getragen habe?«

»Nein.«

Lasseur hatte ihn ans Ufer gelegt und dann Dels Leiche geholt und diese ebenfalls an den Fluss gelegt, um die Hunde von ihrer Fährte abzubringen. Es hatte funktioniert, aber es war knapp gewesen. Er hatte ihre Gesichter mit Schlamm beschmiert und Hawkwood ins Schilf gezerrt, und im nächsten Augenblick waren die Hunde aus dem Wald gekommen.

Lasseurs Gesicht verdüsterte sich bei der Erinnerung daran.

»Ich hörte, wie sie bellten und die Männer suchten. Du lagst neben mir, und ich wusste nicht, ob du tot oder lebendig warst. Ich wartete, bis der Suchtrupp sich verzog, dann zog ich dich ans Ufer; Gott sei Dank hast du noch geatmet. Und dann sah ich das Boot. Es lag fast völlig unter Wasser. Als ich sah, dass auch Ruder darunter lagen, dachte ich erst, ich träume. Dann habe ich mir das Boot genauer angesehen, ich konnte fast nicht glauben, dass es heil war. Ich glaube, der Eigentümer musste es absichtlich versenkt haben, damit man denken sollte, es lohnte sich nicht, es zu stehlen. Das war unser Glück, denn es lohnte sich doch.

Ich konnte noch immer die Hunde hören, aber die rannten flussabwärts. Morgans Männer hatten wohl gedacht, dass wir versuchen würden, an die Küste zu kommen. Ich wusste, dass wir die entgegengesetzte Richtung einschlagen mussten, also hob ich das Boot und ruderte flussaufwärts. Es war wesentlich einfacher, als dich zu tragen. Dels Leiche lag noch immer dort, als wir abfuhren. Ich hörte sie sagen, dass sie den Totengräber benachrichtigen wollten, der ihn später holen sollte.« Er sah Hawkwoods Gesicht. »Was ist denn?«

»Ich wollte dich gerade fragen, warum wir ausgerechnet hierher gekommen sind, aber ich glaube, das wäre eine ziemlich dumme Frage.«

»Wir waren ja ganz in der Nähe. Ich wusste, hier wären wir in Sicherheit und Jess Flynn hätte vielleicht etwas, um deine Verletzung zu behandeln. Und ich hatte Recht. Sie hat dich gepflegt, mit ihrer Medizin und mit Fleischbrühe.

Das war wohl der Geschmack, den ich auf der Zunge hatte, dachte Hawkwood. Zu Lasseur sagte er: »Bitte halte mich nicht für undankbar. Aber waren das wirklich die einzigen Gründe?« Und erst jetzt bemerkte er, was der Privateer anhatte. »Dieses Hemd habe ich noch nie an dir gesehen.«

Lasseur lachte. »Ich freue mich, dass die Kopfverletzung deine kombinatorischen Fähigkeiten nicht beeinflusst hat, mein Freund. Du hast Recht, auch ich bin dankbarer Nutznießer der Flynnschen Kleiderkiste, genau wie du.«

»Es passt dir gut«, stellte Hawkwood lakonisch fest. »Du weißt, dass unsere Anwesenheit hier ein großes Risiko für sie bedeutet. Wenn Morgan erfährt, dass sie uns aufgenommen hat, könnte das böse für sie ausgehen.«

Lasseurs Gesicht wurde ernst. »Das weiß ich, mein Freund. Glaub mir, das weiß ich nur zu gut.«

Hawkwood sah, wie die Sorgenfalten auf Lasseurs Stirn tiefer wurden. »Und wie zum Teufel hast du den Weg hierhergefunden? Als Higgs uns herbrachte, war es doch Nacht.«

Lasseurs Gesicht hellte sich auf. »Ich bin Seemann, Matthew. Hattest du gedacht, ich schlafe, als der Totengräber uns zum Haunt brachte? Ich habe mir die Sterne angesehen. Es war eine klare Nacht, weißt du noch? Ich wusste, auf welchem Kurs wir uns befanden. Ich wusste, wo und wann wir den Fluss überquerten, und ich wusste auch, dass die Farm flussaufwärts lag. Bei Tageslicht war es einfach. Eines Tages bringe ich dir die Feinheiten der Himmelsnavigation bei!«

»Und niemand hat uns gesehen?«

»Soweit ich weiß, nicht. Doch wenn unsere Verfolger die Hunde nicht gehabt hätten, dann hätte es anders ausgehen können. Dann hätte ich sie wahrscheinlich nicht kommen hören. Ich kann nur sagen, die Götter müssen auf unserer Seite gewesen sein.« Lasseur setzte sich auf. »Übrigens weiß Thomas Gadd, dass wir hier sind. Er hat mir geholfen, dich nach oben zu tragen. Er hat auch das Boot wieder zurückgebracht. Und seitdem sind wir hier.«

Im Zimmer war es warm, doch Hawkwood lief es plötzlich kalt über den Rücken. »Was meinst du damit, seitdem? Wie lange sind wir denn schon hier?«

Lasseur zögerte; in seinen Augen flackerte es. »Du bist jetzt etwas länger als vierundzwanzig Stunden hier im Bett.«

Hawkwood brauchte einen Moment, um diesen Schreck zu verdauen. »Was?« Dann rechnete er schnell nach und warf die Decke zurück. »Mein Gott!«

Lasseur riss vor Schreck die Augen auf. Er legte Hawkwood die Hand auf die Brust. »Was machst du denn?«

Hawkwood schob seine Hand beiseite. »Ich muss die Behörden benachrichtigen! Ich muss sie warnen, wegen dem Überfall auf die Admiralität! Es soll doch morgen Nacht passieren!«

Lasseur packte ihn am Arm. »Warte! Tom Gadd sagte mir, dass Morgans Leute uns immer noch suchen. Sie haben ein Kopfgeld ausgesetzt. Wenn einer von uns die Farm verlässt, besteht die Gefahr, dass wir gesehen werden. Außerdem«, fügte Lasseur bestimmt hinzu, »sieh dich doch mal an! Du bist in keiner Verfassung, irgendwo hinzugehen.«

»Das muss ich riskieren.« Hawkwood schob Lasseurs Hand erneut weg, schwang die Beine aus dem Bett und stellte sie auf den Boden. »Wo sind meine verdammten Klamotten?«

Lasseurs Augen wanderten zum Schrank.

Hawkwood stand auf. Der Raum fing an, sich zu drehen. Schnell setzte er sich wieder hin.

Lasseur hob verzweifelt die Hände. »Siehst du? Du kannst kaum laufen. Du musst erst zu Kräften kommen.«

»Dafür ist keine Zeit!« Hawkwood sah zum Fenster, ihm war, als sähe er durch einen Schleier. »Zum Teufel, wie spät ist es eigentlich?«

»Es ist später Nachmittag, fast sechs. Hast du keinen Hunger? Du hast eine ganze Weile nichts Vernünftiges gegessen.«

»Nein, verdammt, ich habe keinen Hunger!« Hawkwood stemmte sich wieder vom Bett hoch. Der Raum schwankte dramatisch, aber nur einen Moment, dann war alles wieder im Lot. Er holte tief Luft und ging etwas unsicher zum Kleiderschrank, wo Hemd, Jacke, Hose und Unterwäsche an Haken und Bügeln hing. Er lehnte sich an die Schranktür und betrachtete die Sachen. Wenn man berücksichtigte, dass sie im Fluss durchnässt worden waren und erst recht, wie sie davor ausgesehen hatten, als sie durch den Wald gerannt waren, kam ihm alles bemerkenswert sauber vor.

Er nahm die Kleider aus dem Schrank, zog das Nachthemd aus und fing an, sich anzuziehen. Er bückte sich und hob die Stiefel auf, wobei er ignorierte, dass ihm schon wieder der Schweiß über den Rücken lief. Leicht benommen setzte er sich auf die Bettkante und versuchte, seinen rechten Stiefel anzuziehen. Er sah, dass das Messer noch immer an seinem Platz steckte. Er sah sich flüchtig im Spiegel an und hätte das aschgraue, unrasierte Gesicht fast nicht erkannt, das ihm daraus entgegenstarrte. Er musste zugeben, er hatte schon besser ausgesehen. Er wandte sich ab und merkte, dass Lasseur ihn mit besorgtem Blick beobachtete. Da er ihm jedoch keine Hilfe anbot, wusste Hawkwood, dass der Privateer ihm etwas klarmachen wollte.

Lasseur versuchte es wieder. »Matthew, jetzt hör mir mal zu. Du kannst noch gar nicht klar denken. Morgan wird mit dem Goldraub sowieso nicht Ernst machen. Dazu ist es jetzt zu spät. Er wird es nicht wagen. Solange er uns nicht gefunden hat, kann er nicht wissen, ob du deine Leute gewarnt hast oder nicht. Wie kann er denn sicher sein, dass das Militär ihn nicht dort schon erwartet? Er wird den Überfall nur wagen, wenn er uns vorher zum Schweigen bringen kann, und auch dann nur, wenn er noch Zeit dazu hat. Es ist viel wahrscheinlicher, dass du den Überfall verhinderst, indem du hierbleibst und er nicht weiß, was Sache ist. Und so sind wir alle sicher.«

»Wir werden niemals sicher sein! Vor Morgan jedenfalls nicht. Wir haben ihn zu schwer getroffen. Er wird furchtbar wütend sein, weil er an Gesicht verloren hat.« Hawkwood griff nach seinem anderen Stiefel. »Ich muss das machen. Dieser Bastard ist doch so rotzfrech, es würde mich gar nicht wundern, wenn er es trotzdem wagte. Und in dem Falle habe ich keine Wahl. Es ist meine Pflicht, ich muss zumindest versuchen, es zu verhindern.«

Lasseur seufzte. »Dann bitte ich dich um einen Gefallen. Warte wenigstens bis Sonnenuntergang, ehe du gehst. Dann ist das Risiko geringer, dass du in der Nähe der Farm gesehen wirst.«

Hawkwood schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Ich werde mich vorsehen, aber ich kann nicht warten, bis es dunkel ist. Ich muss Barham erreichen, solange es noch hell ist.«

»Barham?« Lasseur runzelte die Stirn. »Was ist in Barham? Und warum musst du vor Sonnenuntergang dort sein? Ich verstehe nicht.«

»Dort ist eine Telegrafenstation der Admiralität.«

Ludd hatte Hawkwood mit dieser Einrichtung bekannt gemacht, falls er davon Gebrauch machen müsse. Die Admiralität hatte dieses System eingerichtet, um mit sämtlichen Stützpunkten an der Südküste schnell Verbindung aufnehmen zu können. Es bestand aus einer Reihe von Stationen, die auf erhöhten Punkten standen und übers ganze Land verteilt waren. Jede Station bestand aus einem großen rechteckigen Rahmen, in dem sich sechs Klappläden befanden, angeordnet in zwei Reihen zu jeweils drei. Diese Klappläden konnten ganz nach Wunsch geöffnet und geschlossen werden, wobei die verschiedenen Kombinationen jeweils einen Buchstaben des Alphabets darstellten. Ludd war mit Hawkwood auf das Dach des Admiralitätsgebäudes gestiegen und hatte ihm gezeigt, wie dieser Signalisier-Mechanismus bedient wurde. Es war eine geniale Erfindung. Ludd hatte behauptet, bei klarem Wetter und guter Sicht brauche eine Nachricht von Portsmouth nach Whitehall weniger als zehn Minuten. Bekannte Signale konnten in einem Viertel dieser Zeit bestätigt werden, was umso bemerkenswerter war, als Hawkwood und Ludd allein fünf Minuten gebraucht hatten, um auf das Dach zu gelangen.

In Kent gab es zwei Strecken dieser Telegrafenstationen. Eine lief von Sheerness nach Faversham; Hawkwood vermutete, dass die Nachricht von ihrer Flucht diesen Weg genommen hatte. Die andere Strecke war von wesentlich größerem Nutzen. Sie lief vom Dach in Whitehall über ein Dutzend weiterer Stationen, einschließlich Chatham und Faversham, bis nach Deal.

Wenn man die Lage der Farm relativ zur Küste in Betracht zog, dann war der Telegraf in Shottenden der nächste. Er war vermutlich nicht weiter als sieben oder acht Meilen entfernt, aber der Weg führte über Land. Barham, die nächste Station an dieser Strecke, befand sich hingegen an der Hauptstraße von Canterbury nach Dover. Die Entfernung war etwas über eine Meile mehr, und es war eine Route, die Morgan vielleicht bewachte, aber sie wäre wesentlich schneller. Hawkwood wusste, wenn er nach Barham käme, konnte er von dort aus die Admiralität in London und die Behörden in Deal gleichzeitig benachrichtigen.

»Dann warte bis morgen«, sagte Lasseur. »Das reicht immer noch, um ein Signal zu schicken. Du musst essen, außerdem bist du dann besser ausgeruht. Wenn du beim ersten Morgengrauen aufbrichst, ist es auch weniger wahrscheinlich, dass du Morgans Leuten begegnest, und wenn du vor ihnen fliehen müsstest, dann wärst du fitter.«

Hawkwood zog seinen linken Stiefel an und griff nach seiner Jacke, die auf dem Bett lag. Es war mühsamer als erwartet. Er verspürte eine leichte Übelkeit. Der bittere Nachgeschmack von Jess Flynns Medizin stieg wieder in seiner Kehle hoch. Nach dem losen, bequemen Nachthemd fühlte er sich beengt in seinen Kleidern. Plötzlich hatte er keinen größeren Wunsch, als seinen Kopf wieder auf das Kopfkissen zu legen.

Im Inneren wusste er, dass Lasseurs Rat vernünftig war. Sein Körper signalisierte ihm, dass er Ruhe brauchte. Er hatte wirklich lange nichts mehr gegessen. Er war einfach noch nicht in der Verfassung, sich auf ein Pferd zu setzen und neun Meilen zu reiten, und noch viel weniger, mit irgendeiner Bedrohung fertig zu werden.

Widerwillig nickte er. »Also gut, du hast gewonnen. Ich werde mich morgen früh auf den Weg machen.«


Als Pepper eintrat, saß Morgan an seinem Schreibtisch und blätterte im Kassenbuch. Es war kein guter Tag für ihn. Trotz der Turbulenzen - insbesondere der Bedrohung, die das Verschwinden des Franzosen und des Runners darstellte - musste es weitergehen. Es gab nach wie vor vieles zu erledigen: Da waren Transporte und Treffen, die abgesprochen werden mussten, zugleich musste er sich um die Leute kümmern, die dafür infrage kamen. Lieferungen mussten überwacht und die Buchhaltung erledigt werden, sowohl für die offiziellen als für die »inoffiziellen« Lieferungen. Er sah auf. Sein Blick war eiskalt. »Cephus?«

»Ezekiel«, sagte Pepper und schloss die Tür hinter sich.

Morgan sah seinen Leutnant finster an. »Was gibt’s?«

Peppers ernstes Gesicht sagte alles.

Wütend warf Morgan den Federhalter auf den Tisch. Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Verflucht nochmal! Irgendjemand muss doch was wissen!« Er schüttelte den Kopf, wütend und verzweifelt zugleich. »Dieser Bastard von einem Runner kann doch nicht bis nach Hause gekommen sein. Es gibt auch keine Anzeichen, dass er jemanden alarmiert hat. In Deal ist es ruhig. Keine zusätzlichen Truppenbewegungen. Wenn die Admiralität oder das Militär in Bereitschaft wäre, würde es dort vor Soldaten wimmeln.«

»Dann bleibt also alles wie geplant?«, fragte Pepper. Er stand da, als erwarte er einen Befehl.

Morgan sah auf den Kamin, in dem kein Feuer brannte. Hier hatten sich die beiden Mastiffs ausgestreckt und nahmen den größten Teil des Teppichs ein. Verdammte, nutzlose Köter, dachte er, und seine Wut wurde noch größer. Die Hunde sahen nicht auf. Es war, als wussten sie, dass sie Morgans Zorn auf sich geladen hatten, und wollten jeden Blickkontakt vermeiden.

»Ich habe mich noch nicht entschieden.« Er gab sich Mühe, seine Stimme fest klingen zu lassen.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte Pepper.

»Verdammt, das weiß ich selber, Cephus!« Frustriert schob Morgan die Kontenbücher zur Seite. Und er hatte doch ruhig bleiben wollen. Er wusste, dass ihm die Zeit davonlief, die Entscheidung konnte nicht mehr lange aufgeschoben werden. Er fühlte, wie seine innere Spannung zunahm, wie ein Staudamm, der jeden Moment brechen konnte. Er kaute an seiner Unterlippe. »Was machen unsere Gäste?«

»Sie sind unruhig. Sie wollen es hinter sich bringen.«

»Das wollen wir alle.«

»Sie fragen dauernd, ob wir schon irgendwas über Lasseur in Erfahrung gebracht haben.«

»Warum, haben sie Sehnsucht nach ihm?«

»Nein«, sagte Pepper. »Ich glaube, sie wollen ihn eher umbringen.«

»Dann sollen sie sich hinten anstellen«, knurrte Morgan. Er lehnte sich zurück. »Vermutlich sollten wir dankbar sein, dass wir nicht auch an deren Loyalität zweifeln müssen.«

»Das brauchen wir nicht, solange sie glauben, dass sie viel Geld verdienen werden«, sagte Pepper.

»Nun, dann lassen wir sie möglichst lange in dem Glauben«, sagte Morgan und stand auf.

Er ging zu dem kleinen Tisch an der Wand, nahm die Brandyflasche und schenkte sich ein kleines verziertes Glas voll. Er trank es in einem Zug leer. Pepper bot er nichts an.

Pepper schwieg und wartete.

Plötzlich nahm Morgan die Flasche und schleuderte sie mit aller Kraft an die Wand über dem Kamin, das leere Glas gleich hinterher. Die Flasche zerschellte. Glassplitter und Brandy regneten auf die Hunde herab, die erschreckt aufsprangen und sich unter dem Schreibtisch versteckten. »Gottverdammte Hundesöhne!«, brüllte Morgan. In seinem Bart hingen Speicheltropfen. Er nahm eine weitere Flasche und schleuderte sie dem gestromten Mastiff hinterher, den es am Hinterteil traf. Der Hund jaulte auf und versuchte, sich unter einem Stuhl zu verkriechen.

»Ezekiel?«, sagte Pepper und ging auf ihn zu, doch er blieb abrupt stehen, als er sah, dass Morgan eine der geladenen Pistolen in der Hand hatte.

Morgan zog den Hahn zurück, zielte auf den braunen Hund und schoss. Der Hund heulte auf und brach zusammen, seine Pfoten scharrten hilflos auf dem Teppich. Dann fing er an zu zittern, und seine Hinterbeine schlugen aus. Aus dem Heulen wurde ein Winseln, dann hörten die Flanken des Hundes auf, sich zu bewegen. Er lag in einer Blutlache.

»Um Gotteswillen, Ezekiel!«, rief Pepper, als der gestromte Hund zaghaft aus seinem Versteck kam und anfing, seinem Gefährten das Blut abzulecken.

Morgan ließ die Pistole sinken. Er starrte auf den toten Hund, dann ging er entschlossen an seinen Schreibtisch und legte die Waffe hin.

Er sah Pepper an, sein Gesicht wirkte plötzlich gefasst. »Jemand soll kommen und die Sauerei hier wegräumen.« Er deutete auf den toten Mastiff.

Pepper zögerte, dann nickte er wortlos. Draußen hörte man Schritte und leise Stimmen; offenbar wunderte man sich, was hier vorgefallen war.

Morgan ging um das tote Tier herum. Geistsabwesend kraulte er dem gestromten Hund die Ohren und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Er stellte fest, dass er merkwürdig ruhig geworden war.

»Ach, und Cephus?«

Pepper blieb an der Tür stehen.

»Der Runner und der Franzose - ich will, dass sie gefunden werden; ich will ihre Eier auf einem Teller serviert haben.«

»Wir suchen sie ja«, sagte Pepper.

»Dann sucht noch gründlicher. Lasseur wird auf dem Weg zur Küste sein. Er wird nach Hause wollen. Ich will, dass jeder Fischer, jeder Kapitän, überhaupt jeder, der zwischen Rye und Rochester auch nur ein verdammtes Ruderboot besitzt, seine Augen offen hält.«

»Und der Runner?«

»Der ist gefährlich. Der wird jedem verkünden wollen, was er hier gehört hat, während der Froschfresser sich eher absetzen wird.« Morgan zögerte. »Man kann nicht abstreiten, dass die beiden zusammen verdammt effektiv sind. Kann sein, dass sie erst noch zusammenbleiben, um sich gegenseitig Rückendeckung zu geben. Erhöhe die Belohnung. Ich will, dass alle mitarbeiten, jeder, der uns etwas schuldet. Und damit meine ich jeden - vom Dreckschaufler bis zum Richter, und du sammelst Hinweise. Wenn jemand Schwierigkeiten macht, weißt du, was du zu tun hast. Billy Hollins schätzt, der Franzose könnte getroffen worden sein, ehe er über die Mauer ging, und vielleicht hat Del auch einen verletzt, ehe sie ihn umbrachten. Sag Rackham, er soll mal mit seinen Kumpels sprechen. Vielleicht hatte ja jemand zwei Besucher, die ärztliche Hilfe brauchten.«

»Mach ich«, sagte Pepper. Rackham war Morgans bevorzugter Arzt. Sein Können hätte ihm zwar weder im St. Bartholomew noch im St. Thomas Hospital zu Ruhm und Ehre gereicht, aber er war verschwiegen, und das war die Hauptsache.

»In Ordnung«, sagte Morgan.

Pepper verließ den Raum.

Morgan ging wieder an seine Bücher, aber es war ihm unmöglich, sich zu konzentrieren. Ruhelos stand er wieder auf und ging ans Fenster.

Hinter ihm ging die Tür auf.

»Ezekiel.«

Wieder Pepper. Seine Stimme klang anders als sonst. Morgan drehte sich um.

Pepper war nicht allein. Er trat zur Seite, um den Mann hinter sich eintreten zu lassen.

Morgan starrte den Besucher an.

Der gestromte Hund hob den Kopf und ließ ein drohendes Knurren hören.

Pepper schloss die Tür. »Ich glaube, das solltest du hören.«

»Hallo, Mr. Morgan«, sagte Seth Tyler. Er riss die Augen auf, als er den toten Hund und das blutbefleckte Maul des anderen Mastiffs sah. Die Kratzspuren von dem Reisigbesen waren noch immer deutlich auf seinem Gesicht zu sehen, einige waren noch nicht verheilt. Er schluckte nervös. »Ich habe gehört, Sie suchen Information. Schätze, ich hab da was, was Sie interessieren könnte …«


»Endlich nimmst du Vernunft an«, seufzte Lasseur. »Ich hatte schon gedacht, ich rede mit mir selbst.«

Hawkwood zog seine Jacke an. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Wissen Jess und Tom Gadd eigentlich, dass ich Polizist bin?«

Lasseur zögerte. »Sie haben es nicht von mir erfahren, aber Thomas wusste es.«

»Morgan wird es verbreitet haben.«

»Zweifellos.«

»Und trotzdem haben sie mich aufgenommen?«

»Es sieht aus, mein Freund, als ob sie mehr Vertrauen zu uns als zu Morgan haben.«

»Allmächtiger«, sagte Hawkwood.

Lasseur lächelte. »Wahrscheinlich ist es mein französischer Charme.«

Sie gingen nach unten. Hawkwood wirkte nicht ganz so tatkräftig wie Lasseur, doch es fühlte sich gut an, wieder auf den Beinen zu sein, egal wie wackelig. Jess Flynn stand am Küchentisch und putzte Gemüse, das sie in einen Topf tat. Ein bekanntes Fellbündel lag auf der Schwelle, halb drinnen, halb draußen. Der Hund sah sich um, die Augen von den langen Haaren verdeckt, und wedelte kurz zur Begrüßung, ehe er sich wieder der Bewachung des Kräutergartens widmete.

Jess Flynn sah Hawkwood missbilligend an. »Sie sollten im Bett sein.«

»Ihnen verdanke ich es, dass ich nicht mehr dort bin«, sagte Hawkwood.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch möglicherweise war es etwas mühsam. Sie hatte noch immer Probleme mit dieser Haarsträhne, stellte Hawkwood fest. »Sie haben von mir nichts zu befürchten«, sagte er.

Es entstand eine Pause, und man sah deutlich, wie ihre Anspannung nachließ. Dann nickte sie und sagte: »Ich weiß.« Sie sah Lasseur kurz an und ihr Gesicht wurde weicher, dann wandte sie sich wieder an Hawkwood und runzelte die Stirn. »Soll ich Sie weiterhin Captain nennen? Aber bitte, setzen Sie sich hin, ehe Sie umfallen. Sie müssen endlich etwas essen. Ich habe eine Suppe auf dem Herd, und auf dem Brett neben Ihnen ist frisches Brot und Butter. Bedienen Sie sich.« Sie deutete auf einen Stuhl, strich sich das Haar aus dem Gesicht und machte sich am Feuer zu schaffen.

»Ich war mal Captain«, sagte Hawkwood, indem er sich setzte. »Das war in einem früheren Leben.«

»Du warst wirklich beim Militär?«, fragte Lasseur. Er sah ehrlich überrascht aus, als er sich ebenfalls setzte.

»Beim Schützencorps. Das britische Regiment, nicht das amerikanische.«

Hawkwood lehnte sich zurück, als Jess Flynn an den Tisch kam und ihm einen Teller Suppe hinstellte. Sie legte einen Löffel daneben.

»Essen Sie«, befahl sie.

Ein wunderbarer Duft stieg vom Teller auf. Hawkwood brach sich ein Stück Brot ab.

»Und du hast in Spanien gekämpft?«, fragte Lasseur.

»Ja.«

»Bei Ciudad Rodrigo?«

Hawkwood nahm einen Löffel Suppe. Huhn, Kartoffeln, Karotten und Kräuter; es war eine wahre Sensation aus Wohlgeschmack und Aroma.

»Nein, das war nach meiner Zeit.«

Er aß etwas Brot und nahm einen weiteren Löffel Suppe, den er fast noch mehr genoss. Mit jedem neuen Löffel spürte er, wie die Mattheit ihn verließ.

»Und jetzt bist du Polizist. Was hat Morgan dich genannt? Einen Runner - ich weiß nicht, was das ist.«

Als dieser Begriff fiel, wurden Jess Flynns Augen groß. Vielleicht hatte Gadd dieses kleine Detail ihr gegenüber nicht erwähnt.

Hawkwood brach ein weiteres Stück Brot ab und tunkte es in die Suppe. »Es bedeutet, dass ich eine besondere Art von Polizist bin.«

»Du jagst Schmuggler?«

»Nicht nur Schmuggler.«

»Aha«, Lasseur nickte. »Du meinst, dass du Leute wie mich jagst: geflüchtete Gefangene. Deshalb warst du auf dem Schiff.«

»Nicht nur. Ich sollte das Verschwinden von zwei Offizieren der Navy aufklären.«

Lasseur zog die Brauen zusammen. »Die Männer, von denen Morgan sprach? An die Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Sark und Masterson.«

»Morgan hat sie umbringen lassen?«

»Sarks Leiche hat man nie gefunden, also konnten wir nicht sicher sein. Aber nach allem, was Morgan uns im Stall erzählt hat, glaube ich ihm jedes Wort.«

»Du willst ihn vor Gericht bringen.«

»Und wenn es das Letzte ist, was ich tue«, sagte Hawkwood. Er nahm ein weiteres Stück Brot und tunkte den Rest Suppe damit auf. Es schmeckte noch ebenso gut wie am Anfang. Er legte den Löffel hin, sah auf den Teller und schien überrascht, dass er leer war. Er fühlte sich wunderbar gestärkt. Vielleicht würde er es doch bis zur Telegrafenstation schaffen.

Plötzlich stand der Hund auf. Aus seiner Kehle kam ein tiefes Knurren.

»In die Vorratskammer«, sagte Jess Flynn schnell und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Die Falltür ist offen.«

Der Hund fing an, mit dem Schwanz zu wedeln.

»Warten Sie«, sagte Jess Flynn erleichtert. »Es ist nur Tom.«

Im nächsten Moment hinkte Gadd zur Tür herein, der Hund folgte ihm schnuppernd. Als der alte Seemann Hawkwood und Lasseur sah, blieb er stehen. Seine Narbe, die sich über Wange und Augenhöhle zog, sah aus wie eine Schneckenspur auf einem Pflasterstein. Er trug ein Baumwollsäckchen über der Schulter und hatte eine Vogelflinte in der Hand.

»Tom«, sagte Hawkwood.

Gadd nickte ernst und zurückhaltend, als er ihn sah. Es schien, als betrachtete er Hawkwoods unrasiertes Gesicht ungewöhnlich lange, doch sein Blick war weder feindlich noch missbilligend. Fast schien es, als könne er sich nicht entscheiden, was er denken sollte. Schließlich nickte er und stellte fest: »Sie sind wieder auf den Beinen, Captain. Das ist gut. Weiß nicht, ob der Bart Ihnen steht.«

»Captain Lasseur sagte mir, dass ich Ihnen zu danken habe, weil Sie geholfen haben, mich nach oben zu bringen.« Verlegen strich Hawkwood mit der Hand über sein Kinn. Er dachte an das Rasiermesser, das die Frau Lasseur gegeben hatte. Das war jetzt in der Zelle im Haunt. Lasseurs Bartwuchs hätte ebenfalls etwas Aufmerksamkeit nötig gehabt, aber da er sowieso einen Spitzbart trug, störte es weniger.

Gadd zuckte die Schultern. »Na ja, Sie kamen Jessie zu Hilfe, als sie in Schwierigkeiten war. Schätze, ich war Ihnen was schuldig. Und’n Grab auszuheben ist viel schwerer. Übrigens trachtet Morgan Ihnen noch immer nach dem Leben.«

»Erzählen Sie uns lieber etwas, was wir noch nicht wissen«, sagte Hawkwood.

»Er hat das Kopfgeld erhöht. Reicht Ihnen das?« Gadd griff in seinen Sack und zog zwei Kaninchen heraus. Er ging in die offene Vorratskammer und hängte das Wild an einen Haken am Deckenbalken. Er lehnte die Flinte neben der Tür an die Wand. Der Hund hinter ihm schnupperte immer noch eifrig.

»Ich bin geschmeichelt«, sagte Lasseur.

»Sollten Sie auch«, sagte Gadd. »Es ist eine schöne Summe. McTurk und Croker waren zwei seiner besten Männer. Dann war da noch der junge Del. Morgan wird es nicht hinnehmen, dass man ihm gleich drei seiner Leute genommen hat. Er lässt verbreiten, dass er für Informationen mehr als gewöhnlich bezahlt, und das heißt, dass man überall nach Ihnen Ausschau hält. Sie dürften hier eine kurze Zeit sicher sein, aber wie lange noch, kann man nicht wissen.« Gadd nickte zu Hawkwood hinüber. »Und Sie, Captain oder Constable oder was Sie sich auch nennen, Sie sind weit weg von zu Hause.«

»Komisch«, sagte Hawkwood, »als die Leute mich noch für einen Amerikaner hielten, haben sie mir das auch immer gesagt.«

»Na ja«, sagte Gadd verdrießlich. »Nur damit Sie’s wissen.«

»Der Captain war nicht allein dafür verantwortlich«, sagte Lasseur.

Der Privateer sah zu Jess Flynn hinüber, während er sprach, und Hawkwood merkte, wie sie sich ansahen. Er fragte sich, wie viel Lasseur ihr erzählt hatte. Das Geständnis schien sie nicht zu schockieren.

»Das mag sein«, sagte Gadd. »Es macht auch nichts. Morgan will Sie beide. Und er will, dass Sie umgebracht werden. Ich vermute, er hofft, dass der eine ihn zum anderen führt. Wahrscheinlich will er sogar selbst mitmachen. Man sagt, er tut’s ab und zu, um in der Übung zu bleiben. Er dachte, Sie würden versuchen, ein Schiff zu kriegen, deshalb lässt er an der ganzen Küste nachfragen. Er lässt auch die Straßen beobachten. So viel Aufregung hab ich seit’04 nicht mehr gesehen, als man dachte, Boney plant’ne Invasion. Die können offenbar nicht glauben, dass Sie die letzten beiden Tage überlebt haben, ohne dass jemand Sie gesehen hat. Man sollte meinen …« Gadd verstummte, als er Hawkwoods Gesicht sah.

Lasseur hob den Kopf.

Hawkwood starrte den alten Seemann an. »Wie lange, sagten Sie?«

»Wie lange was?«, sagte Gadd.

»Wie lange sagten Sie, dass wir hier sind?« Hawkwood stand auf.

Gadd sah Jess Flynn an, deren bemehlte Hände stillstanden, als sie Hawkwoods eisigen Ton wahrnahm.

»Na, seit vorgestern. Der Captain hat Sie mit dem Boot hergebracht. Jessie und ich dachten, es ist zu spät, Sie waren ja in einem schrecklichen Zustand, und ganz voll Schlamm. Sah aus, als ob Sie nicht mehr atmeten. War ein hartes Stück Arbeit, Sie nach oben zu tragen. Der Captain und ich mussten Ihnen die Sachen richtig vom Leib pellen, so klitschnass war alles. Und Sie haben auch ziemlich gestunken.« Gadd unterbrach sich. »Warum fragen Sie?«

Hawkwood starrte Lasseur an, als die Bedeutung von Gadds Worten ihm klar wurde. »Du hast mir gesagt, wir sind erst einen Tag hier, dabei sind es zwei Tage. Das bedeutet, dass der Überfall nicht morgen stattfindet, sondern heute Nacht!«

Und plötzlich wusste er es. Es traf ihn wie ein Hammerschlag.

»Mein Gott, du willst, dass sie es machen!« Jetzt war ihm alles klar. »Das ist es doch, nicht wahr? Du willst, dass Morgan den Goldraub durchzieht!«

Zunächst antwortete der Privateer nicht. Doch endlich breitete er in einer Geste der Niederlage die Hände aus.

»Du hast mich durchschaut, Matthew.« Er warf Hawkwood einen schuldbewussten Blick zu. »Was kann ich sagen? Ich wusste, dass du über kurz oder lang dahinterkommen würdest, obwohl ich gehofft hatte, es würde etwas länger dauern.« Er zog die Augenbrauen hoch und sah Hawkwood an.

»Du siehst schockiert aus, mein Freund. Aber was würdest du machen, wenn die Situation umgekehrt wäre und du die Chance hättest, den Feind daran zu hindern, seine Truppen weiterhin zu kleiden und zu verpflegen? Würdest du es nicht ausnutzen? Ich glaube, wir wissen beide die Antwort. Ich bin ein Patriot, Matthew, und dafür entschuldige ich mich nicht. Ich sagte, dass ich dich als meinen Freund betrachte, aber ich liebe Frankreich. Und Frankreich braucht das Gold.«

»Gold?«, sagte Gadd. »Was für’n verdammtes Gold?«

»Dann bist du auf Morgans Seite?«, sagte Hawkwood, der Gadds verwirrtes Gesicht ignorierte. »Das tust du, wo du doch weißt, dass er Männer hinter uns herschickt? Zwei deiner eigenen Landsleute haben versucht, dich umzubringen! Wie passt das zu deiner Auffassung von Patriotismus?«

»Jessie?«, sagte Gadd. »Weißt du, wovon die reden?«

Jess Flynn stand stumm da, ihre Augen wanderten zwischen den Männern hin und her. Offenbar war sie von dieser plötzlichen Entwicklung genauso irritiert wie Gadd.

Lasseur schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht wichtig. Hier geht es um die große Sache.«

»Also deshalb warst du so besorgt um meine Gesundheit«, sagte Hawkwood. »Deshalb wolltest du mich überreden, hierzubleiben. Denn wenn Morgan den Überfall heute Nacht durchzieht, dann käme jede Nachricht, die ich morgen von Barham schicken würde, zu spät.«

Wütend schob er den Stuhl zurück und sah zur offenen Tür. In zwei Stunden würde die Sonne untergehen. Noch war Zeit, zur Telegrafenstation in Barham zu reiten und der Admiralität und den Behörden in Deal eine Warnung zu schicken, ehe die Dunkelheit es vereitelte.

Doch würde Morgan seine Pläne heute Nacht ausführen? Würde er es riskieren, obwohl er wusste, dass die Männer, die er jagte, noch auf freiem Fuß waren? Hawkwood wusste, dass er nichts riskieren durfte, falls Morgan es tatsächlich machte.

Er drehte sich zu Jess Flynn um, die die beiden Männer immer noch völlig ratlos ansah. »Ich brauche ein Pferd, Jess! Jetzt sofort!«

»Würde vielleicht jemand so gut sein und uns erzählen, was zum Kuckuck hier los ist?«, verlangte Gadd. »Was bedeutet dieses ganze Gefasel von Gold?«

»Morgan hat vor, die Admiralität in Deal zu überfallen und die Geldkisten der Armee zu rauben«, sagte Hawkwood. »Das Gold will er den Franzosen verkaufen. Und möglicherweise macht er es heute Nacht. Captain Lasseur hier möchte, dass es ihm gelingt. Ich möchte ihn daran hindern.«

»Oh, verflucht!« Gadd machte einen Schritt rückwärts. Hawkwood wandte sich an Lasseur. »Was jetzt, Captain? Werden Sie jetzt versuchen, mich daran zu hindern?«

Lasseur lächelte traurig. »Ich hatte nicht erwartet, dass es dazu kommt, mein Freund.«

»Ich auch nicht«, sagte Hawkwood ehrlich.

Lasseur stand vom Tisch auf. »Tut mir leid, Matthew.«

»Nein!«, rief Jess Flynn.

Hawkwood fühlte, wie seine Muskeln sich anspannten, er dachte an das Messer in seinem Stiefel und überlegte, wie schnell er es erreichen konnte.

»Am besten bleiben Sie, wo Sie sind, Captain. Ich möchte Sie nicht erschießen müssen.«

»Tom!«, sagte Jess Flynn schockiert.

Hawkwood sah sich um. Gadd hatte die Vogelflinte in der Hand. Die Mündung war auf Lasseurs Brust gerichtet und Tom Gadds Finger lag am Abzug.

»Sie ist geladen, Captain, falls es Sie interessiert. Ich hab sie immer geladen, weil ich Wild für den Kochtopf schieße und man nie weiß, was im nächsten Moment aus dem Kornfeld aufsteigt. Also, ehe Sie’ne Dummheit machen, bedenken Sie, dass Sie nicht so schnell hinter dem Tisch vorkommen können, wie ich abdrücken kann.«

Lasseur hielt die Handflächen hoch und setzte sich wieder, immer noch das halbe Lächeln um den Mund.

»So ist’s besser«, sagte Gadd. »Machen Sie sich’s bequem, und wir anderen müssen mal überlegen. Die Geldkisten der Armee, sagten Sie?«

»Für Wellingtons Truppen in Spanien«, sagte Hawkwood.

»Und Morgan will sie Bonaparte geben?«

»Nein, er will sie ihm verkaufen.«

Gadd fummelte mit der Zunge an einem hohlen Zahn.

»Kann nicht behaupten, dass ich das gut finde, Old Noseys Gold den Franzosen zu geben. Ich hab in meinem Leben auch schon ein paar Guineen geschmuggelt, aber wir haben nie was von unseren Jungs geklaut. Irgendwo hört’s doch auf. Und wenn Morgan die Hand im Spiel hat, dann müsste man verdammt blöd sein, um nicht zu wissen, dass er gleichzeitig sein eigenes Nest damit polstert. Sie hatten Barham erwähnt. Meinten Sie den Telegrafen?«

»Richtig.«

Gadd richtete sich hoch auf. »Dann reiten Sie am besten sofort los. Wenn Sie jetzt gehen, schaffen Sie es, ehe es dunkel ist. Im Stall sind zwei Pferde. Nehmen Sie die Stute, die ist schneller. Das kleinere Pferd geht besser vor dem Wagen. Sie müssen auf die Straße nach Dover; nehmen Sie den Weg durch den hinteren Wald bis zur Kirche, dann weiter nach Süden. Die Straße geht direkt nach Barham Downs. Sie werden die Telegrafenstation schon sehen, sie ist oben auf dem Berg. Man kann’s gar nicht verfehlen. Den Captain behalten wir hier, solange Sie weg sind. Vielleicht kriegen wir ja auch was zu essen und zu trinken, wie wär’s damit, Jessie?« Ehe Jess Flynn Zeit hatte, zu antworten, drehte Gadd sich um. »Sind Sie immer noch da, Constable? Jetzt sprinten Sie mal los, Sie verschwenden kostbare Zeit!«

Hawkwood sah zu Lasseur. »Reisen Sie sicher, Captain«, sagte der Franzose, und es klang, als ob er es ehrlich meinte.

Hawkwood rannte aus der Küche.

Als er den Weg zum Stall einschlug, sah er auf der Anhöhe einen Lichtblitz.

Verflucht, zu spät, dachte er. Er wusste, dass es die Sonne war, die von einem Fernglas reflektiert wurde. Er hatte es zu oft gesehen, als dass es etwas anderes sein konnte.

Er reagierte ganz instinktiv. Geduckt lief er zurück ins Haus, als der erste Reiter sich lautlos vom Waldrand löste.

Dann fing der Hund an zu bellen.

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