4 Zwielicht

Mit seiner Eskorte von Far Dareis Mai näherte sich Rand dem Dach der Töchter des Speers in Rhuidean. Weiße Treppen über die ganze Breite des großen Gebäudes, jede Stufe einen Schritt tief, führten hinauf zu mächtigen, zwanzig Schritt hohen Säulen, die im Dämmerlicht schwarz wirkten, aber bei Tag ein strahlendes Blau zeigten, und deren Mantel in Spiralen gearbeitet war. Die Außenwände des Gebäudes bestanden aus einem Mosaik glasierter Fliesen, weiß und blau, deren Spiralmuster dem Augen endlos erschien. Ein riesiges Fenster gleich über den Säulen wies ein farbiges Glasmosaik auf. Es zeigte eine fünfzehn Fuß hohe, schwarzhaarige Frau. Sie trug ein faltenreiches, blaues Gewand und hatte die rechte Hand erhoben, entweder um zu segnen oder um Einhalt zu gebieten. Ihr Gesicht wirkte würdevoll und streng zugleich. Wer sie auch gewesen sein mochte, eine Aiel war sie jedenfalls nicht, bei der blassen Haut und diesen dunklen Augen. Vielleicht eine Aes Sedai. Er klopfte die Pfeife am Absatz seines Stiefels aus und steckte sie in die Manteltasche, bevor er die Treppe hinaufging.

Außer den Gai'schain durfte eigentlich kein Mann unter ein Dach der Töchter des Speers treten, kein einziger Mann und in keiner Festung der ganzen Wüste. Selbst ein Häuptling oder der Blutsverwandte einer der Töchter könnte den Tod erleiden, sollte er es versuchen, aber natürlich dachte kein Aielmann auch nur an so etwas. Das galt übrigens für alle Kriegergemeinschaften; nur Mitglieder und die Gai'schain durften hineingehen.

Die beiden Töchter, die an der hohen Bronzetür Wache hielten, unterhielten sich und sahen nur kurz zu ihm herüber, als er zwischen den Säulen hindurchschritt. Dann tauschten sie ein leichtes Grinsen. Er wünschte, er wüßte, was sie gesagt hatten. Selbst in einem so trockenen Land wie der Wüste lief Bronze mit der Zeit an und wurde blind, doch Gai'schain hatten diese Türflügel poliert, bis sie wie neu glänzten. Sie standen nun weit offen, und die beiden Wächterinnen machten keine Anstalten, ihn am Hineingehen zu hindern, mit Adelin und den anderen auf den Fersen.

Die breiten, weißgefliesten Korridore und die großflächigen Zimmer waren voll von Töchtern des Speers. Sie saßen auf bunten Kissen, tratschten, pflegten ihre Waffen, spielten Fingerspiele oder Brettspiele oder ›Tausend Blumen‹, ein Aielspiel, bei dem man mit flachen Spielsteinen, die anscheinend hundert verschiedene Symbole zeigten, Muster legen mußte. Natürlich glitten unzählige Gai'schain mit eleganten Schritten durch das Gebäude, gingen ihren Aufgaben nach, putzten, bedienten, reparierten, füllten die Öllampen auf, von denen man eine große Bandbreite sah: von einfachen, glasierten Tonlampen bis zu vergoldeten Beutestücken von irgendwoher, und den hohen Stehlampen, die man in der Stadt vorgefunden hatte. In den meisten Zimmern bedeckten bunte Teppiche und leuchtende Wandbehänge Böden und Wände. Man sah beinahe so viele Muster und Stilformen, wie Teppiche und Gobelins vorhanden waren. Darüber hinaus zeigten die Wände und Decken detaillierte Mosaikarbeiten in Form von Wäldern und Flüssen und Himmeln, wie man sie in der Wüste niemals sah.

Ob jung oder alt: die Töchter lächelten ihn an, wenn sie seiner gewahr wurden, und einige nickten ihm vertraut zu oder klopften ihm sogar auf die Schulter. Andere sprachen ihn an, fragten nach seinem Befinden, ob er schon gegessen habe, ob er wolle, daß ihm die Gai'schain Wein oder Wasser brächten. Er erwiderte das meiste mit einem Lächeln. Es gehe ihm gut, und er habe weder Hunger noch Durst. Er ging weiter und verlangsamte seinen Schritt nicht, wenn er ihnen antwortete. Wenn er langsamer ging, würde das unweigerlich dazu führen, daß er bei ihnen stehenblieb, und das war ihm heute abend zuviel.

Die Far Dareis Mai hatten ihn auf gewisse Weise adoptiert. Einige behandelten ihn wie ihren Sohn, andere wie einen Bruder. Das Alter schien dabei keine Rolle zu spielen. Frauen mit weißen Strähnen im Haar tranken Tee mit ihm und sprachen mit ihm wie mit einem Bruder, während Töchter, die kaum ein Jahr älter waren als er, ihn bemutterten, indem sie ihm sagten, was er bei dieser Hitze an Kleidung zu tragen habe. Dieses Bemuttern ließ sich nicht vermeiden. Sie verhielten sich einfach so, und er wußte auch nicht, wie er es verhindern konnte, ohne die Eine Macht gegen sie alle auf einmal einzusetzen.

Er hatte daran gedacht, vielleicht eine andere Kriegergemeinschaft zu seinem eigenen Schutz einzusetzen, die Shae'en M'taal zum Beispiel, die Steinhunde, oder die Aethan Dor, die Roten Schilde — Rhuarc hatte zu den Roten Schilden gehört, bevor er Häuptling wurde —, nur, welche Begründung konnte er ihnen dafür liefern? Sicherlich nicht die Wahrheit. Wenn er nur daran dachte, Rhuarc und den anderen das zu erklären, wurde er nervös. Bei dem eigenartigen Humor der Aiel würde ihm vielleicht sogar der griesgrämige alte Han vor Lachen die Rippen brechen. Außerdem würde wahrscheinlich jeder mögliche Grund die Ehre jeder einzelnen Tochter des Speers verletzen. Wenigstens bemutterten sie ihn selten außerhalb, nur unter ihrem Dach, wenn niemand anders zusehen konnte als höchstens die Gai'schain, und die wußten es besser, als irgendwo herumzuerzählen, was hier geschehen war. »Die Töchter«, hatte er selbst einmal gesagt, »tragen meine Ehre.« Daran erinnerte sich wohl jeder, und die Töchter waren genauso stolz darauf, als habe er sie auf einen Thron gesetzt. Doch wie es schien, trugen sie seine Ehre auf eine Art und Weise, die sie selbst bestimmten.

Adelin und die anderen vier verließen ihn und schlossen sich ihren Freundinnen an, doch er war deshalb nicht allein, als er die breiten weißen Wendeltreppen emporstieg. Er mußte die gleichen Fragen praktisch auf jeder Stufe beantworten. Nein, er habe keinen Hunger. Ja, er wisse, daß er sich noch nicht an die Hitze gewöhnt hatte, und nein, er hatte nicht zuviel Zeit in der prallen Sonne verbracht. Er ertrug alles geduldig, aber er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er den zweiten Stock über dem riesigen Fenster erreicht hatte. Hier waren keine Töchter und keine Gai'schain mehr zu sehen, weder in den breiten Gängen, noch auf der Treppe nach weiter oben. Die kahlen Wände und leeren Zimmer betonten noch die Abwesenheit der Menschen, aber nach all dem Trubel drunten war die Einsamkeit ein Segen für ihn.

Sein Schlafzimmer war eine fensterlose Kammer nahe dem Mittelpunkt des Gebäudes, einer der wenigen Räume, die nicht riesengroß waren, wenn auch mit einer sehr hohen Decke. Die Höhe war das ausgeprägteste Merkmal dieses Zimmers. Er hatte keine Ahnung, wofür es ursprünglich vorgesehen gewesen war. Den einzigen Schmuck stellte ein Rankenmosaik um den kleinen Kamin dar. Er hätte ja gesagt, es sei das Zimmer eines Dieners gewesen, aber die Zimmer von Dienern wiesen wohl kaum eine bronzeverkleidete, wenn auch einfach gestaltete Tür auf. Er schob sie fast ganz zu. Gai'schain hatten die Metallfläche poliert, so daß sie jetzt matt glänzte. Auf den blauen Fußbodenfliesen lagen ein paar gefranste Sitzkissen verstreut, und zum Schlafen hatte man ihm auf mehrere bunte Läufer eine dicke Steppdecke gelegt. Nahe diesem ›Bett‹ standen ein einfacher, blauglasierter Krug mit Wasser und ein dunkelgrüner Becher. Das war alles, bis auf zwei bereits entzündete dreibeinige Stehlampen und einen schritthohen Stapel von Büchern in einer Ecke. Mit einem erschöpften Aufseufzen legte er sich, immer noch in Mantel und Stiefeln, auf die Steppdecke. Wie er sich auch drehte und wendete, es war auch nicht viel weicher als der blanke Fußboden.

Die Kühle der Nacht drang bereits in die Kammer, aber er machte sich nicht die Mühe, den getrockneten Kuhmist im Kamin zu entzünden. Ihm war die Kälte lieber als der Gestank. Asmodean hatte ihm einen einfachen Trick gezeigt, um den Raum warmzuhalten; einfach, doch etwas, das der Mann nun selbst nicht mehr fertigbrachte, weil ihm dazu die Kraft fehlte. Das einzige Mal, als Rand ihn ausprobiert hatte, war er mitten in der Nacht aufgewacht und hatte nach Luft geschnappt, während die Kanten der Läufer bereits von der Hitze des Fußbodens entzündet glimmten. Danach hatte er keinen weiteren Versuch mehr unternommen.

Er hatte dieses Gebäude als Quartier ausgewählt, weil es unbeschädigt war und nahe dem großen Platz lag. Die hohen Decken ließen selbst am heißesten Tag noch etwas wie Kühle erahnen, und die dicken Wände hielten bei Nacht die schlimmste Kälte ab. Natürlich war es anfangs nicht das Dach der Töchter des Speers gewesen. Eines Morgens war er aufgewacht und hatte das Gebäude einfach besetzt vorgefunden: Töchter in jedem Zimmer der ersten beiden Stockwerke und ihre Wächterinnen an seiner Tür. Er hatte eine Weile gebraucht, bis ihm klar wurde, daß sie dieses Gebäude als Dach für ihre Gemeinschaft hier in Rhuidean in Anspruch genommen hatten und doch erwarteten, daß er weiterhin darin wohnte. Tatsächlich wären sie bereit gewesen, ihr Dach überallhin zu verlegen, wo er sich aufhielt. Deshalb hatte er sich an einem anderen Ort mit den Clanhäuptlingen treffen müssen. Wenigstens hatte er es fertiggebracht, sie zu überzeugen, unterhalb des Stockwerks zu bleiben, in dem er selbst schlief. Das hatte sie unwahrscheinlich erheitert. Selbst der Car'a'carn ist kein König, rief er sich trocken ins Gedächtnis zurück. Zweimal bereits war er nach weiter oben umgezogen, als sich die Anzahl der Töchter ständig erhöhte. Gelangweilt versuchte er auszurechnen, wie viele noch ankommen müßten, bis er schließlich auf dem Dach schlief.

Das war besser, als immer daran denken zu müssen, wie er sich wieder von Moiraine hatte provozieren lassen. Er hatte sie eigentlich über seinen Plan im Ungewissen lassen wollen bis zu dem Tag, an dem er mit den Aiel ausrückte.

Sie wußte eben genau, wie sie seine Gefühle manipulieren konnte, wie sie ihn so wütend machen konnte, daß er mehr sagte, als ihm lieb war. Ich bin doch früher nie so wütend geworden. Warum habe ich solche Schwierigkeiten, mich zu beherrschen? Nun, sie konnte jedenfalls nichts unternehmen, um ihn zurückzuhalten. Er glaubte zumindest nicht, daß es eine Möglichkeit gab. Er mußte aber nächstens rechtzeitig daran denken, bei ihr einfach vorsichtiger zu sein. Seine ständig wachsenden Fähigkeiten ließen ihn ihr gegenüber leichtsinnig werden, doch wenn er auch viel stärker war, hatte sie viel mehr Erfahrung, und die konnte ihn Asmodean nicht lehren.

Auf gewisse Weise war es weniger wichtig, wenn er Asmodean seine Pläne wissen ließ, als sein Vorhaben der Aes Sedai zu enthüllen. Für Moiraine bin ich immer noch ein Schafhirte, den sie zum Besten der Burg benützen kann, aber für Asmodean bin ich der einzige Ast, an dem er sich in der rasenden Flut festklammern kann. Seltsam, wenn er bedachte, daß er einem der Verlorenen wahrscheinlich eher vertrauen konnte als Moiraine. Andererseits, er konnte wohl beiden nicht gerade weitgehend trauen. Asmodean. Wenn seine Bindung an den Dunklen König ihn gegen die Verderbnis Saidins hatte schützen können, dann mußte es auch eine andere Möglichkeit geben, das zu erreichen. Oder Saidin zu reinigen.

Das Problem war, daß die Verlorenen vor ihrem Überlaufen zum Schatten zu den mächtigsten Aes Sedai im Zeitalter der Legenden gehört hatten, als Dinge noch selbstverständlich waren, von denen heutzutage die Weiße Burg nur träumen konnte. Wenn Asmodean nicht wußte, wie man Saidin reinigte, dann ging es vielleicht überhaupt nicht. Aber es muß einen Weg geben! Irgend etwas kann das vollbringen. Ich werde nicht bloß dasitzen und darauf warten, wahnsinnig zu werden und zu sterben.

Das war doch alles einfach idiotisch. Die Prophezeiung hatte ihm ein Zusammentreffen am Shayol Ghul vorhergesagt. Wann, das wußte er nicht, aber hinterher würde er sich keine Gedanken mehr darüber machen müssen, ob er nun wahnsinnig würde oder nicht. Er schauderte und wollte schon seine Decken über sich ziehen.

Das leise Geräusch von Schritten im Flur ließ ihn hochfahren. Ich habe es ihnen doch gesagt! Wenn sie nicht...! Die Frau, die nun die Tür aufdrückte und mit Armen voll von dicken Wolldecken in den Raum trat, war keine, die er hier erwartet hätte.

Aviendha blieb gleich hinter der Tür stehen und betrachtete ihn mit kühlen, blaugrünen Augen. Sie war eine mehr als nur hübsche Frau, etwa gleich alt wie er, einst eine Tochter des Speers, doch dann hatte sie den Speer aufgegeben, um eine Weise Frau zu werden. Das war noch gar nicht lange her. Ihr dunkelrotes Haar reichte ihr noch nicht ganz bis auf die Schultern, und das gefaltete braune Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, war eigentlich unnötig, denn die Haare konnten ihr noch nicht ins Gesicht fallen. Sie schien, was das Tuch betraf, ein wenig ungeschickt, und mit ihrem weiten grauen Rock ziemlich ungeduldig.

Die Eifersucht versetzte ihm einen kleinen Stich, als er die silberne Halskette entdeckte, die sie heute trug; kunstvoll aneinandergereihte gehämmerte Scheiben, von denen jede anders verziert war. Wer hat ihr das gegeben?

Sie hatte es bestimmt nicht selbst ausgewählt, denn sie schien Schmuck nicht zu mögen. Das einzige andere Schmuckstück, das sie trug, war ein breiter ElfenbeinArmreif, der mit kunstvoll geschnitzten Rosen verziert war. Den hatte er ihr geschenkt, und er war sich nicht sicher, ob sie ihm das bereits verziehen habe. Außerdem war es sowieso dumm von ihm, eifersüchtig zu sein.

»Ich habe Euch schon zehn Tage lang nicht mehr gesehen«, sagte er. »Ich hatte damit gerechnet, daß Euch die Weisen Frauen an meinem Arm festbinden, sobald ihnen klar wurde, daß ich meine Träume gegen sie abgeschirmt hatte.« Asmodean hatte sich über diese erste Sache amüsiert, nach der er ihn gefragt hatte, und dann war er enttäuscht gewesen, weil Rand so lange gebraucht hatte, um das Abschirmen zu erlernen.

»Ich muß in meiner Ausbildung vorankommen, Rand al'Thor.« Sie würde eine jener wenigen Weisen Frauen werden, die mit der Macht arbeiten konnten. Das war ein Teil der Gründe, weshalb sie ausgebildet wurde. »Ich bin keine von Euren Feuchtländerfrauen, die nur herumstehen, daß Ihr sie ansehen könnt, wann immer Ihr wünscht.« Obwohl sie ja Egwene und letzten Endes auch Elayne kannte, hatte sie eine eigenartig falsche Vorstellung von dem, was sie ›Feuchtländerfrauen‹ nannte, und außerdem von den Feuchtländern im allgemeinen. »Es hat ihnen nicht gefallen, was Ihr getan habt.« Sie sprach von Amys, Bair und Melaine, den drei Weisen Frauen und Traumgängerinnen, die sie ausbildeten und versuchten, ihn zu überwachen. Aviendha schüttelte bedauernd den Kopf. »Vor allem waren sie nicht erfreut darüber, daß ich Euch davon erzählte, wie sie in Euren Träumen wandelten.«

Er starrte sie an. »Habt Ihr ihnen das erzählt? Aber Ihr habt eigentlich gar nichts gesagt. Ich habe mir das selbst überlegt, und auch wenn Euch keine Andeutung entschlüpft wäre, wäre ich von allein draufgekommen. Aviendha, sie haben mir ja selbst gesagt, daß sie im Traum mit Menschen sprechen könnten. Von da aus war es doch nur einen Schritt weiter.«

»Wollt Ihr, daß ich mich selbst noch weiter entehre?« Ihre Stimme klang wohl beherrscht, aber ihr Blick hätte beinahe das Brennmaterial im Kamin entzündet. »Ich werde mich nicht entehren, weder für Euch, noch für einen anderen Mann! Ich zeigte Euch den Weg, dem Ihr folgen mußtet, und ich werde meine Schande nicht ableugnen. Ich hätte Euch erfrieren lassen sollen.« Und damit warf sie ihm die Decken an den Kopf.

Er befreite sich von ihnen und legte sie neben die Steppdecke, während er überlegte, was er ihr sagen konnte. Das war wieder einmal Ji'e'toh. Die Frau hatte ein Gemüt wie ein Dornbusch. Angeblich hatte man ihr die Aufgabe anvertraut, ihn über die Sitten und Bräuche der Aiel aufzuklären, aber er kannte ihre wahre Aufgabe, nämlich für die Weisen Frauen zu spionieren. Welche Schande das Spionieren auch für die Aiel darstellen mochte, für die Weisen Frauen galt das offensichtlich nicht. Sie wußten, daß er Bescheid wußte, aber aus irgendeinem Grund kümmerte sie das nicht, und solange sie die Dinge so beließen, wie sie lagen, war es ihm auch recht. Zum einen war Aviendha keine gute Spionin. Sie versuchte fast nie ernsthaft, etwas herauszufinden, und ihr eigenes Temperament verhinderte immer wieder, daß sie ihn zu Wutausbrüchen provozierte, wie Moiraine das tat. Zum anderen war sie manchmal wirklich eine angenehme Gesellschafterin, wenn sie vergaß, die Krallen auszufahren. Wenigstens wußte er, wen Amys und die anderen zu seiner Überwachung abgestellt hatten. Wenn nicht sie, wäre es eine andere, und er müßte sich ständig fragen, wer. Außerdem wurde sie bei ihm niemals mißtrauisch.

Mat, Egwene und sogar Moiraine warfen ihm manchmal Blicke zu, als sähen sie nur den Wiedergeborenen Drachen in ihm oder zumindest die Gefahr, die von einem Mann ausging, der die Macht gebrauchen konnte. Die Clanhäuptlinge und die Weisen Frauen sahen in ihm Ihn, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, den Mann, von dem geweissagt worden war, er werde die Aiel zerbrechen wie trockenes Reisig. Wenn sie ihn auch vielleicht nicht fürchteten, behandelten sie ihn trotzdem manchmal wie eine giftige Wüstenschlange, mit der sie notgedrungen leben mußten. Was auch Aviendha in ihm sehen mochte, es hinderte sie nicht daran, ihn anzugreifen, wann immer ihr danach zumute war, und das war meistens der Fall.

Das war schon ein eigenartiger Rückhalt für ihn, doch verglichen mit dem Rest, war es tatsächlich eine Art von Rückhalt. Sie hatte ihm gefehlt. Er hatte sogar Blumen für sie gepflückt — die Blüten, die in der Umgebung Rhuideans auf Dornbüschen wuchsen — und sich dabei blutige Finger geholt, bis er begriff, daß er es mit Hilfe der Macht einfacher tun konnte. Er hatte sie ihr bringen lassen; ein halbes Dutzend Mal. Töchter des Speers hatten sie überbracht, weil er sie nicht den Gai'schain anvertrauen wollte. Natürlich hatte sie niemals irgendein Anzeichen von Dankbarkeit geäußert.

»Danke schön«, sagte er schließlich, wobei er auf die Decken deutete. Das schien ihm wenigstens ein neutrales Gesprächsthema. »Ich schätze, bei den Nächten hier kann man gar nicht genug davon haben.«

»Enaila hat mich gebeten, sie Euch zu bringen, als sie herausfand, daß ich Euch besuchen wollte.« Ihre Lippen zuckten und sie begann, amüsiert zu lächeln. »Einige der Speerschwestern waren besorgt darüber, daß es Euch nicht warm genug sein könne. Ich soll dafür sorgen, daß Ihr heute Feuer macht; letzte Nacht habt Ihr das nicht getan.«

Rand spürte, wie er rot anlief. Sie wußte Bescheid. Na ja, ist ja eigentlich klar. Die verdammten Töchter erzählen ihr heutzutage vielleicht nicht mehr alles, aber sie bemühen sich auch nicht, irgend etwas vor ihr zu verbergen. »Warum wolltet Ihr mich sehen?«

Zu seiner Überraschung verschränkte sie die Arme unter der Brust und ging zweimal nachdenklich durch den Raum, bevor sie stehenblieb und ihn anfunkelte. »Das hier war nicht als Geschenk gedacht, um Aufmerksamkeit zu erregen«, sagte sie anschuldigend, wobei sie ihr Armband in seine Richtung schüttelte. »Das habt Ihr praktisch zugegeben.« Das entsprach der Wahrheit, doch hatte er gefürchtet, sie werde ihm ein Messer in die Rippen rennen, wenn er keinen Rückzieher machte. »Es war einfach ein närrisches Geschenk von einem unwissenden Mann, dem völlig egal war, was meine... was die Speerschwestern davon halten würden. Also, dann hat dies auch keine Bedeutung.« Sie zog etwas aus ihrer Gürteltasche und warf es auf die Steppdecke neben ihn. »Jetzt hebt eben das eine das andere auf.«

Rand hob auf, was sie ihm hingeworfen hatte, und drehte es in seinen Händen hin und her. Es war eine Gürtelschnalle in Gestalt eines Drachen, kunstvoll aus gutem Stahl getrieben und mit Gold eingelegt. »Danke schön. Es ist schön. Aviendha, es gibt nichts, was Ihr damit aufheben oder wiedergutmachen müßtet.«

»Wenn Ihr es nicht gegen meine Schuld aufwiegen wollt«, sagte sie mit fester Stimme, »dann werft es weg. Ich werde auch etwas anderes finden, um meine Schulden zu begleichen. Es ist nur eine Nichtigkeit.«

»Wohl kaum eine Nichtigkeit. Das habt Ihr extra anfertigen lassen.«

»Glaubt ja nicht, daß es irgendeine Bedeutung hat, Rand al'Thor. Als ich... den Speer aufgab, meine Speere, meine Messer« — unbewußt berührte sie mit der Hand ihren Gürtel, wo gewöhnlich ein Messer mit langer Klinge gehangen hatte —, »nahm man mir sogar die Pfeilspitzen ab und gab sie einem Schmied, um daraus einfache Dinge zum Verschenken zu machen. Das meiste habe ich Freundinnen gegeben, aber die Weisen Frauen zwangen mich, ihnen die drei Männer und die drei Frauen zu nennen, die ich am meisten hasse, und sie sagten mir, ich solle jedem davon persönlich ein aus meinen Waffen angefertigtes Geschenk geben. Bair sagt, daraus lerne man Demut.« Hochaufgerichtet und mit funkelnden Augen und so, wie sie die Worte förmlich ausspuckte, war sie keineswegs ein Abbild von Demut. »Damit Ihr nicht glaubt, es bedeute etwas.«

»Es bedeutet also nichts«, sagte er und nickte traurig. Nicht, daß er dem Geschenk gern eine Bedeutung beigemessen hätte, wirklich nicht, aber es wäre ja doch schön gewesen, glauben zu können, daß sie in ihm langsam einen Freund sah. Es war absolut idiotisch, ihretwegen eifersüchtig zu werden. Wer mag ihr das gegeben haben? »Aviendha? War ich einer von denen, die Ihr so haßt?«

»Ja, Rand al'Thor.« Mit einemmal klang ihre Stimme heiser. Einen Moment lang wandte sie ihr Gesicht ab, hatte die Augen geschlossen und ihre Lider bebten sichtlich. »Ich hasse Euch von ganzem Herzen. So ist es. Und ich werde Euch immer hassen.«

Er fragte nicht erst, warum. Einmal hatte er sie gefragt, warum sie ihn nicht leiden könne, und sie hätte ihm beinahe die Nase abgebissen. Aber sie hatte ihm keinen Grund genannt. Diesmal war es allerdings mehr als nur ein Nicht-Leiden-Können, das sie manchmal ohnehin vergaß. »Wenn Ihr mich wirklich haßt«, sagte er zögernd, »bitte ich die Weisen Frauen, mir eine andere als Lehrerin zu schicken.«

»Nein!«

»Aber wenn Ihr...«

»Nein!« Wenn überhaupt, dann war ihre Ablehnung nun noch heftiger als zuvor. Sie stemmte energisch die Fäuste in die Hüften und hielt ihm einen Vortrag, als wolle sie ihm jedes Wort einzeln ins Herz rammen: »Selbst wenn mir die Weisen Frauen gestatteten, damit aufzuhören, dann habe ich doch noch Toh, Pflicht und Schuldigkeit, meiner Nächstschwester Elayne gegenüber, auf Euch aufzupassen. Ihr gehört zu ihr, Rand al'Thor. Zu ihr und sonst keiner Frau. Denkt daran!«

Er hatte das Gefühl, abwehrend die Hände heben zu müssen. Wenigstens beschrieb sie ihm diesmal nicht in allen Einzelheiten, wie Elayne ausgezogen aussehe. An manche Aielsitten konnte er sich noch schwerer gewöhnen als an andere. Er fragte sich manches Mal auch, ob sie und Elayne diese ›Beobachtung‹ miteinander abgesprochen hätten. Er glaubte es nicht, aber andererseits benahmen sich auch Frauen, die keineswegs Aiel waren, oftmals recht eigenartig. Und darüber hinaus fragte er sich auch, gegen wen ihn Aviendha eigentlich beschützen solle. Außer den Töchtern und den Weisen Frauen betrachteten ihn die übrigen Aielfrauen als etwas wie eine fleischgewordene Prophezeiung und sahen keinen Menschen in ihm. Er mußte wohl auf sie wirken, wie eine Giftschlange, die sich in ihr Kinderzimmer eingeschlichen hatte. Die Weisen Frauen waren fast genauso schlimm wie Moiraine, wenn es darum ging, ihn dazu zu bringen, daß er tat, was sie wollten, nun, und über die Töchter des Speers wollte er lieber gar nicht erst nachdenken. Das Ganze machte ihn wütend.

»Jetzt hört mir gefälligst einmal zu! Ich habe Elayne gerade ein paarmal geküßt, und ich glaube, es hat ihr genauso gut gefallen wie mir, aber deshalb bin ich keineswegs irgend jemandem versprochen. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob sie mich immer noch mag.« Innerhalb von wenigen Stunden hatte sie ihm zwei Briefe geschrieben. Im einen nannte sie ihn den Sonnenschein ihres Herzens, und der Rest hatte ihn zutiefst erröten lassen, während sie ihn im zweiten als kaltherzigen Miesling bezeichnet hatte, den sie nie wieder sehen wolle, und dann hatte sie ihn in der Luft zerrissen, schlimmer noch als dies Aviendha je vermocht hätte. Frauen waren wirklich eigenartige Geschöpfe. »Ich habe sowieso keine Zeit, an Frauen zu denken. Das einzige, was ich jetzt im Kopf habe, ist das Problem, die Aiel zu vereinigen und selbst die Shaido einzuschließen, falls ich das vermag.

Ich...« Er brach mit einem Stöhnen ab, als die allerletzte Frau, die er hier sehen wollte, in den Raum schwebte, begleitet vom Klimpern ihres Schmucks. Sie trug ein Silbertablett mit einer Glaskaraffe voll Wein und zwei silbernen Bechern.

Das durchscheinende rote Seidentuch, das sich Isendre um den Kopf gewickelt hatte, verdeckte keineswegs ihr blasses, schönes, herzförmiges Gesicht. Ihre vollen, leicht schmollenden Lippen waren zu einem einladenden Lächeln verzogen — bis sie Aviendha erblickte. Dann wurde aus dem Lächeln ein kränkelnder Gesichtsausdruck. Außer dem Tuch trug sie noch ein Dutzend oder mehr Halsketten aus Gold und Elfenbein, einige davon mit Perlen oder glänzenden Edelsteinen verziert. Genausoviele Armreifen beschwerten jeden Unterarm, und selbst um die Knöchel ihrer wohlgeformten Beine trug sie noch weitere. Und das war alles, weiter trug sie nichts. Er bemühte sich krampfhaft, nur ihr Gesicht anzusehen, aber auch so hatte er heiße Wangen.

Aviendha sah aus wie eine Gewitterwolke, aus der im nächsten Augenblick Blitze hervorbrechen würden, Isendre dagegen wie eine Frau, die gerade erfahren hat, daß man sie bei lebendigem Leib kochen werde. Rand wünschte sich in den Schlund des Verderbens am Shayol Ghul oder sonstwohin, nur nicht hierher. Trotzdem stand er auf, denn er besaß mehr Autorität, wenn er auf sie herabblickte, als umgekehrt. »Aviendha«, begann er, doch sie beachtete ihn gar nicht.

»Hat Euch jemand mit dem Tablett geschickt?« fragte sie kalt.

Isendre öffnete den Mund, und auf ihrem Gesicht stand ganz klar die beabsichtigte Lüge zu lesen, doch dann schluckte sie und flüsterte: »Nein.«

»Ihr seid vor so etwas gewarnt worden, Sorda.« Eine Sorda war eine Art von Ratte, sehr schlau, den Erzählungen der Aiel nach, und zu absolut nichts zu gebrauchen. Ihr Fleisch schmeckte so ranzig, daß selbst die Katzen sie kaum jemals fraßen, wenn sie sie erlegt hatten. »Adelin dachte, das letzte Mal hätte Euch gereicht.«

Isendre zuckte zusammen und wankte, als falle sie gleich in Ohnmacht.

Rand raffte sich auf. »Aviendha, ob sie nun geschickt wurde oder nicht, spielt keine Rolle. Ich habe ein wenig Durst, und wenn sie so freundlich war, mir Wein zu bringen, dann sollte man ihr auch danken.« Aviendha blickte die beiden Becher kühl an und zog die Augenbrauen hoch. Er atmete tief durch. »Sie sollte nicht bestraft werden, nur weil sie mir etwas zu trinken bringt.« Er vermied es betont, das Tablett anzusehen. »Die Hälfte der Töchter unter diesem Dach dürften gefragt haben, ob ich... «

»Sie wurde von den Töchtern gefangengesetzt, weil sie Töchter bestohlen hatte, Rand al'Thor.« Aviendhas Stimme klang noch kälter als vorher der anderen Frau gegenüber. »Ihr habt Euch bereits viel zuviel in die Angelegenheiten der Far Dareis Mai eingemischt, mehr, als Euch gestattet sei. Nicht einmal der Car'a'carn kann sich der Gerechtigkeit in den Weg stellen. Das hier geht Euch nichts an.«

Er verzog das Gesicht und beließ es dabei. Was die Töchter auch mit ihr machen würden, Isendre hatte es jedenfalls verdient. Nicht nur für das eben. Sie war mit Hadnan Kadere in die Wüste gekommen, aber Kadere hatte sich nicht gerade vor Kummer umgebracht, als die Töchter des Speers sie gefangennahmen, weil sie den Schmuck gestohlen hatte, den sie ihr jetzt als einzige Bekleidung ließen. Rand hatte alle Hände voll zu tun gehabt, daß sie sie nicht wie eine Ziege gefesselt nach Shara geschickt hatten, oder sie nackt zur Drachenmauer laufen ließen, nur mit einem Wassersack ausgerüstet. Als er sie um Gnade bitten hörte, sobald ihr klar wurde, was die Töchter mit ihr vorhatten, konnte er nicht einfach abseits bleiben und schweigen. Einmal hatte er eine Frau getötet, die allerdings ihn töten wollte, doch diese Erinnerung verursachte ihm immer noch Schmerzen. Er glaubte nicht, daß er jemals wieder zu so etwas fähig sein werde, selbst wenn sein Leben auf dem Spiel stand. Das war wohl sehr töricht, da ihm immerhin weibliche Verlorene ans Leben wollten oder noch Schlimmeres, aber so war es eben. Und wenn er schon keine Frau töten konnte, wie konnte er dann denebenstehen und eine Frau umkommen lassen? Obwohl sie es vielleicht verdiente?

Das war natürlich der springende Punkt. In jedem Land westlich der Drachenmauer müßte Isendre bei allem, was er von ihr wußte, entweder den Galgen oder die Enthauptung erwarten. Sie und auch Kadere und möglicherweise die meisten Bediensteten des Händlers, wenn nicht alle. Sie waren Schattenfreunde. Und er konnte sie nicht bloßstellen. Es war ihnen auch gar nicht klar, daß er Bescheid wußte.

Falls einer von ihnen als Schattenfreund entlarvt wurde... Isendre erduldete alles, so gut sie konnte. Es war immer noch besser, als Dienerin und nackt zu arbeiten, als an Händen und Füßen gefesselt in der Sonnenglut zu verderben. Doch wenn Moiraine sie einmal in die Finger bekam, würde niemand mehr schweigen. Die Aes Sedai kannten ebensowenig Gnade mit Schattenfreunden wie alle anderen. Sie würde ihre Zungen schon lösen. Und auch Asmodean war mit dem Händlerzug in die Wüste gekommen. Soweit Kadere und die anderen informiert waren, war er nur ein weiterer Schattenfreund, aber immerhin einer, der etwas zu sagen hatte. Zweifellos glaubten sie, er habe sich dem Wiedergeborenen Drachen auf Befehl einer höheren Macht angeschlossen. Um seinen Lehrer behalten zu können und Moiraine davon abzuhalten, sie möglicherweise beide umbringen zu wollen, mußte Rand ihr Geheimnis wahren.

Glücklicherweise fragte niemand danach, warum die Aiel dem Händler und seinen Männern so genau auf die Finger sahen. Moiraine hielt es für das übliche Mißtrauen der Aiel gegenüber Außenseitern in der Wüste, verstärkt durch ihren Aufenthalt in Rhuidean. Sie hatte all ihre Überzeugungskraft gebraucht, um die Aiel dazu zu bringen, daß Kadere und seine Wagen überhaupt in die Stadt durften. Das Mißtrauen war da; wahrscheinlich hätten auch Rhuarc und die anderen Häuptlinge den Händlerzug unter Bewachung gestellt, wenn Rand das nicht schon von allein angeordnet hätte. Und Kadere schien lediglich froh darüber zu sein, daß er keinen Speer in die Rippen bekam.

Rand hatte keine Ahnung, wie er dieses Problem angehen sollte. Oder ob es überhaupt lösbar sei. Es war ein tolles Durcheinander. In den Geschichten der Gaukler wurden immer nur die Bösewichte in ein solches Dilemma verwickelt.

Sobald sie sicher war, daß er sich nicht weiter einmischen werde, wandte Aviendha ihre Aufmerksamkeit wieder der anderen Frau zu. »Ihr könnt den Wein hinstellen.«

Isendre beugte anmutig die Knie und stellte das Tablett neben sein Lager. Ihr Gesichtsausdruck dabei kam Rand eigenartig vor. Er brauchte aber ein paar Augenblicke, um zu begreifen, daß sie versuchte, ihn anzulächeln, ohne es die Aielfrau sehen zu lassen.

»Und nun lauft Ihr zur ersten Tochter des Speers, die ihr finden könnt«, fuhr Aviendha fort, »und sagt ihr, was Ihr getan habt. Lauft, Sorda!« Isendre stöhnte und rang die Hände, aber sie rannte doch unter großem Geklapper ihres Schmucks davon. Sobald sie aus dem Zimmer war, fuhr Aviendha ihn an: »Ihr gehört zu Elayne! Ihr habt kein Recht, eine Frau herzulocken, und ganz besonders nicht diese!«

»Sie?« Rand schnappte nach Luft. »Glaubt Ihr etwa...? Glaubt mir, Aviendha, und wenn sie die letzte Frau auf der Welt wäre, würde ich immer noch so schnell ich könnte davonrennen, um nicht bei ihr sein zu müssen.«

»Das behauptet Ihr vielleicht.« Sie schnaubte. »Sie ist bereits siebenmal — siebenmal! — ausgepeitscht worden, weil sie versucht hat, sich in Euer Bett einzuschleichen. Sie würde nicht so darauf beharren, wenn Ihr sie nicht ermutigen würdet. Sie steht unter der Gerichtsbarkeit der Far Dareis Mai und geht nicht einmal den Car'a'carn etwas an. Nehmt das als Eure heutige Lektion in bezug auf unsere Sitten. Und denkt daran, daß Ihr zu meiner Nächstschwester gehört!« Ohne ihn auch nur ein Wort herausbringen zu lassen, stolzierte sie hinaus. Er hatte das Gefühl, Isendre werde ein erneutes Zusammentreffen mit Aviendha möglicherweise nicht überleben.

Er atmete heftig aus und stand auf, nur um das Tablett mit dem Wein in eine Ecke der Kammer zu stellen. Er würde nichts trinken, was ihm Isendre gebracht hatte.

Siebenmal hat sie versucht, zu mir durchzukommen? Sie mußte mitbekommen haben, daß er zu ihren Gunsten eingegriffen hatte. Bei ihrem Denken lag die Überlegung nah: Wenn er das schon für einen Schlafzimmerblick und ein Lächeln getan hatte, was würde er dann für eingehendere ›Dienste‹ tun? Er schauderte bei diesem Gedankengang genauso wie der wachsenden Kälte wegen. Lieber noch ein Skorpion im Bett. Wenn die Töchter sie nicht endgültig von solchen Ideen abbrachten, würde er ihnen vielleicht doch erzählen müssen, was er über sie wußte. Das würde dann jedem ihrer Pläne ein Ende bereiten.

So blies er die Lampen aus und kroch im Dunklen auf sein Lager, immer noch voll angezogen und in Stiefeln. Er langte um sich herum, bis er endlich sämtliche Decken über sich gezogen hatte. Ohne ein Feuer im Kamin würde er vermutlich Aviendha bis zum Morgen ehrlich dankbar sein. Die Abschirmung aus dem Element Geist zu errichten, die jedes Eindringen in seine Träume verhinderte, war ihm mittlerweile fast schon zur zweiten Natur geworden, und trotzdem schmunzelte er dabei. Er hätte ja eigentlich auch ins Bett gehen und dann erst die Lampen mit Hilfe der Macht löschen können. An die einfachsten Dinge im Gebrauch der Macht dachte er für gewöhnlich nicht.

Eine Weile lang lag er da und wartete darauf, daß seine Körperwärme das Innere der Deckenschicht erwärmte. Er verstand einfach nicht, wie es am gleichen Ort bei Tag so heiß und bei Nacht so kalt sein konnte. Er steckte eine Hand unter sein Hemd und fühlte nach der halb zugeheilten Narbe an seiner Seite. Diese Wunde, die selbst Moiraine bei all ihrer Kunst nicht heilen konnte, würde ihn eines Tages umbringen. Da war er sicher. Sein Blut auf den Felsen des Shayol Ghul. Das hatten die Prophezeiungen für ihn auf Lager.

Aber heute nacht nicht. Heute nacht werde ich nicht daran denken. Ich habe schon noch etwas Zeit. Doch wenn man jetzt die Siegel mit einem Messer absplittern kann, halten sie dann noch lange...? Nein. Heute nacht nicht.

Unter den Decken wurde es ein wenig wärmer, und er wälzte sich herum, im vergeblichen Versuch, eine bequemere Haltung beim Liegen einzunehmen. Das Lager war einfach zu hart. Ich hätte mich noch waschen sollen, dachte er schläfrig. Egwene befand sich wahrscheinlich jetzt gerade in einem schönen, warmen Dampfzelt und schwitzte. Fast jedesmal, wenn er eines benutzen wollte, versuchte eine ganze Schar von Töchtern des Speers, mit ihm hineinzugehen. Wenn er darauf bestand, daß sie draußenblieben, kugelten sie sich fast vor Lachen. Und dann war es schlimm genug, wenn er sich erst drinnen im Dampf ausziehen und später wieder anziehen mußte.

Schließlich übermannte ihn der Schlaf und damit auch sichere, gut beschützte Träume, sicher vor den Weisen Frauen und wer weiß, wem noch. Allerdings nicht sicher vor seinen eigenen Grübeleien. Ständig tauchten drei Frauen darin auf. Nicht Isendre, obwohl auch sie in einem kurzen Alptraum erschien, der ihn fast aufgeweckt hätte. Nacheinander träumte er von Elayne und Min und Aviendha, nacheinander, aber auch von allen zusammen. Nur Elayne hatte ihn bisher als Mann angesehen, aber alle drei sahen ihn als Person und nicht als das, was er war. Abgesehen von dem Alptraum waren es angenehme Träume.

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