7

Hawkwood starrte die rosa Augen und den rasierten Kopf an und überlegte, welche Farbe Matisses Haar wohl hätte. Man hatte doch einen Namen für Menschen, deren Haar so blond war, dass es fast weiß schien, und deren rot geränderte Augen aussahen, als seien sie blutunterlaufen. Weißgesicht nannten manche sie, obwohl das nicht der einzige Name war. Es war in Spanien gewesen, wo Hawkwood dieses Phänomen zum ersten und einzigen Mal bisher gesehen hatte. Es war ein kleiner Junge gewesen, in einem Waisenhaus, das Mönche in der Nähe von Astariz leiteten. Der Junge war als Baby in einem Beichtstuhl ausgesetzt worden, man hatte ihn in eine Decke gewickelt, und sein einziger Besitz war ein kleines silbernes Kreuz gewesen, das er an einem Schnürsenkel um den Hals trug. Das Kind war sieben Jahre alt, als Hawkwood es kennenlernte, und es galt als ein kleines Wunder, denn niemand hatte erwartet, dass es mehr als höchstens vier Jahre alt werden würde. Die Augen des Jungen waren sehr lichtempfindlich gewesen, erinnerte Hawkwood sich, und deshalb musste er fast den ganzen Tag in einem abgedunkelten Raum zubringen. Einer der Klosterbrüder hatte Hawkwood erzählt, dass das Wort, mit dem man diese Menschen bezeichnete, von portugiesischen Händlern stammte. Es war der Name, den sie den weißen Negern gaben, die sie an der afrikanischen Küste gesehen hatten. Die hatten sie Albinos genannt.

Matisses Augenfarbe deutete darauf hin, dass er unter der gleichen Anomalie litt. Vielleicht war das auch der Grund für die angebliche Vorliebe der Römer für die Dunkelheit. Womöglich basierten diese Gerüchte lediglich auf einer falschen Einschätzung des Gebrechens, unter dem ihr Anführer litt.

Hawkwoods Gedankengang wurde unterbrochen.

»Captain Lasseur! Welche Ehre! Wir haben nicht oft die Gelegenheit, einen Seehelden unserer Republik kennenzulernen. Erst gestern habe ich meinen Freunden hier von Ihren Taten erzählt. Und sie waren sehr beeindruckt; besonders von Ihrer Eroberung des britischen Schiffs, der Justice. Wo war das gleich wieder? Vor der Küste von Oran? Ich hörte, sie war Ihnen an Geschützen weit überlegen. Da haben Sie großen Mut bewiesen. Wir bewundern einen Mann mit Rückgrat, nicht wahr, Jungs?«

Seine Sprache war merkwürdig rau und von einer Art tonlosem Pfeifen begleitet. Seine spöttische Rede war stark akzentuiert, und es klang, als würden die Worte weniger gesprochen als ausgespuckt. Hawkwood vermutete, es könne ein Merkmal des korsischen Dialekts sein. Die anderen Männer, die um den Tisch herumlümmelten, reagierten nicht darauf. Sie sahen genauso verlottert aus wie ihr Anführer und schienen wenig begeistert zu sein, Besucher zu haben, egal wie berühmt.

»Und Sie müssen unser tapferer amerikanischer Verbündeter Captain Hooper sein! Leider ist uns Captain Hoopers Ruhm noch nicht zu Ohren gekommen, was zweifellos nur ein Versehen sein kann. Dennoch, mein Beileid zu Ihrer Gefangennahme, Sir. Der Kaiser kann alle Hilfe gebrauchen. Meine Spione berichten, Sie seien gerade aus Spanien zurückgekommen; ein blutiges Schlachtfeld, wie ich höre. In den Zeitungen steht, dass Wellington uns ganz schön eins auf den Deckel gegeben hat. Stimmt das, oder ist das nur Propaganda?«

Hawkwood ignorierte die Frage. Mit einem Tritt beförderte er Juvert näher an den Tisch. »Ich glaube, das hier gehört Ihnen.«

Überraschung und Schwerkraft taten ein Übriges. Der Fußtritt hatte Juvert fast vom Boden gehoben. Er streckte die Hände aus, um sich abzufangen, und schlitterte unter erschrecktem Gewinsel über das Deck, wobei einige Männer, die in seiner Flugbahn standen, hastig zur Seite traten. Der Junge erschrak, die Augen weit aufgerissen. Die Männer, die zu beiden Seiten von ihm saßen, waren aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufgeschreckt und setzten sich aufrecht hin. Ihre Gesichter wirkten schockiert.

Der Mann mit dem rasierten Kopf veränderte seine Haltung nicht. Es war nicht einfach, den Gesichtsausdruck einzuschätzen, mit dem er Juvert ansah, der ausgestreckt vor ihm lag. Nur seine schwer arbeitenden Kaumuskeln verrieten, was er dachte. Er sah auf, den Arm immer noch um die Schulter des Jungen gelegt.

»Sie haben einen Hang zum Dramatischen, Captain Hooper, das muss man Ihnen lassen. Aber allem Anschein nach teilt Claude diese Begeisterung nicht. Es stimmt schon, er macht ab und zu Botengänge für mich. Leider muss ich sagen, nicht immer zu meiner vollen Zufriedenheit.« Dieser letzte Satz enthielt eine Drohung, die nicht zu überhören war.

Juvert erhob sich auf die Knie und zuckte zusammen. Seinem kreideweißen Gesicht war anzusehen, dass er die drohende Nuance in der Stimme seines Meisters bemerkt hatte. Er sah aus wie ein Mann, der versucht, sich zwischen Angriff und Rückzug zu entscheiden, obwohl er genau wusste, dass er wenig Sympathie zu erwarten hatte, egal was er machen würde.

Matisse machte eine kurze Bewegung mit seinem kahlen Kopf. »Bringt ihn weg.«

Juvert hatte keine Gelegenheit mehr, zu protestieren. Er wurde kurzerhand auf die Füße gestellt und hatte kaum noch Zeit, Hawkwood und Lasseur über die Schulter einen letzten Blick zuzuwerfen, ehe er hinter dem Vorhang verschwand. Niemand schien sein Abtreten zu bedauern. Von draußen kam ein kurzes, halbersticktes Gurgeln, dann hörte man, wie etwas weggezerrt wurde. Dann war es still.

Matisse lehnte sich zurück. Er machte einen ganz ruhigen Eindruck, wie ein Mann, der mit sich und der Welt zufrieden ist. Seine Spinnenfinger spielten mit dem Haar im Nacken des Jungen. »Sie verzeihen, wenn wir nicht aufstehen. Wir sind keinen Besuch gewohnt. Übrigens entschuldige ich mich für die unzureichende Beleuchtung. Meine Augen haben eine Aversion gegen das Licht; besonders Tageslicht. Selbst Kerzenlicht verursacht mir einiges Unbehagen. Ein unbequemes Leiden, aber ich habe mich daran gewöhnt.«

Die Worte bestätigten Hawkwoods Vermutung. Das erklärte auch die Fetzen, mit denen man die Fenster zugehängt hatte.

»Wir scheißen auf Ihre Gesundheit«, sagte Lasseur kurz. »Wir sind wegen des Jungen hier.«

Die Männer um den Tisch erstarrten. Der rasierte Kopf neigte sich leicht. Lucien Ballard saß reglos da; er war starr vor Angst. Die Hand in seinem Nacken hatte aufgehört, sich zu bewegen, ließ ihn aber nicht los.

Eine nervöse Spannung erfasste Hawkwood.

»Er gehört nicht hierher«, sagte Lasseur.

»Tatsächlich? Und wer sagt das?«

Die Finger fingen wieder an, zu streicheln. Es erinnerte Hawkwood an das Streicheln einer Katze. Doch Lucien Ballard schnurrte nicht. Er wirkte wie hypnotisiert.

»Ich hatte Juvert gewarnt, sich nicht wieder zu zeigen«, sagte Lasseur. »Er hat sich mir widersetzt - auf Ihren Befehl.«

Die Hand des Korsen stand wieder still. Mit einem scharfen Ruck hob er den Kopf.

»Er hat sich wider-setzt? Sie haben Juvert keine Befehle zu erteilen, Captain Lasseur. Er ist mein Abgesandter. Falls Sie es vergessen haben, Sie sind hier nicht auf Ihrem Geschützdeck. Dies ist meine Domäne. Sie sind hier ein Eindringling.«

»Da hat Commander Hellard vielleicht noch ein Wort mitzureden«, sagte Hawkwood leise. Es war nicht nur der Blick des Mannes, der einen verwirrte, merkte er jetzt. Matisse schien auch kaum die Lider zu bewegen.

»Hellard?«, sagte der Kahlköpfige verächtlich. »Hellard ist ein Schlappschwanz. Der ist doch nur dem Namen nach Commander. Hier regiere ich, nicht er.«

»König Matisse?«, sagte Hawkwood, und fragte sich, ob das der Grund gewesen war, weshalb Hellard keinen Befehl zum Schießen gegeben hatte.

Die rosa Augen waren direkt auf Hawkwood gerichtet. Es war ein beunruhigendes Gefühl. Er hatte den Eindruck - soweit man es nach dem bisherigen Gespräch beurteilen konnte -, dass hinter dieser grotesken Fassade eine gefährliche Intelligenz am Werke war.

»So nennen mich einige, obwohl ich mich, ehrlich gesagt, gar nicht erinnern kann, wie das anfing. Manche würden es wohl für übertrieben halten, aber warum sollte ich es verbieten? Es erfüllt seinen Zweck, denn es hilft, den Pöbel in Schach zu halten.«

Seine Worte klangen verächtlich. Hawkwood fragte sich, ob mit dem »Pöbel« auch die Männer gemeint waren, die hier mit ihm saßen, und wie diese wohl darüber dachten. Doch es schien, als hätte niemand es übel genommen. Vielleicht wussten sie auch nicht, wen er gemeint hatte, oder sie dachten, es beziehe sich auf den Rest der Rafalés.

Ein dünnes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Glatzkopfs. »Ich persönlich sehe mich eher als einen Pastor, einen Hirten, der sich um das Wohlergehen seiner Herde kümmert.« Seine Finger beschäftigten sich wieder mit dem Kragen des Jungen.

Nicht schon wieder, ging es Hawkwood durch den Kopf, während es ihm kalt über den Rücken lief. Von Pastoren und Predigern habe ich seit dem letzten Mal noch genug.

Vielleicht war das auch der Grund, warum Matisse schwarz gekleidet war: um diese Illusion zu festigen; vielleicht aber auch, um auf unheimliche Art seine geisterhafte Gesichtsfarbe zu unterstreichen und damit noch markanter zu wirken. Mattisses Erscheinung war tatsächlich der eines Pfarrers sehr ähnlich. Sie wies keine überflüssigen Verzierungen oder sonstigen Putz auf, bis auf eines: einen winzigen tränenförmigen Anhänger, der manchmal im Laternenschein aufblitzte. Es war eine Perle an seinem linken Ohrläppchen.

Lasseur knurrte: »Zum letzten Mal. Geben Sie den Jungen raus.«

Matisse drehte den Kopf und der Ohrring schaukelte. »Wissen Sie, als Juvert mir erzählte, dass Sie sich für ihn interessierten - ich muss gestehen, dass ich da ziemlich überrascht war. Was sollten wir davon halten? Vielleicht wollten Sie ihn für sich, Captain Lasseur, sind Sie deshalb hier?«

»Ich bin hier, damit ihm nichts passiert.«

»Passiert?« Matisse nahm die Hand vom Nacken des Jungen und legte sie aufs Herz. Seine Fingernägel waren lang und verfärbt, die Spitzen scharf wie Krallen. »Sie denken, ich würde einem Kind etwas antun? Wie können Sie so etwas sagen? Ich bin tief verletzt, Captain.«

»Versuchen Sie keine Spielchen mit mir«, sagte Lasseur.

»Spielchen?«

»Fouchet hat uns gewarnt.«

»Ach ja, der Lehrer. Und genau wovor hat er Sie gewarnt?«

»Er hat uns vor Ihnen gewarnt«, sagte Lasseur. Vor Ekel klang seine Stimme rau, als hätte er Kies im Hals. »Er erzählte uns von den anderen.«

»Andere?«

»Die anderen Jungen, die Sie hier unten hatten.«

»In der Tat?« Der Korse spitzte die Lippen. »Dieser alte

Mann wird in letzter Zeit ziemlich streitsüchtig. Den muss ich mir mal vorknöpfen.« Er hob sein madenweißes Gesicht. »Er muss in seine Schranken verwiesen werden.«

»Also bestreiten Sie es nicht?«

»Warum sollte ich?« Matisse tätschelte dem Jungen die Wange und drehte Lucien Ballards Gesicht zu sich hin. Die Unterlippe des Jungen fing an zu zittern. »Haben Sie schon jemals etwas so Reines gesehen?«

»Er ist ein Kind.«

»Ja, das ist er. Ein süßes Kind, aber bei Ihnen klingt das alles so schmutzig, Captain. Denken Sie denn, wir seien alle Jünger Sodoms? Ich versichere Ihnen, größer könnte Ihr Irrtum gar nicht sein. Wenn wir nicht hier in diesem elenden Schiff eingeschlossen wären, glauben Sie denn, dass wir diese Unterredung überhaupt hätten? Wir sind weit von der Heimat, von unseren Frauen und unseren Liebsten. Was soll ein Mann denn machen? Wir sehnen uns doch nur nach ein bisschen Zärtlichkeit. Das ist doch nichts Schlimmes, oder? Ein Mann ist nicht dafür geschaffen, allein zu sein. Als Mann hat man seine Bedürfnisse. Was ist so schlimm daran, wenn man Freundschaft und Zuneigung sucht, um diese dunkle Zeit zu bewältigen? Wollen Sie uns das streitig machen? Wer sind Sie, darüber zu befinden?«

»Zuneigung?«

»Ja, Zuneigung. Sag’s ihnen, Junge. Erzähl’s dem Captain. Hat Matisse dir wehgetan? Nein. Sehen Sie? Nicht ein Haar habe ich ihm gekrümmt. Er ist vollkommen sicher bei mir.«

»Sicher?« Lasseur starrte Matisse an. »Sie wollen ihn doch mit ins Bett nehmen und zu einem Ihrer Lustknaben machen! Sie würden ihn hier unter dem übrigen schwulen Abschaum herumreichen - und das nennen Sie sicher

Stühle wurden zurückgeschoben. Die Männer am Tisch scharten sich um ihren Anführer.

In Matisses Wange zuckte es. »Habt ihr das gehört? Abschaum hat er euch genannt, und noch dazu schwulen Abschaum. An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig, Captain. Die Navy mag Sie noch so sehr schätzen, aber hier sollten Sie daran denken, wo Sie sind. Und was diesen Jungen hier angeht, wer hat ausgerechnet Sie zu seinem Vormund ernannt? Sie haben doch nicht etwa ein Recht darauf, oder?« Er unterbrach sich einen Moment. »Schließlich ist er doch nicht Ihr Sohn, stimmt’s?«

»Du verdammtes Schwein!«, fluchte Lasseur. Er ging einen Schritt vorwärts. Sein Gesicht war starr wie eine Maske.

Aus Dupins Kehle kam ein warnendes Knurren. Er hob seinen Fassreifen.

Schnell legte Hawkwood seine Hand auf Lasseurs Arm. Die Muskeln im Arm des Privateers waren hart wie Schiffstaue. Hawkwoods Griff hatte gereicht, um Lasseur zurückzuhalten, aber nur so lange, wie der Franzose brauchte, um die Hand ungeduldig abzuschütteln. »Ich verlange, dass der Junge mir ausgehändigt wird, und zwar sofort!«

Es folgte eine tödliche Stille.

Die schwarz gekleidete Gestalt legte beide Handflächen auf den Tisch und erhob sich. Die Bewegung war mühelos, wie das Entrollen einer geschmeidigen Katze.

»Sie verlangen? Sie wagen es, hierherzukommen und etwas von mir zu verlangen? Sehen Sie sich um, Captain. Dies ist mein Reich. Hier regiere ich, und sonst niemand. Sie sind gerade erst angekommen, also sind Sie mit der Ordnung hier noch nicht vertraut. Gehen Sie zurück auf Ihr Geschützdeck und nehmen Sie Captain Hooper mit. Und wenn es Ihnen in den Sinn kommen sollte, Hilfe anzufordern, dann überlegen Sie sich das gut. Glauben Sie wirklich, die Briten haben Kontrolle über das, was hier auf dem Schiff vorgeht? Oh ja, sie haben ihre Musketen und ihre schönen Uniformen. Vielleicht haben sie sogar Autorität, aber glauben Sie auch nur einen Augenblick, dass sie Macht über uns haben? Auf diesem stinkenden Pott sind mehr als achthundert von uns eingesperrt. Was meinen Sie, was die machen würden, wenn es zu einer ausgewachsenen Revolte käme? Nicht die Briten halten die Gefangenen hier in Schach, sondern ich. Matisse! Commander Hellard mag mich verachten, vielleicht hat er sogar Angst vor mir. Aber Sie können sicher sein, dass er und der Rest seiner Mannschaft Gott dankten an dem Tag, an dem ich hier an Bord kam!«

»Du elendes Dreckstück!«, zischte Lasseur.

Einen schreckensstarren Moment lang dachte Hawkwood, dass Lasseur sich trotz Dupins Nähe über den Tisch werfen würde. Wenn er das täte, wären sie beide tot. Doch so schnell ihm der Ausruf entfahren war, hatte er sich auch wieder gefangen. Er sah Matisse an.

»In Ordnung, nennen Sie Ihren Preis.«

»Sie bieten mir Geld?« Immer noch dieser spöttische Ton.

»Wir wollen den Jungen. Ohne ihn gehen wir nicht.«

»Bravo, Captain! Mutige Worte. Haben Sie auch schon daran gedacht, dass Sie vielleicht gar nicht mehr zurückgehen werden?«

»Denken Sie etwa, Sie können uns aufhalten?«, sagte Lasseur.

»Natürlich kann ich Sie aufhalten. Ich brauche nur mit den Fingern zu schnipsen. Was meinen Sie, wie weit Sie dann kommen? Diesmal ist Ihnen der Feind wirklich an Geschützen überlegen.«

Hawkwood sah sich um und wusste, der Mann hatte Recht. Trotz Lasseurs Versuch, draufgängerisch aufzutreten, hatte keiner von ihnen eine Chance gegen Matisses Gefolgschaft. Sie wären dumm, es auch nur zu versuchen. Es war ein Fehler gewesen, so unvorbereitet zu kommen. Sie hatten die Macht unterschätzt, die Matisse über dieses Deck hatte; und wenn man seinem Prahlen Glauben schenken durfte, auch über das restliche Schiff.

»Die Sache muss geklärt werden«, sagte Hawkwood. »Und zwar jetzt.«

Matisse schüttelte den Kopf, aber ob aus Verwunderung oder Belustigung war schwer zu sagen.

»Ist Ihnen wirklich so sehr daran gelegen, den Jungen zurückzukriegen?« Wieder schaukelte der Ohrring. Matisse betrachtete seine Leutnants, die ihn eifrig und erwartungsvoll ansahen. Sie rochen Blut. Langsam drehte er sich um, sein Gesicht war listig. Er zog einen Flunsch.

»In Ordnung, vielleicht gibt es einen Ausweg.«

»Welchen?«, fragte Lasseur.

Matisse schwieg. »Einen Wettkampf.«

Ein Murmeln lief durch die Reihen der Männer.

Lasseur war verblüfft. »Sie meinen, eine Wette? Sie würden mit Würfeln über das Schicksal des Jungen entscheiden?«

»Nicht mit Würfeln.«

»Dann mit Karten? Damit will ich auch nichts zu tun haben!«

»Es gibt andere Wege, sich ein Bild von der Tapferkeit eines Mannes zu machen, als ihn beim Whist gewinnen zu sehen, Captain.«

»Zum Beispiel?«, fragte Lasseur vorsichtig.

»Eine Art von Prüfung.«

»Sie meinen eine Verhandlung?« Lasseur sah skeptisch aus. »Sollen wir etwa ein Plädoyer halten?«

»Nicht diese Art von Prüfung.«

»Was meinen Sie dann?«

»Ich meine einen Zweikampf.«

Alle Anwesenden fingen plötzlich an, aufgeregt durcheinanderzureden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis es wieder still wurde.

»Er will, dass Sie um ihn kämpfen«, sagte Hawkwood ungläubig.

Matisse ließ ein kurzes, hartes und humorloses Lachen hören. »Sie drücken sich so vulgär aus, Captain. Als ob ich vorschlüge, dass die beiden sich prügeln. Ich würde es lieber als eine Art Gottesurteil bezeichnen. ›Dem Sieger den Preis‹ - sagt man das nicht?«

Entsetzt starrte Lasseur ihn an. »Mit Ihnen kämpfe ich nicht!«

»Mit mir kämpfen? Sie missverstehen, Captain. Ich meinte die alte Methode, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, als Könige sich noch nicht selbst gegeneinander erhoben. Sie nominierten einen Stellvertreter, einen tapferen Ritter, der für sie kämpfte, jemand, der das Kriegshandwerk verstand - einen Krieger eben.« Matisse sah Hawkwood an. »Sie, Captain Hawkwood, Sie sind ein Krieger. Das beweisen Ihre Narben. Ich nominiere Sie als Captain Lasseurs Vertreter.«

»Was?«, sagte Lasseur ungläubig.

»Es ist Ihre einzige Chance, ihn zurückzubekommen. Was sagen Sie, Captain Hooper?«

»Ich glaube, Sie sind schon zu lange hier unten. Ihr Verstand hat gelitten. Sie wollen mit einem Zweikampf über das Schicksal des Jungen entscheiden?«

Noch während er sprach, fing es in Hawkwoods Kopf an, sich zu drehen. Was zum Teufel ging hier vor? Was hatte Lasseur sich gedacht? Das war doch nicht geplant gewesen. Warum, im Namen aller Heiligen, hatte er sich in Lasseurs privaten Krieg hineinziehen lassen?

»So wird das Süppchen noch etwas pikanter, nicht wahr?«, sagte Matisse grinsend. »Und es ist schon eine Weile her seit unserer letzten Darbietung. Wann war das? Erinnert sich jemand?« Erwartungsvoll sah er die Gesichter an, die im Kreis um ihn standen. »Nein? Na ja, so ist das eben, hier unten merkt man nicht, wie die Zeit vergeht. Ein Monat fließt in den nächsten. Jedenfalls ist das mein Angebot, Captain Lasseur. Eine sportliche Chance. Wenn mein Mann gewinnt, bleibt der Junge bei uns. Wenn Captain Hooper siegt, gebe ich den Jungen frei. Was sagen Sie dazu?«

»Lassen Sie Captain Hooper aus dem Spiel«, sagte Lasseur. Er sah Hawkwood an. Sein Gesicht war aschgrau.

»Dafür ist es zu spät«, sagte Matisse.

Hawkwood sah die gespannte Aufmerksamkeit in den Gesichtern der anderen Männer. Lasseur starrte ihn noch immer ungläubig an.

»Wer ist Ihr Mann?«, fragte Hawkwood. »Dupin?«

»Dupin?« Matisse schien überrascht. Er hob das Kinn. »Oh nein, nicht Dupin. Wenn Korporal Dupin auch ein treuer und zuverlässiger Leutnant ist, so wäre er doch kein Gegner für einen Veteranen wie Sie. Nein, keine Widerrede, Korporal. Sie wissen, dass ich Recht habe. Captain Hooper ist ein erfahrener Soldat, während Sie nur ein Höfling mit einem Stöckchen sind. Sie würden keine fünf Minuten durchhalten, und wo ist da der Sport? Nein, Captain, ich wähle einen anderen, einen viel würdigeren Gegner. Königliches Privileg, wenn Sie wollen.«

Matisse drehte sich um. Einige der Männer am Tisch grinsten sich verständnisinnig an.

»Kemel Bey!«, rief Matisse.

Ein schwacher Lichtkeil erschien in der dunklen Wand hinter dem Tisch. Zum ersten Mal sah Hawkwood die Öffnung in der Trennwand über Matisses Schulter, woraus er schloss, dass davor noch weitere Abteilungen liegen mussten.

Lasseur hielt die Luft an. Hawkwood sah, warum.

Eine Gestalt trat in den Lichtkreis der Laterne. Die Haut des Mannes war so dunkel, dass es aussah, als sei sie aus dem Holz des Schiffes geschnitzt. Er war nicht so groß wie Hawkwood, aber auch nicht klein. Sein Gesicht war breit. Seine Nase war breit und flach. Unter ihr spross ein riesiger rabenschwarzer Schnurrbart. Sein Haar war lang und ölig und ringelte sich im Nacken zu festen Löckchen. In jedem Ohr trug er einen goldenen Ring, der im Laternenschein blitzte. Im Gegensatz zu Matisse waren seine Augen so schwarz wie Oliven.

Seine auffällige Erscheinung wurde durch seine Kleidung noch unterstrichen. Über seinen breiten, muskulösen Brustkorb spannte sich eine gelbe Gefangenenjacke. Seine Beine steckten in weiten, dunkelroten Pluderhosen. Er ging barfuß. Hawkwood fand, er sah aus, als käme er geradewegs aus einem Bilderbuch oder aus dem Kostümfundus eines Theaters.

Hawkwood hatte von den Guerillakämpfern in Spanien von Bonapartes Mamelucken gehört, aber er hatte sie noch nie in Aktion gesehen. Sie hatten einen schrecklichen Ruf. Man sagte, dass der Kaiser, obwohl er sie in der Schlacht besiegt hatte, von ihren kämpferischen Fähigkeiten während der Kampagne in Ägypten so beeindruckt war, dass er zwei Schwadronen von ihnen gestattet hatte, ihn bei seiner Rückkehr nach Frankreich zu begleiten. Eine Entschuldigung ihres befehlshabenden Offiziers und das Versprechen, Frankreich bis in den Tod zu verteidigen hatten genügt, um ihre augenblickliche Integration in die Kaiserliche Garde zu erwirken. Die Kavallerie der Mamelucken hatte eine entscheidende Rolle in Murats brutaler Niederschlagung des Aufstands von Madrid gespielt.

Offenbar war der Mameluck im Gegensatz zu der restlichen Bevölkerung des Schiffes in bester körperlicher Verfassung. Aber das traf auch auf die anderen in Matisses Gefolge zu. Man merkte, sie litten nicht unter denselben Entbehrungen wie die anderen. Auf dem Hulk waren Matisse und sein Hofstaat wie ein Wolfsrudel, in dem die Alphatiere die besten Brocken bekamen. Eigentlich schien Matisse sogar der Magerste von allen zu sein, was darauf hindeutete, dass er weniger mit Muskelkraft als mit dem Kopf regierte. Hawkwood wusste, dass ihn das gefährlicher machte als alle anderen.

»Farbenfroh, nicht wahr?«, sagte Matisse. »Kemel Bey ist ein echter Prinz. Zumindest glauben wir, dass er uns das erzählt hat. Er spricht nicht sehr gut Französisch. Er wurde voriges Jahr auf einem Transportschiff vor Tanger gefangen genommen. Wussten Sie, dass der Kaiser noch immer einen Mamelucken als Leibwächter hat? Er hilft dem Kaiser jeden Morgen beim Rasieren, er soll eine ruhige Hand mit dem Rasiermesser haben.« Matisse hob einen Mundwinkel. Mehrere seiner Getreuen taten es ihm nach, es war offenbar ein interner Witz, den sie alle kannten.

»Man sagt, die Ausbildung eines Mamelucken fängt bei der Geburt an. Ich bin sicher, das ist eine Übertreibung, aber sie sind wirklich in vielem äußerst geschickt: als Schwertkämpfer, im Fechten, mit dem Speer, als Bogenschützen, mit Feuerwaffen … sie sind auch gute Ringer. Sie kennen keine Angst. Kemel Bey wird mich vertreten, Captain Hooper.« Mit rot geränderten Augen warf er die Herausforderung hin. »Also, wie sieht’s aus? Werden Sie sich der Sache stellen, oder werden Sie wegrennen? Kriegen wir unseren Zweikampf?«

Lasseur trat vor und ergriff Hawkwoods Arm. Er sprach leise und eindringlich. »Dies ist nicht Ihre Auseinandersetzung.«

Hawkwood sah den Kreis grinsender Männer um sich, er sah das hämische Lächeln des Kahlköpfigen und das verängstigte, tränenverschmierte Gesicht des Jungen.

»Doch, jetzt ist sie es«, sagte er.

»Aber es ist meine Schuld, dass wir hier sind. Ich sollte kämpfen, nicht Sie!«

»Es ist ja kein Kampf«, sagte Hawkwood. »Es ist ein Gottesurteil.«

»Ich verbiete es Ihnen!«, zischte Lasseur. Er umklammerte Hawkwoods Arm noch fester.

»Sie können es mir nicht verbieten«, sagte Hawkwood ruhig. »Haben Sie nicht gehört? Es ist nicht Ihr Deck. Außerdem muss ich es machen. Wenn Sie gegen Mattisses Mann verlieren, hätte der Junge niemanden, der sich für ihn einsetzt. Ich bin kein Vater. Ich habe nicht dieselbe Bindung an ihn wie Sie. Wenn mir etwas passiert, sind Sie immer noch da.«

»Und trotzdem wollen Sie um ihn kämpfen?«

»Es ist kein Kampf«, sagte Hawkwood, »es ist ein …«

»Ja, ich weiß schon«, unterbrach Lasseur müde. Widerstrebend ließ er Hawkwoods Arm los. »Nun, wenigstens sind Sie ehrlich, mein Freund, das kann man nicht abstreiten. Aber auch ein bisschen verrückt, finde ich.«

»Und außerdem praktisch«, sagte Hawkwood leise. »Sie finanzieren meine Flucht von diesem verfluchten Schiff. Ich will nicht, dass Ihnen etwas passiert. Wenn ich verliere, macht das nicht viel aus, denn es ist gut möglich, dass Sie es trotzdem schaffen.«

Lasseur öffnete den Mund und schloss ihn schnell wieder.

»Wenn Sie soweit sind, Captain«, rief Matisse spöttisch.

Hawkwood starrte Lasseur an. »Daran hatten Sie nicht mehr gedacht, nicht wahr? Daran, was aus dem Jungen würde, wenn Sie erst weg sind?«

Lasseur sah plötzlich schuldbewusst aus.

»Du lieber Gott!«, sagte Hawkwood. »Jetzt sagen Sie mir nicht, dass Sie vorhatten, ihn mitzunehmen. Sie wissen, das wäre unmöglich!«

»Ich werde mir etwas ausdenken«, sagte Lasseur, obwohl sein Gesicht alles andere als zuversichtlich war.

Hawkwood sah die Zweifel im Gesicht des Privateers. Ihre Lage hatte sich innerhalb kürzester Zeit dramatisch verschlechtert, und ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Soweit er es beurteilen konnte, gab es keinen, wenn er seine Rolle weiter spielen und seinen Auftrag ausführen wollte. Er sah Matisse an und seufzte.

»In Ordnung, wo sollen wir es machen?«

»Ausgezeichnet! Gesprochen wie ein wahrer Offizier und Gentleman.« Matisse deutete aufs Deck. »Dort unten.«

Endlich ein Lidschlag der rosa Augen. Dann richteten sie sich auf den wartenden Dupin.

»Bringen Sie den Jungen mit.«

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