48 Abschiede

Sobald sie wieder im Wohnwagen war, zog sich Nynaeve ein anderes, ein anständiges Kleid an, wenn auch etwas murrend, weil sie eine Reihe Knöpfe auf dem Rücken wieder aufmachen und eine andere dann aufs neue ohne jede Hilfe zuknöpfen mußte. Das einfache graue Wollkleid, aus feinster Wolle und von gutem Schnitt, konnte nicht als besonders modisch gelten, aber es würde nirgendwo auffallen. Leider war es auch entschieden wärmer. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, wieder züchtig gekleidet zu sein. Obwohl —irgendwie fühlte sie sich eigenartig, als trage sie zuviel Kleidung an sich. Das mußte an der Hitze liegen.

Schnell kniete sie vor dem kleinen gemauerten Ofen mit seinem winzigen Schornstein nieder und öffnete die Eisenklappe, um ihre Wertgegenstände herauszuholen.

Bald lag der verdrehte Steinring in ihrer Gürteltasche neben Lans schwerem Siegelring und ihrem eigenen Großen Schlangenring. Der kleine, vergoldete Kasten, in dem die Juwelen lagen, die ihnen Amathera gegeben hatte, kam in die Ledertasche, zusammen mit den Beuteln voll Kräuter, die sie von Ronde Macura in Mardecin mitgenommen hatte, und dem kleinen Tiegel und dem Stößel, mit denen man sie zerstieß. Sie befühlte die Kräuterbeutel, nur um sich besser daran erinnern zu können, was jeder enthielt — von Allheilkraut bis zu der schrecklich schmeckenden Spaltzungenwurzel. Die Kreditbriefe kamen mit hinein und dazu drei der sechs Geldbeutel, keiner davon noch so fett wie vorher. Sie hatte ja schließlich die Reisekosten der Menagerie nach Ghealdan bezahlt. Luca hatte möglicherweise wirklich kein Interesse mehr an seinen hundert Goldmark, aber die Spesen hatte er immer ohne alle Gewissensbisse kassiert. Einer der Briefe, die die Trägerin autorisierte, im Namen der Amyrlin zu handeln, was immer sie auch tat, wanderte zu den Ringen in die Gürteltasche. Kaum mehr als vage Gerüchte über irgendwelche Auseinandersetzungen in Tar Valon waren bis Samara durchgedrungen, und so könnte dieses Dokument trotz Siuan Sanches Unterschrift vielleicht noch einmal nützlich sein. Das dunkle Holzkästchen ließ sie stehen, genau wie die drei übrigen Geldbeutel und den groben Jutesack mit dem A'dam, den sie ganz bestimmt nicht anrühren wollte, und auch den silbernen Pfeil, den Elayne in der Nacht ihrer katastrophalen Auseinandersetzung mit Moghedien gefunden hatte, ließ sie daneben liegen.

Einen Augenblick lang sah sie den Pfeil finster an und dachte über das Problem mit Moghedien nach. Es war einfach am besten, alles zu unternehmen, um ein Zusammentreffen mit ihr zu vermeiden. Bestimmt! Ich habe sie einmal bezwungen! Und beim zweitenmal war sie wie eine Speckseite in der Küche aufgehängt worden. Wäre Birgitte nicht gewesen... Sie hat es aus eigenem Antrieb gemacht. Das hatte die Frau ja selbst behauptet und es stimmte auch. Ich könnte sie wieder bezwingen. Ich bin mir sicher. Aber sollte ich es nicht schaffen... Falls sie versagte...

Sie versuchte lediglich, den Waschlederbeutel ganz hinten zu meiden, und das war ihr auch bewußt, doch der Gedanke an den Beutelinhalt war kaum weniger grauenvoll, als daran zu denken, was geschähe, sollte sie Moghedien erneut unterliegen. So holte sie schließlich tief Luft, faßte vorsichtig hinein und nahm den Beutel an der Kordel hoch. In diesem Moment wurde ihr klar, daß sie nicht recht gehabt hatte. Das Böse schien über ihre Hand zu schwappen, stärker als je zuvor, als bemühe sich der Dunkle König wirklich und persönlich, das Cuendillar-Siegel drinnen zu brechen. Es war entschieden besser, sich den ganzen Tag über vorzustellen, was geschähe, sollte sie Moghendien tatsächlich unterliegen. Zwischen Gedanken und Realität lag doch ein gewaltiger Unterschied. Es mußte wohl Einbildung sein, denn in Tanchico hatte sie das nicht spüren können, aber trotzdem wünschte sie, Elayne würde das Ding an ihrer Stelle tragen. Oder sie könnte es einfach hierlassen.

Sei nicht so närrisch! befahl sie sich selbst ganz energisch. Es verschließt das Gefängnis des Dunklen Königs. Mit dir geht einfach deine Phantasie durch. Und doch ließ sie den Beutel auf das rote Kleid, das Luca für sie hatte anfertigen lassen, fallen wie eine halb verweste Ratte, und dann wickelte sie das Ding gut ein und verschnürte voller Hast das Bündel. Dieses Seidenbündel kam anschließend mitten in ein größeres Bündel Kleider hinein, die sie mitnehmen wollte, und das Ganze hüllte sie letztendlich noch in ihren guten, grauen Reisemantel. Ein paar Fingerbreit Abstand schirmten sie von diesem Gefühl schwärzesten Grauens ab, doch sie empfand das eindeutige Bedürfnis, ihre Hand zu waschen. Wenn sie nur nicht so genau wüßte, daß es sich dort drinnen befand. Es war wirklich idiotisch. Elayne würde sie auslachen und Birgitte vermutlich auch. Und zu Recht.

Tatsächlich ergaben die Kleidungsstücke, die sie mitnehmen wollte, zwei Pakete, und sie bedauerte jedes, das sie zurücklassen mußte. Sogar das tief ausgeschnittene blaue Seidenkleid. Nicht, daß sie so etwas jemals wieder tragen wollte, und sie hatte gewiß nicht vor, das rote Kleid auch nur zu berühren, bevor sie es in Salidar einer Aes Sedai übergab, aber sie konnte es nicht lassen, die Kosten all dieser Dinge — Pferde, Wagen und Kleider — im Kopf zu addieren, die sie seit dem Verlassen Tanchicos hatten tragen müssen. Und natürlich die Kutsche und die Fässer mit Textilfarben. Selbst Elayne hätte davon Bauchschmerzen bekommen, aber die dachte wohl an so etwas einfach nicht. Diese junge Frau glaubte wahrscheinlich, es wären immer neue Münzen vorhanden, wenn sie nur in ihren Geldbeutel griff.

Sie war noch dabei, das zweite Bündel zu packen, als Elayne wiederkam und schweigend ein blaues Seidenkleid anzog. Schweigend, außer ein paar Flüchen, wenn sie sich die Arme nach hinten verrenken mußte, um die Knöpfe zu schließen. Nynaeve hätte ja geholfen, wenn sie darum gebeten worden wäre, aber da Elayne nicht daran dachte, musterte sie lediglich den Körper der anderen Frau beim Umziehen, ob sie irgendwelche Schrammen aufwies. Sie glaubte, Elayne nur wenige Minuten vor ihrer Rückkehr aufschreien gehört zu haben, und falls sie und Birgitte sich tatsächlich geschlagen hatten... Sie war nicht unbedingt froh darüber, keine Schrammen vorzufinden. Auf einem Flußschiff würde es im Grunde genauso eng zugehen wie in diesem Wohnwagen, und es würde noch schlimmer werden, wenn sich die beiden Frauen gegenseitig an die Kehle gingen. Und so hätte es vielleicht geholfen, wenn beide bereits hier etwas von ihrer scheußlichen Laune abreagiert hätten.

Elayne sagte kein Wort, während sie ihre eigenen Habseligkeiten zusammenpackte. Sie antwortete nicht einmal, als Nynaeve ganz freundlich fragte, wohin sie denn zuvor wie angeschossen gerast sei. Die Frage brachte Nynaeve lediglich ein gehobenes Kinn und einen eisigen Blick ein, als glaube dieses Kind, es säße bereits auf dem Thron ihrer Mutter.

Elaynes Schweigen konnte manchmal mehr sagen als viele Worte. Als sie nur noch drei Geldbeutel vorfand, hielt sie kurz inne, bevor sie sie in die Hand nahm, und in dieser Zeit sank die Temperatur im Wohnwagen spürbar. Dabei stellten die drei genau ihren Anteil dar. Nynaeve hatte ihre Nörgelei darüber satt, wie sie das Geld ausgab oder nicht. Sollte sie doch selbst sehen, wie die Münzen abnahmen. Vielleicht sah sie dann endlich ein, daß sie möglicherweise einige Zeit mittellos auskommen mußten. Als Elayne allerdings entdeckte, daß auch der Ring weg war und lediglich der dunkle Kasten noch dastand...

Elayne hob den Kasten an und öffnete den Deckel. Sie schürzte die Lippen, als sie den Inhalt betrachtete, nämlich die beiden anderen Ter'Angreal, die sie den ganzen Weg von Tear her mitgenommen hatten. Eine kleine Eisenscheibe, auf deren Seiten jeweils eine enge Spirale eingraviert war, und eine schmale Spange, etwa zehn Fingerbreit lang, anscheinend aus Bernstein, doch härter als Stahl, in deren Innerem auf irgendeine Art die kleine Figur einer schlafenden Frau eingelassen worden war. Jedes von beiden konnte man benützen, um Tel'aran'rhiod zu betreten, doch es war nicht so leicht und bequem wie mit Hilfe des Rings. Man mußte ein Gewebe aus dem Element Geist knüpfen, der einzigen der Fünf Mächte, die im Schlaf benützt werden konnte. Nynaeve war es nur recht und billig vorgekommen, wenn sie die beiden Elayne überließ, da sie selbst ja den Ring in Verwahrung genommen hatte. Elayne knallte den Kasten beinahe zu, blickte sie völlig ausdruckslos an und steckte ihn dann neben den silbernen Pfeil in eines ihrer Bündel. Ihr Schweigen war entsetzlich laut.

Auch Elayne packte zwei Bündel, doch ihre waren größer. Sie ließ nichts zurück außer den paillettenbestickten Jacken und Hosen. Nynaeve hielt sich zurück; am liebsten hätte sie gefragt, ob Elayne diese übersehen habe. Das konnte ja durchaus passieren, wenn man so schmollte. Aber sie wußte ja schließlich, wie man Harmonie erzeugt, also ließ sie es bleiben. Sie beschränkte sich auf ein Schnauben, als Elayne betont den A'dam mit in eines ihrer Bündel steckte, doch der Blick, den sie dafür zurückbekam, sagte ihr, daß jeder ihrer möglichen Einwände wohl verstanden worden war. Als sie schließlich den Wohnwagen verließen, hätte man das Schweigen in Stücke hauen und zum Kühlen von Wein benutzen können.

Draußen standen die Männer schon bereit. Und sie waren ziemlich knurrig und warfen ihr und Elayne ungeduldige Blicke zu. Das war ja wohl kaum fair. Galad und Uno hatten nichts vorbereiten müssen. Thoms Flöte und Harfe hingen in ihren Lederbehältern auf seinem Rücken neben einem kleinen Bündel, und Juilin, dessen schartiger Schwertfänger an seinem Gürtel hing, während er sich auf seinen mannshohen Kampfstock stützte, hatte sich ebenfalls nur ein noch kleineres Bündel — sauber verschnürt — umgehängt. Männer waren ja immer bereit, die gleichen Kleider so lange zu tragen, bis sie ihnen am Leib zerfielen.

Natürlich stand auch Birgitte bereit, den Bogen in der Hand, den Köcher an der Seite und ein in den Umhang gehülltes Bündel, das nicht viel kleiner war als eines von Elayne, vor den Füßen. Nynaeve hielt es bei Birgitte durchaus für möglich, daß sie Lucas Kleider eingepackt hatte, aber was sie mittlerweile angezogen hatte, ließ sie doch stutzen. Ihr weiter Hosenrock hätte beinahe der sein können, den sie in Tel'aran'rhiod angehabt hatte, nur war er eher golden als gelb, und die Hosenbeine waren an den Knöcheln nicht zugebunden. Die blaue Jacke war vom gleichen Schnitt, wie sie sie in der Welt der Träume getragen hatte.

Das Rätsel, wo sie die Kleider herbekommen hatte, löste sich von selbst, als Clarine herbeieilte und hervorsprudelte, sie habe viel zu lange gebraucht, na, und jedenfalls hatte sie zwei weitere Hosenröcke und eine Jacke dabei, die schnell zusammengelegt in Birgittes Bündel wanderten. Sie blieb noch etwas und beteuerte, wie leid es ihr täte, daß sie die Truppe verließen, und sie war auch keineswegs die einzige, die sich trotz der Hetze, der Packerei und Anspannerei ein paar Augenblicke Zeit nahm, um sich zu verabschieden. Aludra kam und wünschte ihnen eine sichere Reise, wohin sie sie auch rühren mochte, und das in ihrem kräftigen Taraboner Dialekt. Und sie brachte ihnen zwei weitere Schächtelchen mit ihren Feuerstöckchen. Nynaeve steckte sie seufzend in ihre Umhängetasche. Sie hatte die anderen absichtlich zurückgelassen, und Elayne hatte sie schließlich hinter einen Sack Bohnen auf ein Regalbrett geschoben, als sie glaubte, Nynaeve sehe nicht her. Petra bot ihnen an, zu ihrem Schutz bis zum Fluß mitzukommen. Er gab vor, den besorgten Blick seiner Frau nicht zu bemerken. Dasselbe boten ihnen die Chavanas an und Kin und Bari, die Jongleure, aber als Nynaeve ihnen versicherte, das sei nicht nötig, konnten sie im Gegensatz zu Petra, der besorgt die Stirn runzelte, ihre Erleichterung kaum verbergen. Sie mußte schnell antworten, den Galad und die anderen Männer machten den Eindruck, als hätten sie nichts dagegen, die Angebote zu akzeptieren. Überraschenderweise erschien sogar Latelle kurz, sagte ihnen ein paar bedauernde Worte, lächelte, und ihre Augen sagten, sie werde ihnen sogar die Bündel tragen, wenn sie nur recht schnell verschwänden. Nynaeve war überrascht, daß Cerandin nicht auftauchte, aber andererseits war sie auch recht froh darüber. Vielleicht kam ja Elayne mit der Frau ganz wunderbar zurecht, aber seit dem Zwischenfall, als sie von ihr angegriffen worden war, fühlte sich Nynaeve ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut, wenn diese Frau sich in ihrer Nähe befand, und vielleicht besonders deshalb, weil Cerandin sich äußerlich nicht das Geringste anmerken ließ.

Luca selbst kam als letzter und drückte Nynaeve eine Handvoll armseliger, durch die lange Dürre zwergenwüchsiger Wildblumen in die Hand. Das Licht allein mochte wissen, wo er die gepflückt hatte. Dazu schwor er ihr unsterbliche Liebe, pries ihre Schönheit in blumigen Worten und gelobte dramatisch, sie wiederzufinden, und wenn er durch die ganze Welt ziehen müsse. Sie war sich nicht im klaren darüber, was von alledem ihre Wangen heißer erglühen ließ, doch ihr eisiger Blick ließ das Grinsen blitzschnell wieder von Juilins Gesicht verschwinden und genauso das Erstaunen in Unos Miene. Was Thom und Galad davon hielten, war unklar, denn sie waren weise genug, ihre Gesichter nicht einmal andeutungsweise zu verziehen. Sie brachte es nicht über sich, Elayne und Birgitte anzusehen.

Das Schlimmste daran war, sie mußte dastehen und zuhören, während die welken Blumen ihre Köpfchen auf ihre Hand fallen ließen und ihr Gesicht immer heftiger errötete. Hätte sie versucht ihn mit heißen Ohren wegzuschicken, dann hätte ihn das vermutlich nur zu um so größeren Anstrengungen inspiriert und damit den anderen noch mehr Wasser auf die Mühlen geliefert. Sie hätte fast erleichtert aufgeatmet, als dieser idiotische Mann sich endlich unter vielen Verbeugungen und mit gekünstelt gespreiztem Cape zurückzog.

Sie behielt die Blumen in der Hand und setzte sich an die Spitze der Gruppe, damit sie deren Gesichter nicht sehen mußte. Zornig schubste sie die Bündel zurecht, wenn sie verrutschten. Kaum befanden sie sich außer Sichtweite der Wohnwagen, die vor der Segeltucheinzäunung standen, warf sie die welken Blumen derart vehement zu Boden, daß Ragan und der Rest der grob gekleideten Schienarer, die auf halbem Weg von der Menagerie zur Straße auf dem Gras der Wiese hockten, erstaunte Blicke tauschten. Jeder von ihnen trug ein Deckenbündel auf dem Rücken, natürlich nur ein kleines, gleich neben dem Schwert, doch sie hatten sich so viele Wasserbehälter umgehängt, daß sie damit tagelang auskommen konnten. Jeder dritte Mann hatte sich außerdem irgendwo einen Kessel oder Kochtopf angehängt. Gut. Wenn sie schon etwas kochen mußten, sollten sie es doch tun! Sie wartete nicht darauf, daß sie zu einem Entschluß kamen, ob man sich ihr nähern dürfe, sondern stolzierte allein auf die Lehmstraße hinaus.

Valan Luca war natürlich der Grund für ihre Wut. Daß er sie so demütigen mußte! Sie hätte ihm am liebsten jetzt noch eins über den Schädel verpaßt. Zum Dunklen König mit ihm! Aber auch Lan Mandragoran war Ziel ihres Zorns. Lan hatte ihr noch nie Blumen geschenkt. Nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte. Er hatte seine Liebe in sehr viel tieferen und gefühlvolleren Worten ausgedrückt, als es Valan Luca je fertigbringen würde. Sie hatte das, was sie Luca gesagt hatte, durchaus wörtlich gemeint. Und wenn Lan sagte, er würde sie wegschleppen, dann brächte keine Drohung ihn davon ab. Selbst mit Hilfe der Macht könnte sie ihn dann nur noch davon abbringen, wenn sie schneller war als er mit seinen Küssen, die ihr Hirn und ihre Beine so weich werden ließen, daß sie weder denken noch weglaufen konnte. Trotzdem wären Blumen nett gewesen. Auf jeden Fall netter als ewige Erklärungen, warum ihre Liebe nicht sein konnte und durfte. Männer und Ihr Ehrenwort! Männer und ihre Ehre! Mit dem Tod verheiratet sei er, ja? Er und sein persönlicher Krieg gegen den Schatten! Er würde leben, und er würde sie heiraten, und falls er in irgendeinem Punkt anderer Meinung war, würde sie ihm den Kopf schon zurechtrücken. Da war eben nur dieses kleine Problem mit seiner Bindung an Moiraine. Ach, sie hätte am liebsten laut losgeheult!

Sie war schon hundert Schritt weit auf der Lehmstraße gelaufen, bis die anderen sie endlich einholten. Elayne warf ihr einen Seitenblick zu und schnaubte lautstark, während sie mit den beiden großen, immer wieder verrutschenden Bündeln auf ihrem Rücken kämpfte. Sie mußte ja auch wieder alles mitnehmen!

Birgitte schritt neben ihr und tat so, als führe sie Selbstgespräche, doch sie knurrte durchaus hörbar etwas von Frauen, die wegrannten wie die Carpanmädchen, die von einer Klippe springen wollten. Nynaeve ignorierte beide gleichermaßen.

Die Männer verteilten sich um sie herum — Galad vorn, flankiert von Thom und Juilin, und die Schienarer in zwei Reihen zu ihrer Rechten und Linken. Mißtrauische Augen suchten jeden verwelkten Strauch und jede kleine Mulde zu beiden Seiten nach möglichen Gefahren ab. Nynaeve kam sich schon ein bißchen töricht vor, wie sie da mitten zwischen ihnen einherstolzierte. Man hätte denken können, sie erwarteten jeden Moment, daß sich ein ganzes Heer vom Boden erhob, und man hätte sie und die beiden anderen Frauen für ganz und gar hilflos halten können, besonders, als die Schienarer, die schweigend Unos Führung folgten, auch noch die Schwerter zogen. Warum eigentlich, wo doch kein einziges menschliches Wesen zu sehen war; selbst die Hüttendörfer vor der Stadt schienen verlassen. Galads Klinge blieb in der Scheide, aber Juilin hielt seinen daumendicken Stab kampfbereit in der Hand, anstatt ihn als Spazierstock zu benützen. In Thoms Händen tauchten plötzlich Messer auf und verschwanden wieder, als sei er sich dessen gar nicht bewußt. Sogar Birgitte legte einen Pfeil auf. Nynaeve schüttelte den Kopf. Die Schläger mußten schon sehr tapfer sein, die sich in Reichweite der Waffen dieser Gruppe begaben.

Dann erreichten sie Samara, und sie begann sich zu wünschen, sie hätte das Angebot Petras und der Chavanas akzeptiert und jeden zu ihrem Schutz mitgenommen, der sich anbot.

Das Tor stand offen und war unbewacht, und über die graue Stadtmauer quollen sechs schwarze Rauchsäulen in den Himmel. Die Straßen dahinter waren ruhig. Glasscherben aus eingeschlagenen Fenstern knirschten unter ihren Stiefeln, doch das war das einzige Geräusch, abgesehen von einem entfernten Summen, das klang, als flögen ungeheure Schwärme von Wespen durch die Stadt. Auf den Pflastersteinen lagen zersplitterte Möbel und vereinzelte Kleidungsstücke, Töpfe und Geschirr, Gegenstände, die man aus Läden und Wohnungen geworfen hatte. Es war nicht festzustellen, ob Plünderer oder Flüchtlinge dieses Durcheinander angerichtet hatten.

Nicht nur Hab und Gut war zerstört worden. Bei einem Haus hing die Leiche eines Mannes in einem grünen Seidenrock halb aus einem Fenster, schlaff und bewegungslos, während man an den Dachbalken der Werkstatt eines Blechschmieds einen zerlumpten Burschen am Hals aufgehängt hatte. Einige Male erhaschte sie in Seitenstraßen oder schmalen Gassen einen Blick auf etwas, das wie weggeworfene Kleiderbündel aussah. Doch ihr war klar, daß es keine waren.

An einem Haus hing die eingeschlagene Tür schief an einem einzigen Scharnier, und dahinter züngelten kleine Flammen an einer Holztreppe empor. Gerade eben begann Rauch herauszuquellen. Die Straßen war jetzt wohl menschenleer, doch wer das auch angerichtet hatte, war noch nicht lange fort. Nynaeve drehte unablässig den Kopf hin und her in dem Bemühen, nach allen Seiten gleichzeitig Ausschau zu halten, und außerdem hatte sie ihr Messer fest in die Hand genommen.

Manchmal schwoll das zornige Summen an, ein wortloser, kehliger Aufschrei der Wut, der kaum eine Straße entfernt schien, und manchmal flaute er zu einem dumpfen Murmeln ab. Doch als das Verhängnis kam, kam es ganz plötzlich und lautlos. Wie ein Rudel hungriger Wölfe kam die kompakte Masse von Männern um die nächste Ecke, füllte die Straße von einer Seite zur anderen, lautlos bis auf das Stampfen der Stiefel. Der Anblick Nynaeves und der anderen wirkte auf sie wie eine Fackel, die man auf den Heuboden wirft. Es gab kein Zögern. Wie ein Mann stürzten sie los, heulten wild auf, schwangen Mistgabeln und Schwerter, Äxte und Knüppel, alles, was man als Waffe benützen konnte.

In Nynaeve kochte noch genug Zorn, daß sie in der Lage war, nach Saidar zu greifen, und das tat sie denn auch, ohne weiter nachzudenken und noch bevor sie das Glühen um Elayne herum wahrnahm. Es gab ein Dutzend Möglichkeiten, allein und ohne Hilfe diesen Mob zurückzuhalten, und ein Dutzend mehr, ihn zu vernichten, wenn sie das wollte. Wäre da nicht die Bedrohung durch Moghedien gewesen. Sie war sich nicht sicher, ob Elayne durch die gleiche Überlegung zurückgehalten wurde. Ihr war lediglich bewußt, daß sie mit gleicher Leidenschaft an ihrem Zorn und an der Wahren Quelle festhielt, und mehr als die heranstürmende Menge war es Moghedien, die ihr das schwer machte. Sie hielt an der Macht fest, und doch wagte sie nicht, sie zu benützen. Nicht, solange es noch die kleinste Möglichkeit gab, sich anders zur Wehr zu setzen. Sie wünschte beinahe, sie könnte die Stränge kappen, die Elayne jetzt bestimmt verwob. Es mußte eine andere Möglichkeit geben!

Ein Mann, ein hochgewachsener Kerl in einem zerlumpten roten Rock, der, seinen grüngoldenen Stickereien nach zu urteilen, einst jemand anderem gehört hatte, rannte mit seinen langen Beinen den anderen voran und schwang wild ein Beil. Birgittes Pfeil traf ihn genau in ein Auge. Er stürzte, lag bewegungslos am Boden, und die anderen trampelten mit verzerrten Gesichtern und unartikulierten Schreien über ihn hinweg. Nichts würde sie aufhalten. Aufheulend vor Zorn und Angst, riß Nynaeve ihr Messer vom Gürtel und bereitete sich gleichzeitig darauf vor, eben doch die Macht einsetzen zu müssen.

Wie eine Woge, die an Felsen zerschellt, so rannte sich der Angriff am Stahl der Schienarer fest. Die Männer mit ihren Skalplocken wirkten immerhin noch weniger zerlumpt als die, gegen die sie zu kämpfen hatten. Sie arbeiteten methodisch mit ihren Zweihandschwertern wie Handwerker bei ihrer Arbeit, und der Ansturm kam nicht über ihre dünne Reihe hinaus. Männer fielen unter Schreien nach dem Propheten, aber immer weitere kletterten über ihre Leichen hinweg. Juilin, dieser Narr, hielt seinen Platz in dieser Reihe, den oben flachen, kegelförmigen Hut auf dem dunklen Kopf. Sein nur daumendicker Stock wirbelte kaum sichtbar durch die Luft, wehrte Hiebe ab, brach Arme und knallte auf Schädel herab. Thom befand sich hinter der Reihe und huschte mit deutlich ausgeprägtem Hinken, aber trotzdem schnell, von einem Ort zum anderen, um sich den wenigen zu stellen, die es geschafft hatten, sich durchzuwinden. Er hatte wohl nur in jeder Hand einen Dolch, doch selbst Schwertträger starben von eben diesen Händen. Das ledrige Gesicht des Gauklers trug einen grimmigen Ausdruck. Als ein massiger Kerl in der Lederweste eines Hufschmieds mit seiner Mistgabel beinahe Elayne erreicht hätte, knurrte Thom ebenso wild auf wie viele in der angreifenden Masse und trennte dem Mann fast den Kopf ab, als er ihm die Kehle aufschlitzte. Inmitten dieses Durcheinanders wechselte Birgitte seelenruhig immer wieder die Stellung, und jeder ihrer Pfeile fand sein Ziel in irgendeinem Auge.

Und wenn sie auch den Mob aufhielten, war es doch Galad, der den Angriff endgültig zurückschlug. Er stand ihrem Ansturm gegenüber, als warte er auf einem Ball auf den nächsten Tanz, die Arme verschränkt und unbeeindruckt. Er hielt es noch nicht einmal für notwendig, die Klinge zu ziehen, bis sie ihn fast schon erreicht hatten. Dann tanzte er, und all seine Eleganz der Bewegung wandelte sich in tödliche Geschmeidigkeit. Er stellte sich ihnen nicht; vielmehr schnitt er sich einen Weg direkt ins Herz des Mobs, eine Gasse, so breit wie die Reichweite seines Schwerts. Manchmal umringten ihn gleich fünf oder sechs Männer mit Schwertern und Tischbeinen als Knüppel, aber das dauerte nicht lange — nur so lange, wie sie brauchten, um zu sterben. Am Ende konnte weder ihr Zorn noch ihr Blutdurst ihn in die Knie zwingen. Vor ihm rannten sie zuerst davon, ließen die Waffen fallen, und als auch die anderen sich der Flucht anschlossen, teilte sich der Strom an ihm wie an einem Felsen. Nachdem sie auf dem gleichen Weg verschwunden waren, den sie bei ihrem Überfall genommen hatten, stand er allein zwanzig Schritt von den anderen entfernt zwischen den Toten und Sterbenden, mit ihrem Stöhnen als Begleitmusik.

Nynaeve schauderte, als er sich bückte und seine Klinge an der Jacke eines Toten abwischte. Selbst dabei wirkte er noch elegant. Selbst dabei war er noch schön. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange das alles gedauert hatte. Einige der Schienarer stützten sich schwer atmend auf ihre Schwerter. Und sie betrachteten Galad mit gehörigem Respekt. Thom hatte sich vorgebeugt, eine Hand auf ein Knie gestützt, und mit der anderen versuchte er, sich Elayne vom Leibe zu halten. Er versicherte ihr dabei, er müsse nur wieder zu Atem kommen. Es mochte Minuten gedauert haben oder eine Stunde — sie wußte es nicht.

Ausnahmsweise einmal löste ein Blick auf die Verwundeten, die hier und da auf dem Pflaster lagen und von denen einige wegzukriechen versuchten, nicht das Verlangen aus, sie mit Hilfe der Macht zu heilen. Sie empfand überhaupt kein Mitleid. Unweit von ihr hatte jemand eine Mistgabel fallengelassen. Der abgeschlagene Kopf eines Mannes war auf eine Zinke gespießt und der einer Frau auf eine andere. Sie spürte dabei lediglich ein Würgen und die Erleichterung darüber, daß es nicht ihr Kopf war. Und kalt war ihr.

»Danke«, sagte sie laut in die Runde. »Vielen Dank.« Die Worte kamen ein wenig schwerfällig heraus, denn sie gab nicht gern zu, daß sie selbst etwas nicht genauso gut hätte erledigen können, aber es lag doch Eindringlichkeit darin. Dann nickte Birgitte zustimmend und Nynaeve mußte mit sich kämpfen. Doch diese Frau hatte genausoviel vollbracht wie die anderen. Erheblich mehr also als sie selbst. So steckte sie das Messer wieder in die Gürtelschlaufe. »Du ... hast sehr gut geschossen.«

Mit einem trockenen Grinsen, als wisse sie genau, wie schwer Nynaeve diese Worte gefallen waren, machte sich Birgitte daran, ihre verschossenen Pfeile wieder einzusammeln. Nynaeve schauderte und vermied es, ihr dabei zuzusehen.

Die meisten Schienarer waren verwundet, und auch Thom und Juilin hatten Blut lassen müssen, doch benahmen sie sich wie rechte Männer. Jeder behauptete, seine Wunden seien weiter unbedeutend. Wundersamerweise war Galad völlig unberührt geblieben. Aber vielleicht war das doch nicht so wunderlich, wenn man bedachte, mit welcher Kunst er seine Klinge geführt hatte. Selbst Uno sagte, sie müßten sofort weitergehen, obwohl ihm ein Arm steif herabhing und er einen Schnitt über seine Wange empfangen hatte, der zu einer fast spiegelgleichen Narbe wie die auf der anderen Seite werden würde, falls man ihn nicht schnell heilte.

Tatsächlich aber zögerte sie keineswegs, sofort weiterzugehen, obwohl sie sich sagte, sie solle eigentlich nach den Verletzungen sehen. Elayne legte ihren Arm stützend um Thom; der aber weigerte sich, sich auf sie zu stützen. Dann begann er einfach, eine Ballade im Hochgesang zu rezitieren, und zwar so blumig ausgeschmückt, daß es schwerfiel, die Geschichte von Kirukan darin zu erkennen, der schönen Soldatenkönigin aus den Trolloc-Kriegen.

»Sie hatte, vorsichtig ausgedrückt, eine Laune wie ein Keiler, der im Dorngestrüpp festsitzt«, sagte Birgitte leise vor sich hin. »So schlimm wie niemand sonst in ihrer Nähe.«

Nynaeve knirschte mit den Zähnen. Sie würde sich hüten, dieser Frau noch einmal ein Lob zu spenden, was sie auch in Zukunft anstellen mochte. Und wenn sie es recht bedachte, konnte jeder Mann von den Zwei Flüssen auf diese Entfernung genauso gut schießen. Ach was, jeder Junge!

Ein Grollen folgte ihnen, dumpfes Gebrüll aus anderen Straßenzügen in einiger Entfernung, und hin und wieder hatte sie das Gefühl, von ungesehenen Augen aus leeren, glaslosen Fensterhöhlen heraus beobachtet zu werden. Doch die Nachricht von ihrem Kampf mußte sich herumgesprochen haben, oder die Beobachter hatten selbst zugesehen, denn sie erblickten keine Menschenseele, bis plötzlich vor ihnen zwei Dutzend Weißmäntel in die Straße einbogen, die Hälfte mit gespannten Bögen, die anderen mit blanken Klingen. Die Schienarer hatten innerhalb eines Herzschlags ihre Schwerter gezogen.

Ein paar kurze Sätze, die Galad mit einem Burschen mit mürrischem Gesicht unter dem kegelförmigen Helm tauschte, sorgten dafür, daß sie durchgelassen wurden, obwohl der Mann die Schienarer zweifelnd musterte, ebenso wie Thom und Juilin und auch Birgitte. Es reichte jedenfalls, um Nynaeve aufzuregen. Es mochte noch hingehen, daß Elayne mit erhobenem Kinn weitermarschierte und die Weißmäntel ignorierte, als seien sie Diener, aber Nynaeve paßte es ganz und gar nicht, einfach übersehen zu werden.

Der Fluß war nicht mehr weit entfernt. Hinter ein paar kleinen, gemauerten Lagerhäusern mit Schieferdächern zogen sich die drei gemauerten Anlegeplätze der Stadt kaum bis zum Wasser des halb ausgetrockneten Flusses über den vertrockneten Schlamm hin. Am Ende einer der Mauern schaukelte ein plumpes Schiff mit zwei Masten, das sehr tief lag. Nynaeve hoffte, es werde keine Mühe machen, separate Kajüten zu bekommen. Und sie hoffte, es möge nicht zu schlimm schwanken.

Eine kleine Menschenansammlung duckte sich zwanzig Schritt vom Kai entfernt unter den wachsamen Blicken von vier Wächtern mit weißen Umhängen. Es waren beinahe ein Dutzend Männer, vorwiegend alt und alle zerlumpt und mit Schrammen oder Schwellungen, und etwa doppelt so viele Frauen, die meisten mit zwei oder drei Kindern an der Hand oder auf dem Arm, ein paar sogar mit Säuglingen. Zwei weitere Weißmäntel standen direkt vor dem Zugang zum Kai. Die Kinder verbargen ihre Gesichter in den Röcken der Mütter, doch die Erwachsenen blickten sehnsuchtsvoll zu dem Schiff hinüber. Der Anblick brach Nynaeve fast das Herz. Sie erinnerte sich an die gleichen Blicke, nur in viel größerer Zahl, in Tanchico. Menschen, die verzweifelt auf einen Weg in die Sicherheit hofften. Sie war nicht in der Lage gewesen, etwas für sie zu tun.

Bevor sie auch nur irgend etwas für diejenigen hier tun konnte, packte Galad sie und Elayne jeweils am Arm, zog sie den Kai entlang und über eine schwankende Planke hinunter auf das Schiff. Sechs weitere Männer mit strengen Gesichtern, weißen Umhängen und glänzend polierten Harnischen standen an Deck und blickten auf eine Ansammlung barfüßiger Männer, meist mit bloßem Oberkörper, die am Bug nahe der Reling kauerten. Es war schwer zu entscheiden, ob der Kapitän am Fuß der Planke die Weißmäntel mürrischer anblickte oder die bunt gemischte Gruppe, die nun sein Schiff betrat.

Agni Neres war ein großer, knochiger Mann in einem dunklen Rock. Seine Ohren standen ab, und sein schmales Gesicht trug einen eigensinnigen Ausdruck.

Er beachtete den Schweiß gar nicht, der ihm über das Gesicht rann. »Ihr habt mir die Passage für zwei Frauen bezahlt. Wollt Ihr etwa, daß ich das andere Frauenzimmer und die Männer umsonst mitnehme?« Birgittes Blick verhieß Gefahr, aber er schien es nicht zu bemerken.

»Ihr sollt Euer Geld bekommen, mein guter Kapitän«, sagte Elayne kühl zu ihm.

»Solange es sich in vernünftigen Grenzen hält«, fügte Nynaeve schnell hinzu und beachtete Elaynes scharfen Blick nicht.

Neres' Lippen wurden womöglich noch schmaler, obwohl das kaum wahrscheinlich erschien, und er wandte sich wieder an Galad: »Also, wenn Ihr dann Eure Männer von meinem Schiff abziehen würdet kann ich die Segel setzen lassen. Es gefällt mir nun weniger als je zuvor, mich im hellen Tageslicht hier zu befinden.«

»Sobald Ihr eure anderen Passagiere an Bord genommen habt«, sagte Nynaeve und nickte in Richtung der Menschen, die am Ufer kauerten.

Neres blickte sich nach Galad um, doch der unterhielt sich ein Stück weiter mit den anderen Weißmänteln. Dann sah er sich die Leute am Ufer an und sprach in die Luft über Nynaeves Kopf hinein: »Jeden, der zahlen kann. Nicht viele von denen da drüben sehen aus, als könnten sie. Und ich könnte auch nicht alle mitnehmen, selbst wenn sie bezahlten.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, damit er ihr Lächeln auf keinen Fall übersah. Sein Kinn versank daraufhin in seinem Kragen. »Jeden einzelnen von ihnen, Kapitän. Ansonsten schneide ich Euch selbst die Ohren ab.«

Der Mann öffnete zornig den Mund, doch dann riß er plötzlich die Augen auf und starrte an ihr vorbei.

»In Ordnung«, sagte er hastig. »Aber merkt Euch, ich erwarte irgendeine Art von Bezahlung. Ich gebe nur am Namenstag Almosen, und der ist schon lange her.«

Sie ließ ihre Fersen wieder auf das Deck sinken und blickte sich mißtrauisch um. Thom, Juilin und Uno standen dort und beobachteten sie und Neres ausdruckslos. So ausdruckslos sie nur konnten, wenn man Unos Gesichtszüge bedachte und das Blut auf ihren Gesichtern sah. Viel zu ausdruckslos.

Nach einem betonten Schnauben sagte sie: »Ich will sie alle an Bord sehen, bevor irgend jemand auch nur ein Tau berührt«, und wandte sich ab, um Galad zu suchen. Sie fand, er habe nun doch einen Dank verdient. Er hatte geglaubt, das Richtige zu tun. Das war das Schwierige gerade bei den besten Männern. Sie glaubten immer, das Richtige zu tun. Nun, was diese drei eben auch angestellt haben mochten, sie hatten ihr jedenfalls einen längeren Streit erspart.

Sie fand Galad bei Elayne. Auf diesem schönen Männergesicht stand blanke Niedergeschlagenheit. Seine Miene erhellte sich aber bei ihrem Anblick. »Nynaeve, ich habe für Eure Fahrt bis hinunter nach Boannda bezahlt. Das liegt nur auf halbem Weg nach Altara, dort, wo der Boern in den Eldar mündet, aber ich konnte mir einfach nicht mehr leisten. Kapitän Neres hat mir jede Kupfermünze aus der Tasche geluchst, und ich mußte mir sogar noch etwas borgen. Der Kerl verlangt zehnfach überhöhte Preise. Ich fürchte, Ihr werdet Euch von dort aus selbst den Weg nach Caemlyn suchen müssen. Es tut mir wirklich so leid.«

»Du hast bereits genug getan«, warf Elayne ein, während ihr Blick zu den Rauchwolken über Samara hinüberschweifte.

»Ich habe mein Versprechen gegeben«, sagte er müde resignierend. Offensichtlich hatte es schon vor Nynaeves Ankunft einen entsprechenden Wortwechsel gegeben.

Nynaeve brachte es über sich, ihm zu danken, was er freundlich zurückwies, und das mit einem Blick, als verstehe auch sie ihn nicht. Und sie war mehr als bereit, das zuzugeben. Er hatte einen Krieg begonnen, um ein Versprechen einzulösen — Elayne hatte in diesem Falle recht; wenn nicht schon jetzt, dann würde sich bald ein Krieg daraus entwickeln — und obwohl doch seine Männer Neres' Schiff besetzt hielten, verlangte er keinen günstigeren Preis von dem Kapitän. Es war Neres' Schiff, und Neres konnte für die Fahrt verlangen, was er wollte. Solange er nur Elayne und Nynaeve mitnahm. Es war so: Galad beachtete niemals den Preis, den er oder jemand anderer dafür bezahlen mußte, wenn man nur das Richtige tat.

An der Planke blieb er noch einmal stehen und blickte die Stadt an, als sehe er in die Zukunft. »Haltet Euch fern von Rand al'Thor«, sagte er mit unheilschwangerer Stimme. »Er bringt die Zerstörung. Er wird die Welt noch einmal zerstören, bevor er mit ihr fertig ist. Haltet Euch fern von ihm.« Und dann schritt er auch schon über den Kai und rief nach seiner Rüstung.

Nynaeve ertappte sich dabei, wie sie einen erstaunten Blick mit Elayne tauschte, obwohl sie schnell verlegen beiseite sah. Es fiel schwer, einen Augenblick wie diesen mit jemandem zu teilen, von der man wußte, wie scharf ihre Zunge sein konnte. Zumindest deshalb war ihr nicht wohl in ihrer Haut. Sie konnte sich nicht vorstellen, wieso Elayne einen verwirrten Eindruck machte, es sei denn, sie käme doch langsam zur Besinnung. Sicherlich hatte Galad nicht die geringste Ahnung, daß sie überhaupt nicht beabsichtigten, nach Caemlyn zu reisen. Männer verfügten nicht über eine solche Auffassungsgabe. Sie und Elayne sahen sich von nun an eine ganze Weile nicht mehr an.

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