24 Eine Botschaft wird übermittelt

Das Land veränderte sich, als die Sonne sank. Die Hügel wurden niedriger und die Gehölze ausgedehnter. Oftmals sprossen auf den überwachsenen Erhebungen ehemaliger Steinumzäunungen wild wuchernde Hecken. Solche alten Feldmauern zogen sich auch mitten durch lange Waldstreifen mit Eichen und Lederblattbäumen, Walnußbäumen und Birken und anderen, die Egwene nicht kannte. Die wenigen Bauernhäuser hatten keine Dächer mehr und drinnen wuchsen manchmal Bäume von zehn oder fünfzehn Schritt Höhe; kleine, von Mauern umschlossene Wäldchen, mit zwitschernden Vögeln und Eichhörnchen mit buschigen schwarzen Schwänzen. Die gelegentlichen Bächlein hier riefen genausoviel Erstaunen bei den Aiel hervor wie die Wälder und das Gras. Sie hatten von den Feuchtländern erzählen hören und in Büchern darüber gelesen, die sie von Kaufleuten und fahrenden Händlern wie Hadnan Kadere erworben hatten, aber nur wenige hatten diese Länder seit der Suche nach Laman tatsächlich gesehen. Allerdings stellten sie sich schnell auf die neue Umgebung ein. Das Graubraun ihrer Zelte verschmolz mit dem Braun abgestorbener Blätter unter den Bäumen und mit dem verdorrten Gras und Unkraut. Das Lager erstreckte sich über mehrere Meilen und wurde durch tausend kleine Feuer in der goldenen Abenddämmerung erhellt.

Egwene war mehr als froh, in ihr Zelt kriechen zu können, nachdem die Gai'schain es endlich aufgebaut hatten. Drinnen flackerten die Lampen und in der Feuergrube loderte ein kleines Feuer. Sie schnürte die weichen Stiefel auf, zog sie sich gleich mit den Wollstrümpfen aus und streckte sich wohlig auf den bunten, dicken Decken aus. Aufseufzend bewegte sie ihre Zehen und wünschte sich ein Wasserbecken herbei, um die Füße zu baden. Natürlich gab sie gar nicht erst vor, so widerstandsfähig wie die Aielfrauen zu sein, aber wenn sich ihre Füße schon nach ein paar Stunden Wanderung anfühlten, als seien sie auf die doppelte Größe angeschwollen, dann verweichlichte sie tatsächlich. Eigentlich stellte hier Wasser kein Problem mehr dar. Oder sollte es jedenfalls nicht. Dabei mußte sie allerdings an den recht armseligen Bach denken. Doch wenigstens sollte es hier einmal wieder zu einem richtigen Bad reichen!

Cowinde, die in ihrem weißen Gewand so demütig und still einherglitt, brachte ihr das Abendessen: etwas von diesem hellen Fladenbrot aus Zemaimehl und dicken Eintopf in einer rotgestreiften Schüssel, den sie ganz mechanisch herunterschlang, obwohl sie eigentlich gar nicht hungrig war, nur müde. Sie kannte die getrockneten Paprikastreifen und die Bohnen, doch sicherheitshalber fragte sie nicht nach, welche Sorte von Fleisch das sei. Kaninchen, redete sie sich entschlossen ein und hoffte, es möge der Wahrheit entsprechen. Die Aiel aßen Dinge, bei deren Anblick sich ihre Haare aufstellten. Sie hätte wetten können, daß Rand seine Speisen nicht einmal genau ansah; Männer ekelten sich noch schneller als Frauen.

Sobald sie den Eintopf aufgegessen hatte, streckte sie sich neben einer kunstvoll gehämmerten Silberlampe aus, deren Licht von einer auf Hochglanz polierten Reflektorscheibe verstärkt wurde Sie hatte ein wenig Schuldgefühle, da die meisten Aiel nachts außer den kleinen Feuern überhaupt kein Licht hatten. Nur wenige hatten Lampen und Öl mitgenommen, lediglich die Weisen Frauen und die Häuptlinge von Clans oder Septimen. Aber natürlich wäre es sinnlos, im trüben Feuerschein herumzusitzen, wenn sie richtige Beleuchtung haben konnte. Das erinnerte sie an etwas anderes: Hier war der Temperaturunterschied von Tag und Nacht nicht mehr so kraß wie in der Wüste. Im Zelt war es jetzt bereits unangenehm warm.

Sie benutzte ganz kurz die Macht. Stränge aus Luft erstickten das Feuer. Dann kramte sie in ihrer Satteltasche nach dem abgegriffenen Lederband, den sie von Aviendha ausgeliehen hatte. Es war ein kleines, dickes Buch, eng bedruckt und deshalb schwer zu lesen, außer bei sehr guter Beleuchtung. Dafür konnte sie es in jeder Tasche unterbringen. ›Die Flamme, die Klinge und das Herz‹ lautete der Titel. Es war eine Geschichtensammlung über die Erlebnisse von Birgitte mit Gaidal Cain, Anselan und Barashelle, Rogosh Adlerauge und Dunsinin und einem Dutzend anderer. Aviendha behauptete, ihr gefiele das Buch der Abenteuer und Schlachten wegen, und das mochte stimmen, aber jede Geschichte beschrieb auch die Liebe eines Mannes zu einer Frau und umgekehrt. Egwene war bereit, zuzugeben, daß es grade das sei, was ihr so besonders gefiel: die manchmal stürmischen und dann wieder sanften Wogen unsterblicher Liebe. Jedenfalls gab sie das sich selbst gegenüber zu. Es war natürlich nichts, was eine nach außen hin vernünftige Frau mit klarem Kopf öffentlich zugeben konnte.

In Wirklichkeit allerdings war ihr nicht mehr nach Lesen zumute als vorher nach Essen. Alles, was sie wirklich tun wollte, war baden und schlafen, wobei sie vermutlich sowieso auf das ersteres verzichten mußte. Doch heute nacht waren Amys und sie in Tel'aran'rhiod mit Nynaeve verabredet. Wo sich Nynaeve auf ihrem Weg nach Ghealdan auch befinden mochte, würde die Nacht erst später hereinbrechen, und so mußte sie notgedrungen wach bleiben.

Bei Elayne hatte das mit der Menagerie recht aufregend geklungen, als sie ihnen beim letzten Treffen davon erzählte. Allerdings fand sie nicht, daß Galads Anwesenheit Grund genug sei für eine solch überstürzte Flucht. Ihrer Meinung nach hatten Elayne und Nynaeve einfach Geschmack am Abenteuer gefunden. Die Sache mit Siuan war zu schade, denn die beiden hätten eine feste Hand gebraucht, um sie allmählich erwachsen werden zu lassen. Seltsam, so über Nynaeve zu denken. Früher war gerade sie immer diejenige mit der festen Hand gewesen. Doch seit jenem Zusammentreffen in Tel'aran'rhiod war Nynaeve für sie nicht mehr diejenige, gegen die sie sich durchsetzen mußte.

Schuldbewußt erkannte sie beim Umblättern, daß sie sich auf das Treffen mit Nynaeve diese Nacht freute. Nicht nur, weil Nynaeve eine Freundin war, sondern vor allem, weil sie erleben wollte, ob sich Nynaeves Haltung ihr gegenüber bestätigen werde. Falls Nynaeve wieder an ihrem Zopf riß, würde sie ihr einen kühlen Blick zuwerfen und eine Augenbraue hochziehen und... Licht, ich hoffe nur, daß es anhält. Wenn sie irgend etwas über meinen heimliches Ausflug ausplaudert, werden mir Amys, Bair und Melaine abwechselnd die Haut abziehen, falls sie mich nicht einfach hinauswerfen.

Immer wieder fielen ihr beim Lesen die Augen zu. So hatte sie den Eindruck verschwommener Träume, wenn sie an diese Geschichten dachte. Sie konnte genauso stark sein wie all diese Frauen, genauso stark und tapfer wie Dunsinin oder Nerein oder Melisinde oder sogar Birgitte, so stark wie Aviendha. Würde Nynaeve genug Vernunft besitzen, um vor Amys heute nacht den Mund zu halten? Der vage Gedanke schlich sich ein, daß sie Nynaeve am Nacken packen und durchschütteln werde. Wie dumm. Nynaeve war um Jahre älter als sie. Die Augenbraue kühl und überheblich hochziehen, ha! Dunsinin. Birgitte. Genauso hart und stark wie eine Tochter des Speers.

Ihr Kopf sank vornüber auf das geöffnete Buch, und sie bemühte sich noch, den kleinen Band unter ihrer Wange zu bergen, während ihr Atem immer ruhiger und gleichmäßiger wurde und sie schließlich einschlummerte.

Sie zuckte überrascht zusammen, als sie sich plötzlich unter den großen Sandsteinsäulen im Herzen des Steins wiederfand, im eigenartigen Lichtschein Tel'aran'rhiods, und dann wurde sie noch einmal überrascht, denn sie trug den Cadin'sor. Amys würde es nicht gefallen, sie so gekleidet zu sehen; nein, es würde sie gewiß nicht amüsieren. Schnell bemühte sie sich um neue Kleidung und wurde erneut überrascht, denn ihre Gewänder flimmerten und änderten sich ständig. Einmal trug sie die Algodebluse und den bauschigen Wollrock der Weisen Frauen und dann wieder ein zartes Gewand aus blauer Seide mit Brokatstreifen. Schließlich blieb dann die Aielkleidung einschließlich ihres elfenbeinernen Flammen-Armreifs und ihrer aus Gold und Elfenbein gefertigten Halskette. Solche gedankliche Unentschlossenheit hatte sie schon lange nicht mehr an den Tag gelegt.

Einen Augenblick lang dachte sie daran, die Welt der Träume wieder zu verlassen, doch sie vermutete, daß sie wohl in ihrem Zelt fest eingeschlafen war. Höchstwahrscheinlich würde sie lediglich in einen ihrer eigenen Träume hineingleiten und da war sie sich der Traumnatur nicht immer bewußt. Doch in einem solchen Fall konnte sie nicht mehr nach Tel'aran'rhiod zurückkehren. Sie würde bestimmt Amys nicht mit Nynaeve allein lassen. Wer wußte schon, was Nynaeve dann alles ausplauderte, falls Amys sie herausforderte? Wenn die Weise Frau eintraf, würde sie einfach behaupten, sie sei ebenfalls gerade angekommen. Die Weisen Frauen waren bisher immer ein wenig schneller als sie gewesen oder zumindest zur selben Zeit eingetroffen, aber wenn Amys glaubte, sie sei diesmal nur eine Sekunde schneller gewesen, würde das bestimmt nichts ausmachen.

Sie hatte sich nun schon fast an den Eindruck unsichtbarer Augen in dieser riesigen Halle gewöhnt. Nur die Säulen und die Schatten und dieser große, leere Raum. Trotzdem hoffte sie, es werde nicht zu lange dauern, bis Amys und auch Nynaeve einträfen. Doch es würde mit Sicherheit noch eine Weile dauern. So seltsam die Zeit oftmals in Tel'aran'rhiod verlief, mußte es doch noch eine gute Stunde bis zu ihrem vereinbarten Treffen dauern. Vielleicht gab ihr das genug Zeit, um...

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie Stimmen hörte. Es klang wie ein fernes Flüstern zwischen den Säulen. Sie griff nach Saidar und ging vorsichtig in Richtung der Geräusche auf den Ort zu, wo Rand Callandor unter der großen Kuppel zurückgelassen hatte. Die Weisen Frauen behaupteten, die Fähigkeit, Tel'aran'rhiod unter Kontrolle zu halten, sei hier genauso mächtig wie die Eine Macht, doch sie kannte sich im Gebrauch Saidars viel besser aus und vertraute ihren Fähigkeiten. Hinter den dicken Sandsteinsäulen verborgen, blieb sie stehen und ließ ihren Blick schweifen.

Es waren keine Schwarzen Schwestern, wie sie befürchtet hatte, und auch nicht Nynaeve. Statt dessen stand Elayne in der Nähe der glitzernden Klinge Callandors, die dort im Boden steckte, und sie war in ein Gespräch mit einer Frau vertieft, die wohl die eigenartigste Kleidung trug, die Egwene je gesehen hatte. Sie hatte einen weißen Kurzmantel seltsamen Schnitts an und dazu eine weite gelbe Hose, deren Beine an den Knöcheln jeweils in zahlreichen Falten zusammengebunden waren, gleich über kurzen Stiefeletten mit hohen Absätzen. Auf ihrem Rücken hing ein kunstvoll geflochtener blonder Zopf und in Händen hielt sie einen Bogen, der wie Silber glänzte. Auch die Pfeile im Köcher glänzten silbern.

Egwene schloß die Augen. Zuerst die Probleme mit ihrer Kleidung und nun das. Nur weil sie von Birgitte gelesen hatte — und der silberne Bogen ließ keinen anderen Schluß zu —, war das noch kein Grund, sich einzubilden, sie sei wirklich hier. Birgitte wartete irgendwo auf den Ruf des Horns von Valere, das sie und die anderen Helden zur Letzten Schlacht rufen würde. Doch als Egwene die Augen wieder öffnete, befanden sich Elayne und die seltsam gekleidete Frau immer noch dort. Sie konnte nicht ganz verstehen, was da gesprochen wurde, doch diesmal schenkte sie ihren Augen Glauben. Sie war entschlossen, hinzugehen und sich zu erkennen zu geben, als hinter ihr jemand sagte: »Habt Ihr beschlossen, früher zu kommen? Und allein?«

Egwene wirbelte herum und sah sich Amys gegenüber. Ihr dunkelbraun gebranntes Gesicht schien zu jugendlich für das weiße Haar. Neben ihr stand Bair mit ihren ledern wirkenden Wangen. Beide hatten die Arme vor der Brust verschränkt, und sogar die Art, wie sie die Schals eng zusammengezogen hatten, deutete auf Mißbilligung hin.

»Ich bin eingeschlafen«, sagte Egwene. Es war einfach zu früh, um ihre zurechtgelegte Geschichte vorzubringen. Während sie noch erklärte, wie sie eingeschlummert war und warum sie nicht zurückkehrte — ohne zu erwähnen, daß sie ein Gespräch unter vier Augen zwischen Nynaeve und Amys verhindern wollte —, war sie doch überrascht von ihren eigenen Schuldgefühlen, weil sie vorgehabt hatte zu lügen, und über ihre Erleichterung, daß ihr das nun erspart geblieben war. Vielleicht würde die Wahrheit sie nicht vor Strafe bewahren. Wohl war Amys nicht so streng wie Bair — nicht ganz —, aber sie war durchaus fähig, sie dafür den Rest der Nacht über Steine aufstapeln zu lassen. Viele Weise Frauen glaubten an die strafende Wirkung völlig nutzloser Arbeit. Man konnte sich ja dabei nicht einmal einreden, es sei etwas anderes als eben nur eine Strafe, während man beispielsweise Asche mit einem Löffel vergrub. Und das setzte noch voraus, daß sie sich nicht einfach weigerten, sie weiter zu unterrichten. Dann zog sie doch lieber die Asche vor.

Sie konnte einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken, als Amys nickte und sagte: »Das kann passieren. Aber beim nächsten Mal kehrt Ihr zurück und träumt Eure eigenen Träume. Ich hätte auch allein anhören können, was Nynaeve zu sagen hat, und ihr mitteilen, was wir wissen. Wenn Melaine heute nacht nicht bei Bael und Dorindha wäre, wäre auch sie hier anwesend. Ihr habt Bair einen Schreck eingejagt. Sie ist stolz auf Eure Fortschritte, und wenn Euch etwas passiert...«

Bair aber wirkte gar nicht stolz. Sie schien im Gegenteil eine noch finsterere Miene zu machen als sonst, als Amys schwieg. »Ihr hattet Glück, daß Cowinde Euch fand, als sie das Geschirr abräumen wollte. Sie machte sich Sorgen, weil sie Euch nicht wecken konnte, um die Decken aufzuschütteln. Falls ich geglaubt hätte, Ihr wärt schon länger als nur ein paar Minuten allein hier gewesen...« Ihr Blick wurde einen Augenblick lang drohend, und ihre Stimme klang mehr nach einem Grollen: »Ich glaube, nun müssen wir auf Nynaeve warten, und wenn wir damit nur verhindern, daß Ihr weiterhin bettelt, nicht zurückgeschickt zu werden. Wenn wir dableiben müssen, dann sei es so. Wir können die Zeit möglicherweise anders nutzen. Konzentriert Euch auf... «

»Es ist nicht Nynaeve«, sagte Egwene schnell. Sie wollte gar nicht wissen, was ihr Bair antun könnte, wenn sie solche Laune hatte. »Es ist Elayne, und...« Ihre Worte verklangen, als sie sich umdrehte. Elayne in ihrem eleganten grünen Seidenkleid, das auf jeden Ball gepaßt hätte, schritt unweit von Callandor auf und ab. Birgitte war nicht zu sehen. Ich habe sie mir aber nicht bloß eingebildet! »Sie befindet sich bereits hier?« fragte Amys und trat vor, so daß sie in die gleiche Richtung blicken konnte.

»Noch so ein törichtes Mädchen«, knurrte Bair. »Die Mädchen heutzutage haben nicht mehr Gehirn als Ziegen.« Sie stolzierte vor Egwene und Amys her und pflanzte sich vor Elayne und Callandor gegenüber mit in die Hüften gestemmten Fäusten auf. »Ihr seid nicht meine Schülerin, Elayne von Andor, auch wenn Ihr genug von uns gelernt habt, um Euch hier nicht selbst umzubringen, wenn Ihr Vorsicht walten laßt. Aber wenn Ihr meine Schülerin wärt, würde ich Euch von Kopf bis Fuß versohlen und Euch zu Eurer Mutter zurückschicken, bis Ihr alt genug seid, daß man Euch allein fortläßt. Das könnte meiner Meinung nach noch einmal so viele Jahre dauern, wie Ihr bereits hinter Euch erlebt habt. Ich weiß, daß Ihr allein in die Welt der Träume gekommen seid, Ihr und Nynaeve. Ihr seid beide sehr töricht, so etwas zu unternehmen!«

Elayne fuhr zusammen, als sie so plötzlich erschienen, doch als sie Bairs Tiraden vernahm, richtete sie sich hoch auf und wirkte durch ihre Kopfhaltung geradezu eisig. Ihr Kleid färbte sich rot und nahm einen noch feineren Glanz an. Die Ärmel waren mit einemmal reich bestickt, genau wie das hochgezogene Oberteil des Kleids. Darauf waren auch die sich aufbäumenden weißen Löwen und die goldenen Lilien ihres eigenen Wappens zu erkennen. Ein feines goldenes Diadem ruhte auf ihren rotgoldenen Locken, und ein einzelner Löwe von Andor, aus Mondperlen geformt, hing ihr in die Stirn. Sie konnte solche Dinge nicht sehr gut kontrollieren. Vielleicht aber auch trug sie diesmal genau das, was sie beabsichtigt hatte? »Ich danke Euch für Eure Fürsorge«, sagte sie in wahrhaft königlichem Tonfall. »Doch es stimmt, daß ich nicht Eure Schülerin bin, Bair von den Haido Shaarad. Ich bin dankbar für Eure Unterweisung, aber ich muß meinen eigenen Weg gehen und die Aufgaben erfüllen, die mir die Amyrlin auftrug.«

»Eine tote Frau«, sagte Bair kalt. »Ihr seid einer toten Frau gehorsam.« Egwene fühlte fast greifbar, wie Bair die Haare vor Zorn zu Berge standen. Falls sie nicht eingriff, konnte es sein, daß Bair sich entschloß, Elayne eine schmerzhafte Lektion zu erteilen. Das letzte, was sie benötigten, war diese Art von Auseinandersetzung.

»Was... warum bist du hier und nicht Nynaeve?« Sie hatte eigentlich fragen wollen, was Elayne hier zu tun habe, doch das hätte Bair eine Möglichkeit zum Einhaken gegeben und außerdem vielleicht so geklungen, als stünde sie auf der Seite der Weisen Frauen. Was sie eigentlich fragen wollte, war, wieso Elayne hier herumgestanden und mit Birgitte gesprochen habe. Ich habe mir das doch nicht eingebildet! War es eine Frau gewesen, die träumte, sie sei Birgitte? Doch nur diejenigen, die bewußt Tel'aran'rhiod betraten, konnten dort mehr als ein paar Minuten lang verbleiben, und Elayne hätte sich mit einer anderen bestimmt nicht unterhalten. Wo warteten Birgitte und die anderen eigentlich?

»Nynaeve hat starke Kopfschmerzen.« Das Diadem verschwand, und Elaynes Kleid verwandelte sich in ein einfacheres mit lediglich ein paar goldenen Stickereien auf dem Oberteil.

»Ist sie krank?« fragte Egwene besorgt.

»Sie hat nur Kopfschmerzen und ein oder zwei Schrammen.« Elayne kicherte und verzog gleichzeitig schmerzhaft das Gesicht. »O Egwene, das glaubst du einfach nicht. Alle vier Chavanas sind zu uns zum Essen gekommen. In Wirklichkeit natürlich, um mit Nynaeve zu flirten. Die ersten paar Tage lang haben sie versucht, mit mir zu flirten, aber Thom hat dann eine kleine Unterhaltung mit ihnen geführt. Danach gaben sie's auf. Dabei hatte er gar kein Recht dazu. Nicht, daß ich unbedingt mit ihnen flirten wollte, weißt du? Na ja, jedenfalls waren sie da und flirteten mit Nynaeve. Zumindest versuchten sie es, aber sie hat sie so wenig beachtet wie ein paar lästige Fliegen. Dann kam Latelle herbei und fing an, Nynaeve mit einem Stock zu schlagen und ihr alle Arten von gemeinen Schimpfwörtern zuzuwerfen.«

»Wurde sie verletzt?« Egwene war gar nicht sicher, wen sie damit meinte. Wenn Nynaeve einmal richtig wütend wurde...

»Sie nicht. Die Chavanas bemühten sich, sie von Latelle wegzuzerren und Taeric wird wahrscheinlich noch tagelang humpeln, von Brughs geschwollener Lippe ganz zu schweigen. Petra mußte Latelle in ihren Wagen schleppen, und ich bezweifle, daß sie in den nächsten Tagen ihre Nase noch einmal hinaussteckt.« Elayne schüttelte den Kopf. »Luca wußte nicht, wem er die Schuld geben sollte. Einer seiner Akrobaten mit lahmem Bein, und seine Bärendompteurin liegt heulend im Bett... Also hat er jeden beschuldigt, und ich glaubte schon, Nynaeve werde ihm einiges um die Ohren hauen. Wenigstens hat sie die Macht nicht benützt. Ein- oder zweimal habe ich geglaubt, es sei soweit, bis sie Latelle unter sich am Boden hatte.«

Amys und Bair tauschten einen undurchschaubaren Blick. Dieses Benehmen erwartete man von einer Aes Sedai gewiß nicht.

Egwene war auch ein wenig verwirrt, aber vor allem der vielen Namen und Leute wegen, von denen sie bisher nur ganz kurz gehört hatte. Seltsame Leute, die da mit Löwen, Hunden und Bären herumreisten. Und ein Feuerwerker dazu. Sie konnte nicht glauben, daß diese Petra so stark war, wie Elayne behauptete. Nun gut, Thom konnte auch sowohl Feuerschlucken wie Jonglieren, und was Elayne und Juilin taten, klang schon ebenso eigenartig, obwohl sie ja die Macht benützte.

Wenn Nynaeve nahe daran gewesen war, die Macht zu benützen... Elayne hatte wohl das Glühen Saidars um sie herum entdeckt. Ob sie nun wirklich einen stichhaltigen Grund hatten, sich zu verbergen oder nicht, sie würden bestimmt nicht lange unentdeckt bleiben, falls eine von ihnen die Macht gebrauchte und andere das bemerkten. Die Augen-und-Ohren der Burg würden es auf jeden Fall hören, denn diese Art von Neuigkeiten sprach sich schnell herum, besonders, wenn sie sich noch in Amadicia befanden.

»Richte Nynaeve von mir aus, daß sie sich gefälligst zurückhalten soll, sonst werde ich ein paar Wörtchen mit ihr reden, die ihr gewiß nicht schmecken.« Elayne blickte verblüfft drein, denn Nynaeve hatte ihr bestimmt nicht erzählt, was zwischen ihnen vorgefallen war. So fügte Egwene hinzu: »Wenn sie die Macht gebraucht, kannst du sicher sein, daß Elaida davon erfährt, so schnell nur eine Taube nach Tar Valon kommt.« Mehr konnte sie nicht sagen, denn auch das bereits zog wieder einen Blickeaustausch zwischen Amys und Bair nach sich. Was sie wirklich von einer gespaltenen Burg hielten und einer Amyrlin, die — soweit man das beurteilen konnte — den Befehl ausgegeben hatte, Aes Sedai mit Drogen zu betäuben, hatten sie noch nicht wissen lassen. Wenn sie nicht wollten, wirkte Moiraine gegen sie wie eine Klatschtante. »Eigentlich hätte ich ganz gern euch beide allein vor mir. Ich hätte euch so einiges zu sagen!«

Elayne versteifte ihre Haltung und schien wieder so kühl und beherrscht wie vorher bei Bair. »Das kannst du mir sagen, wann immer du wünscht.«

Hatte sie verstanden? Allein, ohne die Gegenwart der Weisen Frauen. In der Burg. Egwene konnte es nur hoffen. Am besten wechselte sie jetzt das Thema und wünschte sich, die Weisen Frauen würden nicht genauso sorgfältig über ihre Worte nachdenken, wie sie das von Elayne hoffte. »Wird es dieser Auseinandersetzung mit Latelle wegen Probleme geben?« Was hatte sich Nynaeve nur dabei gedacht? Zu Hause hätte sie jede Frau in ihrem Alter, die einen Streit vom Zaun brach, so schnell vor der Versammlung der Frauen gehabt, daß ihr die Augen herausgefallen wären. »Ihr müßt euch doch mittlerweile schon bald in Ghealdan befinden.«

»Noch drei Tage, sagt Luca, wenn wir Glück haben. Die Menagerie kommt nicht so schnell vorwärts.«

»Vielleicht solltet ihr sie jetzt verlassen.«

»Möglicherweise«, sagte Elayne bedächtig. »Ich würde wirklich gern einmal auf dem Seil tanzen, und das vor... « Mit einem Kopfschütteln blickte sie zu Callandor hinüber. Ihr Ausschnitt wurde plötzlich gefährlich tief, schob sich dann aber schnell wieder zu sittsamer Höhe hinauf. »Ich weiß nicht, Egwene. Wir könnten allein auch nicht viel schneller vorankommen, und wir wissen überdies noch nicht genau, wohin wir uns eigentlich wenden sollen.« Das bedeutete, Nynaeve hatte sich nicht daran erinnert, wo sich die Blauen versammelt hatten; falls Elaidas Bericht der Wahrheit entsprach. »Ganz zu schweigen davon, daß Nynaeve vermutlich vor Wut platzt, wenn wir den Wagen zurücklassen und neue Reitpferde kaufen oder gar eine neue Kutsche. Außerdem erfahren wir so eine ganze Menge über die Seanchan. Cerandin hat am Hof der Neun Monde als S'redit-Dompteurin gearbeitet, dort, wo die Kaiserin der Seanchan sitzt. Gestern hat sie uns Sachen gezeigt, die sie mitnahm, als sie aus Falme floh. Egwene, stell dir vor, sie hatte sogar einen A'dam!«

Egwene trat vor, und ihr Rock streifte beinahe Callandor. Rands Fallen waren nicht physischer Natur, was auch Nynaeve zu glauben schien. »Kannst du sicher sein, daß sie keine Sul'dam war?« Ihre Stimme bebte vor Zorn.

»Da bin ich sicher«, sagte Elayne beruhigend. »Ich habe ihr selbst den A'dam angelegt, und sie zeigte keine Reaktion.«

Da lag ein kleines Geheimnis, das selbst die Seanchan nicht kannten oder, falls doch, ängstlich wahrten. Ihre Damane waren Frauen, die mit dem Talent geboren wurden und irgendwann einmal die Macht gebrauchen konnten, ob man es sie lehrte oder nicht. Doch die Sul'dam, diejenigen, die alle Damane befehligten, waren die Frauen, denen man den Gebrauch der Macht durch Schulung beibringen konnte. Die Seanchan hielten Frauen, die mit der Macht umgehen konnten, für gefährliche Tiere und räumten doch, ohne es zu wissen, vielen von ihnen eine gehobene Stellung in ihrer Gesellschaft ein.

»Ich verstehe dieses Interesse an den Seanchan überhaupt nicht.« Amys sprach die Bezeichnung ungeschickt aus; sie hatte von ihnen noch nie gehört, bis Elayne bei ihrem letzten Treffen davon sprach. »Was sie tun, ist sicher schrecklich, aber sie sind ja fort. Rand al'Thor hat sie besiegt, und sie sind geflohen.«

Egwene wandte ihr den Rücken zu und starrte die riesigen, glänzenden Säulen an, die sich weit in die Schatten hineinzogen. »Fort heißt nicht, daß sie nicht wiederkommen werden.« Sie wollte nicht, daß die anderen ihr Gesicht sahen; nicht einmal Elayne. »Wir müssen alles in Erfahrung bringen, was möglich ist, für den Fall, daß sie jemals wiederkommen.« Man hatte ihr in Falme einen A'dam angelegt. Man hatte vorgehabt, sie über das Arythmeer nach Seanchan zu senden, um dort den Rest ihres Lebens wie ein Hund an der Leine zu verbringen. Jedesmal, wenn sie daran dachte, stieg der Zorn in ihr hoch. Und auch die Angst. Die Angst, es könne ihnen gelingen, sie bei ihrer Rückkehr erneut zu ergreifen und diesmal für immer festzusetzen. Das wollte sie sich vor den anderen nicht anmerken lassen: das blanke Entsetzen, von dem sie wußte, daß es in ihren Augen stand. Elayne legte ihr eine Hand auf den Arm. »Wir werden auf sie vorbereitet sein, wenn sie zurückkehren«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Sie werden uns nicht noch einmal überraschen und unwissend vorfinden.« Egwene tätschelte ihre Hand, hätte sich aber lieber an sie geklammert. Elayne verstand sie besser, als ihr manchmal lieb war, doch das war andererseits auch sehr beruhigend.

»Laßt uns das beenden, weshalb wir herkamen«, sagte Bair kurz angebunden. »Ihr braucht nun wirklich Euren Schlaf, Egwene.«

»Wir haben Euch von den Gai'schain entkleiden und unter Eure Decken legen lassen.« Überraschenderweise klang das bei Amys genauso sanft wie bei Elayne. »Wenn Ihr in Euren Körper zurückkehrt, könnt Ihr gleich bis zum Morgen weiterschlafen.«

Egwenes Wangen liefen rot an. Da sie die Aielbräuche kannte, war es durchaus wahrscheinlich, daß einige dieser Gai'schain Männer gewesen waren. Sie würde einmal mit ihnen darüber sprechen müssen; vorsichtig natürlich, denn sie würden es nicht verstehen, und sie fühlte sich alles andere als wohl, wenn sie mit ihnen darüber sprechen mußte.

Ihr wurde bewußt, daß ihre Angst verflogen war. Anscheinend habe ich mehr Angst vor meiner eigenen Scham als vor den Seanchan. Das stimmte nicht ganz, aber sie hielt sich gern an diesem Gedanken fest.

Es gab wirklich nur wenig, was sie Elayne berichten konnte. Daß sie sich endlich in Cairhien befanden, daß Couladin Selean verwüstet und das umliegende Land gebrandschatzt hatte, daß ihnen die Shaido immer noch um Tage voraus waren und nach Westen zogen. Die Weisen Frauen wußten mehr als sie. Sie hatten sich nicht gleich in ihre Zelte begeben. Abends hatte es kleinere Scharmützel gegeben, nur wenige wohl, mit berittenen Gegnern, die schnell geflohen waren, und mit anderen Berittenen, die schon geflohen waren, bevor es zum Kampf kam. Man hatte keine Gefangenen gemacht. Moiraine und Lan schienen die Gegner für Banditen zu halten oder für Anhänger des einen oder anderen Adelshauses, das sich um den Sonnenthron schlug. Alle hatten jedenfalls einen gleich zerlumpten Eindruck gemacht. Wer sie auch gewesen sein mochten — es würde sich bald herumsprechen, daß sich nunmehr noch weitere Aiel in Cairhien aufhielten.

»Sie mußten es ja wohl früher oder später erfahren«, war Elaynes lakonischer Kommentar.

Egwene beobachtete Elayne, als sie selbst und die Weisen Frauen verschwanden. Es wirkte auf sie, als werde Elayne und das Herz des Steins durchscheinend und immer blasser. Doch ihre Freundin mit dem goldenen Haar ließ sich nicht anmerken, ob sie die Botschaft verstanden hatte oder nicht.

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