2 Rhuidean

Hoch droben in der Stadt Rhuidean blickte Rand al'Thor aus einer der großen Fensteröffnungen. Das Glas, oder was auch immer einst in das Fenster eingesetzt gewesen war, war schon lange nicht mehr da. Die Schatten tief unter ihm zeigten nach Osten. Im Zimmer hinter ihm klimperte leise die Harfe eines Barden. Der Schweiß an seiner Stirn verdunstete beinahe so schnell, wie er auf seine Haut trat. Sein rotseidener Mantel — zwischen den Schulterblättern feucht vom Schweiß — stand offen wie eine vergebliche Einladung für jeden Luftzug, und das Hemd hatte er bis weit auf die Brust hinunter aufgebunden. Die Nacht in der Aiel-Wüste würde beißend kalt werden, doch während des Tages brachte nicht einmal eine leichte Brise die geringste Kühlung.

Er hatte die Hände gehoben und hielt sich damit an dem glatten, steinernen Fensterrahmen fest. Die Ärmel seines Mantels waren heruntergerutscht und entblößten so die Vorderteile der Figuren, die sich um seine Unterarme zogen: goldmähnige, schlangenartige Geschöpfe mit Augen wie die Sonne, mit roten und goldenen Schuppen und fünf goldenen Klauen an jedem Fuß. Das waren keine Tätowierungen, sondern sie waren Teil seiner Haut, glitzerten metallisch wie wertvollste Edelsteine und schienen im Schein der Spätnachmittagssonne wie zum Leben erwacht.

Sie zeichneten ihn. Für das Volk auf dieser Seite der Bergkette, die man sowohl als Drachenmauer wie als das Rückgrat der Welt bezeichnete, bedeuteten sie, daß er derjenige war, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt. Und zusammen mit den in seine Handflächen eingebrannten Reihern machten sie ihn für jene, die jenseits der Drachenmauer lebten, zum Wiedergeborenen Drachen, wie es geweissagt worden war. Und für sie alle gleichermaßen war prophezeit worden, er werde sie einen, retten — und vernichten.

Auf diese Namen hätte er nur zu gern verzichtet, aber dazu war es viel zu spät, wenn es überhaupt je eine Chance dafür gegeben hatte, und so dachte er gar nicht mehr daran. Oder wenn doch, was selten genug der Fall war, dann tat er es mit dem vagen Bedauern eines Mannes, der sich an einen törichten Kindertraum erinnert. Als sei er seiner Kindheit nicht noch immer nahe genug, um eigentlich jeden Moment daran zu denken. Statt dessen bemühte er sich, nur an die vor ihm liegenden Aufgaben zu denken. Schicksal und Pflicht hielten ihn wie straffe Zügel auf dem Weg, und doch hatte man ihn oft als stur und halsstarrig bezeichnet. Er mußte das Ende der Straße erreichen, aber wenn er das auf einem anderen, eigenen Weg schaffen konnte, war es vielleicht gar nicht das Ende. Eine kleine Hoffnung nur. Er hatte mit Sicherheit kaum eine Chance. Die Prophezeiungen verlangten nach seinem Blut.

Rhuidean erstreckte sich unter ihm, von einer gnadenlosen Sonne versengt, die langsam zu den zerklüfteten Gipfeln heruntersank, den kahlen Bergen, auf denen kaum ein Anzeichen einer Vegetation zu sehen war. Dieses rauhe, zerklüftete Land, in dem sich Menschen gegenseitig getötet hatten, nur wegen eines Wasserlochs, das sie mit einem Schritt überqueren konnten, war der letzte Ort auf der Welt, an dem man eine große Stadt erwartete. Ihre Erbauer hatten ihre vor langer, langer Zeit begonnene Arbeit niemals beendet. Überall standen unmöglich hohe Gebäude, abgestufte oder aus mächtigen Platten erbaute Paläste, die manchmal nach acht oder sogar zehn Stockwerken abrupt ohne Dach endeten, gewöhnlich mit dem Rohbau eines weiteren halbfertigen Stockwerks. Die Türme ragten noch höher auf, endeten aber meist genauso abrupt und unregelmäßig. Ein gutes Viertel der großen Gebäude mit ihren massiven Säulen und enormen Fenstern aus buntem Glas lagen zu Schutthaufen zerfallen auf den breiten Straßen, die in der Mitte jeweils einen Streifen bloßen Erdbodens aufwiesen, auf dem aber niemals die Bäume gepflanzt worden waren, die dorthin gehörten. Die prächtigen Brunnen standen verstaubt und trocken da, wie seit Jahrhunderten und Aberjahrhunderten. All diese Arbeit war umsonst gewesen. Die Erbauer waren gestorben, ohne sie vollenden zu können. Doch manchmal glaubte Rand, der Bau der Stadt sei nur deshalb begonnen worden, damit er sie eines Tages finden konnte.

Zu stolz, dachte er. Ein Mann muß schon wenigstens halb übergeschnappt sein, um solchen Stolz zu entwickeln. Er konnte nicht anders, als leise in sich hineinzulachen. Es waren auch Aes Sedai bei den Männern und Frauen gewesen, die vor so langer Zeit hierhergekommen waren, und sie hatten den Karaethon-Zyklus sehr wohl gekannt, die ›Prophezeiungen des Drachen‹. Oder vielleicht hatten sie diese auch selbst geschrieben? Um das Zehnfache zu stolz.

Gleich unter ihm lag ein riesiger Platz, der bereits zur Hälfte von den langgezogenen Schatten verdunkelt wurde. Er war übersät mit den Trümmerstücken von Statuen und kristallenen Stühlen, eigenartigen Gegenständen und verdrehten Formen aus Metall oder Glas oder Stein, Dinge, für die er keine Bezeichnungen fand und die in unregelmäßigen Schutthaufen dort lagen, als habe ein Sturm sie angeweht.

Auch im Schatten war es nur kühl, wenn man es mit dem Sonnenschein verglich. Männer in grober Kleidung — keine Aiel — luden schwitzend Dinge auf Wagen, die eine kleine, schlanke Frau in reinster blauer Seide ausgewählt hatte. Hoch aufgerichtet glitt sie von einem Punkt zum nächsten, als mache ihr die Hitze keineswegs soviel aus wie all den anderen. Trotzdem, selbst sie trug ein feuchtes, weißes Tuch um die Schläfen und beherrschte sich lediglich, um die Auswirkungen der Hitze nicht so deutlich zu zeigen. Rand hätte von hier oben aus wetten können, daß sie nicht einmal schwitze.

Der Vorarbeiter war ein dunkler, massiger Mann namens Hadnan Kadere, angeblich ein fahrender Händler, der ganz in beige Seide gekleidet war. Heute allerdings war seine Kleidung schweißdurchnäßt. Er wischte sich ständig mit einem großen Taschentuch übers Gesicht und schrie den Männern — seinen Wagenfahrern und Leibwächtern —Flüche zu, doch er sprang genauso schnell und packte mit zu wie die anderen, wenn die schlanke Frau auf etwas deutete, ob groß oder klein. Aes Sedai mußten nicht groß sein, um anderen ihren Willen aufzuzwingen, aber Rand glaubte, Moiraine würde das auch fertigbringen, wenn sie niemals in der Weißen Burg gewesen wäre.

Zwei der Männer versuchten gerade, einen Gegenstand aufzuladen, der wie ein seltsam verdrehter Türrahmen aus Sandstein wirkte. Die Ecken stimmten irgendwie nicht überein, und das Auge weigerte sich, den scheinbar geraden senkrechten Linien zu folgen. Das Ganze blieb immer aufrecht. Sie konnten es drehen, wie sie wollten, doch kippen ließ es sich nicht, damit sie es leichter beim Aufladen gehabt hätten. Dann rutschte einer der beiden Männer aus und stürzte bis zur Hüfte in die Türöffnung hinein. Rand verkrampfte sich. Einen Augenblick lang schien der Oberkörper des Mannes nicht mehr zu existieren, und seine Beine zuckten in wilder Panik. Bis Lan, ein hochgewachsener Mann, in unauffällige Grünschattierungen gekleidet, heranschritt und ihn am Gürtel wieder heraushievte. Lan war Moiraines Behüter, durch einen Eid, dessen Wirkungsweise Rand nicht ganz verstand, an die Aes Sedai gebunden. Er war ein harter Mann, der sich wie ein Aiel bewegte, wie ein jagender Wolf. Das Schwert an seiner Hüfte schien nicht nur ein Teil von ihm zu sein, es war ein Teil seiner selbst. Er ließ den Arbeiter mit dem Hinterteil zuerst auf die Pflastersteine fallen und dort sitzen. Die angsterfüllten Schreie des Burschen drangen dünn und klagend bis zu Rand hinauf, und sein Kamerad war wohl auf dem Sprung, einfach wegzulaufen. Mehrere von Kaderes Männern, die nahe genug gewesen waren, um alles zu beobachten, blickten sich gegenseitig an und wogen wohl ihre Chancen ab.

Moiraine stand jedoch derart schnell zwischen ihnen, als habe sie die Macht dazu benützt, sich unter sie zu begeben, und bewegte sich elegant von einem zum anderen. Von ihren Gesten konnte Rand beinahe ablesen, welche kühlen, beherrschenden Anweisungen sie den Männern gab, so erfüllt von dem sicheren Bewußtsein, sie würden ihnen nachkommen, daß überhaupt kein Zweifel daran aufkommen konnte. So knüppelte sie jeden Widerspruch nieder, zerstampfte alle Einwände und jagte jeden einzelnen zurück an seine Arbeit. Das Paar mit dem Türrahmen zerrte und schob bald wieder wie vorher, wenn sie auch gelegentlich Moiraine Seitenblicke zuwarfen, in Momenten, wo sie glaubten, sie sehe nicht her. Auf ihre Art war sie sogar noch härter als Lan.

Soweit Rand wußte, waren all diese Artefakte entweder Angreal oder Sa'Angreal oder Ter'Angreal, die vor der Zerstörung der Welt angefertigt worden waren, um die Eine Macht zu verstärken oder auf verschiedene Arten zu benützen. Sicher hatte man sie mit Hilfe der Macht angefertigt, aber selbst die Aes Sedai wußten heute nicht mehr, wie man solche Dinge herstellt. Bei dem verdrehten Türrahmen wußte er ja über den Gebrauch Bescheid — eine Tür in eine andere Welt —, aber was die anderen betraf, hatte er keine Ahnung. Keiner wußte das. Deshalb arbeitete Moiraine so hart, um so viele davon wie möglich zur Weißen Burg zu schaffen, damit man sie dort untersuchen konnte. Es war durchaus möglich, daß sich selbst in der Burg nicht so viele Angreal befanden, wie hier auf dem Platz verstreut lagen, obwohl doch dort angeblich die größte Sammlung der Welt aufbewahrt wurde. Und auch bei denen wußten die Aes Sedai nur von einigen wenigen, wie sie zu gebrauchen seien.

Was sich bereits in den Wagen befand oder auf dem Pflaster verstreut herumlag, interessierte Rand nicht. Er hatte das, was er brauchen konnte, bereits in Sicherheit gebracht. Auf gewisse Weise hatte er sogar mehr mitgenommen, als er wollte.

Im Mittelpunkt des Platzes, nahe den verbrannten Überresten eines großen, hundert Fuß hohen Baums, stand ein kleiner Wald aus Glassäulen, jede beinahe so hoch wie der Baum und so schlank, daß es schien, der erste Windstoß müsse sie alle zum Umstürzen bringen. Obwohl der Rand des Schattens sie bereits berührte, fingen und reflektierten sie den Sonnenschein glitzernd und funkelnd. Ungezählte Jahre lang hatten Aielmänner diesen gläsernen Wald betreten und waren wie Rand gezeichnet daraus hervorgekommen, doch nur an einem Arm und damit als Clanhäuptlinge bestätigt. Sie kamen gezeichnet zurück, oder sie kehrten überhaupt nicht wieder. Auch Aielfrauen hatten sich in diese Stadt begeben, um Weise Frauen zu werden. Sonst niemand. Kein anderer hätte es überlebt. Ein Mann kann ein einziges Mal nach Rhuidean gehen, eine Frau zweimal; mehr würde den Tod bringen. Das hatten die Weisen Frauen behauptet, und damals entsprach es der Wahrheit. Nun konnte jeder Rhuidean betreten.

Hunderte von Aiel gingen auf den Straßen einher, und eine ständig anwachsende Zahl wohnte sogar in den Gebäuden. Jeden Tag konnte er beobachten, wie auf immer größeren Flächen der Erdstreifen in der Mitte der Straße Bohnen sprossen, oder Kürbisse oder Zemai, die sorgfältig und sparsam aus Tongefäßen gegossen wurden. Das Wasser holte man aus dem großen neuen See, der das Südende des Tals ausfüllte — dem einzigen solchen Gewässer im ganzen Land. Tausende lagerten an den umliegenden Hängen, selbst am Chaendaer, zu dem sie vorher nur zu großen Zeremonien gepilgert waren, um von dort aus einen einzelnen Mann oder eine einzelne Frau nach Rhuidean zu schicken.

Wohin er auch ging, überall brachte Rand Veränderungen und Zerstörungen mit sich. Diesmal hoffte er trotz allem, daß die Veränderung Gutes gebracht hatte. Es konnte doch immer noch alles gut werden. Der verbrannte Baum sprach allerdings seinen Bemühungen Hohn: Avendesora, der legendäre ›Baum des Lebens‹. Die Legenden erwähnten nie, wo er sich befand, und es war eine große Überraschung gewesen, ihn hier vorzufinden. Moiraine behauptete, es sei immer noch Leben in ihm und er werde wieder sprießen, doch bisher sah er nur geschwärzte Rinde und kahle Äste.

Seufzend wandte er sich vom Fenster ab dem großen Raum zu, der wohl nicht der größte in Rhuidean war, aber mit seinen hohen Fenstern auf beiden Seiten und mit der Kuppeldecke, die als Mosaik mit Bildern von geflügelten Menschen und Tieren ausgelegt war, wirkte er doch sehr geräumig. Die meisten in der Stadt zurückgebliebenen Möbel waren selbst in dieser trockenen Luft der Zeit zum Opfer gefallen, und das wenige, was noch übrig war, war wurmstichig und wimmelte von Käfern. Nur auf der gegenüberliegenden Seite des Raums stand ein solider, vollständig erhaltener Stuhl mit hoher Lehne, sogar mit kaum abgeblätterter Vergoldung. Er paßte allerdings nicht zu dem davorstehenden Tisch, einer breiten Holzfläche, deren Beine und Ecken durch Schnitzereien in Blumenform verziert waren. Jemand hatte das Holz mit Bienenwachs poliert, bis es trotz seines Alters matt schimmerte. Die Aiel hatten diese Möbelstücke für ihn aufgespürt und die Köpfe geschüttelt ob solcher Verschwendung. Es gab in der Wüste nur wenige Bäume, von denen die langen, geraden Hölzer stammen konnten, aus denen der Stuhl gebaut war, und schon gar keine, die dem Tisch Pate gestanden hätten.

Das waren bereits sämtliche Möbelstücke, die er als solche betrachtete. Im Mittelpunkt des Raums lag auf den dunkelroten Bodenfliesen ein schöner Teppich illianischer Handarbeit, ganz in Blau und Gold gehalten, der wohl nach einer lang vergessenen Schlacht als Beutestück mitgebracht worden war. Überall lagen Kissen aus bunter Seide und mit Fransen auf dem Boden verstreut. Sie wurden von den Aiel statt Stühlen benützt, wenn sie nicht gerade nur einfach auf den Fersen hockten, was für sie genauso bequem war wie ein Polstersessel.

Sechs Männer saßen auf den Kissen auf dem Teppich. Sechs Clanhäuptlinge, und sie vertraten die Clans, die bisher erschienen waren, um Rands Ruf Folge zu leisten. Oder genauer, um demjenigen, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, Folge zu leisten. Nicht immer gern. Er nahm an, daß Rhuarc, ein breitschultriger, blauäugiger Mann mit kräftigen weißen Strähnen im dunkelroten Haar für ihn Freundschaft empfand, aber die anderen gewiß nicht. Und es waren nur sechs von den zwölf Clans.

Rand mißachtete den Stuhl und setzte sich mit übergeschlagenen Beinen den Aiel gegenüber hin. Außerhalb Rhuideans waren die einzigen Stühle in der ganzen Wüste die der Clanhäuptlinge, die nur von ihnen und nur aus drei Gründen benützt wurden: um zum Clanhäuptling ausgerufen zu werden, um die ehrenvolle Unterwerfung eines Gegners entgegenzunehmen oder um Gericht zu halten. Wenn er vor diesen Männern jetzt den Stuhl benützte, würde das heißen, einer dieser drei Gründe träfe zu. Sie trugen alle den Cadin'sor, Wams und Hose in verschiedenen Grau- und Braunschattierungen, deren Farbe dem Boden in der Wüste angepaßt war, und weiche, bis zum Knie geschnürte Stiefel. Selbst hier und bei einem Treffen mit dem Mann, den sie selbst zum Car'a'carn, zum Häuptling aller Häuptlinge, ausgerufen hatten, hatte jeder ein Messer mit breiter, schwerer Klinge am Gürtel und die graubraune Schufa wie ein Halstuch umgehängt. Falls ein Mann sein Gesicht mit dem schwarzen Schleier verhüllte, der ein Teil der Schufa war, hieß das, er sei zum Töten bereit. Und das war keineswegs ausgeschlossen. Diese Männer hatten in einem nie endenden Zyklus von Überfällen und Schlachten und Fehden gegeneinander gekämpft. Sie beobachteten ihn, warteten auf ihn, aber die Wartehaltung eines Aiel sprach immer von Kampfbereitschaft, von schnellem und tödlichem Zuschlagen.

Bael, der größte Mann, den Rand je gesehen hatte, und Jheran, schlank wie eine Klinge und schnell wie eine Natter, lagen so weit wie überhaupt auf dem Teppich möglich voneinander entfernt. Zwischen Baels Goshien und Jherans Shaarad herrschte Blutfehde. Sie war wohl durch die Anwesenheit des Car'a'carn ausgesetzt, aber keineswegs vergessen. Und vielleicht hielt auch noch der Friede von Rhuidean, trotz allem, was geschehen war. Dennoch bildeten die lieblichen Klänge der Harfe einen harten Kontrast zu der Weigerung Baels und Jherans, einander auch nur anzublicken. Sechs Augenpaare, blau oder grün oder grau, in sonnenverbrannten Gesichtern; neben den Aiel wirkte selbst ein Habicht noch zahm.

»Was muß ich tun, um Reyn für mich zu gewinnen?« fragte er. »Ihr wart doch sicher, daß er kommen werde, Rhuarc.«

Der Häuptling der Taardad blickte ihn gelassen an. Sein Gesicht war so ausdruckslos, daß es hätte aus Stein gemeißelt sein können. »Wartet. Einfach nur warten. Dhearic wird sie herbringen. Nach einer Weile.«

Der weißhaarige Han, der neben Rhuarc saß, verzog den Mund, als wolle er ausspucken. Sein wettergegerbtes Gesicht zeigte wie immer einen säuerlichen Ausdruck. »Dhearic hat schon bei zu vielen Männern und Töchtern des Speers zusehen müssen, wie sie tagelang dasaßen und in die Luft starrten und dann ihre Speere wegwarfen. Weggeworfen haben sie sie!«

»Und dann sind sie weggelaufen«, fügte Bael leise hinzu. »Ich habe selbst welche gesehen unter den Goshien, sogar aus meiner eigenen Septime, die wegliefen. Genau wie du, Han, unter den Tomanelle. Wir alle haben zuschauen müssen, wie das geschah. Ich glaube nicht, daß ihnen klar ist, wohin sie rennen oder wovor sie weglaufen.«

»Feige Schlangen«, fauchte Jheran. Sein hellbraunes Haar war bereits mit Grau durchsetzt. Es gab keine jungen Männer unter den Clanhäuptlingen der Aiel. »Stinkottern, die sich vor den eigenen Schatten davonwinden.« Ein Seitenblick zum gegenüberliegenden Ende des Teppichs machte klar, daß er damit die Goshien meinte und nicht nur diejenigen, die ihre Speere weggeworfen hatten. Bael machte Anstalten, sich zu erheben, wobei sich sein Gesicht womöglich noch mehr verhärtete, aber sein Nebenmann legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. Bruan von den Nakai war groß und stark genug für zwei Grobschmiede, doch er hatte eine ruhige und friedliche Natur, die gar nicht zu den Aiel zu passen schien. »Wir alle haben Töchter und Männer weglaufen sehen.« Wie er es sagte, klang es beinahe schläfrig, genau wie seine grauen Augen dreinblickten, doch Rand wußte es besser. Selbst Rhuarc betrachtete Bruan als einen tödlichen Gegner und einen gewiegten Taktiker. Glücklicherweise war er neben Rhuarc Rands wichtigste Stütze. Oder besser: er folgte Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, während er Rand al'Thor kaum kannte. »Genau wie du, Jheran. Du weißt, wie schwer es war, dem ins Gesicht zu sehen, was sie in Konflikte brachte. Wenn du diejenigen nicht als Feiglinge bezeichnest, die starben, weil sie sich diesem Wissen nicht stellen wollten, dann kannst du doch wohl diejenigen nicht Feiglinge nennen, die aus dem gleichen Grund weglaufen, oder?«

»Sie hätten es nie erfahren sollen«, knurrte Han und grub die Hände in sein blaues Fransenkissen, als sei es die Kehle eines Feindes. »Das war nur für die bestimmt, die Rhuidean betreten und überleben konnten.«

Er sprach zu niemandem bestimmten, aber natürlich waren die Worte für Rands Ohren gedacht. Es war Rand gewesen, der allen enthüllt hatte, was ein Mann erfuhr, wenn er den Wald der Glassäulen auf dem großen Platz betrat, der genug enthüllt hatte, daß die Häuptlinge und die Weisen Frauen sich schließlich nicht weigern konnten, auch den Rest zu erzählen. Falls es jetzt noch in der Wüste einen Aiel gab, der die Wahrheit nicht wußte, dann mußte er bereits einen Monat lang mit keiner Menschenseele mehr gesprochen haben.

Die Aiel trugen keineswegs, wie die meisten geglaubt hatten, das Erbe ruhmreicher Schlachten in sich, sondern sie hatten ihre Geschichte als hilflose Flüchtlinge nach der Zerstörung der Welt begonnen. Natürlich war damals jeder Überlebende zum Flüchtling geworden, aber die Aiel hatten sich nie als hilflos angesehen. Noch schlimmer: Sie waren Anhänger des ›Wegs des Blattes‹ gewesen und hatten sich somit geweigert, Gewalt anzuwenden, sogar zur Verteidigung des eigenen Lebens. Aiel hieß in der Alten Sprache ›hingegeben‹, und sie hatten sich dem Frieden hingegeben. Diejenigen, die sich heute Aiel nannten, waren die Nachkommen solcher, die den Schwur unzähliger Generationen gebrochen hatten. Von der alten Lehre war nur noch ein kleiner Rest geblieben: Ein Aiel würde lieber sterben, als ein Schwert in die Hand nehmen. Das hatten sie immer als Teil ihres Stolzes angesehen, etwas, das sie von den anderen unterschied, die außerhalb der Wüste lebten.

Er hatte Aiel sagen hören, daß sie eine Sünde begangen haben mußten, für die sie in die unwegsame Wüste verbannt worden waren. Jetzt wußten sie, was der Grund gewesen war. Die Männer und Frauen, die Rhuidean erbaut hatten und hier gestorben waren, die man die Jenn Aiel genannt hatte oder den ›Clan, den es nicht gab‹, wenn man überhaupt von ihnen sprach, waren diejenigen gewesen, die den Aes Sedai aus der Zeit vor der Zerstörung die Treue gehalten hatten. Es war schwer, mit dem konfrontiert zu werden, was man immer für eine Lüge gehalten hatte.

»Es mußte gesagt werden«, sagte Rand. Sie hatten ein Recht darauf, es zu erfahren. Ein Mensch sollte nicht eine Lüge leben müssen. Ihre eigene Weissagung behauptete, ich würde sie zerstören. Und ich hätte sowieso nicht anders handeln können. Die Vergangenheit war vergangen und vorbei; jetzt mußte er sich über die Zukunft Gedanken machen. Einigen dieser Männer bin ich unsympathisch, andere hassen mich, weil ich nicht als einer von ihnen geboren wurde, aber sie folgen mir. Ich brauche sie alle. »Wie steht es mit den Miagoma?«

Erim, der zwischen Rhuarc und Han lag, schüttelte den Kopf. Sein einstmals leuchtend rotes Haar war zur Hälfte weiß, aber seine grünen Augen blickten genauso lebhaft drein wie die eines jungen Mannes. Seine großen Hände, breit, lang und hart, zeigten, daß auch seine Arme noch stark sein mußten. »Timolan läßt seine Füße nicht wissen, wohin er springen wird, bis er bereits gesprungen ist.«

»Als Timolan noch ein junger Häuptling war«, sagte Jheran, »versuchte er, die Clans zu vereinen, und scheiterte. Es wird ihm nicht leichtfallen, anzuerkennen, daß nun endlich einer gekommen ist, der schafft, woran er scheiterte.«

»Er wird kommen«, sagte Rhuarc. »Timolan hat sich selbst nie für Ihn gehalten, Der Mit Der Morgendämmerung kommt. Und Janwin wird die Shiande bringen. Aber sie warten noch. Sie müssen erst ihre innere Zerrissenheit beherrschen lernen.«

»Sie müssen damit fertigwerden, daß Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, ein Feuchtländer ist«, wetterte Han. »Nichts für ungut, Car'a'carn.« In seiner Stimme schwang keinerlei Unterwürfigkeit mit; ein Häuptling war zwar kein König, aber der Häuptling aller Häuptlinge eben auch nicht. Im besten Fall war er der Erste unter Gleichen.

»Ich glaube, auch die Daryne und die Codarra werden schließlich kommen«, sagte Bruan ruhig. Und schnell, damit aus seinem Schweigen kein Grund erwachsen konnte, den Tanz der Speere zu tanzen. Im besten Fall der Erste unter Gleichen. »Sie haben mehr als alle anderen Clans an die Trostlosigkeit verloren.« Die Aiel hatten sich angewöhnt, die lange Periode so zu nennen, in denen jemand ins Leere starrte, bevor er oder sie vor der Tatsache wegzulaufen versuchte, ein Aiel zu sein. »Im Augenblick sind Mandelain und Indirian damit beschäftigt, ihre Clans zusammenzuhalten, und beide werden die Drachen an Euren Armen selbst begutachten wollen, deshalb werden sie kommen.«

Damit blieb nur noch ein Clan unerwähnt, den keiner der Häuptlinge ins Spiel bringen wollte. »Was gibt es Neues von Couladin und den Shaido?« fragte Rand schließlich von sich aus.

Schweigen folgte seinen Worten, nur durchbrochen von den leisen, getragenen Klängen der Harfe im Hintergrund. Jeder wartete darauf, daß der andere spräche, und alle zeigten — soweit man das einem Aiel ansehen konnte —etwas wie Unbehagen. Jheran blickte finster seinen Daumennagel an, und Bruan spielte mit einer der silbernen Fransen an seinem grünen Sitzkissen. Selbst Rhuarc betrachtete interessiert den Teppich.

In Weiß gehüllte Männer und Frauen mit eleganten Bewegungen füllten die Stille, indem sie Wein in gehämmerte Silberbecher gossen, die neben jedem Mann standen. Sie brachten dazu noch kleine Silberschalen mit Oliven, die in der Wüste eine Seltenheit darstellten, weißen Schafskäse und die hellen, gerunzelten Nüsse, die man bei den Aiel Pecara nannte. Die Aielgesichter unter den weißen Kapuzen wirkten ungewohnt demütig. Den Blick hatten sie meist zu Boden gesenkt.

Ob sie nun nach einer Schlacht gefangengenommen oder bei einem Überfall geraubt worden waren, hatten die Gai'schain schwören müssen, ein Jahr und einen Tag lang gehorsam zu dienen, keine Waffe zu berühren, keine Gewalt zu gebrauchen, und nach Ablauf dieser Frist durften sie zum eigenen Clan und der eigenen Septime zurückkehren, als sei nichts geschehen. Ein eigenartiges Echo, sicher auch noch vom Weg des Blattes ausgelöst. Ji'e'toh, Ehre und Pflicht, verlangten es so, und Ji'e'toh zu brechen war wohl das Schlimmste, was ein Aiel tun konnte. Es war durchaus möglich, daß einige dieser Männer und Frauen den eigenen Clanhäuptling bedienten, aber niemand würde das auch nur durch ein Wimpernzucken zeigen, solange er oder sie noch als Gai'schain dienen mußte — nicht einmal ein Sohn oder eine Tochter würde hier den eigenen Vater begrüßen.

Mit einemmal kam Rand der Gedanke, daß hier auch der wahre Grund zu suchen sei, warum einige Aiel das, was er ihnen enthüllt hatte, so schwer nahmen. Ihnen mußte es vorkommen, als hätten ihre Vorfahren einen Eid als Gai'schain abgelegt, der nicht nur für sie selbst, sondern für alle künftigen Generationen galt. Und diese Generationen — alle, bis zum heutigen Tag — hatten gegen Ji'e'toh verstoßen, indem sie den Speer aufnahmen. Hatten die Männer, die jetzt vor ihm saßen und lagen, diesen Gedanken ebenfalls durchgespielt? Ji'e'toh war für die Aiel eine sehr ernste Angelegenheit.

Die Gai'schain schlüpften auf weichen Sohlen fast lautlos hinaus. Keiner der Clanhäuptlinge jedoch berührte den Wein oder die Speisen.

»Gibt es Anlaß zur Hoffnung, daß Couladin sich mit mir zu Verhandlungen trifft?« Rand war klar, daß es keine Hoffnung gab. Er hatte aufgehört, Boten mit der Aufforderung zu einem Zusammentreffen hinzuschicken, als er erfuhr, daß Couladin den Boten bei lebendigem Leib die Haut abziehen ließ. Aber auf diese Weise wollte er die anderen zum Sprechen bringen.

Han schnaubte. »Das einzige, was wir von ihm hörten, war, daß er beim nächsten Zusammentreffen Euch die Haut abziehen will. Klingt das, als sei er zum Verhandeln bereit?«

»Kann ich ihm die Shaido abspenstig machen?«

»Sie folgen ihm«, sagte Rhuarc. »Er ist nicht einmal Häuptling, aber sie nehmen es ihm ab.« Couladin war niemals zwischen jene Glassäulen getreten. Vielleicht glaubte er sogar, so wie er behauptete, daß alles, was Rand gesagt hatte, bloße Lüge sei. »Er sagt, er sei der Car'a'carn, und auch das glauben sie ihm. Die Töchter des Speers von den Shaido kamen ausschließlich ihrer Gemeinschaft wegen hierher, denn die Far Dareis Mai bewahrten Eure Ehre. Die anderen werden nicht kommen.«

»Wir schicken Kundschafter, um sie unter Beobachtung zu halten«, sagte Bruan, »und die Shaido töten sie, wenn sie können. Couladin ist dabei, ein halbes Dutzend verschiedener Blutfehden auszulösen. Doch wenigstens gibt es noch kein Anzeichen dafür, daß er uns hier angreifen will. Ich habe gehört, er behaupte, wir hätten Rhuidean entweiht, und wenn er uns jetzt angreift, würde das nur die Entweihung verschlimmern.«

Erim knurrte etwas und verlagerte sein Gewicht auf dem Kissen. »Er meint damit, hier befänden sich genügend Speere, um jeden seiner Shaido zweimal zu töten und noch mehr.« Er schob sich einen Brocken weißen Käse in den Mund und grollte noch: »Die Shaido waren schon immer Feiglinge und Diebe.«

»Ehrlose Hunde«, sagten Bael und Jheran im Chor, und dann sahen sie sich an, als fürchteten sie, der andere habe sie irgendwie zu dieser Aussage verführt.

»Ehrlos oder nicht«, warf Bruan beruhigend ein, »Couladins Heer wächst jedenfalls.« So ruhig er auch klang, er mußte doch erst einen tiefen Zug aus seinem Becher nehmen, bevor er weitersprach: »Ihr wißt alle, wovon ich spreche. Einige von denen, die nach der Trostlosigkeit weglaufen, werfen ihre Speere nicht fort. Statt dessen vereinigen sie sich mit denen aus ihrer Gemeinschaft unter den Shaido.«

»Kein Tomanelle hat jemals seinen Clan verlassen«, rief Han zornig.

Bruan blickte an Rhuarc und Erim vorbei den Häuptling der Tomanelle an und sagte betont: »Das ist in jedem Clan mittlerweile vorgekommen.« Ohne auf einen weiteren Widerspruch zu warten, legte er sich auf seinem Kissen zurück. »Man kann das auch nicht so sehen, daß sie ihren Clan verließen. Sie schließen sich ihrer Kriegergemeinschaft an. Wie die Töchter des Speers von den Shaido, die hierher zu ihrem Dach gekommen sind.«

Es gab ein wenig Gemurre, doch diesmal widersprach keiner. Die Regeln in bezug auf die Kriegergemeinschaften der Aiel waren kompliziert, und auf gewisse Weise fühlten sich ihre Mitglieder genauso an sie gebunden wie an ihren Clan. So kämpften beispielsweise Mitglieder der gleichen Gemeinschaft nicht gegeneinander, auch wenn ihre Clans eine Blutfehde ausfochten. Einige Männer heirateten eine Frau nicht, wenn sie zu eng mit einem Mitglied der eigenen Kriegergemeinschaft verwandt war, als sei sie dadurch eine eigene Blutsverwandte. Über die Sitten der Far Dareis Mai, der Töchter des Speers, wollte Rand lieber erst gar nicht nachdenken.

»Ich muß wissen, was Couladin vorhat«, sagte er zu ihnen. Couladin war wie ein Stier mit einer Biene im Ohr —er konnte in jeder möglichen Richtung losstürmen. Rand zögerte. »Würde es die Ehre verletzen, wenn wir Leute aussenden, die sich den Mitgliedern ihrer Gemeinschaften bei den Shaido anschließen?« Er mußte sich nicht ausführlicher erklären. Alle versteiften sich auf ihren Kissen und starrten ihn voller Kälte an, als wollten sie die Hitze aus dem Raum vertreiben.

»Auf diese Weise zu spionieren« — Erim verzog den Mund bei dem Ausdruck ›spionieren‹, als sei das bloße Wort schon eine Beleidigung — »wäre genauso, als verrate man die Geheimnisse der eigenen Septime. Niemand mit Ehre im Leib würde so etwas tun!«

Rand verkniff es sich, zu fragen, ob man vielleicht jemanden mit einem etwas lockereren Ehrbegriff finden könne. Der Humor bei den Aiel war eine eigenartige Sache, oftmals sogar grausam, aber es gab Fälle, in denen verstanden sie absolut keinen Spaß.

Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Gibt es irgendwelche Nachrichten von jenseits des Drachenwalls?« Er kannte die Antwort, denn diese Art von Neuigkeiten sprach sich selbst bei der Anzahl von Aiel schnell herum, wie sie hier vor Rhuidean versammelt war.

»Nichts Nennenswertes«, antwortete Rhuarc. »Bei den Streitigkeiten unter den Baummördern kommen nur wenige Händler ins Dreifache Land.« So nannten die Aiel ihre Wüste: zum einen Buße für ihre Sünde, dann als Ort, an dem sie ihren Mut beweisen mußten, und schließlich als Amboß, auf dem sie zurechtgeschmiedet wurden. Als Baummörder bezeichneten sie die Bewohner Cairhiens. »Das Drachenbanner weht noch über dem Stein von Tear. Die Taierener sind nach Norden marschiert, wie Ihr angeordnet hattet, und haben unter den Baummördern Lebensmittel verteilt. Sonst nichts.«

»Ihr hättet die Baummörder verhungern lassen sollen«, brummte Bael, und Jheran schloß eiligst den Mund. Rand vermutete, er habe gerade dasselbe sagen wollen.

»Die Baummörder sind zu nichts anderem gut, als entweder getötet oder wie Vieh in Shara verkauft zu werden«, sagte Erim zornig. Das waren zwei der Strafen, die bei den Aiel üblich waren, wenn man uneingeladen in die Wüste kam. Nur Gaukler, Händler und Kesselflicker hatten uneingeschränkt Zugang, obwohl die Aiel die Kesselflicker mieden wie die Pest. Shara nannten sie die Länder jenseits der Wüste. Nicht einmal die Aiel wußten viel über sie.

Aus dem Augenwinkel sah Rand zwei Frauen, die erwartungsvoll gerade innerhalb des hohen Türbogens standen. Jemand hatte einen Vorhang aus mit bunten Glasperlen behängten Schnüren angebracht, rot und blau, um die fehlende Tür zu ersetzen. Eine der Frauen war Moiraine. Einen Augenblick lang überlegte er sich, ob er sie warten lassen solle. Moiraine hatte wieder diesen aufreizenden Kommandoblick an sich und erwartete offensichtlich, daß sie alles unterbrächen, um sie anzuhören. Andererseits war aller Diskussionsstoff ohnehin verbraucht, und sie sah wohl auch den Männern an, daß sie keine Lust zum Plaudern hatten. Nicht jetzt, wo man gerade an die Trostlosigkeit und die Shaido denken mußte.

Seufzend stand er auf, und die Häuptlinge taten es ihm nach. Alle außer Han waren genauso groß oder noch größer als er. Wo Rand aufgewachsen war, hätte man Hans Größe als durchschnittlich oder sogar etwas überdurchschnittlich betrachtet, während er unter den Aiel als klein galt. »Ihr wißt, was Ihr zu tun habt. Holt die restlichen Clans her und behaltet die Shaido im Auge.« Er schwieg einen Moment lang und fügte dann hinzu: »Es wird schon gut ausgehen. So gut für die Aiel, wie ich es nur fertigbringe.«

»Es wurde geweissagt, daß Ihr uns vernichten werdet«, sagte Han mürrisch, »und Ihr habt gut damit begonnen. Und doch werden wir Euch folgen. Bis der Schatten verflogen«, zitierte er, »bis das Wasser versickert ist, in den Schatten hinein mit gebleckten Zähnen, bis zum letzten Atemzug Widerspruch schreiend, um am Letzten Tag dem Sichtblender ins Auge zu spucken.« Sichtblender war eine der Aielbezeichnungen für den Dunklen König.

Rand blieb nichts anderes übrig, als eine geziemende Antwort zu geben. Einst hatte er sie nicht gekannt. »Bei meiner Ehre und dem Licht wird mein Leben zum Dolch im Herzen des Sichtblenders werden.«

»Bis zum Letzten Tag«, beendete der Aiel die zeremoniellen Sätze, »und zum Shayol Ghul selbst.« Der Harfner spielte friedlich weiter. Die Häuptlinge drängten sich an den beiden Frauen vorbei, wobei sie Moiraine mit respektvollen Blicken bedachten. Sie hatten aber offensichtlich keine Angst vor ihr. Rand wünschte, er besäße ebensoviel Selbstsicherheit. Moiraine hatte zu viele Pläne für ihn, zu viele Möglichkeiten, ihn als Marionette zu benützen, ohne daß er es überhaupt bemerkte.

Die beiden Frauen traten ein, sobald die Häuptlinge weg waren. Moiraine wirkte so kühl und elegant wie immer: eine kleine, hübsche Frau, ob mit oder ohne die typische Alterslosigkeit der Aes Sedai. Sie hatte das feuchte Tuch zur Kühlung ihrer Schläfen abgelegt. Statt dessen hing auf ihrer Stirn an einer feinen goldenen Kette, die in ihrem dunklen Haar befestigt war, ein kleiner blauer Edelstein. Es hätte aber auch nichts bedeutet, wenn sie an dieser Stelle das Tuch belassen hätte; nichts konnte ihre königliche Haltung mindern. Sie erschien allen für gewöhnlich einen Fuß größer, als sie tatsächlich war, und in ihren Augen standen Selbstvertrauen und Überlegenheit.

Die andere Frau war größer, wenn sie ihm auch nicht bis an die Schulter reichte, und jung, also keineswegs alterslos. Es war Egwene, mit der er aufgewachsen war. Nun konnte sie sich fast, wenn man die großen, dunklen Augen mißachtete, als Aielfrau ausgeben, und das nicht nur ihres sonnenverbrannten Gesichts und der Hände wegen. Sie trug den bei den Aiel üblichen Rock aus brauner Wolle und eine lose hängende weiße Bluse aus einer Pflanzenfaser, die Algode genannt wurde. Algode war weicher als selbst die feinstgesponnene Wolle. Falls er je die Aiel dazu bringen konnte, wäre das eine hervorragende Handelsware. Um Egwenes Schultern hing ein graues Dreieckstuch, und sie hatte sich einen ebenfalls grauen Schal zusammengerollt und um die Stirn gebunden, der ihr schulterlanges, dunkles Haar zurückhielt. Anders als die Aielfrauen trug sie aber nur einen Armreif aus Elfenbein, in Form eines Flammenringes geschnitzt, und nur eine einzige Halskette aus Gold mit Elfenbeinperlen. Und noch etwas: einen Großen Schlangenring an der linken Hand.

Egwene hatte sich von einigen Weisen Frauen der Aiel ausbilden lassen. Rand wußte nicht genau, worin, er vermutete aber, es müsse um Träume gehen. Egwene und die Aielfrauen hüllten sich in Schweigen, wenn es um dieses Thema ging. Vorher aber hatte sie auch in der Weißen Burg studiert. Sie war dort eine der Aufgenommenen und auf dem Weg, eine Aes Sedai zu werden. Und zumindest hier und in Tear hatte sie sich bereits als fertige Aes Sedai ausgegeben. Manchmal zog er sie deshalb auf, doch sie vertrug seine Scherze in dieser Beziehung offensichtlich nicht.

»Die Wagen werden bald bereit sein, nach Tar Valon zu fahren«, sagte Moiraine. Ihre Stimme klang kristallklar und melodiös.

»Schickt eine starke Bewachung mit«, sagte Rand, »sonst bringt Kadere sie vielleicht nicht dorthin, wo Ihr sie haben wollt.« Er wandte sich wieder den Fenstern zu, weil er hinausblicken und über Kadere nachdenken wollte. »Ihr habt mich ja auch zuvor nicht gebraucht, um Euer Händchen zu halten oder Euch eine Erlaubnis zu erteilen.«

Plötzlich schien ihn etwas von hinten auf die Schulter zu treffen, wie ein Schlag mit einem dicken Hickorystock. Nur eine leichte Gänsehaut, so unwahrscheinlich das bei dieser Hitze war, sagte ihm, daß eine der Frauen soeben die Macht benützt hatte.

Er drehte sich schnell zu ihnen hin, griff gleichzeitig nach Saidin und füllte sich mit der Einen Macht. Es war ein Gefühl, als wachse das Leben selbst in ihm, als lebte er mit einem Mal zehnfach, hundertfach. Auch die Verderbnis des Dunklen Königs füllte ihn mit Tod und Verwesung, als krabbelten Maden in seinem Mund. Der ganze Strom drohte ihn wegzuschwemmen. Er mußte jeden Augenblick gegen die reißende Flut ankämpfen. Er war inzwischen schon fast daran gewöhnt, und doch würde er sich nie daran gewöhnen können. Er wollte sich für alle Ewigkeit an der Süße Saidins festklammern, und doch hätte er sich fast übergeben. Und die ganze Zeit über bemühte sich diese Sintflut, ihn bis auf die Knochen zu entblößen und auch noch die Knochen selbst zu Asche zu verbrennen.

Die Verderbnis würde ihn eines Tages in den Wahnsinn treiben, falls ihn die Macht nicht schon vorher ausbrannte. Es war wie ein Wettrennen zwischen beiden. Der Wahnsinn war jedem Mann zum Verhängnis geworden, der seit dem Beginn der Zerstörung der Welt die Macht benützt hatte, seit dem Tag, an dem Lews Therin Telamon, der Drache, und seine Hundert Gefährten das Gefängnis des Dunklen Königs im Shayol Ghul versiegelt hatten. Der letzte Rückstoß der Macht bei dieser Versiegelung hatte die männliche Hälfte der Wahren Quelle vergiftet, und Männer, die mit der Macht umgehen konnten, Wahnsinnige, die die Macht lenkten, hatten die Welt entzweigefetzt.

Er füllte sich mit der Macht... Und er wußte trotzdem nicht, welche der beiden Frauen das getan hatte. Beide blickten ihn voller Unschuld an, jede mit beinahe gleichermaßen fragend hochgezogener Augenbraue, unschuldig, doch leicht amüsiert. Eine von ihnen oder sogar beide füllten sich vielleicht in diesem Augenblick mit der Macht aus der weiblichen Hälfte der Wahren Quelle, aber er konnte das nicht feststellen.

Sicher, ein Stockschlag über die Schultern war nicht Moiraines Stil. Sie fand gewöhnlich andere Wege, um zu bestrafen, subtilere, die am Ende dann um so schmerzhafter waren. So war er sich einigermaßen sicher, daß es Egwene gewesen war, aber er unternahm nichts. Beweise. Der Gedanke glitt an der Außenwand des Nichts entlang, während er drinnen schwebte, in der Leere, in der alle Gedanken und Gefühle, selbst sein Zorn, weit weg waren. Ich werde nichts ohne Beweise unternehmen. Diesmal lasse ich mich nicht zu einer Reaktion verführen. Sie war ja auch nicht mehr die alte Egwene, mit der er aufgewachsen war. Seit Moiraine sie hingesandt hatte, war sie ein Teil der Burg geworden. Wieder Moiraine. Immer Moiraine. Manchmal wünschte er, er könne Moiraine loswerden. Nur manchmal?

Er konzentrierte sich auf sie. »Was wollt Ihr von mir?« Seine Stimme klang gepreßt und kalt in den eigenen Ohren. Die Macht raste in ihm. Egwene hatte ihm erzählt, daß die Berührung Saidars, der weiblichen Hälfte der Wahren Quelle, wie eine Umarmung sei. Bei einem Mann dagegen war es immer ein gnadenloser Kampf. »Und erwähnt die Wagen nicht mehr, kleine Schwester. Gewöhnlich erfahre ich erst, was Ihr vorhabt, lange nachdem Ihr es getan habt.«

Die Aes Sedai runzelte die Stirn, und das war ja auch kein Wunder. Sie war bestimmt nicht daran gewöhnt, so genannt zu werden, von keinem Mann, auch nicht dem Wiedergeborenen Drachen. Er hatte selbst keine Ahnung, wie er auf dieses ›kleine Schwester‹ gekommen war. In letzter Zeit tauchten immer wieder ungewollt Worte in seinem Verstand auf. Vielleicht war das ein Anflug des Wahnsinns. Er lag oftmals nachts stundenlang im Bett und konnte nicht schlafen, weil er darüber nachgrübelte. Innerhalb des Nichts schien es, als müsse sich ein ganz anderer darüber Gedanken machen.

»Wir sollten allein miteinander sprechen.« Sie warf dem Harfner einen kühlen Blick zu.

Jasin Natael, wie er sich hier nannte, lag halb ausgestreckt auf Kissen an einer der fensterlosen Wände und spielte leise auf der Harfe, die er auf ein Knie gestützt hatte. Der obere Arm des Instruments war so geschnitzt und vergoldet, daß er den Geschöpfen auf Rands Unterarmen glich. Drachen, wie die Aiel sie nannten. Rand konnte nur vermuten, woher Natael das Ding hatte. Er war ein dunkelhaariger Mann, der außerhalb der Aiel-Wüste sicher als hochgewachsen gegolten hätte, und von mittleren Jahren. Wams und Hose bestanden aus dunkelblauer Seide, die gut an einen Königshof gepaßt hätte bei dieser Qualität, und waren mit kunstvollen Goldstickereien an Kragen und Manschetten verziert. Er hatte seine Kleidung trotz der Hitze bis obenhin zugeknöpft und —gebunden. Die feinen Kleider paßten nicht zu seinem Gauklerumhang, der neben ihm ausgebreitet lag. Es war ein durchaus fester Umhang, aber mit Hunderten von Flicken in beinahe ebenso vielen Farben geschmückt, die so aufgenäht waren, daß sie beim kleinsten Luftzug flatterten. Dieser Umhang bedeutete, daß man es mit einem fahrenden Gaukler zu tun hatte, einem Jongleur und Akrobaten, Musiker und Geschichtenerzähler, der von Dorf zu Dorf wanderte. Und das war ja wohl kein Mann, der Seide tragen würde. Der Mann war offensichtlich eitel. Er schien im Moment ganz in seiner Musik aufzugehen.

»Ihr könnt alles, was Ihr wollt, vor Natael sagen«, gab ihr Rand zur Antwort. »Er ist schließlich der persönliche Gaukler des Wiedergeborenen Drachen.« Falls die Geheimhaltung in diesem Fall wirklich so wichtig war, würde sie darauf bestehen, und er würde Natael wegschicken, obwohl er den Mann nicht gern aus den Augen verlor.

Egwene schnaubte vernehmlich und rückte die Stola auf ihren Schultern zurecht. »Dein Kopf ist geschwollen wie eine überreife Melone, Rand al'Thor.« Sie sagte das emotionslos wie eine klare Feststellung.

Zorn stieg außerhalb des Nichts empor. Nicht, weil sie das gesagt hatte; schon als sie Kinder waren, hatte sie ihn immer wieder zurechtgestutzt, ob er es verdient hatte oder nicht. Aber in letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, Hand in Hand mit Moiraine zu arbeiten, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, damit ihn die Aes Sedai dann herumschubsen konnte, wie sie wollte. Als sie jünger waren, bevor sie erfuhren, was er war, hatten Egwene und er immer erwartet, eines Tages zu heiraten. Und nun schlug sie sich gegen ihn auf die Seite Moiraines.

Mit hartem Gesichtsausdruck sprach er grober, als er eigentlich wollte: »Sagt mir, was Ihr wünscht, Moiraine. Sagt es mir hier und jetzt, oder wartet damit, bis ich Zeit für Euch habe. Ich bin sehr beschäftigt.« Das war eine glatte Lüge. Die meiste Zeit über übte er sich mit Lan im Schwertkampf oder mit Rhuarc im Umgang mit dem Speer, oder er lernte von beiden, wie man nur mit Händen und Füßen kämpft. Aber wenn er heute mit Grobheit etwas erreichen konnte, dann nur zu. Natael konnte ruhig alles hören. Fast alles. Solange Rand nur immer wußte, wo er sich gerade aufhielt.

Moiraine und Egwene machten böse Mienen, doch die echte Aes Sedai schien schließlich einzusehen, daß er diesmal nicht nachgeben werde. Sie warf Natael einen Blick zu und verzog leicht den Mund. Der Mann schien nach wie vor in seiner Musik aufzugehen. Dann zog sie ein dickes, in graue Seide gewickeltes Bündel aus ihrer Tasche.

Sie wickelte es auf und legte den Inhalt auf den Tisch: eine Scheibe von der Größe einer Männerhand, zur Hälfte matt schwarz und die andere Hälfte reinstes Weiß. Die beiden Farben trafen sich in einer Schlangenlinie genau in der Mitte und bildeten so zwei aneinandergefügte Tränen. Das war vor der Zerstörung der Welt das Symbol der Aes Sedai gewesen, doch diese Scheibe war mehr als das. Nur sieben davon waren jemals angefertigt worden — als Siegel auf dem Gefängnis des Dunklen Königs. Oder genauer: Jede war ein Brennpunkt für eines der Siegel. Sie zog ihr Messer vom Gürtel. Mit der scharfen Klinge kratzte Moiraine vorsichtig an der Kante der Scheibe. Und ein dünner, tiefschwarzer Splitter sprang ab.

Selbst in der Blase des Nichts geborgen schnappte Rand nach Luft. Die Leere bebte, und einen Augenblick lang hätte ihn fast die Macht überwältigt. »Ist das eine Kopie? Eine Fälschung?«

»Ich habe es unten auf dem Platz gefunden«, sagte Moiraine. »Es ist tatsächlich echt. Das eine, das ich von Tear mitgebracht habe, ist genau gleich.« So wie sie es sagte, hätte sie auch über Erbsensuppe zum Mittagessen sprechen können. Egwene andererseits hatte ihre Stola zusammengezogen, als fröre sie.

Rand spürte, wie sich auch in ihm die Angst breitmachte und über die Oberfläche des Nichts rann. Es kostete Mühe,

Saidin fahren zu lassen, doch er zwang sich dazu. Falls seine Konzentration zu sehr gestört wurde, würde ihn die Macht auf der Stelle ausbrennen, und er brauchte seine ganze Aufmerksamkeit für das vor ihm auf dem Tisch liegende Problem. Trotzdem und obwohl er froh war, die Verderbnis nicht mehr zu spüren, war es für ihn wie ein schwerer Verlust.

Dieser Splitter, der jetzt auf der Tischfläche schimmerte, war eine Unmöglichkeit. Diese Scheiben waren aus Cuendillar angefertigt, Herzstein, und nichts aus diesem Material konnte zerbrechen. Nicht einmal mit Hilfe der Einen Macht konnte man es zerstören. Welche Kraft auch immer dagegen eingesetzt wurde, machte es nur immer stärker. Das Geheimnis der Anfertigung von Herzstein war während der Zerstörung der Welt verlorengegangen, aber was auch im Zeitalter der Legenden daraus angefertigt worden war, existierte noch immer, selbst die zerbrechlichste Vase, selbst, wenn es durch die Zerstörung auf den tiefsten Meeresgrund versunken oder unter einem Berg begraben worden war. Sicher, drei der sieben Siegel waren bereits erbrochen, aber dazu hatte ganz gewiß etwas mehr gehört als ein Messer.

Davon abgesehen wußte er auch nicht, wie diese drei wirklich erbrochen worden waren. Wenn außer dem Schöpfer selbst nichts Herzstein zerbrechen konnte, dann sollte das doch unmöglich sein.

»Wie?« fragte er und war überrascht, daß seine Stimme genauso fest klang wie zu der Zeit, als ihn das Nichts umgeben hatte.

»Ich weiß es nicht«, sagte Moiraine mit derselben äußerlichen Ruhe. »Aber Ihr seht, wo das Problem liegt?

Das hier könnte durch einen bloßen Fall vom Tisch zerbrechen. Falls die anderen, wo sie sich auch befinden mögen, im gleichen Zustand sind, könnten vier Männer mit Hämmern das Loch im Gefängnis des Dunklen Königs wieder aufbrechen. Und wer weiß, wie wirksam sie in diesem Zustand überhaupt noch sind?«

Das sah Rand ein. Ich bin noch nicht bereit. Er war nicht sicher, ob er jemals bereit sein würde, aber jetzt war es ganz sicher zu früh. Egwene sah aus, als blicke sie in ihr eigenes offenes Grab.

Moiraine wickelte die Scheibe wieder ein und steckte sie in die Tasche zurück. »Vielleicht fällt mir eine Möglichkeit ein, bevor ich das nach Tar Valon bringe. Wenn wir wissen, wie das geschah, finden wir vielleicht eine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.« Ihn packte die Vision, wie der Dunkle König wieder vom Shayol Ghul aus nach der Welt griff, schließlich wieder ganz in Freiheit war... In seiner Vorstellung bedeckten Feuer und Dunkelheit die Welt, Flammen, die verschlangen und dennoch kein Licht warfen; Schwärze, so fest wie Stein, die selbst die Luft erdrückte. Mit diesem Bild im Kopf dauerte es einen Augenblick, bis er aufnahm, was Moiraine gerade gesagt hatte. »Ihr wollt selbst hinreisen?« Er hatte geglaubt, sie werde weiter an ihm kleben wie Moos an einem Felsblock. Willst du das nicht auch?

»Irgendwann«, erwiderte Moiraine leise. »Irgendwann werde ich hingehen, denn schließlich muß ich Euch einmal verlassen. Was sein wird, muß sein.« Rand glaubte zu bemerken, daß sie bebte, doch es geschah zu schnell, und er konnte es sich auch eingebildet haben. Im nächsten Moment war sie wieder vollkommen sicher und beherrscht.

»Ihr müßt bereit sein.« Das weckte unangenehme Erinnerungen an seine eigenen Zweifel. »Wir sollten über Eure Planung sprechen. Ihr könnt hier nicht viel länger herumsitzen. Selbst wenn die Verlorenen gar nicht planen, Euch zu verfolgen, sind sie doch dort draußen und vergrößern ihre Macht. Die Aiel zusammenzurufen wird Euch nicht viel nützen, wenn Ihr anschließend herausfindet, daß alles Land jenseits des Rückgrats der Welt in ihren Händen ist.«

Schmunzelnd lehnte sich Rand an den Tisch. Also war dies auch wieder nur einer ihrer Winkelzüge; wenn er nicht wollte, daß sie ging, würde er möglicherweise eher auf sie hören und könnte leichter gelenkt werden. Sie konnte natürlich nicht lügen; jedenfalls nicht direkt. Dafür sorgte einer der berühmten Drei Eide: Sie konnte kein unwahres Wort über die Lippen bringen. Doch er hatte erfahren, daß dies noch immer reichlich Ellbogenfreiheit ließ. Sie würde ihn jedenfalls irgendwann allein lassen. Zweifellos nach seinem Tod.

»Ihr wollt also über meine Planung sprechen«, sagte er trocken. Er zog eine kurzstielige Pfeife und einen ledernen Tabaksbeutel aus der Tasche, stopfte die Pfeife mit dem Daumen und berührte ganz kurz Saidin, um eine kleine Flamme über dem Tabak tanzen zu lassen. »Warum? Es sind meine Pläne.« Er paffte gemütlich und wartete, trotz Egwenes wütender Miene.

Der Gesichtsausdruck der Aes Sedai änderte sich nicht, aber ihre großen, dunklen Augen schienen zu glühen. »Was habt Ihr angerichtet, als Ihr Euch geweigert habt, Euch meiner Führung anzuvertrauen?« Ihre Stimme klang genauso kühl, wie ihr Gesicht wirkte, doch die Worte kamen wie Peitschenhiebe heraus. »Wo immer Ihr hinkamt, habt Ihr Tod, Zerstörung und Krieg hinterlassen.«

»In Tear nicht«, sagte er ein wenig zu schnell. Und zu schuldbewußt. Er durfte sich nicht von ihr aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Entschlossen und langsam paffte er an seiner Pfeife.

»Nein«, gab sie zu, »in Tear nicht. Zum erstenmal hattet Ihr eine Nation hinter Euch, ein Volk, und was habt Ihr damit gemacht? Mehr Gerechtigkeit nach Tear zu bringen war lobenswert. Ihr habt Beifall verdient, weil Ihr in Cairhien wieder die Ordnung herstellen ließt und die Hungrigen gespeist habt. Zu jeder anderen Zeit würde ich Euch dafür loben.« Sie stammte selbst aus Cairhien. »Aber das alles hilft Euch nicht, wenn der Tag von Tarmon Gai'don naht.« Die Frau wich nicht von ihrer Richtung ab, und alles andere ließ sie kalt, selbst ihr eigenes Land. Sollte er nicht genauso zielbewußt handeln?

»Was hätte ich denn Eurer Meinung nach tun sollen? Einen nach den anderen unter den Verlorenen jagen und zur Strecke bringen?« Wieder zwang er sich, vor dem Weitersprechen langsam an seiner Pfeife zu ziehen, obwohl es ihn Mühe kostete. »Wißt Ihr überhaupt, wo sie sich aufhalten? Oh, Sammael befindet sich in Illian — das wissen wir —, aber die anderen? Was wird, wenn ich Sammael angreife, wie Ihr es wohl wünscht, und statt dessen treffe ich zwei oder drei oder vier von ihnen auf einmal an? Oder gar alle neun?«

»Ihr hättet dreien oder vieren gegenübertreten können, vielleicht sogar allen neun Überlebenden«, sagte sie eisig, »hättet Ihr nicht Callandor in Tear zurückgelassen. In Wirklichkeit rennt Ihr vor ihnen davon. Ihr habt überhaupt keinen Plan, jedenfalls keinen, um Euch auf die Letzte Schlacht vorzubereiten. Ihr rennt von einem Ort zum anderen und hofft, daß sich irgendwie alles zum Besten entwickeln wird. Ihr hofft lediglich, weil Ihr nicht wißt, was Ihr sonst tun sollt. Wenn Ihr meinen Rat beherzigt, dann hättet Ihr wenigstens...« Er unterbrach sie mit einer scharfen Geste mit der Pfeife, ohne die wütenden Blicke zu beachten, die beide Frauen ihm zuwarfen.

»Ich habe einen Plan.« Wenn sie es wissen wollten, dann sollten sie. Er wollte verdammt sein, wenn er auch nur ein Wort änderte. »Zuerst habe ich vor, die Kriege und das Töten zu beenden, ob ich sie nun ausgelöst habe oder nicht. Wenn Menschen unbedingt töten müssen, dann sollen sie Trollocs töten und nicht sich gegenseitig. Im Aielkrieg haben vier Clans die Drachenmauer überquert und konnten sich mehr als zwei Jahre lang ziemlich ungehindert bewegen. Sie haben Cairhien geplündert und niedergebrannt und jedes Heer besiegt, das gegen sie ausgesandt wurde. Wenn sie gewollt hätten, dann hätten sie auch Tar Valon eingenommen. Die Burg hätte sie Eurer Drei Eide wegen nicht aufhalten können.« Sie durften die Macht nicht als Waffe verwenden, es sei denn gegen Schattenwesen oder Schattenfreunde oder in Selbstverteidigung, so lautete einer der Eide, und die Aiel hatten die Burg selbst nicht bedroht. Nun hatte ihn der Zorn fest im Griff. Wegrennen und hoffen, was? »Vier Clans haben das fertiggebracht. Was geschieht, wenn ich elf Clans über das Rückgrat der Welt führe?« Es würde sich auf elf beschränken müssen; die Shaido würde er wohl kaum mitbringen können. »Wenn die Länder so weit sind, daß sie an eine Vereinigung denken, wird es bereits zu spät sein.

Sie werden meinen Frieden annehmen, oder ich will im Can Breat begraben werden.« Die Harfe gab einen schrillen Mißton von sich, und Natael beugte sich kopfschüttelnd über das Instrument. Einen Augenblick später erklangen die beruhigenden Töne wieder.

»Keine Melone könnte so anschwellen wie dein Kopf«, knurrte Egwene und faltete die Arme unter der Brust. »Und kein Stein könnte sturer sein. Moiraine versucht doch nur, dir zu helfen! Warum kannst du das nicht einsehen?«

Die Aes Sedai strich ihren Seidenrock glatt, ohne daß er es nötig hatte. »Die Aiel über die Drachenmauer zu führen könnte sich als das Schlimmste erweisen, was Ihr überhaupt anstellen könnt.« Ihre Stimme klang hart vor Ärger oder Enttäuschung. Wenigstens wurde ihr langsam klar, daß er keine Marionette war. »Zu dieser Zeit wird die Amyrlin nämlich Kontakt mit allen Herrschern jeder Nation herstellen, die noch einen Herrscher besitzt, und ihnen die Beweise vorlegen, daß Ihr der Wiedergeborene Drache seid. Sie kennen die Prophezeiungen, und sie wissen, für welche Aufgabe Ihr geboren wurdet. Sobald sie davon überzeugt sind, wer und was Ihr seid, akzeptieren sie Euch aus der reinen Notwendigkeit heraus. Die Letzte Schlacht kommt näher, und Ihr seid ihre einzige Hoffnung, die einzige Hoffnung der Menschheit.«

Rand lachte schallend los. Es war allerdings ein bitteres Lachen. Er steckte wieder die Pfeife zwischen die Zähne, drückte sich hoch und setzte sich im Schneidersitz auf den Tisch. Dann sah er sie wieder an. »Also glaubt Ihr und Siuan Sanche immer noch, Ihr wüßtet alles, was es Wissenswertes gibt.« Das Licht gebe, daß sie bei weitem nicht alles über ihn wußten und den Rest auch niemals herausfinden würden. »Ihr seid beide Närrinnen.«

»Zeige gefälligst etwas Respekt!« grollte Egwene, aber Rand beachtete sie gar nicht und sprach weiter: »Die Hochlords in Tear kennen die Prophezeiungen ebenfalls, und sie wußten, wer ich bin, sobald sie das Unberührbare Schwert in meiner Hand erblickten. Die Hälfte von ihnen erwartet, daß ich ihnen Macht oder Ruhm oder beides verschaffe, während die andere Hälfte mir am liebsten ein Messer in den Rücken rennen möchte und dann versuchen, zu vergessen, daß sich der Wiedergeborene Drache jemals in Tear befunden hat. So werden die Länder den Wiedergeborenen Drachen begrüßen. Es sei denn, ich unterdrücke das von Anfang an, genauso wie in Tear. Wißt Ihr, warum ich Callandor in Tear zurückgelassen habe? Um sie an mich zu erinnern! Jeden Tag, an dem ihnen bewußt ist, daß es da ist und im Herzen des Steins steckt, wissen sie auch, daß ich zurückkommen werde, um es zu holen. Das ist es, was sie an mich bindet.« Das war ein Grund dafür, warum er das Schwert, Das Kein Schwert Ist, zurückgelassen hatte. Er dachte nicht gern an den anderen.

»Seid sehr vorsichtig«, mahnte ihn Moiraine nach kurzer Überlegung. Nicht mehr, und das mit einer in Ruhe erstarrten Stimme. Er hörte den warnenden Unterton in diesen Worten. Einmal hatte sie ihm im gleichen Tonfall gesagt, sie werde eher dafür sorgen, daß er stürbe, als ihn dem Schatten zu überlassen. Eine harte Frau.

Sie blickte ihn einen langen Augenblick schweigend an. Ihre Augen waren wie dunkle Seen, die ihn zu verschlingen drohten. Dann machte sie einen perfekten Knicks. »Mit Eurer Genehmigung, Lord Drache, werde ich nun Meister Kadere anweisen, wo er morgen zu arbeiten hat.«

Niemand hätte an ihren Bewegungen und Worten auch nur den geringsten Anflug von Spott ablesen können, doch Rand spürte ihn deutlich. Sie versuchte aber auch alles, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihn durch Schuld- oder Schamgefühle oder Unsicherheit oder was sonst noch ihrem Willen gefügig zu machen. Er sah ihr nach, bis die klickenden Perlen im Türvorhang ihren Abgang verdeckten.

»Es ist gar nicht nötig, solch eine finstere Miene zu machen, Rand al'Thor.« Egwenes Stimme war leise, ihr Blick gereizt, und sie umklammerte ihre Stola, als wolle sie ihn damit erwürgen. »Lord Drache — daß ich nicht lache! Was du sonst auch sein magst: Du bist ein unhöflicher Klotz mit schlechten Manieren. Du hättest erheblich mehr verdient gehabt. Es würde dich nicht umbringen, wenn du dich zur Abwechslung anständig benähmst!«

»Also warst du es doch«, fuhr er sie an, aber zu seiner Überraschung schüttelte sie bereits halb den Kopf, bis sie sich fing. Moiraine war es gewesen, soviel wußte er nun. Wenn die Aes Sedai aber solche Launen zeigte, mußte ihr schon etwas den letzten Nerv rauben. Wahrscheinlich war er daran schuld. Vielleicht sollte er sich entschuldigen. Ich schätze, es wäre wirklich nicht so schlimm, einmal wieder höflich zu sein. Andererseits sah er nicht ein, warum er gute Manieren zeigen sollte, während die Aes Sedai versuchte, ihn an die Leine zu legen.

Doch wenn er selbst daran dachte, sich mehr Höflichkeit anzugewöhnen, tat Egwene dies keineswegs. Falls glühende Kohlen dunkelbraun wären, hätten sie genauso ausgesehen wie Egwenes Augen. »Du bist ein wollköpfiger Narr, Rand al'Thor, und ich hätte niemals Elayne sagen dürfen, daß du gut genug für sie seist! Du bist nicht einmal gut genug für ein Wiesel! Nimm die Nase herunter! Ich erinnere mich daran, wie du geschwitzt und versucht hast, dich aus Sachen herauszureden, in die dich Mat hineingezogen hatte. Ich erinnere mich daran, wie dich Nynaeve verhauen hat, bis du am Heulen warst und ein Kissen brauchtest, um den Rest des Tages überhaupt noch sitzen zu können. Und das ist noch gar nicht so viele Jahre her. Ich sollte Elayne sagen, daß sie dich vergessen kann! Wenn sie wüßte, wie du dich entwickelt hast...«

Er starrte sie mit offenem Mund an, als ihre Tirade weiterging. Sie war wütender als je, seit sie den Raum durch den Perlenvorhang betreten hatte. Dann traf es ihn unvermittelt. Dieses leichte und ganz sicher unbeabsichtigte Kopfschütteln, mit dem sie ihn wissen ließ, daß es Moiraine gewesen sei, die ihm mit Hilfe der Macht eines verpaßt hatte. Egwene bemühte sich so sehr, alles, was sie anpackte, richtig und fehlerfrei zu tun. Sie lernte bei den Weisen Frauen, und so trug sie Aielkleidung. Es konnte durchaus sein, daß sie auch andere Sitten der Aiel hier für sich annahm. Das sähe ihr ähnlich. Aber die ganze Zeit über arbeitete sie hart daran, eine richtige Aes Sedai zu werden, obwohl sie ja erst zu den Aufgenommenen gehörte. Aes Sedai beherrschten sich im allgemeinen eisern und verrieten sich nie, wenn sie etwas verbergen oder verschleiern wollten.

Ilyena hat es mich nie so spüren lassen, wenn sie auf sich selbst böse war. Wenn sie mich durch die Mangel gedreht hat, dann nur... Einen Moment lang erstarrte sein Verstand. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine Frau namens Ilyena kennengelernt. Und doch konnte er ihr Gesicht aus seiner Erinnerung heraufbeschwören, trüb jedenfalls: ein hübsches Gesicht, Haut wie Milch, goldenes Haar genau wie das Elaynes. Das mußte einfach der beginnende Wahnsinn sein. Sich an eine eingebildete Frau zu erinnern! Vielleicht würde er sich eines Tages mit Leuten unterhalten, die gar nicht da waren.

Egwenes Gardinenpredigt endete in einem besorgten Blick. »Geht es dir gut, Rand?« Der Zorn war aus ihrer Stimme gewichen, als habe er nie existiert. »Stimmt etwas nicht? Soll ich Moiraine zurückholen, damit sie dich... «

»Nein!« sagte er, und fast im gleichen Moment besänftigte nun auch er seinen Tonfall. »Sie kann das nicht heilen...« Selbst eine Aes Sedai konnte einen wahnsinnig gewordenen Verstand nicht heilen. Niemand konnte ihn von dem heilen, woran er krankte. »Geht es Elayne gut?«

»Es geht ihr gut.« Trotz ihres ganzen Wortschwalls von vorher schwang nun doch etwas Sympathie in ihrer Stimme mit. Das war alles, was er erwarten durfte. Alles außer dem, was er sowieso schon bei Elaynes Abreise aus Tear wußte, ging nur die Aes Sedai an und nicht ihn. Das hatte ihm Egwene schon mehr als einmal gesagt, und Moiraine genauso. Die drei Weisen Frauen, die Traumgängerinnen, von denen Egwene ausgebildet wurde, hatten noch weniger gesagt. Sie hatten ihre eigenen Gründe dafür, warum sie mit seiner Handlungsweise nicht einverstanden waren.

»Ich sollte am besten nun auch gehen«, fuhr Egwene fort und legte sich die Stola wieder über die Oberarme. »Du bist müde.« Dann runzelte sie leicht die Stirn und fragte: »Rand, was bedeutet es, im Can Breat begraben zu sein?«

Er wollte sie schon fragen, wovon beim Licht sie eigentlich sprach, doch dann erinnerte er sich daran, diese Bezeichnung benützt zu haben. »Nur etwas, das ich mal gehört habe«, log er. Er hatte genausowenig Ahnung, was es bedeutete, wie davon, woher er das hatte.

»Ruh dich aus, Rand«, sagte sie und klang, als sei sie zwanzig Jahre älter und nicht zwei jünger. »Versprich es mir. Du brauchst es.« Er nickte. Sie blickte einen Moment lang forschend sein Gesicht an, als suche sie darin die Wahrheit, und dann ging sie zur Tür.

Rands silberner Becher schwebte vom Teppich empor und zu ihm herüber. Hastig schnappte er ihn aus der Luft, bevor sich Egwene noch einmal nach hinten umsah.

»Vielleicht sollte ich dir das gar nicht sagen«, brachte sie zögernd heraus. »Elayne hat mir das nicht als Botschaft für dich anvertraut, aber... Sie sagte, daß sie dich liebt. Vielleicht ist dir das ja schon klar, wenn aber noch nicht, dann solltest du darüber nachdenken.« Damit war sie draußen, und die Perlen klickten leise, als die Vorhangschnüre zurückschwangen.

Rand sprang vom Tisch, schleuderte den Becher von sich, daß der Wein über die Bodenfliesen spritzte, und fuhr wütend Jasin Natael an.

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