8 Uber die Grenze

Nynaeve hielt sich krampfhaft mit einer Hand auf ihrem Platz im hinteren Teil des heftig schaukelnden Wagens fest, und mit der anderen sicherte sie ihren Strohhut, während sie zurückblickte, wo der tobende Staubsturm sich in der Ferne verlor. Die breite Krempe warf Schatten auf ihr Gesicht und schützte sie gegen die morgendliche Hitze, doch der Fahrtwind, den der eilig dahinrumpelnde Karren erzeugte, hätte ausgereicht, ihr den Hut vom Kopf zu wehen, und das trotz des dunkelroten Schals, den sie darübergezogen und unter ihrem Kinn verknotet hatte. Niedrige, grasbewachsene Hügel, auf denen hier und da etwas Gestrüpp dem Auge Halt bot, zogen an ihr vorüber. Das Gras lag dürr und spärlich unter der Hitze des Spätsommers. Der von den Wagenrädern aufgewirbelte Staub nahm ihr gelegentlich etwas die Sicht und reizte sie zum Husten. Die weißen Wolken am Himmel trogen. Es hatte schon seit der Zeit vor ihrer Abreise aus Tanchico nicht mehr geregnet, und das lag Wochen zurück. Es mußte auch einige Zeit hersein, seit zuletzt Wagen über die breite, früher einmal vom Verkehr fest ausgefahrene Straße gerumpelt waren.

Kein Reiter tauchte aus diesem wie fest gemauerten Braun auf, und das konnte ihr nur recht sein. Ihr Zorn auf die Straßenräuber, die sie so kurz vor dem Verlassen des Wahnsinns, der sich in Tarabon abspielte, aufgehalten hatten, war verflogen, und solange sie nicht zornig war, konnte sie die Wahre Quelle nicht erreichen und somit die Macht nicht benützen. Sie war allerdings selbst davon überrascht worden, wie sie bei allem Zorn einen derartigen Sturm hatte erzeugen können. Sobald sie ihn einmal hochgepeitscht und mit ihrem Zorn erfüllt hatte, hatte er wie von selbst weitergewütet. Auch Elayne war von dem Ausmaß des Sturms überrascht worden, aber dankenswerterweise hatte sie das Thom und Juilin gegenüber nicht zugegeben. Doch trotz des ständigen Anwachsens ihrer Kraft, wie es ihre Lehrerinnen in der Burg vorhergesagt hatten, und von denen war keine stark genug, um so wie sie mit einem der Verlorenen fertigzuwerden, trotz dieser Steigerung also war sie noch immer auf ihren Zorn angewiesen und somit eingeschränkt. Wären jetzt weitere Banditen aufgetaucht, hätte Elayne ihnen allein gegenübertreten müssen, und das wollte sie nicht. So war wohl ihr früherer Zorn verflogen, aber sie bemühte sich, die nächste Gefühlsaufwallung vorzubereiten.

Sie kletterte mühsam über die Zeltplane, die über eine ganze Ladung Fässer gespannt war, und langte hinunter nach einem der Wasserfässer, die außen an den Seitenwänden des Wagens zusammen mit den Kisten, in denen sich ihre Habseligkeiten und Vorräte befanden, festgezurrt waren. Sofort verrutschte ihr der Hut wieder, schob sich auf den Hinterkopf, wo er nur noch von dem Schal festgehalten wurde. Ihre Fingerspitzen berührten gerade noch den Deckel des Fasses. Wenn sie das Seil, an dem sie sich mit der anderen Hand festklammerte, losließe, könnte sie das Wasserfaß erreichen, doch bei der Schaukelei würde sie vermutlichen den Halt verlieren und auf die Nase fallen.

Juilin Sandar lenkte den knochigen braunen Wallach, den er ritt — er hatte ihm den unpassenden Namen ›Schmoller‹ verliehen — näher an den Wagen heran und langte hinüber, um ihr einen der ledernen Wasserbehälter zu reichen, die er an seinem Sattel befestigt hatte. Dankbar trank sie, wenn auch nicht gerade manierlich. Sie hing da wie eine Traube an einer vom Wind weggeblasenen Rebe und verschüttete beinahe die Hälfte Wasser auf ihr gutes graues Kleid.

Es war ein passendes Kleid für eine Händlerin, hochgeschlossen, von feiner Webart und feinem Schnitt, aber doch einfach. Die Brosche auf ihrer Brust, ein kleiner goldener Ring mit Granatsteinen besetzt, war vielleicht etwas übertrieben für eine Händlerin, aber es war ein Geschenk der Panarchin von Tarabon gewesen, zusammen mit anderem, viel prachtvollerem Schmuck, der in einem Fach unter dem Fahrersitz weggeschlossen war. Sie trug die Brosche, um immer daran zu denken, daß man selbst Frauen, die auf einem Thron saßen, von Zeit zu Zeit einmal beim Genick packen und durchschütteln mußte. Jetzt, da sie mit Amathera zu tun gehabt hatte, hatte sie auch etwas mehr Verständnis für die Art und Weise, wie die Burg Könige und Königinnen manipulierte.

Sie vermutete, Amatheras Geschenke seien mehr oder weniger als Bestechung gemeint gewesen, damit sie ja Tanchico schnell verließen. Die Frau war sogar gewillt gewesen, ein Schiff zu kaufen, daß sie keine Stunde länger als notwendig bleiben mußten, aber niemand war in der Lage gewesen, eines zu verkaufen. Auf den wenigen Schiffen, die im Hafen von Tanchico verblieben und geeignet waren, nicht nur die Küste entlangzusegeln, drängten sich die Flüchtlinge. Außerdem war ein Schiff zu offensichtlich, da es den schnellsten Weg darstellte, auf dem man Tanchico und Tarabon verlassen konnte. Nach allem, was geschehen war, hielten die Schwarzen Ajah vermutlich nach ihr und Elayne Ausschau. Sie waren ausgesandt worden, um Aes Sedai aufzuspüren, die dem Schatten dienten, und sich nicht umgekehrt von ihnen einfangen zu lassen. Deshalb also der Wagen und die lange Fahrt durch ein von Bürgerkrieg und Anarchie zerrissenes Land. Sie fing allmählich an, zu bereuen, daß sie sich gegen ein Schiff ausgesprochen hatte. Das würde sie allerdings den anderen gegenüber niemals zugeben.

Als sie sich bemühte, Juilin den Wasserbehälter zurückzugeben, winkte der ab. Er war ein zäher, harter Mann, schien wie aus dunklem Holz geschnitzt und fühlte sich auf dem Rücken eines Pferdes nicht sehr wohl. In ihren Augen wirkte er sogar lächerlich, nicht, weil er so unsicher im Sattel saß, sondern wegen dieses dümmlichen roten Taraboner Huts, den er auf seinem glatten, schwarzen Haar trug, ohne Krempe, kegelförmig, hoch und mit abgeflachter Spitze. Er paßte überhaupt nicht zu seinem dunklen Halbmantel aus Tear, der an der Hüfte eng war und darunter ausgestellt. Sie war nicht der Meinung, daß er überhaupt zu etwas passe. Für sie sah es aus, als trage er einen Kuchen auf dem Kopf.

Unbeholfen krabbelte sie weiter nach vorn, in der einen Hand den Lederbehälter und mit flatterndem Hut, und fluchte dabei leise vor sich hin, auf den tairenischen Diebfänger — kein Diebfänger — der doch nicht! —, auf Thom Merrilin — aufgeblasener Gaukler! — und auf Elayne aus dem Hause Trakand, die Tochter-Erbin von Andor, die man auch mal am Genick packen sollte!

Sie hatte sich auf den hölzernen Kutschbock zwischen Thom und Elayne hinabgleiten lassen wollen, aber das Mädchen mit dem goldenen Haar hatte sich eng an Thom gedrückt. Ihr eigener Strohhut hing ihr auf dem Rücken. Sie klammerte sich an den Arm des alten Narren mit dem weißen Schnurrbart, als fürchte sie, herunterzufallen. Mit verzogenem Mund mußte sich Nynaeve mit Elaynes anderer Seite begnügen. Sie war froh, das Haar wieder zu einem richtigen Zopf geflochten tragen zu können, der ihr armdick bis zur Hüfte hinabhing. So konnte sie daran ziehen, anstatt Elayne eins aufs Ohr zu geben. Das Mädchen hatte sich ja anfangs recht vernünftig angestellt, aber in Tanchico schien ihr irgend etwas den Verstand geraubt zu haben.

»Sie verfolgen uns nicht mehr«, verkündete Nynaeve und zog sich den Hut wieder zurecht. »Ihr könnt dieses Ding nun langsamer fahren lassen, Thom.« Das hätte sie ihnen auch von hinten aus zurufen können, ohne über die Fässer zu klettern, aber hinten herumgebeutelt zu werden und ihnen zuzurufen, sie sollten langsamer fahren, wäre ihr auch nicht recht gewesen, denn dann hätte sie den anderen gegenüber ein Zeichen von Schwäche gezeigt. Und das war ihr zuwider. »Setz deinen Hut auf«, sagte sie zu Elayne. »Deiner blassen Haut tut dieser Sonnenschein nicht lange gut.«

Wie sie schon beinahe erwartet hatte, ignorierte das Mädchen ihren freundlichen Ratschlag. »Ihr fahrt so wunderbar«, säuselte sie, als Thom die Zügel raffte und das Vierergespann im Schritt gehen ließ. »Ihr habt keine Minute lang die Kontrolle verloren.«

Der hochgewachsene, drahtige Mann blickte auf sie hinunter. Seine buschigen weißen Augenbrauen zuckten leicht, doch er sagte lediglich: »Vor uns wartet weitere Gesellschaft, Kind.« Nun, vielleicht war er doch kein solch arger Narr.

Nynaeve hielt Ausschau und sah die in Schneeweiß gekleidete Kolonne über die nächste niedrige Erhebung auf sie zukommen. Es waren vielleicht fünfzig Mann in auf Hochglanz polierten Rüstungen und glänzenden, kegelförmigen Helmen, die etwa genauso viele schwerbeladene Wagen begleiteten. Kinder des Lichts. Sie war sich mit einemmal der Lederschnur um ihren Hals sehr bewußt, an der unter ihrem Kleid zwischen den Brüsten zwei Ringe baumelten. Lans schwerem goldenen Siegelring, dem Ring der Könige aus dem längst verlorenen Malkier, würden die Weißmäntel keine Bedeutung beimessen, aber falls sie den Ring mit der Großen Schlange sahen...

Törichte Frau! Den bekommen sie wohl kaum zu sehen, es sei denn, du entschließt dich, dich vor ihnen auszuziehen!

Schnell musterte sie ihre Begleiter. Elayne konnte man nicht davon abhalten, schön auszusehen, und nun, da sie Thoms Arm losgelassen hatte und den grünen Schal wieder umband, der ihren Hut festhielt, wirkten ihre Gesten wieder so edel, daß sie eher in einen Thronsaal paßten, als auf einen Händlerkarren. Doch ihr Kleid unterschied sich nur in der Farbe — es war blau — von dem Nynaeves. Sie trug keinen Schmuck. Amatheras Geschenke hatte sie als ›protzig‹ abgetan. Es würde schon gehen, so, wie es seit Tanchico schon fünfzigmal glattgegangen war. Knapp jedenfalls. Nur war dies ihr erstes Zusammentreffen mit Weißmänteln. Thom in seiner groben braunen Wollkleidung konnte einer von tausend knorrigen, weißhaarigen Männern sein, die auf den Handelsstraßen arbeiteten. Und Juilin war eben Juilin. Er wußte genau, wie er sich verhalten mußte, obwohl er aussah, als befände er sich viel lieber auf dem sicheren Boden als auf einem Pferd. Er trug seinen üblichen Stab und am Gürtel einen geschlitzten Schwertbrecher.

Thom lenkte das Gespann an die eine Straßenseite und hielt an, als mehrere Weißmäntel sich aus der Spitze der Kolonne lösten und herangaloppierten. Nynaeve setzte ein einladendes Lächeln auf. Sie hoffte, die Weißmäntel hätten nicht gerade eben festgestellt, daß sie noch einen weiteren Wagen benötigten.

»Das Licht sei mit Euch, Hauptmann«, sagte sie zu dem Mann mit dem schmalen Gesicht, der anscheinend ihr Anführer war, der einzige, der keine Lanze mit Stahlspitze trug. Sie hatte keine Ahnung, welcher Rang mit den beiden goldenen Knoten auf der Vorderseite seines Umhangs verbunden war, direkt unter der strahlenden Sonne, die bei allen aufgestickt war, aber ihrer Erfahrung nach waren alle Männer Schmeicheleien zugänglich. »Wir sind sehr froh, Euch hier anzutreffen. Ein paar Meilen zurück haben uns Banditen überfallen wollen, doch zum Glück kam wie ein Wunder ein Staubsturm auf. Wir sind gerade noch ent...«

»Ihr seid Kaufleute? Seit einiger Zeit kommen nur noch wenige Kaufleute aus Tarabon.« Die Stimme des Mannes klang so hart, wie sein Gesicht aussah, und das wirkte, als habe man alle Lebensfreude herausgekocht, bevor er noch die Wiege verließ. Mißtrauen stand in seinen dunklen, tiefliegenden Augen. Nynaeve bezweifelte nicht, daß auch dieser Ausdruck von Dauer war. »Wohin wollt Ihr und welche Fracht führt Ihr?«

»Ich befördere Textilfarben, Hauptmann.« Sie hatte Mühe, unter diesem stetigen, starren Blick ihr Lächeln zu wahren. Es war eine Erleichterung, als dieser Blick kurz die anderen überflog. Thom brachte es ausgezeichnet fertig, gelangweilt zu wirken wie ein Fahrer, der ohnehin bezahlt wurde, ob er nun anhielt oder weiterfuhr, und Juilin hatte wohl diesen lächerlichen Hut nicht abgenommen, wie er das früher getan hätte, aber zumindest schien auch er nur flüchtig interessiert — ein angeworbener Mann, der nichts zu verbergen hatte. Als der Blick des Weißmantels auf Elayne fiel, spürte Nynaeve, wie die sich versteifte, und so fuhr sie hastig fort: »Textilfarben aus Tarabon. Die besten auf der Welt. Ich kann für sie in Andor einen guten Preis erzielen.«

Auf ein Zeichen des Hauptmanns hin — oder was er sonst sein mochte — trieb ein anderer Weißmantel sein Pferd an und ritt zum Heck des Wagens. Mit seinem Dolch durchschnitt er eines der Halteseile und zog ein Ende der Zeltplane weg. Darunter wurden drei oder vier Fässer sichtbar. »Sie zeigen das Brandzeichen von Tanchico, Leutnant. Auf diesem hier steht ›Karminrot‹. Wollt Ihr, daß ich ein paar davon öffne?«

Nynaeve hoffte, daß der Weißmantel-Offizier die Sorge auf ihrer Miene richtig deutete, also so, wie sie es wollte. Ohne sie anblicken zu müssen, konnte sie fast körperlich spüren, wie Elayne drauf und dran war, den Soldaten seiner Manieren wegen zu schelten, aber was sie betraf, würde sich jede richtige Kauffrau Sorgen machen, wenn ihre Farbstoffe offen dem Wetter ausgesetzt wurden. »Wenn Ihr mir zeigen wolltet, welche Ihr geöffnet haben wollt, Hauptmann, dann wäre ich nur zu froh, sie selbst für Euch zu öffnen.« Der Mann zeigte überhaupt keine Reaktion, weder auf Schmeicheleien, noch auf die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. »Seht Ihr, die Fässer wurden versiegelt, damit kein Staub und kein Wasser hineinkommt. Wenn der Deckel eines Fasses aufgebrochen wird, bin ich nicht mehr in der Lage, ihn wieder ganz mit Wachs zu verschließen.«

Der Rest der Kolonne schloß zu ihnen auf und begann sich in einer Staubwolke an ihnen vorbeizuschieben. Die Wagenfahrer waren grob gekleidete, unauffällige Männer, aber die Soldaten ritten steif aufgerichtet, die langen Lanzen mit den Stahlspitzen alle im präzise gleichen Winkel erhoben. Selbst so verschwitzt und mit Staub bedeckt wirkten sie wie harte Männer. Nur die Fahrer sahen Nynaeve und die anderen neugierig an.

Der Leutnant der Weißmäntel wedelte sich mit einer im Kampfhandschuh steckenden Hand den Staub vor dem Gesicht weg und befahl dann dem Mann, sich von ihrem Wagen zu entfernen. Sein Blick verließ dabei Nynaeve nicht. »Ihr kommt aus Tanchico?«

Nynaeve nickte, ganz ein Bild von Hilfsbereitschaft und Offenheit. »Ja, Hauptmann. Aus Tanchico.«

»Was könnt Ihr mir von der Stadt berichten? Es hat Gerüchte gegeben.«

»Gerüchte, Hauptmann? Als wir abfuhren, war von Gesetz und Ordnung nicht mehr viel übriggeblieben. Die Stadt war voll von Flüchtlingen, und auf dem Land tummeln sich Rebellen und Banditen. Der Handel ist fast zum Erliegen gekommen.« Das war die simple Wahrheit, klar ausgesprochen. »Deshalb werden diese Farbstoffe besonders gute Preise erzielen. Es werden bestimmt lange Zeit keine Textilfarben mehr aus Tarabon angeboten werden, glaube ich.«

»Flüchtlinge, Handel oder Farbstoffe sind mir gleich, Händlerin«, sagte der Offizier mit nichtssagender Stimme. »Saß Andric noch auf dem Thron?«

»Ja, Hauptmann.« Offensichtlich hatte es Gerüchte gegeben, jemand habe Tanchico eingenommen und den König verdrängt. Vielleicht war das mittlerweile tatsächlich geschehen. Aber wer? Einer der aufständischen Lords, die sich untereinander genauso energisch bekämpften wie den König, oder die Drachenverschworenen, die sich dem Wiedergeborenen Drachen angeschlossen hatten, ohne ihn jemals gesehen zu haben? »Andric war immer noch König und Amathera war Panarchin, als wir abfuhren.«

Seine Augen sagten, daß sie vielleicht log. »Man sagt, die Hexen aus Tar Valon seien darin verwickelt. Habt Ihr Aes Sedai dort gesehen oder von ihnen gehört?«

»Nein, Hauptmann«, sagte sie schnell. Der Große Schlangenring brannte ihr auf der Haut. Fünfzig Weißmäntel um sie herum. Diesmal konnte ihnen kein Sandsturm helfen, und außerdem empfand sie, auch wenn sie das vor sich selbst leugnete, mehr Angst als Zorn. »Einfache Kauffrauen wollen mit der Sorte nichts zu tun haben.« Er nickte und sie riskierte selbst eine Frage. Alles, um schnell das Thema zu wechseln. »Wenn Ihr so freundlich sein würdet, Hauptmann: Haben wir bereits Amadicia erreicht?«

»Die Grenze befindet sich fünf Meilen weit im Osten«, betonte er. »Wenigstens für den Augenblick. Das erste Dorf, das Ihr antreffen werdet, ist Mardecin. Haltet Euch an das Gesetz, und es wird Euch nichts geschehen. Dort befindet sich eine Garnison der Kinder.« Es klang, als habe die Garnison nichts anderes zu tun, als darüber zu wachen, daß sie sich an die Gesetze hielten.

»Seid Ihr gekommen, um die Grenze zu verschieben?« fragte Elayne mit einemmal kühl. Nynaeve hätte sie erwürgen können.

Der Blick aus diesen tiefliegenden, mißtrauischen Augen wanderte zu Elayne hinüber, und Nynaeve sagte hastig: »Vergebt Ihr, mein Lordhauptmann. Sie ist die Tochter meiner ältesten Schwester. Sie glaubt, sie hätte als Lady geboren werden sollen, und außerdem kann sie die Finger nicht von den Jungen lassen. Deshalb hat ihre Mutter sie zu mir geschickt.« Elaynes wütendes Nach-Luft-Schnappen paßte perfekt. Es stimmte ja auch alles. Nynaeve hätte vielleicht nicht unbedingt das mit den Jungen anfügen müssen, aber es schien so gut zu passen.

Der Weißmantel starrte sie noch einen Augenblick lang an und sagte dann: »Der kommandierende Lordhauptmann schickt Lebensmittel nach Tarabon. Sonst käme bald dieses Taraboner Ungeziefer über die Grenze geschlichen und würde alles stehlen, was man kauen kann. Wandelt unter dem Licht«, fügte er hinzu, und dann wendete er sein Pferd und galoppierte zurück an die Spitze der Kolonne. Es hatte aber weder wie ein Vorschlag noch wie ein Segenswunsch geklungen.

Thom ließ den Wagen weiterrollen, sobald der Offizier weg war, doch alle saßen schweigend da und hüstelten höchstens einmal, bis sie weit von den letzten Soldaten entfernt und aus der Staubwolke ihrer Wagen herausgefahren waren.

Nynaeve befeuchtete ihre Kehle mit ein wenig Wasser und drückte den Behälter dann Elayne in die Hände. »Was hast du denn eigentlich dort hinten vorgehabt? Was hast du dir dabei gedacht?« fuhr sie sie an. »Wir befinden uns doch nicht im Thronsaal deiner Mutter, und die würde solche Fragen gar nicht zulassen!«

Elayne leerte zuerst den Wasserbehälter bis zur Neige, bevor sie ihr die Gnade einer Antwort gewährte. »Du bist vor ihm gekrochen, Nynaeve.« Sie verstellte ihre Stimme und flötete süßlich und unterwürfig: »Ich will sehr lieb und folgsam sein, Hauptmann. Darf ich Eure Stiefel küssen, Hauptmann?«

»Wir versuchen, Kaufleute zu spielen und keine Königinnen, die inkognito reisen!«

»Kaufleute müssen deshalb noch lange keine Speichellecker sein! Du hattest Glück, daß er nicht glaubte, wir versuchten etwas zu verbergen, so unterwürfig hast du getan!«

»Sie behandeln Weißmäntel in einer Stärke von fünfzig Lanzen auch nicht gerade von oben herab! Oder hast du geglaubt, wir könnten sie alle mit Hilfe der Macht überwältigen, falls es notwendig sei?«

»Warum hast du ihm gesagt, ich könne die Finger nicht von den Jungen lassen? Das war höchst überflüssig, Nynaeve!«

»Ich war bereit, ihm alles mögliche zu sagen, damit er wegritt und uns in Frieden ließ. Und du...!«

»Ihr beide haltet jetzt den Mund!« fauchte Thom plötzlich dazwischen, »sonst kommen sie am Ende noch zurück und sehen nach, welche von Euch die andere umbringt!«

Nynaeve drehte sich tatsächlich auf der harten Holzbank um, bevor ihr klar wurde, daß die Weißmäntel schon viel zu weit entfernt waren, um sie gehört zu haben. Sie hätten sogar schreien können, ohne noch von ihnen gehört zu werden. Vielleicht hatten sie ja auch geschrien. Daß Elayne mit gleicher Münze geantwortet hatte, half auch nicht weiter.

Nynaeve packte ihren Zopf ganz fest und funkelte Thom böse an, während sich Elayne an seinen Arm schmiegte und in beinahe verliebtem Ton säuselte: »Ihr habt recht, Thom. Es tut mir leid, daß ich die Stimme erhoben habe.« Juilin beobachtete sie von der Seite her, obwohl er so tat, als gehe ihn das alles nichts an, doch er war klug genug, sein Pferd nicht näher heranzutreiben, um nicht auch noch hineingezogen zu werden.

Nynaeve ließ ihren Zopf los, bevor sie sich die Haarwurzeln ausriß, rückte ihren Hut zurecht und setzte sich steif hin, so daß sie geradeaus über das Gespann hinwegblickte. Was auch in das Mädchen gefahren war, es war höchste Zeit, ihr das wieder auszutreiben.

Lediglich eine hohe Steinsäule auf jeder Straßenseite markierte die Grenze zwischen Tarabon und Amadicia. Außer ihnen gab es keinerlei Verkehr auf der Straße. Die Hügel wurden langsam etwas höher, ansonsten aber blieb das Land ziemlich unverändert: braunes Gras und Sträucher mit nur wenigen grünen Blättern und dazu gelegentlich ein paar Kiefern oder Lederblattbäume oder andere immergrüne Gewächse. Die Felder waren mit Steinmäuerchen eingegrenzt und hier und da standen Bauernhäuser mit Strohdächern an den Hängen oder in den Senken, doch sie wirkten verlassen. Kein Rauch quoll aus den Schornsteinen, es arbeitete niemand auf den Feldern, und auf den Weiden waren weder Kühe noch Schafe zu sehen. Manchmal sahen sie ein paar Hühner, die auf einem der Höfe in der Nähe der Straße scharrten, doch sie flohen, wenn sich der Wagen näherte. Offensichtlich waren sie verwildert. Weißmantel-Garnison hin oder her, offensichtlich wagte niemand hier in der Nähe der Grenze zu bleiben, wo jederzeit ein Überfall durch die Banditen aus Tarabon erfolgen konnte.

Als Mardecin von der Spitze einer kleinen Anhöhe aus in Sicht kam, mußte die Sonne immer noch ein gutes Stück steigen, um den Zenit zu erreichen. Die Ansiedlung vor ihnen wirkte zu groß, um sie noch als Dorf bezeichnen zu können. Sie maß bestimmt eine Meile im Durchmesser und lag zwischen zwei Hügeln an einer Brücke über ein kleines Flüßchen. Man sah dort sowohl Ziegeldächer wie strohgedeckte, und auf den breiten Straßen herrschte einiges Gedränge.

»Wir müssen neue Vorräte kaufen«, sagte Nynaeve, »aber es sollte schnell geschehen. Vor Sonnenuntergang können wir noch eine beträchtliche Strecke zurücklegen.«

»Langsam aber sicher packt uns die Erschöpfung, Nynaeve«, sagte Thom. »Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, jeden Tag, beinahe einen Monat lang. Ein Tag Rast wird keinen großen Unterschied machen, wenn wir Tar Valon erreichen.« Er klang aber keineswegs erschöpft. Wahrscheinlich hatte er bloß vor, in einer der Tavernen Harfe oder Flöte zu spielen und sich von den Männern zum Wein einladen zu lassen.

Juilin hatte nun endlich sein Pferd neben den Wagen gelenkt und fügte hinzu: »Ich wäre auch gern mal wieder einen Tag auf den eigenen Beinen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist — dieser Sattel oder der Kutschbock.«

»Ich glaube auch, daß wir nach einer Schenke suchen sollten«, sagte Elayne und blickte zu Thom auf. »Ich habe wahrlich genug davon, unter diesem Wagen zu schlafen, und ich würde Euch gern wieder einmal lauschen, wenn Ihr im Schankraum Eure Geschichten erzählt.«

»Kaufleute mit nur einem Wagen sind nicht viel mehr als fahrende Händler«, sagte Nynaeve in scharfem Ton. »Sie können sich keine Zimmer in den Schenken einer Stadt wie dieser leisten.«

Sie wußte nicht, ob das wirklich der Wahrheit entsprach, aber trotz ihrer eigenen Sehnsucht nach einem Bad und sauberen Bettüchern würde sie das Mädchen nicht so einfach davonkommen lassen. So etwas Thom vorzuschlagen und nicht ihr! Erst, als sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr mit einemmal klar, daß sie damit praktisch Thom und Juilin nachgegeben hatte. Ein Tag wird nicht schaden. Es ist noch ein langer Weg nach Tar Valon.

Sie wünschte, sie hätte auf einem Schiff bestanden. Auf einem schnellen Schiff, beispielsweise einem Klipper des Meervolks, hätten sie Tear in einem Drittel der Zeit erreicht, die sie benötigt hatten, um Tarabon zu durchqueren. Solange günstige Winde herrschten und bei der richtigen Windsucherin der Atha'an Miere wäre das kein Problem gewesen. Davon abgesehen hätten sie oder Elayne das schon im Griff gehabt. Die Tairener ihrerseits wußten, daß sie und Elayne mit Rand befreundet waren, und sie erwartete, daß diese Leute immer noch ins Schwitzen kamen aus Furcht, sie könnten den Wiedergeborenen Drachen erzürnen. Sie hätten dort bestimmt eine Kutsche mit Eskorte bekommen, um bis nach Tar Valon zu reisen.

»Sucht uns einen passenden Lagerplatz dort unten«, sagte sie schließlich zögernd. Sie hätte wirklich auf einer Schiffspassage bestehen sollen! Vielleicht wären sie dann jetzt schon wieder in der Weißen Burg.

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