6 Tore

Rand erwachte in völliger Finsternis, lag unter seinen Decken und grübelte darüber nach, was ihn wohl geweckt habe. Irgend etwas mußte da gewesen sein. Nicht der Traum; da hatte er Aviendha das Schwimmen beigebracht in einem Teich im Wasserwald zu Hause im Gebiet der Zwei Flüsse. Etwas anderes. Da kam es wieder — wie ein schwacher Hauch einer fauligen Ausdünstung, der unter der Tür hindurchgedrungen war. Nicht einmal ein wirklicher Geruch, sondern eher wie ein Gefühl der Andersartigkeit. Ja, so hatte er es empfunden. Ranzig, wie etwas Totes, das schon eine Woche lang im stillen Wasser eines Tümpels ruhte. Es verflog wieder, doch diesmal nicht vollständig.

So schlug er die Decken zur Seite, stand auf und hüllte sich in Saidin. Innerhalb des Nichts und von der Macht erfüllt spürte er wohl noch, wie sein Körper zitterte, doch die Kälte schien sich an einem anderen Ort zu befinden und nicht dort, wo er sich aufhielt. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat hinaus. Mondschein drang durch die Fensterbögen zu beiden Enden des Korridors. Nach der Pechschwärze in seinem Zimmer kam ihm das beinahe wie Tageslicht vor. Nicht rührte sich, doch er spürte... etwas... das sich näherte. Etwas Böses. Beinahe wie die Verderbnis von Saidin, die ihn mit der Macht durchströmte.

Er steckte eine Hand in die Tasche seines Mantels und erfaßte die kleine geschnitzte Figur eines rundlichen kleinen Mannes, der ein Schwert über seinen Knien trug. Ein Angreal; damit konnte er mehr Macht an sich binden und benützen, als selbst er sonst ohne Hilfe schaffte. Sehr wahrscheinlich würde er ihn gar nicht benötigen. Wer auch immer für diesen Angriff auf ihn verantwortlich war, wußte nicht, mit wem er oder sie es jetzt zu tun hatte. Sie hätten ihn niemals aufwachen lassen dürfen.

Einen Augenblick lang zögerte er. Er konnte durchaus den Kampf mit dem, was gegen ihn ausgesandt worden war, von sich aus aufnehmen, aber er hatte das Gefühl, es befinde sich noch ein Stück unter ihm; dort, wo dem Schweigen nach zu schließen die Töchter noch friedlich schliefen. Wenn sie Glück hatten, würden sie nicht behelligt, es sei denn, er eilte hinunter, um mitten unter ihnen zu kämpfen. Das würde sie auf jeden Fall aufwecken, und sie würden auch nicht gerade danebenstehen und zuschauen. Lan sagte immer, er solle sich das richtige Gelände zum Kämpfen möglichst selbst auswählen und den Feind zwingen, zu ihm zu kommen. Lächelnd rannte er mit trommelnden Stiefelsohlen die nächste Wendeltreppe nach oben und immer weiter, bis er sich im obersten Geschoß befand. Dieses Stockwerk bestand aus einem einzigen großen Raum mit leicht gewölbter Decke und verstreut stehenden schlanken, spiralförmig gearbeiteten Säulen. Der durch die glaslosen Bogenfenster einfallende Mondschein erhellte jede Ecke. Im Staub und Schmutz und Sand auf dem Fußboden waren noch immer die Abdrücke seiner eigenen Stiefel undeutlich zu sehen. Die waren bei der einzigen Gelegenheit entstanden, zu der er sich hier oben aufgehalten hatte. Sonst war offensichtlich niemand dagewesen. Es war der perfekte Ort.

Er schritt zur Mitte des Raums und stellte sich auf das Mosaik, das auf zehn Fuß Durchmesser das uralte Symbol der Aes Sedai darstellte. Hier paßte einfach alles. »Unter diesem Zeichen wird er erobern.« So hatte es die Prophezeiung von Rhuidean von ihm behauptet. Er stand über der trennenden Schlangenlinie, einen Fuß auf der schwarzen Träne, die man nun als den Drachenfang bezeichnete und die für das Böse stand, den anderen auf dem weißen Teil, den man heutzutage die ›Flamme von Tar Valon‹ nannte. Einige Menschen behaupteten, sie stünde für das Licht. Also ein wirklich passender Ort, zwischen Licht und Dunkelheit, um sich dem erwarteten Angriff zu stellen.

Das ekelhafte Gefühl verstärkte sich, und der Gestank brennenden Schwefels füllte die Luft. Plötzlich bewegte sich etwas, löste sich wie Mondschatten von der Treppe und glitt außen um den Raum herum. Langsam traten die Umrisse deutlicher hervor, und Rand erblickte drei schwarze Hunde, dunkler als die Nacht und so groß wie Ponys. Mit silbrig glänzenden Augen umkreisten sie ihn wachsam. Durch die Macht in ihm konnte er ihre Herzen wie tiefe Baßtrommeln schlagen hören. Doch ihren Atem hörte er nicht; vielleicht atmeten sie auch gar nicht.

Er verwebte ein wenig der Macht, und in seinen Händen lag ein Schwert, dessen leicht gekrümmte, mit einem Reiher gekennzeichnete Klinge aus Flammen geschmiedet zu sein schien. Er hatte Myrddraal erwartet oder etwas noch Schlimmeres als die Augenlosen, aber für Hunde, selbst aus dem Schatten geborene Hunde, würde das Schwert ausreichen. Wer immer sie auch ausgesandt hatte, kannte ihn nicht. Lan hatte ihm gesagt, er besitze mittlerweile beinahe das Können eines echten Schwertmeisters, und der Behüter geizte sonst mit Lob, so daß er annehmen konnte, diese Stufe wirklich erreicht zu haben.

Die Hunde knurrten, als zermalmten sie Knochen zwischen ihren mächtigen Kiefern, und jagten von drei Seiten her auf ihn los, schneller als galoppierende Pferde.

Er bewegte sich nicht, bis sie ihn schon fast berührten. Dann glitt er, eins mit dem Schwert, von einer Fechtposition in die andere, als tanze er lediglich. Innerhalb eines Wimpernschlags wurde aus der Figur, die man den ›Wirbelwind auf dem Berg‹ nannte, die nächste — ›Der Wind weht über die Mauer‹ — und die nächste ›Den Fächer öffnen‹. Große, schwarze Köpfe wurden von schwarzen Körpern abgetrennt. Ihre geifernden Fänge, wie polierter Stahl glänzend, waren noch gefletscht, als sie über den Boden rollten. Er trat bereits aus dem Mosaik heraus, als die dunklen Gestalten zu zuckenden, blutigen Massen auf dem Boden zusammenbrachen.

Er lachte in sich hinein und ließ das Schwert verschwinden, hielt aber an Saidin fest, an der tobenden Macht, der Süße und der Verderbnis. Verachtung glitt über die Blase des Nichts. Hunde. Schattenabkömmlinge, sicher, aber trotzdem nur... Das Lachen erstarb.

Langsam schmolzen die toten Hunde und ihre Köpfe, wurden zu Pfützen flüssigen Schattens, die leicht bebten, als lebten sie noch. Ihr Blut, über den Boden verschmiert, zitterte empor. Plötzlich flossen die kleineren Pfützen wie bösartige Rinnsale zusammen und verschmolzen mit den größeren, schwappten von dem Mosaik hinweg und bildeten einen immer höher werdenden Klumpen, bis wieder drei riesige schwarze Hunde dort standen, geiferten und knurrten, während sich ihre mächtigen Beinmuskeln zum Sprung spannten.

Er wußte nicht, wieso er eigentlich überrascht war. Er spürte es nur ganz vage, draußen vor der Leere. Hunde, ja, aber eben Schattenabkömmlinge. Wer sie ausgesandt hatte, war doch nicht so leichtsinnig gewesen, wie er angenommen hatte. Aber sie kannten ihn trotzdem immer noch nicht.

Statt erneut nach dem Schwert zu greifen, lenkte er die Macht auf eine Weise, an die er sich von vor längerer Zeit her erinnerte. Einmal schon hatte er sie so benützt. Heulend sprangen die riesigen Hunde hoch, und ein dicker Balken weißen Lichts schoß aus seinen Händen, wie geschmolzener Stahl, wie flüssiges Feuer. Er schwenkte den Strahl über die springenden Geschöpfe, und einen Augenblick lang wurden sie zu seltsam verzerrten Schatten ihrer selbst, alle Farben ins Gegenteil verkehrt, und dann bestanden sie nur noch aus glitzernden Lichtflecken, die auseinanderdrifteten, kleiner und kleiner wurden und ganz verschwanden, bevor sie den Boden erreichten.

Er ließ das, was er da erzeugt hatte, wieder fahren, und während er grimmig lächelte, zog sich noch ein rotglühender Lichtbalken als flimmerndes Nachbild durch sein Gesichtsfeld.

Auf der anderen Seite des großen Raums krachte ein Teil einer der Säulen auf die Fußbodenfliesen herab. Wo dieser Lichtstrahl aufgetroffen war — oder was es halt gewesen war; kein richtiges Licht natürlich —, hatte er glatte Stücke sauber aus den Säulen herausgeschnitten. Die halbe Wandbreite hinter den Säulen wies einen klaffenden Schnitt auf.

»Hat Euch einer von ihnen gebissen, oder wurdet Ihr nur von ihren Blutspritzern getroffen?«

Er fuhr herum, als Moiraines Stimme erklang. Er war so auf das konzentriert gewesen, was er getan hatte, daß er nicht gehört hatte, wie sie die Treppe heraufkam. Sie stand da, ihre Hände in den Rock verkrampft, das Gesicht im Schatten fast verborgen, und musterte ihn. Sie hatte bestimmt die Wesen genau wie er gespürt, aber um so schnell hierher zu kommen, mußte sie sich mächtig beeilt haben. »Haben Euch die Töchter durchgelassen? Seid Ihr jetzt auch eine Far Dareis Mai geworden, Moiraine?«

»Sie gewähren mir einige der Privilegien einer Weisen Frau«, sagte sie hastig. Die blanke Ungeduld schwang in ihrer sonst so melodiösen Stimme mit. »Ich habe den Wächterinnen gesagt, daß ich dringend mit Euch zu sprechen hätte. Antwortet mir aber jetzt! Haben die Schattenhunde Euch gebissen oder ihr Blut auf Euch verspritzt? Hat ihr Speichel Euch berührt?«

»Nein«, antwortete er bedächtig. Schattenhunde. Das wenige, was er über sie wußte, stammte aus alten Märchen, wie man sie in den Südländern benutzte, um Kinder damit zu erschrecken. Manche Erwachsenen glaubten auch daran. »Warum macht Ihr euch über einen Biß Gedanken? Ihr könntet ihn doch mit Hilfe der Macht heilen. Soll das vielleicht bedeuten, der Dunkle König sei frei?« So im Nichts eingebettet, war selbst die Angst nur ein ferner Schatten dieses Gefühls.

In den Geschichten, die man sich so erzählte, rannten die Schattenhunde nachts in der Wilden Jagd mit. Der Jäger war der Dunkle König selbst. Auch auf dem weichsten Untergrund hinterließen sie keine Fußspuren, aber dafür auf Stein, und sie gaben ihre Jagd nicht auf, bevor man sich ihnen nicht gestellt und sie besiegt hatte oder über fließendes Wasser entkommen war. Kreuzwege waren angeblich ein besonders gefährlicher Ort für ein Zusammentreffen mit ihnen, und dazu die Zeit gerade nach Sonnenuntergang oder kurz vor Sonnenaufgang. Er hatte mittlerweile schon so viele Legenden Wirklichkeit werden sehen, daß er geneigt war, diese Geschichten zu glauben.

»Nein, das nicht, Rand.« Sie schien wieder ihre Selbstbeherrschung erlangt zu haben, denn nun klang ihre Stimme wieder glockenklar, ruhig und kühl. »Sie sind nur eine andere Art von Schattenwesen, eine, die niemals hätte gezeugt werden dürfen. Doch ihr Biß ist der sichere Tod, wie ein Dolch im Herzen, und ich glaube nicht, daß ich eine solche Wunde heilen könnte, bevor Ihr daran sterbt. Ihr Blut und sogar ihr Speichel ist pures Gift. Ein Tropfen auf der Haut kann schon töten, langsam, und am Ende unter großen Schmerzen. Ihr hattet Glück, daß es nur drei waren. Oder habt Ihr noch mehr getötet, bevor ich eintrat? Ihre Meuten sind für gewöhnlich größer, oftmals zehn oder zwölf, wie die wenigen Berichte aus dem Schattenkrieg besagen.«

Größere Meuten. Er war nicht das einzige Ziel in Rhuidean für einen der Verlorenen...

»Wir müssen darüber reden, was Ihr gebraucht habt, um sie zu töten«, begann Moiraine, doch da war er bereits auf und davon, so schnell er nur konnte. Er ignorierte ihre Rufe, wo er denn hinwolle und warum.

Die Treppenfluchten hinunter und durch dunkle Korridore, in denen ihm schlaftrunkene Töchter des Speers, die von seinen hämmernden Stiefelschritten in ihren mondscheindurchfluteten Zimmern geweckt worden waren, verwirrt nachblickten. Durch den Vordereingang, an dem Lan unruhig mit zwei Wächterinnen zusammenstand, den farbverändernden Umhang der Behüter um die Schultern gelegt, so daß Teile seines Körpers in die Nacht überzugehen schienen.

»Wo ist Moiraine?« schrie er, als Rand an ihm vorbeihetzte, doch Rand sprang bereits die breiten Treppen hinunter, nahm immer zwei Stufen auf einmal, und antwortete nicht.

Die halbverheilte Wunde an seiner Seite zog sich zusammen wie eine Faust. Er war sich im Nichts der Schmerzen nur vage bewußt, als er schließlich das gesuchte Gebäude erreichte. Es stand am Stadtrand von Rhuidean, weit von dem großen Platz entfernt, so weit entfernt wie möglich von dem Lager, das sich Moiraine mit den Weisen Frauen teilte, und dennoch in der Stadt. Die oberen Stockwerke waren zu einem Schutthaufen zusammengebrochen, der sich bis hinaus auf den rissigen Erdboden jenseits der gepflasterten Straße erstreckte. Nur die beiden unteren Stockwerke waren intakt geblieben. Er wehrte sich mit aller Macht gegen den aufsteigenden Schmerz und jagte, noch immer in vollem Lauf, hinein.

Einst war der große Vorraum, der von einem Steinbalkon umrahmt wurde, bereits hoch gewesen, doch nun war er noch höher, nach oben offen unter dem Nachthimmel, und der helle Steinboden war mit Schutt übersät. In den Schatten, die der mondbeschienene Balkon warf, standen drei Schattenhunde auf den Hinterbeinen und kratzten und geiferten an einer bronzeverkleideten Tür, die unter ihrem Ansturm bebte. Der Gestank nach brennendem Schwefel hing dick in der Luft. Rand dachte daran, was vorher geschehen war, und lief zur Seite, während er bereits die Macht verwob. So zielte der Strahl flüssigen Feuers, mit dem er die Schattenhunde vernichtete, an der Tür vorbei. Er hatte sich diesmal bemüht, weniger Energie zu verwenden und so die Zerstörung auf die Schattenhunde zu beschränken, doch die dicke Wand am gegenüberliegenden Ende des Saals wies trotzdem ein in Schatten gehülltes Loch auf. Aber sie war offenbar nicht vollständig durchbrochen, auch wenn es schwer war, das beim Mondschein zu erkennen. Er würde einfach seine Beherrschung dieser Waffe verfeinern müssen.

Die Bronzeverkleidung der Tür war zerbeult und rissig, als hätten die Zähne und Krallen der Schattenhunde tatsächlich aus Stahl bestanden. Durch eine Anzahl kleinerer Löcher schimmerte der Lichtschein einer Lampe. Auf den Bodenfliesen waren Abdrücke der Pranken zu sehen, aber doch überraschend wenige. Er ließ Saidin fahren und suchte sich eine Stelle, wo er sich nicht die Hände verschrammen würde, und dort hämmerte er laut gegen die Tür. Mit einemmal war der Schmerz an seiner Seite wieder sehr real und gegenwärtig. Er holte tief Luft und bemühte sich, ihn zu vergessen. »Mat? Ich bin es, Rand! Mach auf, Mat!«

Einen Moment später öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und Lampenschein fiel heraus. Mat blinzelte fragend aus dem Spalt, und dann zog er die Tür weiter auf und lehnte sich an den Türrahmen, als habe er zehn Meilen mit einer Ladung Steine auf dem Rücken hinter sich. Bis auf ein silbernes Medaillon in Form eines Fuchskopfes mit einem Auge, das genau wie jenes uralte Symbol der Aes Sedai geformt war, an einer Kette um seinen Hals war er völlig nackt. Bei Mats Empfindungen den Aes Sedai gegenüber wunderte es Rand, daß der Freund das Ding nicht schon lange verkauft hatte. Weiter drinnen im Zimmer wickelte gerade eine hochgewachsene, goldhaarige Frau eine Decke um ihren Körper. Da Speere und Schild zu ihren Füßen lagen, nahm Rand an, es handle sich um eine Tochter des Speers.

Rand wandte schnell den Blick ab und räusperte sich. »Ich wollte nur sichergehen, daß alles mit dir in Ordnung ist.«

»Uns geht's gut.« Nervös blickte sich Mat im Vorraum um. »Jetzt jedenfalls. Hast du es umgebracht oder so ähnlich? Ich will gar nicht wissen, was es war, solange es nur weg ist. Manchmal ist es schon verdammt schwer für einen Mann, dein Freund zu sein.«

Nicht nur ein Freund. Ein anderer Ta'veren, und vielleicht der Schlüssel zum Sieg in Tarmon Gai'don. Jeder, der Rand schlagen wollte, hatte einen Grund, Mat genauso anzugreifen. Doch der bemühte sich immer, beides abzuleugnen. »Sie sind weg, Mat. Schattenhunde. Drei Stück.«

»Ich habe dir doch gesagt, ich wolle es nicht wissen«, stöhnte Mat. »Jetzt also Schattenhunde. Ich kann ja nicht behaupten, daß es bei dir keine Abwechslung gäbe. Man langweilt sich gewiß nicht, und das bis zum Tag, an dem man stirbt. Wenn ich nicht gerade auf den Beinen gewesen wäre, um einen Schluck Wein zu trinken, als sich die Tür zu öffnen begann...« Er sprach nicht weiter, sondern begann zu zittern und kratzte sich einen roten Fleck am rechten Arm. Dabei betrachtete er die zerfetzte Metallverkleidung. »Weißt du, es ist schon komisch, welche Streiche einem die eigene Wahrnehmung spielt. Als ich mit aller Kraft versuchte, die Tür zuzudrücken, hätte ich schwören können, daß einer davon ein richtiges Loch darin aufgerissen hat. Ich konnte den verdammten Kopf sehen. Und die Zähne. Melindhras Speer hat ihn nicht einmal angekratzt.«

Diesmal war Moiraines Ankunft etwas spektakulärer. Sie hastete mit hochgerafftem Rock schnaufend und schäumend vor Wut herein. Lan folgte ihr mit gezogenem Schwert und Gewitterwolken auf dem steinernen Gesicht, und gleich dahinter kam eine ganze Schar von Far Dareis Mai, die bis auf die Straße hinaus standen. Einige der Töchter des Speers trugen lediglich Unterwäsche, doch jede hatte die Speere kampfbereit in der Hand und den schwarzen Schleier hochgezogen als Zeichen der Bereitschaft zu töten. Nur ihre Augen waren über den Schleiern sichtbar. Moiraine und Lan wenigstens wirkten erleichtert, als sie ihn dastehen und gelassen mit Mat sprechen sahen, wenn auch die Aes Sedai aussah, als wolle sie ihm einiges an den Kopf werfen. Bei den Aielfrauen konnte man der Schleier wegen nicht erraten, was sie dachten.

Mat jaulte laut auf und schoß in sein Zimmer zurück, wo er hastig eine Hose anzog. Dabei hüpfte er herum, weil er gleichzeitig an der Hose zu reißen und seinen Arm zu kratzen versuchte. Die goldhaarige Tochter beobachtete ihn mit einem breiten Grinsen, als würde sie am liebsten schallend loslachen.

»Was ist mit deinem Arm los?« fragte Rand.

»Ich habe dir doch gesagt, daß einem die eigene Wahrnehmung komische Streiche spielt«, sagte Mat, der immer noch gleichzeitig zu ziehen und zu kratzen versuchte. »Als ich glaubte, das Ding habe die Tür durchgebissen, glaubte ich auch, es sabbere auf meinen ganzen Arm, und nun brennt das Ding tatsächlich wie Feuer. Sieht sogar wie eine Verbrennung aus.«

Rand öffnete den Mund, doch Moiraine stieß ihn bereits zur Seite. Mat riß die Augen auf, als er sie kommen sah, und stürzte, weil er so verzweifelt versuchte, seine Hose ganz hochzubekommen. Sie kniete neben ihm nieder und legte trotz seines Protests beide Hände um seinen Kopf. Rand war von ihr früher schon mehrmals mit Hilfe der Macht geheilt worden und hatte auch bei anderen zugesehen, aber statt so zu reagieren, wie erwartet, schauderte Mat lediglich und hob das Medaillon an seiner Lederschnur so hoch, daß es an seiner Hand baumelte und diese berührte.

»Das verdammte Ding ist plötzlich kalt wie Eis«, knurrte er. »Was macht Ihr da, Moiraine? Wenn Ihr etwas tun wollt, dann heilt mich von diesem Brennen. Der ganze Arm brennt jetzt schon.« Sein rechter Arm war vom Handgelenk bis zur Schulter krebsrot und begann anzuschwellen.

Moiraine blickte ihn so entgeistert an, wie Rand das bei ihr noch nie erlebt hatte. Vielleicht nur dieses einzige Mal. »Das werde ich«, sagte sie bedächtig. »Wenn das Medaillon kalt ist, dann nehmt es doch ab.«

Mat runzelte die Stirn, zog dann aber doch endlich die Schnur über seinen Kopf und legte es neben sich. Wieder nahm sie seinen Kopf in die Hände, und er brüllte auf, als habe sie ihn mit dem Kopf voran in blankes Eis gesteckt. Seine Beine wurden steif, und der Rücken krümmte sich.

Seine Augen starrten ins Leere, und er hatte sie so weit aufgerissen, wie es nur ging. Als Moiraine die Hände wegnahm, sackte er zusammen und sog gierig Luft ein. Rötung und Schwellung waren verschwunden. Er setzte dreimal an, bevor er sprechen konnte: »Blut und Asche! Muß es jedes verdammte Mal so verflucht unangenehm sein? Es war doch nur so ein idiotisches Jucken!«

»Hütet Eure Zunge mir gegenüber«, mahnte ihn Moiraine beim Aufstehen, »oder ich suche Nynaeve und übergebe Euch ihr.« Doch es war nicht sehr ernst gemeint; sie sprach eher wie im Schlaf. Dazu mied sie den Blick auf den Fuchskopf, den sich Mat wieder um den Hals hängte. »Ihr werdet Ruhe brauchen«, sagte sie geistesabwesend. »Bleibt morgen im Bett, wenn Ihr euch danach fühlt.«

Die in die Decke gehüllte Tochter des Speers —Melindhra? — kniete neben Mat nieder, legte ihm die Hände auf die Schultern und sah Moiraine über seinen Kopf hinweg an. »Ich werde dafür sorgen, daß er sich an Eure Weisung hält, Aes Sedai.« Mit plötzlichem Grinsen strich sie ihm durchs Haar. »Er ist jetzt mein kleiner Nichtsnutz.« Mats entsetztem Blick nach zu schließen, hätte er gern all seine Kraft zusammengenommen und wäre am liebsten davongelaufen.

Rand wurde bewußt, daß hinter ihm leises, unterdrücktes Lachen erklang. Die Töchter, die ihre Schufas und Schleier wieder um die Schultern gelegt hatten, hatten sich hereingedrängt und sahen sich im Zimmer um.

»Bring ihm doch das Singen bei, Speerschwester«, sagte Adelin, und die anderen Töchter krümmten sich vor Lachen.

Rand fuhr sie energisch an. »Laßt dem Mann seine Ruhe. Sollten sich einige von Euch nicht langsam ankleiden?« Zögernd machten sie Platz, versuchten aber immer noch, die Vorgänge im Zimmer zu beobachten, bis Moiraine herauskam.

»Würdet Ihr uns bitte verlassen?« sagte die Aes Sedai, während die demolierte Tür hinter ihr zukrachte. Sie warf einen Seitenblick über die Schulter, wobei sich ihr Mund irritiert verzog. »Ich muß mit Rand al'Thor allein sprechen.« Die Aielfrauen nickten und gingen zur Tür. Einige rissen noch Witze darüber, ob Melindhra — wie es schien eine Shaido; Rand wußte nicht, ob das Mat klar sei — Mat das Singen beibringen werde. Was immer das auch bedeuten mochte.

Rand hielt Adelin mit einer Hand auf ihrem nackten Arm zurück. Andere bemerkten das und blieben auch stehen. So wandte er sich an sie alle: »Wenn Ihr nicht geht, wenn ich es Euch sage, was tut Ihr dann, wenn ich Euch in die Schlacht führen muß?« Er hatte das nicht vor, falls es sich vermeiden ließ. Er wußte wohl, daß sie wilde Kriegerinnen waren, doch man hatte ihn in dem Glauben großgezogen, daß ein Mann sich im Notfall für eine Frau töten lassen müsse. Die Logik ließ das vielleicht töricht erscheinen, besonders, wenn es um Frauen wie diese ging, aber so empfand er eben. Allerdings durfte er ihnen das nicht sagen. »Werdet Ihr das dann für einen Scherz halten oder Euch einfach entschließen, zu kämpfen, wann es Euch paßt?«

Sie blickten ihn so konsterniert an wie jemanden, der nicht einmal die einfachsten Dinge zu verstehen in der Lage war. »Im Tanz der Speere«, sagte Adelin zu ihm, »folgen wir Euren Anweisungen, aber hier handelt es sich nicht um den Tanz. Außerdem habt Ihr uns nicht befohlen, zu gehen.«

»Selbst der Car'a'carn ist kein Feuchtländer-König«, fügte eine grauhaarige Tochter hinzu. Sie wirkte trotz ihres Alters sehnig und hart und trug nur ein kurzes Unterhemd und ihre Schufa. Von diesem Spruch hatte er so langsam die Nase voll.

Die Töchter nahmen ihr Scherzen wieder auf, als sie ihn mit Moiraine und Lan allein ließen. Endlich steckte der Behüter sein Schwert weg und wirkte wieder so entspannt, wie das bei ihm nur der Fall sein konnte. Das hieß, so reglos und ruhig wie sein Gesicht, das im Mondschein wie aus Stein gemeißelt erschien, doch mit einer Haltung, als könne er jeden Moment explodieren. Sogar die Aiel wirkten zahm dagegen. Eine geflochtene Lederschnur hielt Lans an den Schläfen ergrautes Haar zurück. Sein Blick hätte einem blauäugigen Falken gut gestanden.

»Ich muß mit Euch über...«, begann Moiraine.

»Wir können uns morgen unterhalten«, schnitt ihr Rand das Wort ab. Lans Gesichtsausdruck verhärtete sich noch mehr, falls das überhaupt möglich war. Behüter waren allzeit darauf eingestellt, ihre Aes Sedai — sowohl deren Rang wie auch deren Person — noch aufmerksamer zu beschützen als sich selbst. Rand beachtete Lan aber nicht. Er hätte sich am liebsten noch immer der Schmerzen an seiner Seite wegen zusammengekrümmt, doch es gelang ihm, sich aufrecht zu halten. Er wollte ihr gegenüber keine Schwäche zeigen. »Falls Ihr glaubt, ich werde Euch helfen, Mat diesen Fuchskopf abzuluchsen, habt Ihr euch getäuscht.« Irgendwie hatte das Medaillon ihr Machtgewebe abgeblockt. Oder zumindest hatte es verhindert, daß ihr Gebrauch der Macht Mat beeinflußte, während es ihn berührte. »Er hat einen bitteren Preis dafür bezahlt, Moiraine, und es gehört ihm.« Er mußte daran denken, wie sie ihm mit Hilfe der Macht einen Schlag auf die Schulter versetzt hatte, und so fügte er trocken hinzu: »Vielleicht frage ich ihn, ob er es mir borgen kann.« Er wandte sich von ihr ab. Er mußte sich noch um jemand anderen kümmern, obwohl es jetzt so oder so nicht mehr dringlich war, denn mittlerweile durften die Schattenhunde wohl ihre Aufgabe erfüllt haben.

»Bitte, Rand«, sagte Moiraine, und das offene Flehen in ihrem Tonfall ließ ihn auf der Stelle stehenbleiben. So etwas hatte er noch niemals von ihr vernommen.

Der Tonfall schien Lan aufzuregen. »Ich dachte, aus Euch sei ein Mann geworden«, sagte der Behüter grob. »Benimmt sich ein Mann so? Ihr verhaltet Euch wie ein arroganter Lümmel.« Lan übte ständig mit ihm den Schwertkampf — und er mochte ihn, wie Rand glaubte —, doch wenn Moiraine es befahl, würde der Behüter sein Bestes geben, ihn zu töten.

»Ich werde schließlich nicht immer bei Euch bleiben«, sagte Moiraine eindringlich. Ihre Hände hatte sie derart in den Rock verkrampft, daß sie zitterten. »Ich könnte doch schon beim nächsten Angriff sterben. Ich könnte vom Pferd stürzen und mir den Hals brechen oder den Pfeil eines Schattenfreunds ins Herz bekommen, und vom Tod kann mich niemand heilen. Ich habe mein ganzes Leben der Suche nach Euch gewidmet, Euch zu finden und zu helfen. Ihr kennt Eure eigene Stärke immer noch nicht und Ihr wißt in der Hälfte aller Fälle nicht, was Ihr tut. Ich... bitte Euch... inständigst um Verzeihung für alles, was ich Euch angetan habe.« Diese Worte — Worte, die er nie von ihr zu hören erwartet hatte — brachte sie schleppend und zögernd heraus, doch sie sprach sie aus, und sie konnte nicht lügen. »Laßt mich Euch helfen, so gut ich kann, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe. Bitte.«

»Es fällt schwer, Euch zu vertrauen, Moiraine.« Er achtete nicht auf Lan, der sich im Mondschein leicht bewegte, und all seine Aufmerksamkeit galt ihr. »Ihr habt mich wie eine Marionette geführt, mich tanzen lassen, wie es Euch gefiel, vom Tage an, als wir uns kennenlernten. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich frei von Euch war, ergaben sich entweder, wenn Ihr fern von mir wart oder wenn ich Euch einfach ignorierte. Und selbst das macht Ihr mir sehr schwer.«

Ihr Lachen klang so silbern wie der Mond am Himmel, doch es war von Bitterkeit getrübt. »Es war eher wie ein Ringkampf mit einem Bären, als die Fäden an einer Marionette zu ziehen. Wollt Ihr meinen Eid, daß ich Euch nicht zu manipulieren versuche? Ich leiste ihn für Euch.« Ihre Stimme verhärtete sich zu Kristall. »Ich schwöre sogar, Euch zu gehorchen wie eine der Töchter — wie eine der Gai'schain, wenn Ihr das verlangt — aber Ihr müßt...« Sie unterbrach sich, atmete tief durch und begann erneut, diesmal leiser: »Ich bitte Euch inständig, mir zu gestatten, Euch zu helfen.«

Lan sah sie mit großen Augen an, und Rand hatte das Gefühl, ihm selbst fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Ich werde Eure Hilfe annehmen«, sagte er dann bedächtig. »Und ich bitte Euch um Verzeihung für all meine Grobheit und Unhöflichkeit.« Er hatte immer noch das Gefühl, manipuliert zu werden, denn er hatte gute Gründe für seine Grobheit gehabt, wenn er sich dazu hinreißen ließ, aber sie konnte nicht lügen.

Ihre innere Anspannung ließ spürbar nach. Sie trat näher an ihn heran und blickte zu ihm auf. »Was Ihr benützt habt, um die Schattenhunde zu töten, nennt man Baalsfeuer. Ich kann die Reste immer noch hier drinnen fühlen.« Er auch. Es war wie der langsam verfliegende Duft nach einem Apfelauflauf, der bereits aus dem Zimmer getragen worden war, oder die Erinnerung an etwas, das gerade außer Sicht gekommen war. »Der Gebrauch von Baalsfeuer ist schon seit der Zeit vor der Zerstörung der Welt verboten. Die Weiße Burg verbietet uns sogar, es auch nur zu erlernen. Im Krieg um die Macht haben selbst die Verlorenen und die Schattenverschworenen das Baalsfeuer nur zögernd angewandt.«

»Verboten?« sagte Rand mit einem Stirnrunzeln. »Ich habe aber gesehen, wie Ihr es einmal benützt habt.« Er konnte sich im blassen Mondschein nicht ganz sicher sein, glaubte aber zu sehen, wie sich ihre Wangen flammend rot überzogen. Dieses eine Mal hatte er sie wohl aus dem Gleichgewicht gebracht, ertappt.

»Manchmal ist es notwendig, etwas Verbotenes zu tun.« Falls sie sich ertappt fühlte, zeigte sich das nicht in ihrer Stimme. »Wenn etwas mit Baalsfeuer zerstört wird, hört es bereits vor dem Augenblick der Zerstörung auf zu existieren, wie ein Faden, der von der Stelle verbrennt, an der ihn die Flamme berührt hat. Je stärker das Baalsfeuer, desto weiter rückwärts in der Zeit hört das Ziel zu existieren auf. Das Stärkste, was ich fertigbringe, entfernt nur ein paar Sekunden aus dem Muster. Ihr seid viel stärker. Sehr viel stärker.«

»Aber wenn es nicht existiert, bevor Ihr es vernichtet...« Rand fuhr sich verwirrt mit den Fingern durchs Haar.

»So beginnt Ihr nun, die Probleme und die Gefahren zu sehen? Mat erinnert sich daran, wie einer der Schattenhunde durch die Tür biß, aber es gibt kein Loch mehr. Hätte der so stark auf ihn gegeifert, wie er in seiner Erinnerung glaubt, wäre er tot gewesen, bevor ich ihn erreichte. Denn in dem Moment, als Ihr die Bestie vernichtet habt, existierte nichts mehr von dem, was im gleichen Augenblick geschehen war. Nur die Erinnerungen daran sind noch da bei denen, die es sahen oder am eigenen Leib erlebten. Nur das, was es zuvor angerichtet hatte, ist auch jetzt noch Wirklichkeit. Ein paar Zahnlöcher in der Tür und ein Tropfen Speichel auf Mats Arm.«

»Das klingt doch ganz gut«, sagte er. »Mat lebt aus diesem Grunde noch.«

»Es ist schrecklich, Rand.« Ihre Stimme wurde noch eindringlicher. »Warum, glaubt Ihr, hatten selbst die Verlorenen Angst davor, es zu benützen? Denkt an die Wirkung auf das Muster, wenn man aus nur einem einzigen Faden, dem Leben eines Menschen, Stunden oder Tage entfernt, die bereits gewoben wurden, als ziehe man Teile eines Fadens aus einem Stück Stoff heraus. Bruchstücke von Manuskripten aus dem Krieg um die Macht sagen aus, daß mehrere Städte mit Baalsfeuer vollständig vernichtet wurden, bevor beiden Seiten die Gefahr bewußt wurde. Hunderttausende von Fäden wurden aus dem Muster gerissen, alles ausradiert, was in den letzten Tagen mit ihnen geschehen war. Was diese Menschen getan hatten, war nun plötzlich nicht mehr getan, und keinem nützte mehr, was andere vollbracht hatten. Die Erinnerungen blieben, aber nicht die Handlungen. Die Wellen im Muster waren nicht mehr vorausberechenbar. Das ganze Muster hätte sich beinahe aufgetrennt. Das hätte die Vernichtung alles Bestehenden verursachen können: der Welt, der Zeit, selbst der Schöpfung.«

Rand schauderte, und das hatte nichts mit der Kälte zu tun, die durch seinen Mantel drang. »Ich kann Euch nicht versprechen, daß ich es nicht mehr benütze, Moiraine. Ihr habt selbst gesagt, es gebe Zeiten, da es notwendig sei, das Verbotene zu tun.«

»Ich habe auch nicht geglaubt, daß Ihr das versprechen würdet«, sagte sie kühl. Ihre Erregung verflog, und ihr seelisches Gleichgewicht war wiederhergestellt. »Aber Ihr müßt extrem vorsichtig sein.« Nun war sie wieder bei diesem ›müßt‹ angelangt. »Mit Hilfe eines Sa'Angreal wie Callandor könntet Ihr eine ganze Stadt mit Baalsfeuer auslöschen. Das Muster könnte auf Jahre hinaus gestört sein. Wer weiß schon, ob sich dann das Muster immer noch um Euch herum bilden würde, Ta'veren oder nicht, bis es sich wieder beruhigte? Doch gerade die Eigenschaft, ein Ta'veren zu sein und ein so starker noch dazu, könnte selbst in der Letzten Schlacht zum entscheidenden Vorteil werden.«

»Vielleicht wird es das«, sagte er düster. In ungezählten Heldenepen behauptete der Held, er wolle entweder den Sieg oder den Tod, aber nichts anderes. Wie es schien, war das Beste, das er sich erhoffen konnte, der Sieg und sein Tod. »Ich muß nach jemandem sehen«, fuhr er ruhig fort. »Wir treffen uns am Morgen wieder.« So sammelte er die Macht in sich, Leben und Tod in wirbelnden Schichten, öffnete ein Loch in der Luft, größer als er selbst war, einen Durchstieg in eine Dunkelheit, die den Mondschein wie helles Tageslicht erscheinen ließ. Ein Tor, wie Asmodean es einfach nannte.

»Was ist das?« Moiraine schnappte nach Luft.

»Sobald ich etwas einmal vollbracht habe, erinnere ich mich später daran, wie ich es anstellen muß. Meistens jedenfalls.« Das war keine Antwort, aber es wurde Zeit, Moiraines Schwüre auf die Probe zu stellen. Sie konnte wohl nicht lügen, aber eine Aes Sedai konnte selbst in einem Stein noch Schlupflöcher finden. »Ihr werdet Mat heute nacht in Ruhe lassen. Und Ihr werdet nicht versuchen, ihm das Medaillon abzunehmen.«

»Es gehört in die Burg, um dort untersucht zu werden, Rand. Es muß ein Ter'Angreal sein, aber man hat noch nie einen gefunden, der... «

»Was es auch sein mag«, sagte er energisch, »es gehört jedenfalls ihm. Ihr werdet es ihm lassen.«

Einen Augenblick lang schien sie mit sich zu ringen. Ihr Rücken versteifte sich, und sie hob den Kopf, um ihn trotzig anzublicken. Sie war es bestimmt nicht gewohnt, von jemand anderem außer Siuan Sanche Befehle entgegenzunehmen, und Rand hätte wetten können, daß sie auch der Amyrlin nicht ohne Widerstand gehorcht hatte. Schließlich nickte sie und machte sogar die Andeutung eines Knickses. »Wie Ihr wünscht, Rand. Es gehört ihm. Seid bitte vorsichtig, Rand. Wenn man ganz allein etwas wie Baalsfeuer anzuwenden lernen will, kann das Selbstmord sein, und vom Tod kann man Euch nicht heilen.« Diesmal schwang kein Spott darin. »Bis zum Morgen.« Lan folgte ihr, als sie ging. Der Behüter warf Rand einen undurchschaubaren Blick zu. Ihm paßte diese Wende im Verhalten Moiraines sicher nicht.

Rand trat durch das Tor, und es verschwand.

Er stand auf einer Scheibe, einer Kopie jenes uralten Symbols der Aes Sedai mit einem Durchmesser von sechs Fuß. Selbst die schwarze Hälfte schien allerdings heller zu sein als die endlose Dunkelheit, die ihn umgab, oben wie unten. Er war sich sicher: Fiele er, dann würde er für alle Ewigkeit fallen. Asmodean behauptete, es gäbe eine schnellere Methode, einfach Reisen genannt, sich mit Hilfe der Tore fortzubewegen, aber er war nicht in der Lage gewesen, ihn darin zu unterweisen, teils, weil er durch Lanfears Abschirmung einfach nicht die Kraft dazu aufbringen konnte, ein Tor zu öffnen. Auf jeden Fall war es beim Reisen dieser Art wichtig, seinen Ausgangspunkt ganz genau zu kennen. Ihm erschien es eigentlich logischer, daß man sein Ziel besonders gut kennen mußte, aber Asmodean schien zu glauben, das sei, als ob man frage, warum die Luft nicht aus Wasser sei. Es gab eine ganze Menge, was Asmodean einfach für gegeben hinnahm. Jedenfalls war auch das Scheibenreiten schnell genug.

Sobald seine Stiefel festen Halt hatten, bewegte sich die Scheibe vielleicht einen Fuß weit vor und hielt an. Ein neues Tor öffnete sich vor ihm. Schnell genug also, besonders bei einer solch geringen Entfernung. Rand trat in den Flur außerhalb des Raums, in dem sich Asmodean aufhielt.

Der Mondschein, der durch die Fenster an beiden Endes des Flurs drang, war die einzige Beleuchtung. Asmodeans Lampe brannte nicht mehr. Die Stränge, die er um das Zimmer verwoben hatte, waren noch da und fest verknüpft.

Nichts rührte sich, aber der schwache Gestank nach brennendem Schwefel lag noch in der Luft. Er trat nahe an den Perlenvorhang heran und spähte durch den offenen Eingang. Mondschatten füllten den Raum, aber einer davon war Asmodean, der sich in seinen Decken herumwälzte. Ins Nichts gehüllt fühlte Rand den Herzschlag des Verlorenen und roch den Schweiß beunruhigter Träume. Er bückte sich und betrachtete die hellblauen Bodenfliesen und die Fußabdrücke darin.

Er hatte als Junge das Spurensuchen gelernt, und hier bereitete es ohnehin keine Schwierigkeiten. Drei oder vier Schattenhunde waren hiergewesen. Sie hatten sich einer nach dem anderen dem Eingang genähert. Wie es schien, war jeder beinahe in die Fußstapfen des anderen getreten. Hatte sie dann das um den Raum gewebte Netz zurückgehalten? Oder waren sie lediglich ausgesandt worden, um zu beobachten und zu berichten? Es war beunruhigend, sich vorzustellen, daß sogar bloße Schattenwesen wie diese eine solche Intelligenz besitzen sollten. Aber andererseits benutzten Myrddraal Raben und Ratten als Spione, und auch andere Tiere, die irgendwie mit dem Tod zu tun hatten. Schattenaugen nannten die Aiel solche Tiere.

Er webte dünne Stränge aus dem Element Erde, glättete die Bodenfliesen und verwischte die Spuren. So gelangte er schließlich wieder hinaus auf die leere, nachtverhüllte Straße, und erst etwa hundert Schritt von dem hohen Gebäude entfernt hörte er auf. Am Morgen würde jeder die Spuren hier enden sehen, und niemand würde vermuten, daß sich die Schattenhunde Asmodean auch nur genähert hatten. Schattenhunde konnten ja wohl kein Interesse an Jasin Natael, dem Gaukler, haben.

Wahrscheinlich war mittlerweile jede Tochter des Speers in der Stadt aufgewacht. Unter dem Dach der Töchter schlief jedenfalls mit Sicherheit niemand mehr. Er schuf ein neues Tor gleich über der Straße, tiefere Dunkelheit als selbst in dieser Nacht, und ließ sich von der Scheibe zum eigenen Zimmer zurücktragen. Er fragte sich, wieso er sich gerade für das uralte Symbol entschieden hatte. Natürlich war es, wenn auch unbewußt, seine Entscheidung gewesen. Bei anderen Gelegenheiten war es eine Treppenstufe gewesen oder ein Stück des Fußbodens. Die Schattenhunde waren vor diesem Zeichen zerflossen, bevor sie sich neu bildeten. Unter diesem Zeichen wird er erobern.

Er stand in seinem pechschwarzen Schlafgemach und benützte die Macht, um die Lampen zu entzünden. Saidin ließ er nicht fahren. Statt dessen benützte er die Macht weiter, wenn auch vorsichtig, um keine der eigenen Fallen auszulösen, und ein Teil der einen Wand verschwand. Dahinter befand sich eine Nische, die er selbst dort geschaffen hatte.

In der kleinen Nische standen zwei jeweils einen Fuß hohe Figuren, ein Mann und eine Frau, jede mit fließenden Gewändern angetan und mit ernstem Gesichtsausdruck, und jede hielt eine Kristallkugel mit einer Hand empor. Er hatte Asmodean in bezug auf die beiden angelogen.

Es waren Angreal wie der rundliche kleine Mann in Rands Manteltasche, und Sa'Angreal wie Callandor, die die Energiemenge erheblich vergrößern konnten, wenn er das brauchte. Mit einem davon beherrschte man soviel mehr der Macht einem Angreal gegenüber, wie mit diesem einem Menschen gegenüber, der allein die Macht lenken mußte. Beides war sehr selten zu finden und äußerst begehrt bei den Aes Sedai, obwohl sie nur diejenigen identifizieren konnten, die mit Frauen und damit Saidar verbunden waren. Diese beiden kleinen Standbilder waren allerdings etwas anderes, nicht ganz so selten, aber genauso wertvoll. Man hatte Ter'Angreal angefertigt, um mit ihrer Hilfe die Macht zu benützen und nicht zu verstärken, und zwar auf ganz bestimmte Weise zu benützen. Die Aes Sedai kannten die richtige Anwendung der meisten in der weißen Burg gesammelten Ter'Angreal nicht. Ein paar benützten sie, aber sie wußten dabei noch nicht einmal, ob der Zweck, den sie damit verfolgten, auf irgendeine Weise dem ursprünglich vorgesehenen glich. Rand jedenfalls kannte die Funktion dieser beiden.

Die männliche Figur konnte ihn an die eigene riesenhafte Nachbildung anschließen, den mächtigsten jemals geschaffenen Sa'Angreal, selbst wenn er sich auf der anderen Seite des Aryth-Meeres befand. Er war erst fertiggestellt worden, nachdem man das Gefängnis des Dunklen Königs wieder versiegelt hatte — Woher weiß ich das? —, und dann verborgen worden, bevor einer der männlichen Aes Sedai ihn von seinem Wahn umnachtet finden konnte. Die weibliche Figur tat dasselbe für eine Frau und schloß sie an das weibliche Äquivalent der großen Statue an, von der er hoffte, daß sie immer noch in Cairhien fast ganz unter der Erde verborgen sei. Mit soviel Macht... Moiraine hatte behauptet, vom Tod könne man niemanden heilen.

Ungebeten und unerwünscht tauchte wieder die Erinnerung an das vorletzte Mal in ihm auf, als er gewagt hatte, Callandor zu benützen. Die Bilder schwebten jenseits des Nichts.

Der Körper des dunkelhaarigen Mädchens, wenig mehr als ein Kind, lag ausgestreckt und mit weit aufgerissenen, starren, zur Decke gerichteten Augen vor ihm. Über der Brust war ihr Kleid schwarz von Blut, wo sie der Trolloc durchbohrt hatte. Die Macht erfüllte ihn. Callandor gleißte und er war die Macht. Er lenkte sie, ließ Stränge in den Körper des Kindes gleiten, suchte, probierte, unbeholfen... Sie zuckte hoch, kam auf die Beine. Arme und Beine waren unnatürlich steif und bewegten sich nur ruckartig.

»Rand, das könnt Ihr nicht tun!« schrie Moiraine. »Nicht!«

Atmen. Sie mußte atmen. Die Brust des Mädchens hob und senkte sich. Herz. Mußte schlagen. Blut, bereits zähflüssig und dunkel, quoll aus der Wunde in ihrer Brust. Lebe, verdammt noch mal! heulte sein Verstand auf. Ich wollte nicht zu spät kommen! Ihre Augen starrten ihn an, glasig, die in ihm tobende Macht mißachtend. Leblos. Tränen rannen ihm unbeachtet über die Wangen.

Er schob die Erinnerungen grob beiseite. Selbst in das Nichts eingehüllt schmerzten sie. Mit soviel Macht... Mit soviel Macht konnte man ihm nicht mehr trauen. »Ihr seid nicht der Schöpfer«, hatte ihm Moiraine gesagt, als er sich über dieses Kind beugte. Doch mit Hilfe dieser männlichen Figur, mit lediglich der Hälfte deren Macht, hatte er einmal sogar die Berge bewegt. Mit viel weniger, nur mit Callandor allein, war er sicher gewesen, das Rad zurückdrehen zu können und ein totes Kind wieder zum Leben zu erwecken. Nicht nur die Eine Macht selbst war verführerisch, nein, auch die bloße Energie darin verführte schon. Er sollte eigentlich beide Figuren vernichten. Statt dessen verwob er die Stränge wieder und aktivierte die Fallen erneut.

»Was machst du da?« fragte eine Frauenstimme, als die Wand offensichtlich wieder vollständig war.

Er band die Stränge hastig ab und auch den Knoten, der seine eigenen tödlichen Überraschungen barg, sog die Macht in sich auf und drehte sich um.

Neben Lanfear in Silber und Weiß würden selbst Elayne, Min oder Aviendha eher unauffällig wirken. Ihre dunklen Augen allein könnten einen Mann dazu bringen, seine Seele dafür zu geben. Bei ihrem Anblick verkrampfte sich sein Magen, als müsse er sich übergeben.

»Was wünscht Ihr?« wollte er wissen. Einmal hatte er sowohl Egwene wie auch Elayne gleichzeitig von der Wahren Quelle abgeschirmt, aber er erinnerte sich nicht mehr daran, wie er das fertiggebracht hatte. Solange Lanfear die Quelle berühren konnte, hatte er nicht mehr Chancen, sie gefangenzunehmen, als den Wind mit den Händen einzufangen. Ein Strahl Baalsfeuer, und... Er brachte es nicht fertig. Sie war eine der Verlorenen, aber die Erinnerung an den Kopf einer Frau, der über den Boden rollte, lähmte ihn.

»Du hast zwei davon«, sagte sie schließlich. »Ich glaubte, sie gesehen zu haben... Die eine ist eine Frau, nicht wahr?« Ihr Lächeln konnte einem Mann das Herz stillstehen lassen, und er wäre dabei noch glücklich gewesen. »Du fängst an, dich mit meinem Plan anzufreunden, ja? Mit diesen beiden zusammen werden die anderen Auserwählten zu unseren Füßen knien. Wir können selbst den Großen Herrn damit herausfordern, vielleicht sogar den Schöpfer. Wir...«

»Du warst immer schon ehrgeizig, Mierin.« Seine Stimme klang häßlich in den eigenen Ohren. »Warum glaubst du, habe ich dich verlassen? Es war nicht Ilyenas Schuld, was du auch glauben willst. Du warst nicht mehr in meinem Herzen, lange bevor ich sie kennenlernte. Du bestehst nur aus Ehrgeiz. Macht ist alles, was du willst. Du ekelst mich an!«

Sie starrte ihn an, beide Hände mit aller Kraft auf die Magengegend gepreßt, und ihre dunklen Augen waren noch größer als sonst schon. »Graendal sagte...«, begann sie mit schwacher Stimme. Sie schluckte und fing noch einmal an: »Lews Therin? Ich liebe dich, Lews Therin. Ich habe dich immer geliebt und ich werde dich immer lieben. Das weißt du. Du mußt es wissen!«

Rands Gesicht war wie ein Steinblock; er hoffte, die steinerne Miene werde sein Erschrecken verbergen. Er hatte keine Ahnung, woher diese Worte gekommen waren, aber ihm schien, er könne sich von früher an sie erinnern. Eine blasse Erinnerung von früher her. Ich bin nicht Lews Therin Telamon! »Ich bin Rand al'Thor!« sagte er mit rauher Stimme.

»Natürlich bist du das.« Sie musterte ihn und nickte bedächtig in sich hinein. Ihre kühle Beherrschtheit kehrte zurück. »Natürlich. Asmodean hat dir Sachen erzählt über den Krieg um die Macht und über mich. Er lügt. Du hast mich geliebt. Bis diese blondhaarige Schlampe Ilyena dich mir gestohlen hat.« Einen Augenblick lang verzerrte die Wut ihr Gesicht. Er glaubte nicht, daß sie sich überhaupt darüber im klaren sei. »Hast du gewußt, daß Asmodean seine eigene Mutter von der Macht abgeschnitten hat? Was man jetzt als Dämpfung bezeichnet. Hat sie ausgebrannt und dann schreiend von Myrddraal wegschleifen lassen. Kannst du einem solchen Mann trauen?«

Rand lachte laut los. »Nachdem ich ihn gefangen hatte, habt Ihr mir geholfen, ihn zu fesseln, damit er mich unterrichtet. Und jetzt sagt Ihr, ich könne ihm nicht trauen?«

»Was das Unterrichten angeht, schon.« Sie schnaubte verächtlich. »Er spielt mit, weil er weiß, daß er endgültig auf dich angewiesen ist. Selbst wenn er die anderen davon überzeugen kann, daß er lediglich ein Gefangener war, würden sie ihn immer noch zerreißen, und das ist ihm klar. Das ist nun mal das Schicksal des schwächsten Hundes in der Meute. Außerdem überwache ich manchmal seine Träume. Er träumt davon, daß du den Großen Herrn besiegst und ihn auf einen hohen Rang neben dich erhebst. Manchmal träumt er auch von mir.« Ihr Lächeln sagte, daß diese Träume angenehm für sie gewesen waren, aber nicht unbedingt für Asmodean. »Aber er wird versuchen, dich gegen mich aufzuhetzen.«

»Warum seid Ihr hier?« fragte er. Gegen sie aufhetzen? Zweifellos war sie im Moment übervoll mit der Macht gefüllt und bereit, ihn sofort abzublocken, falls sie den Verdacht hatte, er wolle ihr etwas tun. Das hatte sie zuvor schon mit ernüchternder Leichtigkeit fertiggebracht.

»So gefällst du mir. Arrogant und stolz und deiner eigenen Stärke bewußt.«

Einst hatte sie gesagt, er gefalle ihr, wenn er unsicher sei, denn Lews Therin sei zu arrogant gewesen. »Warum seid Ihr hier?«

»Rahvin hat dir heute abend seine Schattenhunde geschickt«, sagte sie gelassen und faltete die Hände auf Hüfthöhe. »Ich wäre früher gekommen, um dir zu helfen, aber ich kann die anderen noch nicht wissen lassen, daß ich auf deiner Seite bin.«

Auf seiner Seite. Eine der Verlorenen liebte ihn, oder besser, liebte den Mann, der er vor dreitausend Jahren gewesen war, und alles, was sie von ihm wollte, war, seine Seele dem Schatten zu verschreiben und die Welt zusammen mit ihr zu regieren. Oder zumindest eine Stufe unter ihr. Das, nun ja, und dann sollten sie noch den Dunklen König und den Schöpfer selbst verdrängen. War sie denn vollkommen verrückt geworden? Oder könnte es wirklich sein, daß diese beiden riesigen Sa'Angreal eine solche Macht ausströmten? Nein, in diese Richtung wollte er nicht weiterdenken.

»Warum sollte mich Rahvin ausgerechnet jetzt angreifen? Asmodean sagt, er verfolge seine eigenen Interessen und daß er sich, wenn er kann, sogar noch in der Letzten Schlacht zurückhalten und abwarten werde, bis mich der Dunkle König vernichtet. Warum nicht Sammael oder Demandred? Asmodean meint, sie haßten mich.« Nicht mich. Sie hassen Lews Therin. Aber für die Verlorenen war es das gleiche. Bitte, Licht, ich bin Rand al'Thor. Er schob die plötzliche Erinnerung zur Seite, wie er diese Frau in seinen Armen hielt, wie sie beide jung gewesen waren und gerade gelernt hatten, was sie alles mit Hilfe der Macht erreichen konnten. Ich bin Rand al'Thor! »Warum nicht Semirhage oder Moghedien oder Graen...?«

»Aber jetzt stehst du in offenem Konflikt mit seinen Interessen.« Sie lachte. »Weißt du nicht, wo er sich aufhält? In Andor, in Caemlyn selbst. Er regiert dort praktisch, wenn auch nicht offiziell. Morgase himmelt ihn an und tanzt für ihn — sie und noch ein halbes Dutzend andere.« Sie verzog angewidert den Mund. »Er läßt Stadt und Land von Männern nach weiteren hübschen Spielzeugen absuchen.«

Einen Augenblick lähmte ihn der Schreck. Elaynes Mutter in den Händen eines der Verlorenen. Doch er wagte nicht, seine Anteilnahme zu zeigen. Lanfear hatte mehr als einmal vor Eifersucht gekocht. Sie war fähig, Elayne zu suchen und zu töten, falls sie auch nur glaubte, er hege tiefere Gefühle für sie. Was empfinde ich eigentlich für sie? Von dem allem abgesehen, blieb eine harte Tatsache außerhalb des Nichts, kalt und grausam und gleichwohl wahr. Er würde nicht zuschlagen und Rahvin angreifen, auch wenn das stimmte, was Lanfear sagte. Vergib mir, Elayne, aber ich kann nicht. Vielleicht log sie ja auch. Sie würde keinem Verlorenen eine Träne nachweinen, den er tötete, denn alle standen ja ihren eigenen Plänen im Weg. Auf jeden Fall hatte er genug davon, auf das zu reagieren, was andere taten. Wenn er schon reagierte, dann sollten sie rätseln, was er vorhatte. Dann sollten sie ruhig auf ihn reagieren und genauso überrascht werden wie Lanfear und Asmodean.

»Glaubt Rahvin etwa, ich würde hineilen und Morgase verteidigen?« sagte er. »Ich habe sie gerade einmal im Leben gesehen. Die Zwei Flüsse sind der Landkarte nach ein Teil Andors, aber ich habe dort noch nie einen Soldaten Andors gesehen. Da war generationenlang keiner mehr. Sagt einem Mann von den Zwei Flüssen, daß Morgase seine Königin sei, und er wird Euch möglicherweise für verrückt halten.«

»Ich bezweifle, daß Rahvin glaubt, du würdest eilen, um dein Heimatland zu verteidigen«, sagte Lanfear trocken, »aber er dürfte von dir erwarten, daß du deine ehrgeizigen Ziele verteidigst. Er will ja auch, daß Morgase auf dem Sonnenthron Cairhiens sitzt, damit er sie dort als Marionette benützen kann, bis die Zeit kommt, da er offen die Macht übernimmt. Jeden Tag rücken mehr andoranische Soldaten in Cairhien ein. Und du hast Soldaten aus Tear nach Norden gesandt, um deine eigenen Ansprüche auf dieses Land zu sichern. Kein Wunder, daß er dich angriff, sobald er erfuhr, wo du dich aufhältst.«

Rand schüttelte den Kopf. Es war ganz und gar nicht so gewesen, wie sie sagte, als er die Tairener ausgesandt hatte, aber er konnte nicht erwarten, daß sie das verstand. Sie würde es auch nicht glauben, wenn er es ihr erklärte. »Ich danke Euch für die Warnung.« Höflichkeit einer der Verlorenen gegenüber! Natürlich konnte er nichts anderes tun als hoffen, daß einiges von dem stimmte, was sie ihm gesagt hatte. Ein guter Grund, sie nicht zu töten. Sie wird dir mehr erzählen, als sie eigentlich will, wenn du nur richtig zuhörst. Er hoffte, das sei sein ureigener Gedanke, auch wenn er kalt und zynisch war.

»Du schirmst deine Träume gegen mich ab.«

»Gegen jeden.« Das war die simple Wahrheit, obwohl sie mindestens ebenso der Grund dafür war wie die Neugier der Weisen Frauen.

»Träume sind meine Angelegenheit. Du und deine Träume ganz besonders.« Ihr Gesicht blieb unverändert, doch ihre Stimme wurde härter. »Ich kann deine Abschirmung durchbrechen. Das würde dir nicht gefallen.«

Um zu zeigen, wie wenig ihn das beeindruckte, setzte er sich auf das untere Ende seines Lagers, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände auf den Knien. Er glaubte, sein Gesichtsausdruck sei bestimmt genauso ruhig wie der ihre. In ihm wallte die Macht auf. Er hielt Stränge aus Luft bereit, um sie zu fesseln, und dazu Stränge aus Geist. Die konnte man verwenden, um jemanden von der Wahren Quelle abzuschneiden. Er zermarterte sein Hirn, um darauf zu kommen, wie man das machte — außerhalb der Blase des Nichts —, aber er würde sich sowieso nicht daran erinnern. Ohne das eine war das andere nutzlos. Sie konnte alles, was er webte, auseinandernehmen oder durchtrennen, auch wenn sie es nicht einmal sah. Asmodean bemühte sich, ihm das auch beizubringen, aber das war sehr schwierig, wenn man keine Frau dabei hatte, an deren Gewebe man üben konnte.

Lanfear musterte ihn leicht irritiert. Ein Stirnrunzeln minderte ihre Schönheit. »Ich habe die Träume der Aielfrauen überwacht. Dieser sogenannten Weisen Frauen. Sie können sich nicht sehr gut dagegen abschirmen. Ich könnte sie ja so erschrecken, daß sie nie wieder zu träumen wagen und ganz bestimmt nicht mehr daran denken, in deine Träume einzudringen.«

»Ich dachte, Ihr wolltet mir nicht offen zur Hilfe kommen?« Er wagte nicht, ihr zu sagen, sie solle die Weisen Frauen in Ruhe lassen. Sonst unternahm sie vielleicht mit Absicht etwas gegen seinen Willen. Sie hatte ihm von Anfang an klargemacht, wenn auch nicht in Worten, daß sie ihnen gegenüber die Führung nicht aus der Hand geben wolle. »Würde das nicht das Risiko erhöhen, daß einer der anderen Verlorenen das herausfindet? Ihr seid nicht die einzige, die weiß, wie man sich in die Träume anderer einschleicht.«

»Die Auserwählten«, verbesserte sie ihn geistesabwesend. Einen Moment lang kaute sie auf ihrer vollen Unterlippe herum. »Ich habe auch die Träume des Mädchens beobachtet. Egwene. Ich hatte einst geglaubt, du hegtest Gefühle für sie. Weißt du, von wem sie träumt? Von Morgases Sohn und Stiefsohn. Am häufigsten von ihrem Sohn Gawyn.« Lächelnd spielte sie die Schockierte: »Man sollte ja nicht glauben, daß ein Mädchen vom Land solche Träume hat!«

Sie wollte nur auf den Busch klopfen, ob er eifersüchtig sei, das war ihm klar. Sie glaubte am Ende wirklich, er verberge seine Träume vor ihr, weil er von einer anderen Frau träumte! »Die Töchter des Speers bewachen mich gut«, sagte er düster. »Wenn Ihr wissen wollt, wie gut, dann seht Euch Isendres Träume an.«

Rote Flecke erblühten auf ihren Wangen. Natürlich. Sie erwartete nicht, daß er durchschaute, was sie versuchte. Außerhalb des Nichts wogte Verwirrung. Oder glaubte sie etwa...? Isendre? Lanfear wußte, daß sie zu den Schattenfreunden gehörte. Lanfear hatte Kadere und die Frau selbst in die Wüste geschickt. Und sie hatte Isendre den meisten Schmuck untergeschoben, dessen Diebstahls wegen die Frau verurteilt worden war. Selbst in Kleinigkeiten war Lanfears Rachsucht grausam. Doch wenn sie glaubte, er könne sie lieben, war die Tatsache, daß Isendre zu den Schattenfreunden gehörte, in ihren Augen kein Hindernis.

»Ich hätte sie wegschicken lassen sollen, damit sie versucht, die Drachenmauer zu erreichen«, sagte er, und es klang nebensächlich. »Aber wer weiß, was sie ausgesagt hätte, um sich zu retten? Ich muß sie und Kadere in einem gewissen Maße decken, damit Asmodean sicher ist.«

Die Röte ihrer Wangen verflog, doch als sie gerade den Mund öffnete, um zu antworten, klopfte es an die Tür.

Rand sprang auf. Niemand würde Lanfear erkennen, aber wenn man eine Frau in seinem Gemach entdeckte, noch dazu eine, die keine der Töchter ins Haus hatte hineingehen gesehen, würde man Fragen stellen, auf die er keine Antwort wußte.

Lanfear hatte jedoch bereits ein Tor geöffnet. Dahinter war ein Raum voller weißer Seidenbehänge und Silber sichtbar. »Denk daran, daß ich deine einzige echte Hoffnung aufs Überleben darstelle, mein Liebster.« Ihre Stimme klang allerdings schon ein wenig kühl für eine solche Liebesbezeugung. »An meiner Seite hast du nichts zu befürchten. An meiner Seite kannst du herrschen — über alles, was ist oder was sein wird.« Sie hob ihren schneeweißen Rock an, trat hindurch, und das Tor verschwand augenblicklich.

Das Klopfen erklang erneut, bevor er in der Lage war, Saidin fahren zu lassen und die Tür aufzureißen. Enaila blickte mißtrauisch an ihm vorbei und knurrte: »Ich dachte, daß vielleicht Isendre...« Sie blickte ihn anklagend an. »Die Speerschwestern suchen überall nach Euch. Niemand sah Euch zurückkehren.« Kopfschüttelnd streckte sie sich. Sie bemühte sich immer, so aufrecht wie möglich zu gehen, um größer zu wirken. »Die Häuptlinge sind gekommen, um mit dem Car'a'carn zu sprechen«, sagte sie dann ganz förmlich. »Sie warten unten.«

Sie warteten unter den Arkaden, wie sich herausstellte. Sie waren ja Männer und durften nicht hereinkommen. Der Himmel war noch dunkel, aber der erste Schimmer der Morgendämmerung ließ die Umrisse der Berge im Osten hervortreten. Falls sie ob der beiden Töchter, die zwischen ihnen und dem hohen Tor standen, Ungeduld empfanden, zeigte sich das zumindest nicht auf ihren schattendunklen Gesichtern.

»Die Shaido rücken aus«, platzte Han heraus, kaum daß Rand erschien. »Und die Reyn, die Miagoma, die Shiande... Jeder Clan!«

»Schließen sie sich Couladin an oder mir?« wollte Rand wissen.

»Die Shaido marschieren zum Jangai-Paß«, sagte Rhuarc. »Bei den anderen ist es noch zu früh, um etwas Sicheres sagen zu können. Aber sie marschieren mit jedem Speer, den sie nicht brauchen, um die Festungen und die Herden zu verteidigen.«

Rand nickte nur. All seine Entschlossenheit, sich von niemandem etwas aufzwingen zu lassen, und nun dies. Was auch die anderen Clans im Schilde führten — bei Couladin war klar, daß er den Übergang nach Cairhien plante. Da gingen nun seine hochfliegenden Pläne den Bach hinunter, den Ländern den Frieden aufzuzwingen, falls die Shaido Cairhien noch weiter verwüsteten, während er in Rhuidean saß und auf die übrigen Clans wartete.

»Dann rücken wir auch zum Jangai aus«, sagte er schließlich.

»Wir können ihn nicht einholen, falls er ihn überqueren will«, warf Erim ein, und Han fügte mürrisch hinzu: »Wenn sich welche von den anderen ihm anschließen, werden wir zerquetscht wie eine Kette Blindwürmer unter einem Stiefel.«

»Ich werde nicht hier herumsitzen, bis ich das sicher weiß«, sagte Rand. »Wenn ich Couladin schon nicht einholen kann, will ich doch wenigstens gleich hinter ihm nach Cairhien kommen. Weckt die Speere. Wir brechen so kurz nach Tagesanbruch auf, wie Ihr es ermöglichen könnt.«

Die Häuptlinge verbeugten sich auf diese eigenartige Weise, wie das die Aiel bei offiziellen Anlässen zu tun pflegten, der eine Fuß voraus und eine Hand ausgestreckt, und gingen dann. Nur Han sagte noch etwas: »Zum Shayol Ghul selbst.«

Загрузка...