47 Um den Preis eines Schiffes

Nynaeve war mit Waschen fertig und trocknete sich ab. Sie legte großen Wert darauf, sich jeden Morgen gründlich zu waschen. Zögernd zog sie sich dann ein frisches seidenes Unterhemd über, Seide war nicht so kühl wie Leinen, und obwohl die Sonne gerade erst über den Horizont gestiegen war, ließ die Hitze im Wohnwagen auf einen weiteren glühendheißen Tag schließen. Außerdem war das Ding so tief ausgeschnitten, daß sie fürchtete, es werde beim ersten falschen Atemzug hinabrutschen und ihr an den Beinen hängen. Aber es war wenigstens nicht feucht vom Schweiß der Nacht wie das andere, das sie gerade in den Wäschekorb gelegt hatte.

Ihr Schlaf war ständig durch Angstträume gestört worden, Träume von Moghedien, die sie hellwach hochschrecken ließen, die aber immer noch nicht so schlimm waren wie einige, von denen sie nicht erwachte, Träume von Birgitte, die ihre Pfeile auf sie abschoß und sie diesmal nicht verfehlte, Träume, in denen die Anhänger des Propheten die Menagerie plünderten und zerstörten, andere, in denen sie für immer in Samara festsaß, weil niemals mehr ein Schiff anlegen würde, und schließlich solche, in dem sie wohl Salidar erreichten, aber dort Elaida als Herrscherin vorfanden. Oder auch wieder Moghedien. Aus dem letzteren war sie weinend aufgewacht.

All das bereitete ihr natürlich Sorge, und das war ja nur zu verständlich. Drei Nächte lang lagerten sie nun schon hier, und kein einziges Schiff war aufgetaucht. Drei hitzeerfüllte Tage, an denen sie mit verbundenen Augen vor diesem verfluchten Stück Holzwand als Zielscheibe gedient hatte. Das reichte wohl, um jeden verrückt zu machen, ganz zu schweigen von ihrer Angst, daß Moghedien ihnen in der Zwischenzeit immer näher kommen könnte. Andererseits mußte diese Frau, nur weil sie wußte, daß sie sich bei einer Menagerie aufhielten, sie ja nicht gleich in Samara suchen. Es gab noch genügend andere Wanderschausteller auf der Welt als die hier versammelten. Darüber nachzudenken, warum sie sich keine Sorgen machen müsse, fiel ihr eben leichter, als sich einfach keine zu machen.

Aber warum mache ich mir solche Sorgen um Egwene? Sie stippte ein aufgeschnittenes Ästchen in einen kleinen Tiegel mit Salz und Soda auf dem Waschtisch und begann, sich mit energischen Bewegungen die Zähne zu schrubben. Egwene war in nahezu jedem Traum aufgetaucht und jammerte ihr etwas vor, doch ihr war einfach nicht klar, wie sie da hineinpaßte.

In Wahrheit waren Angst und Schlafmangel nur ein Teil der Gründe, warum sie heute morgen so schlechter Laune war. Die anderen waren wohl Kleinigkeiten, trotzdem aber sehr real. Ein Steinchen im Schuh war wirklich eine Kleinigkeit, wenn man es damit verglich, daß man seinen Kopf verlieren sollte, aber das Steinchen war nun einmal vorhanden, während man den Henker vielleicht niemals zu sehen bekam...

Es war unmöglich, ihr eigenes Spiegelbild zu meiden, und so sah sie zwangsläufig wieder ihr Haar, das lose die Schultern umspielte, anstatt wie bei einer anständigen Frau zu einem Zopf geflochten zu sein. Und so oft sie es auch ausbürstete — dieses glänzende, auffällige Rot blieb trotzdem genauso abscheulich. Und sie wußte nur zu gut, daß hinter ihr auf dem Bett ein blaues Kleid ausgelegt war. So blau, daß selbst eine Kesselflickerfrau die Augen aufgerissen hatte, und. genauso tief ausgeschnitten wie das rote Kleid, das sie ursprünglich getragen hatte und das jetzt am Haken hing. Deshalb hatte sie auch dieses eng anliegende, gewagte Seidenhemd an. Ein solches Kleid reichte nicht, jedenfalls nicht nach Valan Lucas Ansicht. Clarine war dabei, ein weiteres in einem giftigen Gelbton zu nähen, und die beiden hatten bereits über ein gestreiftes gesprochen. Nynaeve wollte von Streifen überhaupt nichts wissen.

Der Mann könnte mich wenigstens die Farben auswählen lassen, dachte sie und fuhr sich heftig mit dem gespaltenen Ästchen über die Zähne. Oder Clarine. Aber nein, er hatte seine eigenen Vorstellungen, und er fragte niemals nach denen anderer. Nicht Valan Luca. Seine farbliche Auswahl ließ sie manchmal sogar den tiefen Ausschnitt vergessen. Ich sollte es ihm an den Kopf werfen! Und doch wußte sie, sie würde das nicht tun. Birgitte stellte sich in diesen Kleidern zur Schau, ohne auch nur im geringsten zu erröten. Die Frau glich wirklich in nichts den Legenden, die man sich über sie erzählte. Nicht, daß sie dieses blödsinnige Kleid widerspruchslos tragen würde, nur weil Birgitte das tat. Sie wollte der Frau doch keine Konkurrenz machen! Es war eben nur, daß... »Wenn du etwas machen mußt«, grollte sie um das Ästchen in ihrem Mund herum, »dann gewöhnst du dich am besten gleich daran.«

»Was hast du gesagt?« fragte Elayne. »Wenn du etwas sagen willst, dann nimm doch bitte dieses Ding aus deinem Mund. Die Geräusche sind wirklich ekelhaft.«

Nynaeve wischte sich das Kinn ab und warf einen wütenden Blick nach hinten. Elayne saß mit hochgezogenen Beinen auf ihrem eigenen schmalen Bett und flocht sich einen Zopf aus ihrem schwarzgefärbten Haar. Sie hatte bereits diese weiße Hose an, ganz mit Pailletten bestickt, und eine schneeweiße Seidenbluse mit Rüschen am Hals, die viel zu durchsichtig war. Ihre mit Münzen bestickte weiße Jacke lag neben ihr. Weiß. Auch sie hatte zwei Garnituren Kleidung für ihre Auftritte, und eine dritte wurde gerade angefertigt — alle in Weiß, wenn auch nicht gerade schlicht zu nennen. »Wenn du dich schon so anziehst Elayne, dann setz dich wenigstens nicht so hin. Es ist unanständig.«

Die andere blickte mürrisch vor sich hin, doch sie stellte die Füße in den weichen Pantoffeln wunschgemäß auf den Boden. Und sie hob das Kinn auf ihre typische, hochnäsige Art. »Ich glaube, ich werde heute morgen einen Spaziergang in die Stadt machen«, sagte sie kühl, wobei sie immer noch an ihrem Zopf flocht. »In diesem Wagen bekomme ich Platzangst.«

Nynaeve spülte sich den Mund aus und spuckte in die Waschschüssel. Laut. Der Wohnwagen kam ihr wirklich jeden Tag enger vor. Vielleicht mußten sie sich wirklich soweit wie möglich vor anderen verbergen, doch das wurde langsam lächerlich. Sicher — es war ihre Idee gewesen, aber die hatte sie längst bereut. Drei Tage mit Elayne hier eingesperrt, außer bei den Vorführungen! Es kam ihr vor wie drei Wochen. Oder drei Monate. Ihr war zuvor noch nie aufgefallen, welch beißende Bemerkungen Elayne immer auf Lager hatte. Jetzt mußte einfach ein Schiff ankommen. Gleich, welche Art von Schiff. Sie würde auch die letzte sorgfältig im Ofen versteckte Münze oder das letzte Schmuckstück dafür hergeben, wenn heute noch ein Schiff anlegte, um sie mitzunehmen. »Na ja, das würde auch überhaupt keine Aufmerksamkeit erregen, oder? Vielleicht würde dir die Bewegung gut tun. Oder liegt es an diesen engen Hosen, daß sie sich so über deinen Hüften spannen?«

Blaue Augen blitzten zornig, doch Elaynes Kinn blieb oben und ihr Tonfall kalt: »Ich habe letzte Nacht von Egwene geträumt, und mitten in ihrem Bericht über Rand und Cairhien — denn ich mache mir Sorgen über diese Geschehnisse, auch wenn du das nicht nötig hast —, also mittendrin hat sie gesagt, daß du dich allmählich benimmst wie ein kreischendes altes Weib. Nicht daß ich mich dieser Meinung anschlösse. Ich würde sagen: wie eine Fischhändlerin.«

»Jetzt hör mir mal zu, du übelgelaunte kleine Schlampe! Wenn du jetzt nicht...« Mit immer noch bitterbösem Blick klappte Nynaeve den Mund zu und atmete dann langsam durch. Mit Mühe zwang sie sich, ruhig zu sprechen: »Du hast von Egwene geträumt?« Elayne nickte knapp. »Und sie erzählte von Rand und Cairhien?« Die Jüngere rollte betont frustriert mit den Augen und fuhr fort, an ihrem Zopf zu flechten. Nynaeve zwang erst einmal ihre Hand, das Büschel glänzend roter Haare loszulassen und bemühte sich, an etwas anderes zu denken, als dieser Tochter-Erbin des verdammten Andor ein wenig Höflichkeit einzubleuen. Wenn sie nicht bald ein Schiff fanden... »Falls du noch über irgend etwas anderes nachdenken kannst, außer, wie du deine Beine noch besser zur Schau stellst als sowieso schon, dann wird es dich vielleicht interessieren, daß sie auch in meinen Träumen war. Sie sagte, Rand habe gestern bei Cairhien einen großen Sieg errungen.«

»Ich entblöße vielleicht meine Beine«, fauchte Elayne, und auf ihren Wangen erblühten große, rote Flecke, »aber wenigstens lasse ich meine... Du hast auch von ihr geträumt?«

Sie brauchten nicht lange, um zu vergleichen, was sie gesehen hatten. Allerdings machte Elayne weiter mit ihren spitzen Bemerkungen. Nynaeve mochte wohl einen Grund gehabt haben, über Egwene herzuziehen, während Elayne ja vielleicht davon geträumt hatte, in ihrem paillettenbestickten Kostüm vor Rand zu paradieren, oder vielleicht mit noch weniger am Leib. Das war nichts als die Wahrheit. Nun, trotzdem wurde wenigstens eines schnell klar, daß nämlich Egwene ihnen beiden im Traum dasselbe gesagt hatte, und das ließ wenig Raum für Irrtümer.

»Sie sagte immer wieder, sie sei wirklich da«, murmelte Nynaeve, »aber ich glaubte, das sei nur ein Teil des Traums.« Egwene hatte ihnen oft genug gesagt, es sei möglich, im Traum wirklich mit jemandem zu sprechen, aber sie hatte nie eingestanden, daß sie dazu fähig sei. »Wieso hätte ich das glauben sollen? Ich meine, weil sie behauptete, sie hätte endlich begriffen, woher irgendein Speer stammt, den er neuerdings immer mit sich herumträgt. Es sei ein Seanchan-Speer. Das ist doch lächerlich!«

»Sicher.« Elayne zog eine Augenbraue hoch, was Nynaeve ziemlich irritierte. »Genauso lächerlich, wie Cerandin und ihre S'redit hier vorzufinden. Es muß doch noch weitere Seanchan-Flüchtlinge geben, Nynaeve, und Speere wie jener sind wohl noch das Geringste unter den Dingen, die sie zurückgelassen haben.«

Warum konnte diese Frau eigentlich nichts sagen, ohne an ihr und ihrer Meinung herumzumäkeln? »Na, ich habe wohl bemerkt, wie sehr du das glaubtest.«

Elayne warf den fertiggeflochtenen Zopf nach hinten über die Schulter, und dann gleich noch einmal schwungvoll und überheblich, um noch eins draufzusetzen. »Ich hoffe sehr, daß es Rand gut geht.« Nynaeve schnaubte. Egwene hatte gemeint, er würde mehrere Tage Ruhe benötigen, bis er wieder auf den Beinen sei, aber immerhin war er mit Hilfe der Macht geheilt worden. Die andere Frau fuhr fort: »Niemand hat ihm je beibringen können, daß er sich nicht überanstrengen darf. Weiß er denn nicht, daß ihn die Macht töten kann, wenn er zuviel davon an sich zieht oder webt, wenn er übermüdet ist? Das ist bei ihm genau das gleiche wie bei uns.«

Also wollte sie schnell das Thema wechseln, ja? »Vielleicht weiß er es nicht«, sagte Nynaeve in süßlichem Tonfall, »weil es keine Weiße Burg für Männer gibt?« Das brachte sie auf einen anderen Gedanken. »Glaubst du, daß es wirklich Sammael war?«

Elayne hatte gerade eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, funkelte sie deshalb von der Seite her an und seufzte anschließend gereizt: »Das spielt für uns doch wohl kaum eine Rolle, oder? Wir sollten uns statt dessen überlegen, ob und wann wir den Ring wieder benützen. Um mehr zu tun, als lediglich Egwene dort zu treffen. Es gibt so viel, was wir noch in Erfahrung bringen müssen. Je mehr ich lerne, desto klarer wird mir, was ich alles noch nicht weiß.«

»Nein.« Nynaeve erwartete nicht wirklich, daß die andere Frau auf der Stelle den ringförmigen Ter'Angreal herausnehmen werde, aber sie trat unbewußt einen Schritt näher an den kleinen Backsteinofen. »Keine weiteren Ausflüge nach Tel'aran'rhiod für uns beide, außer, um sie dort zu treffen.«

Elayne fuhr einfach fort, scheinbar ohne ihren Einspruch zu bemerken. Nynaeve hätte genausogut ein Selbstgespräch führen können. »Es ist ja nicht so, daß wir unbedingt die Macht benützen müßten. Und wenn nicht, verraten wir uns auch nicht.« Sie sah Nynaeve nicht an, aber in ihrer Stimme lag etwas Beißendes. Sie bestand immer darauf, daß sie durchaus die Macht benützen durften, wenn sie nur vorsichtig wären. Und Nynaeve vermutete, daß sie es hinter ihrem Rücken sowieso tat. »Ich wette, wenn eine von uns heute nacht das Herz des Steins beträte, würde sie Egwene vorfinden. Stell dir mal vor, wenn wir in ihren Träumen mit ihr sprechen könnten, brauchten wir uns keine Sorgen mehr machen, daß wir in Tel'aran'rhiod auf Moghedien stoßen.«

»Glaubst du etwa, das sei leicht zu erlernen?« fragte Nynaeve trocken. »Wenn das stimmt, warum hat sie es uns dann nicht schon lange beigebracht? Warum hat sie es selbst zuvor noch nie getan?« Und doch war ihr Herz nicht dabei. Sie war diejenige, die sich immer Moghediens wegen sorgte. Elayne wußte wohl, daß die Frau gefährlich war, aber es war genauso, wie zu wissen, daß eine Giftschlange gefährlich ist. Elayne wußte es, doch Nynaeve war bereits gebissen worden. Und die Fähigkeit, sich ohne den Umweg über die Welt der Träume zu verständigen, wäre äußerst wertvoll, ganz abgesehen davon, daß sie auf diese Weise Moghedien mieden.

Auf jeden Fall schenkte Elayne ihr immer noch keinerlei Aufmerksamkeit. »Ich frage mich, wieso sie unbedingt darauf bestand, daß wir es niemandem sagen. Das ergibt doch keinen Sinn.« Einen Moment lang nagte sie mit den Zähnen an ihrer Unterlippe.

»Es gibt noch einen Grund, warum wir sobald wie möglich mit ihr sprechen sollten. Bisher habe ich mir nichts weiter dabei gedacht, aber beim letztenmal, als wir miteinander sprachen, ist sie mitten im Satz verschwunden. Jetzt erinnere ich mich auch daran, daß sie vorher plötzlich überrascht wirkte, so, als habe sie Angst bekommen.«

Nynaeve atmete tief durch und preßte beide Hände auf ihren Magen in einem vergeblichen Versuch, das plötzliche Flattern darin zu unterdrücken. Trotzdem brachte sie es fertig, mit beherrschter Stimme zu sprechen: »Moghedien?«

»Licht, du denkst immer gleich an so schöne Dinge! Nein. Falls Moghedien sich in unsere Träume einschleichen könnte, wüßten wir das mittlerweile.« Elayne schauderte leicht; sie hatte ja doch ein wenig Ahnung, wie gefährlich Moghedien war. »Auf jeden Fall sah sie nicht danach aus. Sie hatte Angst, aber doch nicht so viel.«

»Dann ist sie vielleicht gar nicht in Gefahr. Möglich, daß...« Nynaeve zwang sich, die Hände wegzunehmen und preßte zornig die Lippen aufeinander. Nur war sie sich nicht klar darüber, wem ihr Zorn eigentlich galt.

Den Ring wegzustecken, ihn zu verbergen bis auf ihre verabredeten Treffen mit Egwene, war durchaus eine gute Idee gewesen. War. Jeder weitere Vorstoß in die Welt der Träume konnte sie auf Moghedien stoßen lassen, und sich von ihr fernzuhalten war mehr als nur einfach eine gute Idee. Es war ihr klar, daß Moghedien ihr überlegen war. Der Gedanke war ihr unerträglich, und er tauchte recht häufig auf, doch er entsprach schlicht der Wahrheit.

Und doch bestand nun die Möglichkeit, daß Egwene Hilfe benötigte. Nur eine geringe Möglichkeit, aber immerhin. Nur weil sie Moghedien vernünftigerweise aus dem Weg ging, durfte sie diese Möglichkeit doch nicht unterschätzen. Und außerdem konnte es sein, daß es auch Rand mit einem der Verlorenen zu tun hatte, und zwar aus ganz persönlichen Gründen, so wie es ihr und Elayne mit Moghedien ging. Was Egwene berichtet hatte, sowohl aus den Bergen wie auch von Cairhien, roch richtig nach einer Herausforderung. So, als wolle hier ein Mann einen anderen provozieren. Nicht, daß sie irgendeine Möglichkeit hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Aber bei Egwene...

Manchmal schien es Nynaeve, als habe sie den ursprünglichen Grund vergessen, warum sie überhaupt die Zwei Flüsse verlassen hatte. Um junge Menschen aus ihrem Dorf zu beschützen, die sich in den Netzen der Aes Sedai verfangen hatten. Nicht soviel jünger als sie selbst, höchstens ein paar Jahre, aber wenn man bereits Seherin des eigenen Dorfes war, schien der Unterschied größer. Klar, daß mittlerweile die Versammlung der Frauen in Emondsfeld eine neue Seherin gewählt hatte, aber es war trotzdem immer noch ihr Dorf und sie waren ihre Schutzbefohlenen. Und tief in ihrem Innersten war sie nach wie vor ihre Seherin. Doch auf irgendeine Art war aus dem ursprünglichen Schutz für Rand, Egwene, Mat und Perrin eine Frage des Überlebens geworden, und selbst dieses Ziel hatte sich mit der Zeit zu anderen Zielen hin verschoben, ohne daß sie sagen konnte, wann und wo das geschehen sei. Aus dem Wunsch heraus, Moiraine zu Fall zu bringen, hatte sie die Weiße Burg betreten, aber daraus war der brennende Wunsch geworden, Menschen mit Hilfe ihrer Fähigkeiten zu heilen. Wie sich die Aes Sedai ständig in das Leben anderer einmischten, hatte sie einst mit Haß erfüllt, und trotzdem fühlte sie gleichzeitig, daß sie selbst eine werden wollte. Vielleicht wollte sie nicht so wie die anderen werden, aber es war die einzige Möglichkeit, zu lernen, was sie unbedingt lernen wollte. Alles war mittlerweile so verwickelt wie eines der Gewebe der Aes Sedai, sie selbst eingeschlossen, und sie wußte nicht, wie sie aus diesem Spinnennetz entkommen sollte.

Ich bin noch immer, die ich vorher war. Ich werde ihnen helfen, so gut ich kann. »Heute abend«, sagte sie laut und entschlossen, »werde ich den Ring benutzen.« Sie setzte sich auf das Bett und zog ihre Strümpfe an. Diese feste Wolle war bei der Hitze nicht gerade angenehm zu tragen, doch wenigstens war dann ein Teil von ihr anständig angezogen. Feste Strümpfe und feste Schuhe. Birgitte trug Brokatpantoffeln und Strümpfe aus hauchdünner Seide, die angenehm kühl aussahen. Schnell und energisch verdrängte sie diesen Gedanken. »Nur, um festzustellen, ob sich Egwene wirklich im Stein aufhält. Wenn nicht, komme ich zurück, und wir benützen den Ring erst zum nächsten verabredeten Treffen wieder.«

Elayne sah sie unverwandt und ohne zu blinzeln an. Das machte sie in steigendem Maß nervös und ließ sie an den Strümpfen herumzupfen. Diese Frau sagte kein Wort, doch ihr ausdrucksloser Blick schien die Möglichkeit anzudeuten, daß Nynaeve log. Jedenfalls empfand Nynaeve ihn so. Der Gedanke, der ihr ganz am Rande durch den Kopf geschossen war, daß sie nämlich einfach dafür sorgen könnte, den Ring im Schlaf gar nicht ihre Haut berühren zu lassen, half auch nicht gerade. Es gab natürlich keinen stichhaltigen Grund, anzunehmen, daß Egwene heute abend im Stein von Tear auf sie wartete. Sie hatte überhaupt nicht ernsthaft an ein solches Ausweichmanöver gedacht, und der bloße Gedanke war ihr völlig unbewußt gekommen, doch nun war er einmal da, und sie hatte Schwierigkeiten, Elayne in die Augen zu sehen. Vielleicht hatte sie wirklich Angst davor, Moghedien zu treffen? Das wäre ja nur vernünftig, wenn sie es auch nicht gern zugab.

Ich werde tun, was sein muß. Sie unterdrückte gewaltsam dieses Flattern im Bauch. Als sie das Hemd herunterzog, hatte sie es plötzlich eilig, das blaue Kleid anzulegen und in die Hitze hinauszukommen, nur, um Elaynes Blick zu entgehen.

Elayne war gerade damit fertig, ihr zu helfen, die Reihen kleiner Knöpfe am Rücken zuzuknöpfen, und sie meckerte, ihr habe auch keiner geholfen, als habe sie beim Anziehen der Hose Hilfe benötigt, da ging die Wagentür auf und krachte gegen die Wand, gefolgt von einer Woge schwülheißer Luft. Überrascht fuhr Nynaeve zusammen und hielt sich die Hände schützend über den Busen, bevor sie sich beherrschen konnte. Als statt Valan Luca dann Birgitte hereinkletterte, tat sie so, als habe sie nur das Kleid zurechtziehen wollen.

Die hochgewachsene Frau strich die gleichermaßen schimmernde blaue Seide an ihrer Hüfte glatt, dann zog sie den dicken schwarzen Zopf über eine nackte Schulter nach vorn und grinste dabei selbstgefällig. »Wenn du die Aufmerksamkeit auf dich lenken willst, dann gib dich nicht damit ab, etwas verstecken zu wollen. Es ist zu offensichtlich. Atme einfach tief durch.« Sie führte es vor und lachte über Nynaeves schockierte Miene.

Nynaeve gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen.

Dabei wußte sie nicht einmal, warum eigentlich. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, daß sie Schuldgefühle gezeigt hatte wegen des Geschehenen. Gaidal Cain war vielleicht froh, diese Frau los zu sein. Und Birgitte konnte ihr Haar tragen, wie sie wollte. Nicht, daß dies irgendwie eine Rolle spielte. »Ich kannte an den Zwei Flüssen jemanden wie dich, Maerion. Calle redete alle Leibwächter der Händler mit Vornamen an, und sie hatte gewiß keine Geheimnisse vor ihnen.«

Birgittes Lächeln verzerrte sich etwas. »Auch ich kannte einst eine Frau wie dich. Mathena blickte auch hochnäsig auf die Männer herunter und ließ sogar einen armen Kerl hinrichten, weil er zufällig auf sie stieß, als sie nackt badete. Sie war noch nicht einmal geküßt worden, bis Zheres ihr einen Kuß stahl. Man hätte glauben können, damit habe sie erst entdeckt, daß es Männer gab. Sie berauschte sich derart an ihren eigenen Gefühlen, daß Zheres sich auf einen Berg zurückzog, um ihr zu entgehen. Paß auf den ersten Mann auf, der dich küßt. Früher oder später kommt bestimmt einer.«

Mit geballten Fäusten trat Nynaeve einen Schritt auf sie zu. Jedenfalls versuchte sie das. Irgendwie befand sich plötzlich Elayne zwischen den beiden und hielt sie mit erhobenen Händen zurück.

»Ihr hört sofort damit auf!« sagte sie und sah beiden abwechselnd mit ihrer typischen Hochnäsigkeit in die Augen. »Lini hat immer gesagt: ›Das Warten verwandelt Männer in Bären, die man in eine Scheune geschlossen hat, und Frauen in Katzen, die in einem Sack stecken‹, aber ihr beiden hört jetzt augenblicklich damit auf, euch gegenseitig zu beharken! Ich werde das nicht länger zulassen!«

Zu Nynaeves Überraschung errötete Birgitte tatsächlich und knurrte eine mürrische Entschuldigung. Natürlich war sie an Elayne gerichtet, aber die Entschuldigung an sich war in der Tat überraschend. Birgitte hatte sich entschlossen, immer in Elaynes Nähe zu bleiben, da keine Notwendigkeit bestand, sich zu verbergen, aber nach drei Tagen setzte ihr die Hitze offensichtlich genauso zu wie Elayne. Nynaeve wiederum warf der Tochter-Erbin ihren eisigsten Blick zu. Sie selbst hatte sich schließlich um Ausgleich bemüht, während sie miteinander warteten, aber Elayne sollte wirklich gar besser schweigen.

»Also?« sagte Elayne immer noch in diesem eisigen Tonfall, »hattest du irgendeinen Grund, wie ein Stier hier hereinzustürmen, oder hast du einfach vergessen, wie man anklopft?«

Nynaeve öffnete den Mund, um ihr etwas über Katzen zu sagen — nur eine sanfter Anstoß —, aber Birgitte kam ihr zuvor. Sie sprach noch etwas aggressiver: »Thom und Juilin sind aus der Stadt zurück.«

»Zurück!?« rief Nynaeve, und Birgitte blickte sie an, bevor sie sich wieder Elayne zuwandte.

»Du hattest sie nicht weggeschickt?«

»Habe ich nicht«, sagte Elayne grimmig.

Sie war bereits mit Birgitte im Schlepptau aus der Tür, bevor Nynaeve ein Wort herausbrachte. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihnen knurrend zu folgen. Elayne sollte sich bloß nicht plötzlich einbilden, sie sei diejenige, die hier die Befehle erteilte. Nynaeve hatte ihr immer noch nicht verziehen, daß sie den Männern soviel erzählt hatte.

Die schwüle Hitze wurde draußen noch schlimmer, denn die Sonne stand bereits über dem Rand der Segeltuchumzäunung um die Menagerie. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn, bevor sie auch nur den Fuß der kleinen Treppe erreicht hatte, aber ausnahmsweise einmal verzog sie keine Miene.

Die beiden Männer saßen auf dreibeinigen Hockern neben dem Lagerfeuer. Ihr Haar war wirr, und die Mäntel sahen aus, als hätten sie sich im Staub gewälzt. Thom drückte ein zusammengerolltes Tuch an seinen Haarschopf, und darunter rann Blut hervor. Getrocknetes Blut verunstaltete seine Wange und hatte auch ein Ende seines Schnurrbarts verfärbt. Neben Juilins Auge war eine bläulich angelaufene Schwellung von der Größe eines Hühnereis zu sehen, und die Hand, in der er seinen daumendicken Stock aus hellem, gegliedertem Holz hielt, war mit einer durchbluteten Bandage notdürftig umwickelt. Auf diesem lächerlichen kegelförmigen roten Hut, den er schief auf dem Hinterkopf trug, schien jemand herumgetrampelt zu haben.

Den Geräuschen innerhalb der Umzäunung nach zu schließen, waren die Pferdeknechte bereits dabei, die Käfige zu reinigen, und zweifellos befand sich Cerandin schon bei ihren S'redit, zu denen sich keiner der Männer hintraute, doch ansonsten rührte sich noch nicht viel im Wohnwagenlager. Petra rauchte seine langstielige Pfeife, während er Clarine dabei half, das Frühstück vorzubereiten. Zwei der Chavanas untersuchten gemeinsam mit Muelin, der Schlangenfrau, irgendeinen Apparat, während die beiden anderen mit zwei der sechs Akrobatinnen flirteten, die Luca Sillia Ceranos Truppe abspenstig gemacht hatte. Sie behaupteten, Schwestern zu sein und Murasaka zu heißen, dabei sahen sie noch unterschiedlicher aus, was ihre Gesichter und ihren Teint betraf, als die Chavanas. Eine der beiden, die —angetan mit bunten seidenen Morgenmänteln — bei Brugh und Taeric saßen, hatte blaue Augen und weißblondes Haar, die Haut der anderen dagegen war beinahe so dunkel wie ihre Augen. Alle anderen hatten sich bereits für die erste Morgenvorstellung hergerichtet; die Männer mit nacktem Oberkörper und bunten Hosen, Muelin in durchscheinendem Rot und einer engen, dazu passenden Weste, und Clarine hochgeschlossen und mit grünen, aufgenähten Ziermünzen. Thom und Juilin zogen wohl einige Blicke auf sich, doch glücklicherweise hielt es niemand für notwendig, herüberzukommen und sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen. Vielleicht weil sie wie geprügelte Hunde dasaßen, die Schultern gesenkt und den Blick auf den Boden unter ihren Stiefeln gerichtet. Zweifellos war ihnen klar, daß ihnen eine Kopfwäsche bevorstand, und zwar eine, die sich wirklich ›gewaschen‹ hatte. Nynaeve jedenfalls hatte mit Sicherheit derartiges vor.

Elayne aber schnappte bei dem Anblick der beiden nach Luft, rannte hin und kniete schnell neben Thom nieder. All ihr Zorn, der sich noch Sekunden zuvor zu entladen drohte, war mit einemmal verflogen. »Was ist passiert? O Thom, dein armer Kopf. Das muß ja so weh tun. Dem sind meine Fähigkeiten nicht gewachsen. Nynaeve wird dich mit hineinnehmen und sich darum kümmern. Thom, du bist einfach zu alt, um dich auf solche Abenteuer einzulassen.«

Empört stieß er sie mit einiger Mühe von sich, während er seine Kompresse festhielt. »Laßt das bitte, Kind. Ich habe schlimmere Verletzungen gehabt, nur weil ich aus dem Bett gefallen bin. Werdet Ihr jetzt gleich Ruhe geben?«

Nynaeve dachte gar nicht daran, die beiden mit Hilfe der Macht zu heilen, obwohl sie zornig genug war, um sie anwenden zu können. Sie stellte sich vor Juilin hin, die Fäuste auf die Hüften gestützt und ihre strengste Mach-ja-keinen-Unsinn-und-gib-mir-augen-blicklich-eine-Antwort-Miene aufgesetzt. »Was soll denn das heißen, Euch wegzuschleichen, ohne mir Bescheid zu sagen?« Auf diese Art konnte sie gleich auch Elayne klarmachen, daß sie hier nichts zu sagen hatte. »Wenn Euch einer die Kehle durchgeschnitten hätte, anstatt Euch lediglich ein blaues Auge zu verpassen, hätten wir nie erfahren, was mit Euch passiert ist. Ihr hattet gar keinen Grund, loszumarschieren. Überhaupt keinen! Es ist schon dafür gesorgt worden, daß man ein Schiff für uns sucht.«

Juilin blickte zu ihr auf und schob seinen Hut nach vorn, bis er fast auf seiner Stirn saß. »Dafür wurde also gesorgt, ja? Habt Ihr drei deshalb angefangen, herumzuschleichen wie die...?« Er brach ab, als Thom laut stöhnte und schwankte.

Sobald der alte Gaukler die ihn besorgt umschmeichelnde Elayne damit beruhigt hatte, daß er behauptete, es sei nur ein kurzer Krampf gewesen und er fühle sich wohl genug, um auf einem Ball zu tanzen — und Juilin einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen hatte, von dem er anscheinend hoffte, die Frauen hätten ihn nicht bemerkt —, wandte sich Nynaeve mit einem gefahrdrohenden Blick wieder dem dunkelhäutigen Tairener zu. Wie bitte, waren sie denn seiner Meinung nach herumgeschlichen?

»Und wie gut es war, daß wir gegangen sind«, sagte er statt dessen nervös zu ihr. »Samara ist wie ein Schwärm Barrakudas, der um einen Brocken blutigen Fleisches rauft. Auf jeder Straße treiben sich Banden herum, die Schattenfreunde suchen oder jeden Beliebigen am liebsten zerreißen würden, der nicht bereit ist, den Propheten als die Wahre Stimme des Wiedergeborenen Drachen anzuerkennen.«

»Es hat vor ungefähr drei Stunden in der Nähe des Flusses begonnen«, warf Thom ein und gab mit einem Aufseufzen nach, so daß Elayne nun endlich sein Gesicht mit einem feuchten Tuch abtupfen konnte. Er schien ihre leisen Worte trotzdem zu ignorieren, was gar nicht so einfach war, denn Nynaeve konnte ganz deutlich verstehen, wie sie »närrischer alter Mann« wiederholte und unter anderem sagte: »...braucht jemanden, der auf ihn aufpaßt, bevor er sich umbringen läßt«, und das in einem Tonfall, in dem sich Frust und Wohlwollen mischten. »Wie es begann, weiß ich nicht. Ich hörte, wie man Aes Sedai die Schuld gab, Weißmänteln, Trollocs, jedem außer den Seanchan, und wenn sie den Namen wüßten, würden sie denen auch noch die Schuld in die Schuhe schieben.« Er ächzte, als Elayne ein wenig zu stark zudrückte. »Während der letzten Stunde waren wir zu sehr damit beschäftigt, ihnen zu entkommen, um noch viel in Erfahrung zu bringen.«

»Es sind Brände ausgebrochen«, sagte Birgitte. Petra und seine Frau bemerkten ihren ausgestreckten Zeigefinger, standen auf und blickten besorgt hinüber. Zwei dunkle Rauchwolken waren in Richtung der Stadt über die Segeltucheinzäunung hinweg sichtbar geworden.

Juilin erhob sich und blickte Nynaeve hart und entschlossen in die Augen. »Es ist Zeit aufzubrechen.

Vielleicht werden wir dadurch zu sehr auffallen, so daß uns Moghedien entdeckt, doch ich bezweifle das. In alle überhaupt möglichen Richtungen fliehen Menschen. In zwei Stunden werden es nicht mehr zwei Brände sein, sondern fünfzig, und es wird uns nicht viel nützen, ihrer Aufmerksamkeit entgehen zu wollen, nur um vom Mob in Stücke gerissen zu werden. Sobald sie in der Stadt alles zerschlagen haben, was nur möglich ist, werden sie sich den Menagerien zuwenden.«

»Benützt diesen Namen nicht«, sagte Nynaeve in scharfem Ton, wobei sie Elayne einen bösen Blick zuwarf, den die Jüngere aber nicht bemerkte, Männer zuviel wissen zu lassen war immer ein Fehler. Das Problem war nur, daß er recht hatte, aber das durfte man einem Mann gegenüber erst recht nicht zugeben. »Ich werde mir Eure Anregung überlegen, Juilin. Ich würde äußerst ungern ohne jeden Grund davonlaufen und hinterher vielleicht erfahren, daß gleich nach unserer Flucht hier ein Schiff angelegt hat.« Er sah sie an, als sei sie übergeschnappt, und Thom schüttelte den Kopf, obwohl Elayne ihn noch immer festhielt und abtupfte. Doch dann hellte sich Nynaeves Miene auf, als sie eine Gestalt entdeckte, die zwischen den Wohnwagen auf sie zu schritt. »Vielleicht ist wirklich schon eines da!«

Unos bemalte Augenklappe und sein vernarbtes Gesicht, seine Skalplocke und das Schwert auf dem Rücken riefen ein Nicken von Seiten Petras und der verschiedenen Chavanas hervor, während Muelin offensichtlich schauderte. Er hatte sie jeden Abend persönlich aufgesucht aber nie etwas zu berichten gehabt. Seine Gegenwart zu dieser Tageszeit mußte bedeuten, daß etwas vorgefallen war.

Wie gewöhnlich grinste er Birgitte an, sobald er sie erblickte, und er rollte sein verbliebenes Auge in einem bedeutungsvollen Blick in Richtung ihres entblößten Busens. Wie gewöhnlich grinste sie zurück und musterte ihn gemächlich von Kopf bis Fuß. Ausnahmsweise jedoch war es Nynaeve gleich, wie anstößig sie sich benahmen. »Ist ein Schiff angekommen?«

Unos Grinsen verflog. »Es ist ein verd... ein Schiff da«, sagte er grimmig, »aber ich weiß nicht, ob ich Euch alle auf einmal hinbringen kann.«

»Wir wissen über die Ausschreitungen Bescheid. Sicher können uns doch fünfzehn Schienarer durchgeleiten.«

»Ihr wißt also über die Kämpfe Bescheid«, knurrte er und musterte Thom und Juilin. »Wißt Ihr verd... also, wißt Ihr auch, daß Masemas Leute sich Straßenkämpfe mit Weißmänteln liefern? Wißt Ihr, daß er verflucht noch mal seinen Leuten befohlen hat, Amadicia mit Feuer und Schwert zu erobern? Tausende haben bereits den verfl... den Fluß auf seinen Befehl überschritten.«

»Sei dem, wie es ist«, sagte Nynaeve energisch, »jedenfalls erwarte ich von Euch, daß Ihr euer Wort haltet. Ihr habt versprochen, mir zu gehorchen, falls Ihr euch noch daran erinnert.« Sie betonte das Wort nur ein wenig und warf dabei Elayne einen bedeutungsvollen Blick zu.

Die gab vor, ihn nicht zu bemerken, und stand auf, den blutverschmierten Lappen in der Hand. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Uno. »Man hat mir immer gesagt die Schienarer gehörten zu den tapfersten Soldaten auf der Welt.« Die rasiermesserscharfe Stimme klang plötzlich nach Samt und Seide. »Ich habe als Kind viele Geschichten über die Tapferkeit und den Mut der Schienarer gehört.« Sie legte Thom eine Hand auf die Schulter, doch ihr Blick ruhte weiterhin auf Uno. »Ich erinnere mich immer noch gern daran. Ich hoffe, mich auch später noch mit ebensoviel Freude daran erinnern zu können.«

Birgitte trat näher und begann, Unos Nacken zu massieren, während sie ihm in das Auge sah. Dieses leuchtend rote aufgemalte Auge auf der Klappe schien ihr überhaupt nichts auszumachen. »Dreitausend Jahre die Grenze zur Fäule bewacht«, sagte sie sanft. Sanft! Es war zwei Tage her, daß sie in diesem Ton mit Nynaeve gesprochen hatte! »Dreitausend Jahre lang, und kein einziger Schritt zurück, der nicht mit zehnmal so vielen gefallenen Trollocs bezahlt worden wäre. Das hier ist vielleicht nicht Enkara oder die Soralle-Stufe, aber ich weiß, was Ihr ausrichten werdet.«

»Was habt Ihr denn gemacht?« grollte er. »Habt Ihr all die verdammten Geschichtsbücher der verdammten Grenzlande gelesen?« Dann zuckte er aber doch sofort zusammen und blickte zu Nynaeve hinüber. Es war notwendig gewesen, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er sich in ihrer Gegenwart einer ganz und gar sauberen Sprache bediente. Das paßte ihm zwar nicht, aber es gab keinen anderen Weg, ihn vor einem Rückschlag zu bewahren — und Birgitte sollte sie deshalb nicht so tadelnd ansehen. »Könnt Ihr sie nicht überzeugen?« sprach er Thom und Juilin an. »Es ist verd... es ist närrisch, so etwas versuchen zu wollen.«

Juilin warf die Hände hoch und Thom lachte schallend. »Habt Ihr je eine Frau kennengelernt, die auf Vernunftgründe hört, wenn sie nicht will?« erwiderte der Gaukler. Er stöhnte leicht, als Elayne seine Kompresse wegzog und damit begann, den Riß in seiner Kopfhaut etwas heftiger abzutupfen, als es eigentlich notwendig war.

Uno schüttelte den Kopf. »Also, wenn ich zu einer Dummheit verleitet werden soll, dann lasse ich mich eben überreden. Aber merkt Euch folgendes: Masemas Leute fanden das Schiff — Wasserschlange oder so ähnlich heißt es wohl — keine Stunde nach dem Anlegen, doch dann wurde es von Weißmänteln besetzt. Und das hat diese ganze kleine Auseinandersetzung in Gang gebracht. Und noch schlimmer — Masema mag ja das Schiff bereits vergessen haben, aber er hat es auch nicht für notwendig gehalten, seine Leute davon zu informieren. Ich bin bei ihm gewesen, und er wollte nichts von Schiffen hören. Alles, wovon er sprechen kann, ist, daß man die Weißmäntel hängen müsse und Amadicia müsse das Knie vor dem Lord Drache beugen, und wenn er das ganze Land anzünden müsse. In der Nähe des Flusses wurde gekämpft, und das könnte noch andauern. Euch durch diese Auseinandersetzungen hinzubringen wird schwierig genug, aber wenn am Hafen noch immer gekämpft wird, kann ich für nichts garantieren. Und wie ich Euch auf ein Schiff bringen soll, das sich in den Händen von Weißmänteln befindet — da habe ich nicht die geringste Ahnung...« Er atmete langgezogen aus und rieb sich mit dem Rücken einer vernarbten Hand den Schweiß von der Stirn. Seinem Gesicht war deutlich die Mühe anzusehen, die ihm eine so lange Rede ohne jedes Fluchen bereitet hatte.

Nynaeve hätte möglicherweise ihren Kommentar dazu auf der Zunge gehabt, wäre sie nicht zu verblüfft gewesen, um ein Wort herauszubringen. Das mußte ein Zufall sein! Licht, ich habe wohl gesagt, ich würde alles für ein Schiff tun, aber das habe ich nicht damit gemeint. Nicht das! Sie wußte nicht, warum Elayne und Birgitte sie so ausdruckslos, aber intensiv anblickten. Sie waren über alles informiert gewesen, und keine von beiden hatte diese Möglichkeit auch nur erwähnt. Die drei Männer tauschten besorgte Blicke. Offensichtlich war ihnen klar, daß etwas vorging, und doch hatten sie keine Ahnung, was wirklich los war — dem Licht sei Dank! Viel besser, wenn sie nicht alles wußten. Es konnte einfach nur ein Zufall sein.

Auf gewisse Weise war sie froh, ihre Aufmerksamkeit nun auf einen anderen Mann konzentrieren zu können, der zwischen den Wohnwagen hindurch auf sie zukam, denn das gab ihr eine Gelegenheit, den Blicken Elaynes und Birgittes auszuweichen. Andererseits ließ der Anblick Galads ihr Herz sinken und weckte Beklemmungen.

Er war in einfaches Braun gekleidet und trug eine Samtkappe statt des weißen Umhangs und des glänzenden Harnisches. Nur das Schwert hing nach wie vor an seiner Seite. Er hatte sie bisher noch nicht im Lager besucht, und sein Gesicht erregte auch hier Aufsehen. Muelin trat unbewußt einen Schritt auf ihn zu, und die beiden schlanken Akrobatinnen beugten sich mit offenen Mündern vor. Die Chavanas waren offensichtlich vergessen und machten dementsprechend saure Mienen. Sogar Clarine strich ihr Kleid glatt, während sie ihn beobachtete, bis Petra die Pfeife aus dem Mund nahm und irgend etwas sagte. Dann ging sie hinüber zu ihm. Er lachte und legte sein Gesicht an ihren voluminösen Busen. Doch ihr Blick folgte über den Kopf ihres Gatten hinweg immer noch Galad.

Nynaeve war nicht in der Stimmung, sich von einem hübschen Gesicht ablenken zu lassen. Ihr Atmen beschleunigte sich diesmal kaum. »Ihr wart das, nicht wahr?« fuhr sie ihn an, bevor er sie noch erreicht hatte. »Ihr habt das Schiff besetzt, ja? Warum?«

»Die Wasserschlange?« Er blickte sie ungläubig an. »Aber Ihr habt mich doch gebeten, Euch die Passage auf dem ersten Schiff zu ermöglichen!«

»Ich habe Euch aber nicht gebeten, einen Aufruhr zu verursachen!«

»Einen Aufruhr?« warf Elayne ein. »Einen Bürgerkrieg. Eine Invasion. Und alles begann dieses Schiffes wegen.«

Galad blieb gelassen. »Ich habe Nynaeve mein Wort gegeben, Schwester. Meine oberste Pflicht ist, Dich sicher auf den Weg nach Caemlyn zu bringen. Und Nynaeve natürlich. Die Kinder des Lichts hätten ohnehin früher oder später gegen diesen Propheten antreten müssen.«

»Hättet Ihr uns nicht einfach mitteilen können, daß dieses Schiff eingelaufen ist?« fragte Nynaeve resignierend. Männer und ihr Wort. Manchmal war das ja bewundernswert, aber sie hätte darauf hören sollen, als Elayne sagte, er werde grundsätzlich das tun, was er für richtig hielt, gleich, wen er damit traf.

»Ich weiß nicht, wofür der Prophet dieses Schiff wollte, aber ich bezweifle, daß er es brauchte, um Euch flußabwärts zu befördern.« Nynaeve zuckte zusammen. »Außerdem habe ich den Kapitän für Eure Passage bezahlt, während er noch seine Ladung löschte. Eine Stunde später kam einer der beiden Männer, die ich zurückgelassen hatte, um sicherzugehen, daß er nicht ohne Euch ablegte, zu mir und berichtete, der andere Mann sei tot und der Prophet habe das Schiff besetzen lassen. Ich verstehe gar nicht, wieso Ihr euch so aufregt. Ihr wolltet ein Schiff haben, brauchtet ein Schiff, und ich habe Euch eines besorgt.« Mit gerunzelter Stirn wandte er sich an Thom und Juilin. »Was ist mit ihnen los? Warum sehen sie sich so eigenartig an?«

»Frauen«, sagte Juilin einfach, und dafür klatschte ihm Birgitte mit der Hand auf den Hinterkopf. Er starrte sie zornig an.

»Diese Bremsen stechen ganz bösartig.« Sie grinste, und sein Blick wurde unsicher, während er seinen Hut zurechtrückte.

»Wir können hier noch den ganzen Tag herumsitzen und uns über das Für und Wider streiten«, sagte Thom trocken, »oder uns an Bord dieses Schiffes begeben. Die Passage wurde bezahlt und den Preis dafür kann man ohnehin nicht mehr ändern.«

Nynaeve zuckte erneut zusammen. Wie er das auch gemeint haben mochte, sie wußte jedenfalls nur zu genau, wie sie es verstand.

»Es mag Schwierigkeiten geben, wenn wir zum Fluß hinübergehen«, sagte Galad. »Ich habe diese Kleidung angelegt, weil die Kinder des Lichts im Augenblick in Samara nicht sehr beliebt sind, aber der Mob stürzt sich möglicherweise auf jeden.« Er betrachtete Thom mit seinem weißen Haar und dem langen, weißen Schnurrbart zweifelnd und Juilin mit wenig mehr Zutrauen. Selbst in diesem Zustand seiner Kleidung wirkte der Tairener hart genug, Pfosten in den Boden zu schlagen. Dann wandte er sich Uno zu. »Wo ist Euer Freund? Ein weiteres Schwert könnte nützlich sein, bis wir meine Männer erreicht haben.«

Unos Lächeln wirkte schurkisch. Zwischen den beiden knisterte es noch genauso wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. »Er ist in der Gegend. Und vielleicht noch ein oder zwei andere. Ich bringe sie schon heil zum Schiff, egal, ob Eure Weißmäntel es solange halten können oder nicht.«

Elayne öffnete den Mund, doch Nynaeve kam ihr schnell zuvor. »Das reicht jetzt, Ihr beiden!« Elayne hätte lediglich versucht, sie wieder auf ihre honigsüße Art zu besänftigen. Das hätte vielleicht sogar gewirkt, aber sie mußte jetzt auf irgend etwas oder irgend jemanden einprügeln und sich abreagieren. »Wir müssen jetzt schnell handeln.« Sie hätte sich ja vorher überlegen können, was geschehen würde, wenn sie zwei Verrückte auf das gleiche Ziel ansetzte und beide es gleichzeitig erreichten. »Uno, zieht den Rest Eurer Männer zusammen, so schnell es nur möglich ist.« Er versuchte, ihr zu berichten, daß sie bereits jenseits der Menagerie auf sie warteten, doch sie hörte nicht darauf und fuhr einfach fort. Sie waren wirklich verrückt, alle beide! Überhaupt waren alle Männer verrückt! »Galad, Ihr...«

»Alles auf und die Wagen bereitmachen!« Lucas Ruf unterbrach ihren Redeschwall. Er humpelte zwischen den Wagen hindurch. Die eine Seite seines Gesichts war geschwollen und blutunterlaufen. Der rote Umhang war beschmutzt und eingerissen. Wie es schien, waren Thom und Juilin nicht die einzigen gewesen, die einen Stadtausflug unternommen hatten. »Brugh, lauf und sage den Pferdeknechten, sie sollen anspannen! Wir müssen die Umzäunung zurücklassen.« Bei diesen Worten verzog er bedauernd das Gesicht. »Ich will in weniger als einer Stunde unterwegs sein! Andaya, Kuan, holt Eure Schwestern raus! Weckt alle, die noch schlafen, und falls sie sich gerade waschen, sagt ihnen, sie sollen sich sofort anziehen oder nackt mitkommen! Beeilt Euch, außer Ihr wollt Euch dem Propheten anschließen und nach Amadicia mitmarschieren! Chin Akima hat bereits seinen Kopf verloren, genau wie die Hälfte seiner Truppe, und man hat Sillia Cerano und ein Dutzend ihrer Leute ausgepeitscht, weil sie sich zu langsam bewegten. Macht gefälligst!« Als er fertig war, rannte schon jeder außer der Gruppe um Nynaeves Wagen aufgeregt im Lager umher.

Luca humpelte etwas langsamer, als er sich ihnen näherte, wobei er Galad mißtrauisch beäugte. Und ebenso Uno, obwohl er den Einäugigen schon zweimal zuvor gesehen hatte. »Nana, ich möchte mit Euch sprechen«, sagte er dann leise. »Unter vier Augen.«

»Wir werden nicht mit Euch kommen, Meister Luca«, sagte sie zu ihm.

»Unter vier Augen«, wiederholte er, packte sie am Arm und zog sie weg.

Sie blickte zurück, um den anderen zu sagen, sie sollten nicht eingreifen, doch sie merkte schnell, daß dies nicht notwendig war. Elayne und Birgitte eilten bereits auf die Segeltuchumzäunung zu, die sich um die Menagerie zog, und abgesehen von ein paar Seitenblicken auf sie und Luca waren die vier Männer in ihre Unterhaltung vertieft. Sie schnaubte laut. Schöne Männer, die gestatteten, daß eine Frau so herumgeschubst wurde, und nicht eingriffen.

Sie riß ihren Arm los und schritt neben Luca her. Ihr Seidenrock raschelte leise, als wolle er ihre schlechte Laune unterstreichen. »Ich schätze, Ihr wollt Euer Geld haben, nun, da wir Euch verlassen. Also gut, das sollt Ihr bekommen. Einhundert Goldmark. Allerdings bin ich der Meinung, Ihr solltet etwas nachlassen, weil wir Euch ja den Wohnwagen und die Pferde hinterlassen. Und für unsere Arbeit. Wir haben bestimmt mit dafür gesorgt, daß Ihr mehr Zuschauer hattet. Morelin und Juilin mit ihrem Seilakt, ich als lebendige Zielscheibe, Thom... «

»Glaubt Ihr etwa, ich sei hinter dem Gold her, Frau?« fuhr er sie an. »Wenn ich das wollte, hätte ich es an dem Tag verlangt, als wir den Fluß überquerten! Habe ich es verlangt? Habt Ihr euch jemals überlegt, warum ich es nicht verlangte?«

Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück und verschränkte mit strengem Blick die Arme unter dem Busen. Augenblicklich allerdings verwünschte sie diese Geste, denn nun wurde das, was sie so großzügig entblößte, noch mehr betont. Doch stur, wie sie war, ließ sie die Arme dort, wo sie sich nun einmal befanden, denn sie würde nicht zulassen, daß er glaubte, sie sei verwirrt — vor allem deshalb, weil sie es wirklich war. Überraschenderweise sah er gar nicht hin, sondern blickte ihr nur weiter in die Augen. Vielleicht war er krank? Er hatte sonst nie eine Gelegenheit ausgelassen, ihren Busen zu bewundern, und wenn Valan Luca plötzlich weder an Gold noch an ihrem Busen interessiert war... »Wenn es nicht um das Gold geht, warum wollt Ihr dann mit mir sprechen?«

»Den ganzen Weg über von der Stadt zurück hierher habe ich daran denken müssen«, sagte er bedächtig, als er ihr folgte, »daß Ihr nun wohl endgültig gehen werdet.« Es gelang ihr, nicht noch einen Schritt zurückzutreten, obwohl er nun dicht vor ihr stand und ihr eindringlich in die Augen sah. Wenigstens galt sein Blick immer noch ihren Augen und nicht... »Ich weiß nicht, wovor Ihr weglauft, Nana. Manchmal möchte ich beinahe Eure Geschichte glauben. Morelin wenigstens hat die Manieren einer Adligen. Aber Ihr wart niemals die Zofe einer Lady. Während der letzten paar Tage habe ich ständig darauf gewartet, daß Ihr beiden Euch auf dem Boden herumwälzt und versucht, Euch gegenseitig die Haare auszureißen. Und Maerion vielleicht auch noch obenauf.« Er mußte etwas in ihrem Gesichtsausdruck entdeckt haben, denn er räusperte sich und fuhr schnell fort: »Der springende Punkt ist doch, daß ich jederzeit jemand anderen finden kann, der sich als Zielscheibe für Maerion zur Verfügung stellt. Ihr schreit wohl so herrlich, daß jeder glauben könnte, Ihr hättet wirklich Angst, aber...« Wieder räusperte er sich, diesmal noch etwas hastiger, und zog sich ein wenig zurück. »Was ich versuche, Euch zu sagen, ist: Ich möchte gern, daß Ihr bleibt. Es liegt eine weite Welt vor uns, tausend Städte warten auf eine Truppe wie die meine, und was auch hinter Euch her ist, findet Euch bei mir nie. Ein paar der Leute Akimas und diejenigen aus Sillias Truppe, die nicht über den Fluß verschleppt wurden, schließen sich mir an. Valan Lucas Truppe wird die größte und beste, die die Welt jemals gesehen hat.«

»Bleiben? Warum sollte ich wohl bleiben? Ich habe Euch von Anfang an gesagt, wir wollten lediglich nach Ghealdan kommen, und daran hat sich nichts geändert.«

»Warum? Natürlich, um meine Kinder zu tragen.« Er nahm eine ihrer Hände in seine beiden. »Nana, Eure Augen verschlingen meine Seele, Eure Lippen setzen mein Herz in Flammen, Eure Schultern lassen meinen Pulsschlag rasen, Euer...«

Schnell unterbrach sie ihn: »Ihr wollt mich heiraten?« fragte sie ungläubig.

»Heiraten?« Er riß die Augen auf. »Also ... äh ... ja. Selbstverständlich.« Seine Stimme wurde wieder kräftiger und er drückte ihre Finger auf seine Lippen. »Wir werden in der ersten Stadt heiraten, wo ich das arrangieren kann. Ich habe noch nie einer anderen Frau einen Heiratsantrag gemacht.«

»Das glaube ich gern«, sagte sie mit schwacher Stimme. Es kostete sie einige Mühe, ihre Hand aus seinem Griff zu befreien. »Es ist mir natürlich eine Ehre, Meister Luca, aber...«

»Valan, Nana. Nur Valan.«

»Aber ich muß Eure Bitte ablehnen. Ich bin mit einem anderen verlobt.« Auf gewisse Weise stimmte das sogar. Lan Mandragoran mochte seinen Siegelring vielleicht nur als Geschenk gemeint haben, aber sie sah das anders. »Und ich verlasse Euch.«

»Ich sollte Euch einfach zusammenschnüren und mit forttragen.« Der Schmutz und die Risse störten den Gesamteindruck ein wenig, als er beim Aufrichten sein Cape mit großer Geste spreizte. »Mit der Zeit würdet Ihr diesen Burschen vergessen.«

»Versucht es, und ich werde Uno dazu veranlassen, daß Ihr euch wünscht, lieber wie eine Wurst aufgeschnitten zu werden.« Das nahm dem Kerl jedoch kaum den Wind aus den Segeln. Sie stieß ihm einen Finger hart zwischen die Rippen. »Ihr kennt mich nicht, Valan Luca. Ihr wißt überhaupt nichts von mir. Meine Feinde, die Ihr so ganz nebenbei abtut, würden Euch dazu bringen, selbst Eure Haut abzuziehen und in bloßen Knochen zu tanzen, und Ihr wärt noch dankbar, wenn sie Euch nicht mehr antäten. Also, ich gehe jetzt, und ich habe keine Zeit, mir Euer Geschwätz noch länger anzuhören. Nein, sagt jetzt nichts mehr! Mein Entschluß steht fest und Ihr ändert nichts daran. Also könnt Ihr genausogut mit dem Gejammere aufhören.«

Luca seufzte jämmerlich. »Ihr seid die einzige Frau für mich, Nana. Laßt andere Männer auf langweilige Schwätzerinnen mit ihren scheuen Seufzern fliegen. Bei Euch weiß ein Mann, daß er durchs Feuer schreiten und mit bloßen Händen eine Löwin zähmen muß, sobald er sich Euch nähert. Jeder Tag ein Abenteuer, und jede Nacht...« Sein Lächeln brachte ihm beinahe einen Nasenstüber ein. »Ich werde Euch wiederfinden, Nana. Und dann erwählt Ihr mich. Das weiß ich tief in meinem Innersten.« Er schlug sich mit dramatischer Geste auf die Brust und ließ sein Cape erneut noch etwas auffälliger wirbeln. »Und auch Ihr wißt das, meine liebste Nana. In Eurem tiefsten Herzen wißt Ihr es.«

Nynaeve wußte nicht, ob sie den Kopf schütteln oder mit offenem Mund gaffen solle. Die Männer waren wirklich verrückt. Alle Männer.

Er bestand darauf, sie zum Wagen zurückzubegleiten, wobei er ihren Arm nahm, als befänden sie sich auf einem Ball.

Elayne ertappte sich dabei, daß sie in sich hineinfluchte, passend zu dem Durcheinander der Pferdeknechte, die zu ihren Gespannen eilten, und dem Geschrei der Menschen, dem Wiehern der Pferde, dem Brummen der Bären und dem Fauchen der Leoparden. Nynaeve sollte nur noch einmal eine Bemerkung fallen lassen, daß sie schamlos ihre Beine herzeige! Sie hatte gesehen, wie sich dieses Weib spreizte, als Valan Luca auftauchte. Und schwer geatmet hatte sie auch. Genauso übrigens auch bei Galad. Es war ja nicht so, daß sie besonders gern Hosen trug. Sicher, sie waren bequem und kühler als Röcke. Ihr war sehr wohl klar, wieso Min am liebsten Männerkleidung trug. Beinahe jedenfalls. Natürlich mußte sie das dumme Gefühl erst einmal überwinden, ihre Jacke sei in Wirklichkeit ein Kleid, das kaum ihre Hüften bedeckte. Soweit war sie immerhin schon gekommen. Nicht, daß sie das Nynaeve wissen lassen wollte. Nicht bei deren spitzer Zunge. Ihr hätte doch klar sein müssen, daß Galad der Preis vollkommen gleichgültig war, wenn er nur sein Versprechen hielt. Sie hatte ihr doch oft genug gesagt, wie Galad sich verhielt. Und dann auch noch den Propheten einzuspannen! Nynaeve handelte, ohne darüber nachzudenken, was sie anrichten konnte.

»Hast du etwas gesagt?« fragte Birgitte. Sie hatte ihren Rock gerafft und über ihren Arm gelegt, um mithalten zu können, und entblößte so völlig schamlos ihre Beine — von den blauen Brokatpantoffeln bis ein gutes Stück über die Knie. Diese durchsichtigen Seidenstrümpfe verbargen lange nicht soviel wie die Hose.

Elayne blieb auf der Stelle stehen. »Was hältst du von meiner Bekleidung?«

»Man kann sich darin gut bewegen«, sagte die andere Frau unverbindlich. Elayne nickte. »Natürlich ist es gut, daß dein Hintern nicht so fett ist, so eng, wie diese... «

Elayne schritt wild aus und zupfte an ihrer Jacke herum. Sie wurde aber nicht länger davon.

Nynaeves spitze Zunge war auch nicht schlimmer als die Birgittes. Sie hätte von ihr eigentlich einen Gehorsamseid verlangen sollen, oder wenigstens, daß sie immer den nötigen Respekt zeige. Daran würde sie denken müssen, sobald es an der Zeit war, sich Rand zuschwören zu lassen. Als Birgitte sie mit saurer Miene einholte, als sei sie es, deren Geduld bis zum Zerreißen strapaziert wurde, sprach keine von beiden ein weiteres Wort.

In ihr grünes, mit aufgenähten Münzen geschmücktes Kleid gehüllt, benützte die hellblonde Seanchanfrau den Stachelstock, um den riesigen S'redit-Bullen zu lenken, der den schweren Wagen mit dem Löwenkäfig vor sich herschob. Ein Pferdeknecht mit schäbiger Lederweste hielt die Deichsel des Wagens und steuerte ihn hinüber zu einem Fleck, an dem die Pferde bequem angespannt werden konnten. Der Löwe schlich in seinem Käfig auf und ab, schlug gelegentlich mit seinem Schweif und fauchte einige Male heiser.

»Cerandin«, sagte Elayne, »ich muß mit Euch sprechen.«

»Einen Augenblick, Morelin.« Ihre Aufmerksamkeit galt ganz dem mit gewaltigen Stoßzähnen bewehrten grauen Tier, und ihre schleppende Aussprache machte sie für die anderen kaum verständlich. »Jetzt gleich, Cerandin. Wir haben nur noch wenig Zeit.«

Doch die Frau ließ den S'redit nicht anhalten und umdrehen, bis der Pferdeknecht ihr zurief, der Wagen stehe jetzt richtig. Dann sagte sie ungeduldig: »Was wollt Ihr, Morelin? Ich habe noch viel zu tun. Außerdem würde ich mich gern umziehen; dieses Kleid ist nicht für eine Reise geeignet.« Das Tier stand geduldig wartend hinter ihr.

Elayne verzog leicht den Mund. »Wir reisen ab, Cerandin.«

»Ja, ich weiß. Der Aufruhr. Solche Dinge sollte man nicht zulassen. Falls dieser Prophet glaubt, er könne uns etwas antun, wird er erleben, was Mer und Sanit fertigbringen.« Sie wandte sich um und kratzte Mers runzlige Schulter mit ihrem Dornenstab.

Daraufhin berührte er ihre Schulter mit seiner langen Nase. Einen ›Rüssel‹ nannte Cerandin das. »Manche benützen lieber Lopar oder Grolm in der Schlacht, aber wenn man S'redit richtig einsetzt...«

»Seid ruhig und hört zu«, sagte Elayne energisch. Es kostete Mühe, die Würde zu wahren, wenn ihr die Seanchanfrau so ablenkend antwortete und Birgitte mit verschränkten Armen danebenstand. Sie war sicher, Birgitte lauere nur auf die nächste Gelegenheit, eine beißende Bemerkung loszuwerden. »Ich meine nicht die Truppe. Ich meine mich selbst und Nana und Euch. Wir begeben uns noch heute morgen auf ein Schiff. In ein paar Stunden werden wir uns für immer außerhalb des Machtbereichs des Propheten befinden.«

Cerandin schüttelte bedächtig den Kopf. »Nur wenige Flußschiffe könnten S'redit befördern, Morelin. Und selbst, wenn Ihr eines habt, das geeignet ist: Was würden wir danach tun? Ich glaube nicht, daß ich auf eigene Faust soviel verdienen könnte wie bei Meister Luca, nicht einmal, wenn Ihr auf dem Seil tanzt und Maerion ihre Pfeile abschießt. Und ich denke, Thom würde wohl jonglieren. Nein. Nein, es ist besser, wir bleiben alle bei der Truppe.«

»Die S'redit müssen wir zurücklassen«, gab Elayne zu. »Doch ich bin sicher, daß Meister Luca gut für sie sorgen wird. Wir werden nicht auftreten, Cerandin. Das ist nicht mehr notwendig. Wo ich hingehe, gibt es Frauen, die gern erfahren würden...« Sie war sich des Pferdeknechts bewußt, eines schlaksigen Burschen mit einer unglaublich dicken Nase, der nahe genug stand, um zu lauschen. »...wo Ihr herkommt. Viel mehr noch, als Ihr uns bereits berichtet habt.« Nein, er lauschte nicht. Er starrte abwechselnd lüstern Birgittes Busen und ihre Beine an. Sie blickte ihn streng an, bis sein freches Grinsen verflog und er wieder zu seinen Pflichten eilte.

Cerandin schüttelte wieder den Kopf. »Ich soll Mer und Sanit und Nerin zurücklassen, wo sie von Männern versorgt werden, die sich davor fürchten, sich ihnen überhaupt zu nähern? Nein, Morelin. Wir bleiben bei Meister Luca. Ihr auch. Es ist viel besser so. Denkt Ihr noch daran, wie kaputt Ihr wart an dem Tag Eurer Ankunft? Ihr wollt doch nicht, daß es wieder so wird!«

Elayne holte tief Luft und trat naher an sie heran. Niemand außer Birgitte war nahe genug, um zu lauschen, doch sie wollte kein überflüssiges Risiko eingehen. »Cerandin, mein wirklicher Name ist Elayne aus dem Hause Trakand, Tochter-Erbin von Andor. Eines Tages werde ich Königin von Andor sein.«

Soweit sie sich an das Verhalten dieser Frau am ersten Tag erinnerte, und noch mehr, weil sie ihnen so viel über die Seanchan berichtet hatte, sollte das ausgereicht haben, um jeden Widerstand zu ersticken. Statt dessen blickte ihr Cerandin fest in die Augen. »Ihr habt behauptet eine Lady zu sein, als Ihr ankamt, aber...« Sie schürzte die Lippen und musterte Elaynes Hosen. »Ihr seid eine sehr gute Seiltänzerin, Morelin. Mit einiger Übung könnt Ihr eines Tages gut genug sein, um Eure Kunst vor der Kaiserin zu zeigen. Jeder hat seinen Platz und jeder gehört auch an seinen Platz.«

Einen Augenblick lang bewegte sich Elaynes Mund, ohne daß sie ein Wort herausbrachte. Cerandin glaubte ihr nicht! »Ich habe genug Zeit verschwendet, Cerandin.«

Sie faßte nach dem Arm der Frau, um sie mitzuschleifen, falls es notwendig war, doch Cerandin fing ihre Hand ab, drehte, und nach einem Schmerzensschrei fand sich Elayne mit aufgerissenen Augen auf Zehenspitzen wieder und fragte sich, ob zuerst ihr Handgelenk brechen oder ihr der Arm aus der Schulter gerissen würde. Birgitte stand einfach da, die Arme unter dem Busen verschränkt, und besaß tatsächlich die Frechheit, eine Augenbraue fragend zu heben!

Elayne knirschte mit den Zähnen. Sie würde nicht um Hilfe bitten. »Laßt mich los, Cerandin!« befahl sie und wünschte sich, es klänge nicht so atemlos. »Ich sagte, Ihr sollt mich loslassen!«

Cerandin ließ sie einen Augenblick später tatsächlich los und trat mißtrauisch zurück. »Ihr seid eine Freundin, Morelin, und werdet es immer bleiben. Eines Tages könntet Ihr vielleicht sogar eine Lady sein. Ihr habt die richtigen Manieren, und falls Ihr die Aufmerksamkeit eines Lords erregt, nimmt er Euch möglicherweise als eine seiner Asa an. Asa werden gelegentlich zu Ehefrauen. Geht mit dem Licht, Morelin. Ich muß mit meiner Arbeit fertig werden.« Sie hielt Mer den Stachelstock hin, und er ringelte seinen Rüssel darum. Das große Tier ließ sich von ihr gemächlich wegführen.

»Cerandin!« sagte Elayne in scharfem Ton. »Cerandin!« Die hellblonde Frau blickte nicht einmal zurück. Elayne funkelte Birgitte an. »Du warst mir eine große Hilfe«, grollte sie. Dann stolzierte sie davon, bevor die andere antworten konnte.

Birgitte holte sie ein und trat an ihre Seite. »Dem nach, was ich hörte und was ich sah, hast du dir große Mühe gegeben und viel Zeit darauf verwandt, der Frau beizubringen, daß sie Rückgrat hat. Hast du erwartet, daß ich dir helfe, ihr das wieder zu nehmen?«

»Das habe ich doch überhaupt nicht beabsichtigt«, knurrte Elayne. »Ich wollte doch für sie sorgen. Sie ist weit weg von zu Hause, eine Fremde, wohin sie sich auch wendet, und es gibt einige, die sie nicht gerade freundlich behandeln würden, wüßten sie, woher sie kommt.«

»Sie scheint mir sehr wohl in der Lage, selbst für sich zu sorgen«, sagte Birgitte trocken. »Aber vielleicht hast du der Frau auch das beigebracht? Vielleicht war sie hilflos, bevor du sie fandest?« Elaynes wütender Blick glitt von ihr ab wie Eis von warmem Stahl.

»Du bist bloß dagestanden und hast zugeschaut. Dabei solltest du doch meine...« sie sah sich schnell um. Es war nur ein kurzer Blick, aber mehrere der Pferdeknechte wandten hastig die Gesichter ab. »...meine Behüterin sein. Ich erwarte von dir, daß du mich beschützt, wenn ich die Macht nicht benützen kann.« Auch Birgitte blickte sich um, doch unglücklicherweise befand sich niemand nahe genug, um sie vom Sprechen abzuhalten. »Ich werde dich verteidigen, wenn du dich in Gefahr befindest, aber wenn die Gefahr nur darin besteht, daß dich jemand übers Knie legt weil du dich wie ein ungezogenes Kind benommen hast muß ich entscheiden, ob es nicht besser ist, wenn du eine Lektion erhältst, die dir vielleicht zu einer anderen Zeit Schlimmeres erspart. Ihr zu sagen, daß du einen Thron erben wirst! Also wirklich! Wenn du Aes Sedai werden willst, solltest du besser damit anfangen, zu üben, wie man sich um die Wahrheit herumdrückt, und nicht, wie man plump lügt.«

Elayne riß Augen und Mund auf. Erst, als sie über die eigenen Füße stolperte, brachte sie endlich heraus: »Aber es stimmt doch!«

»Wenn du es sagst«, sagte Birgitte und blickte betont auf die pailettenbestickte Hosen hinab.

Elayne konnte nicht mehr an sich halten. Nynaeve benützte ihre scharfe Zunge zum Sticheln, Cerandin war stur wie zwei Maulesel auf einmal, und nun das. Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß einen spitzen Schrei aus, in dem all ihre Frustration lag.

Als der Schrei verklang, schien es, als hätten sich alle Tiere schlagartig beruhigt. Die Pferdeknechte standen herum und sahen sie an. Kühl ignorierte sie die Männer. Jetzt ging ihr nichts mehr nahe. Sie war nun eisig ruhig und hatte sich wieder vollkommen im Griff.

»War das ein Hilfeschrei?« fragte Birgitte und hielt den Kopf schief. »Oder hast du Hunger? Ich denke, ich könnte eine Amme auftreiben, um dich zu stillen... «

Elayne stolzierte davon. Ihr Fauchen hätte jedem Leoparden zur Ehre gereicht.

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