9 Ein Signal

Nynaeve mußte zugeben, daß Thom und Juilin sich auf einen sehr guten Lagerplatz geeinigt hatten, in einem spärlichen Dickicht an einem Osthang, kaum eine Meile von Mardecin entfernt. Alles war mit welkem Laub bedeckt und gepolstert. Einige verstreute Süßholzbüsche und niedrige Weiden, deren Zweige bis tief über dem Boden hingen, verdeckten den Wagen sowohl von der Straße wie auch vom Ort aus, und ein zwei Fuß breites Bächlein quoll unter einem Felsvorsprung nahe der Spitze der Anhöhe hervor und rann durch ein Bett aus trockenem Schlamm, das etwa doppelt so breit war. Für ihre Zwecke reichte das Wasser allemal. Es war sogar recht kühl unter den Bäumen, nicht zuletzt dank einer leichten und angenehmen Brise.

Sobald die Männer die Pferde mit Wasser versorgt und ihnen dann Fußfesseln angelegt hatten, damit sie am Hang grasen konnten, warfen sie eine Münze, um zu entscheiden, wer von ihnen auf dem dürren Wallach nach Mardecin reiten würde, um dort einzukaufen, was sie benötigten. Das Münzwerfen war ein Ritual, auf das sie sich seit einiger Zeit geeinigt hatten. Thom, dessen geschickte Finger so manchen Zaubertrick beherrschten, gewann jedesmal, wenn er die Münze warf, also besorgte Juilin das nun immer.

Thom gewann aber wieder, und während er Schmoller sattelte, steckte Nynaeve den Kopf unter den Kutschbock und hob mit ihrem Messer eines der Bodenbretter an. Neben zwei kleinen vergoldeten Behältern, in denen sich der Schmuck, den Amathera ihnen geschenkt hatte, befand, lagen in dem Fach noch mehrere prall mit Münzen gefüllte Lederbeutel. Die Panarchin war mehr als großzügig gewesen in ihrem Wunsch, sie möglichst schnell nur noch von hinten zu sehen. Im Vergleich dazu wirkten einige andere Gegenstände unbedeutend: ein kleines, dunkles Holzkästchen, glänzend, aber ohne jede schmückende Schnitzerei, und eine Waschledertasche, die ganz unten lag und eine Scheibe in ihrem Inneren erahnen ließ. Das Kästchen enthielt die beiden Ter'Angreal, die sie den Schwarzen Ajah wieder abgejagt hatten — beide hatten mit Träumen zu tun —, und in der Tasche... Das war das Wichtigste, was sie aus Tanchico mitgenommen hatten: eines der Siegel zum Gefängnis des Dunklen Königs.

So gern sie auch herausgefunden hätte, wohin Siuan Sanche sie als nächstes auf der Suche nach Schwarzen Ajah schicken wolle, war doch das Siegel der Grund dafür, daß sie es so eilig hatte, nach Tar Valon zurückzukehren. Sie holte aus einem der prallen Geldbeutel einige Münzen heraus und vermied dabei, die bewußte Tasche auch nur zu berühren. Je länger sie das bei sich hatte, desto stärker ihr Wunsch, es der Amyrlin zu übergeben und so loszuwerden. Manchmal, wenn sie sich dem Ding näherte, hatte sie das Gefühl, sie könne den Dunklen König dort drinnen fühlen, wie er auszubrechen versuchte.

Sie schickte Thom mit einer Tasche voll Silber und der ernsten Ermahnung los, Obst und Gemüse zu besorgen. Wenn sie das einem der Männer selbst überließ, kaufte er höchstwahrscheinlich nur wieder Fleisch und Bohnen und sonst nichts. Thoms Hinken, als er das Pferd am Zügel hinter sich her zur Straße zog, ließ sie das Gesicht schmerzhaft verziehen. Eine alte Verletzung, für die man jetzt nichts tun könne, hatte Moiraine gesagt. Das stank genauso wie das Hinken selbst. Nichts zu machen...

Als sie die Zwei Flüsse verlassen hatte, geschah das, um junge Menschen aus ihrem Dorf zu beschützen, die des Nachts von einer Aes Sedai einfach mitgenommen worden waren. Sie hatte die Hoffnung, diese Menschen behüten zu können, auch noch zur Weißen Burg mitgetragen und dazu das Vorhaben, Moiraine zur Strafe für ihr Werk zu Fall zu bringen. Seither hatte sich die Welt geändert. Oder vielleicht sah sie jetzt die Welt in einem anderen Licht. Nein, ich bin es nicht, die sich geändert hat. Ich bin die gleiche, nur alles andere ist jetzt anders.

Jetzt hatte sie alle Hände voll zu tun, um sich selbst zu schützen. Rand war, was er eben war, und da gab es kein Zurück mehr. Egwene ging voller Begeisterung ihren eigenen Weg und ließ sich durch nichts und niemanden davon abhalten, selbst wenn der Weg über eine Klippe führte. Mat hatte sich angewöhnt, an nichts weiter als an Frauen zu denken, an sein Vergnügen und an das Spielen. Es widerte sie ja selbst an, aber manchmal mußte sie Moiraine insgeheim recht geben. Wenigstens Perrin war mittlerweile nach Hause zurückgekehrt, wie sie von Egwene gehört hatte; vielleicht befand er sich in Sicherheit.

Die Schwarzen Ajah zu verfolgen war ja gut und schön und auch befriedigend — allerdings auch furchteinflößend. Sicher versuchte sie, ihre Angst zu verbergen, denn sie war ja schließlich eine erwachsene Frau und kein kleines Mädchen mehr, das sich hinter der Schürze der Mutter versteckt. Doch das war alles nicht der Hauptgrund dafür, daß sie gewillt war, weiterhin mit dem Kopf gegen eine Wand zu rennen und immer weiter zu versuchen, den Gebrauch der Macht zu erlernen, obwohl sie die meiste Zeit über genausowenig damit anfangen konnte wie Thom. Der Grund lag in dem Talent zum Heilen. Als Seherin von Emondsfeld war sie immer höchst zufrieden gewesen, wenn sie die Versammlung der Frauen von der Richtigkeit ihrer Anschauungen hatte überzeugen können, vor allem, weil die meisten Mitglieder alt genug waren, um ihre Mutter sein zu können. Sie war ja nur ein paar Jahre älter als Elayne und damit die jüngste Seherin aller Zeiten an den Zwei Flüssen. Noch besser hatte ihr gefallen, wenn sie den Rat der Gemeinde dazu brachte, zu tun, was eben ihrer Meinung nach sein mußte — diese sturen alten Männer. Doch die allergrößte Befriedigung hatte sie immer darin gefunden, die richtige Kombination von Heilkräutern herauszubekommen, um eine Krankheit heilen zu können. Und dann erst mit Hilfe der Einen Macht heilen zu können... Sie hatte es bereits fertiggebracht, unbeholfen freilich, um zu kurieren, was sie nicht mit Hilfe der Kräuter schaffte. Allein die Freude daran reichte aus, um sie zu Tränen zu rühren. Eines Tages wollte sie Thom heilen und ihn wieder tanzen sehen. Eines Tages würde sie selbst die Wunde an Rands Seite heilen. Es konnte doch einfach nichts geben, was man nicht zu heilen imstande war, jedenfalls nicht, wenn sich die Frau mit den heilenden Kräften genug anstrengte und nie aufgab.

Als sie sich vom Anblick Thoms losriß, sah sie, daß Elayne den Eimer gefüllt hatte, der normalerweise unter dem Wagen hing, und jetzt niederkniete, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Sie hatte sich ein Handtuch um die Schultern gelegt, damit ihr Kleid nicht naß wurde. Das war etwas, was sie auch unbedingt tun wollte. Bei dieser Hitze war das Angenehmste und Erfrischendste, sich mit dem kühlen Wasser eines Bachs waschen zu können. Oft genug hatten sie nur das aus den Fässern, die seitlich an den Wagen gebunden waren, und das benötigte man dringender zum Trinken und Kochen als zum Waschen.

Juilin saß mit dem Rücken gegen eines der Wagenräder gelehnt. Sein daumendicker Stock aus hellem, seltsam gegliederten Holz stand neben ihm. Den Kopf hatte er gesenkt, und dieser idiotische Hut war ihm nach vorn fast über die Augen gerutscht, aber sie hätte nicht darauf wetten wollen, daß selbst ein Mann um diese Zeit am Morgen schlief. Es gab ja Dinge, die er und Thom nicht einmal ahnten, Dinge, von denen sie besser nie erfuhren.

Der dicke Teppich aus welken Blättern raschelte, als sie sich neben Elayne setzte. »Glaubst du, daß Tanchico wirklich erobert wurde?« Elayne fuhr sich langsam und genüßlich mit einem seifigen Waschlappen über das Gesicht und antwortete nicht. Also versuchte sie es noch mal: »Ich glaube, die Aes Sedai, die jener Weißmantel erwähnt hat, das waren wir.«

»Vielleicht.« Elaynes Stimme klang kühl, ihre Augen bestanden aus blauem Eis. Sie blickte Nynaeve nicht direkt an. »Und vielleicht haben sich Berichte über das, was wir taten, mit anderen Gerüchten vermischt. Es könnte durchaus sein, daß Tarabon mittlerweile einen neuen König und einen neuen Panarchen hat.«

Nynaeve beherrschte sich und griff nicht einmal nach ihrem Zopf. Statt dessen packte sie energisch ihre Knie. Du versuchst, sie wieder zu versöhnen. Also hüte deine Zunge! »Amathera war kein leichter Fall, aber ich möchte trotzdem nicht, daß ihr etwas zustößt. Was meinst du?«

»Eine hübsche Frau«, sagte Juilin, »vor allem im Kleid einer Taraboner Kellnerin und mit einem netten Lächeln auf dem Gesicht. Ich glaube, sie...« Er bemerkte, daß Elayne und sie ihn anblickten, und zog schnell den Hut wieder herab im Bemühen, Schlaf vorzutäuschen. Sie tauschte einen Blick mit Elayne und wußte, daß die andere den gleichen Gedanken hatte wie sie: Männer! »Was auch mit Amathera geschehen sein mag, Nynaeve, das liegt nun hinter uns.« Jetzt klang Elayne wieder etwas normaler. Ihre Bewegungen beim Waschen wurden langsamer. »Ich wünsche ihr Glück, aber vor allem hoffe ich, daß die Schwarzen Ajah nicht hinter uns her sind. Uns verfolgen, meine ich.«

Juilin bewegte sich unruhig, ohne den Kopf zu heben. Ihm fiel es immer noch schwer, sich damit abzufinden, daß es die Schwarzen Aes Sedai wirklich gab und sie nicht nur ein bloßes Gerücht waren.

Er sollte froh und glücklich sein, daß er nicht weiß, was wir wissen. Nynaeve mußte zugeben, daß dieser Gedankengang nicht ganz logisch war, aber hätte er gewußt, daß die Verlorenen frei waren, dann hätte selbst Rands törichte Anweisung, auf sie und Elayne aufzupassen, ihn nicht vom Davonlaufen abhalten können. Aber trotzdem war er gelegentlich sehr nützlich. Er, genau wie Thom. Es war Moiraine gewesen, die ihnen Thom aufgeladen hatte, und für einen gewöhnlichen Gaukler wußte der Mann eine ganze Menge über die Welt und was in ihr vorging.

»Wenn sie uns folgten, hätten sie uns bestimmt mittlerweile eingeholt.« Das entsprach der Wahrheit, wenn man an die Geschwindigkeit des mühsam dahinrumpelnden Karrens dachte. »Wenn wir Glück haben, wissen sie immer noch nicht, wer wir eigentlich sind.«

Elayne nickte, wohl grimmig, aber doch wieder ganz die alte, und wusch sich noch einmal das Gesicht. Sie konnte fast genauso energisch und stur ein Ziel verfolgen wie die Frauen der Zwei Flüsse. »Liandrin und die meisten ihrer Genossinnen dürften wohl aus Tanchico entkommen sein. Vielleicht sogar alle. Und wir wissen immer noch nicht, wer eigentlich die Schwarzen Ajah in der Burg befehligt. Wie Rand sagen würde: Wir müssen das noch erledigen, Nynaeve.«

Unwillkürlich fuhr Nynaeve zusammen. Sicher, sie hatten eine Liste mit elf Namen, aber sobald sie sich wieder in der Burg befanden, konnte beinahe jede Aes Sedai, mit der sie sprachen, insgeheim eine Schwarze Ajah sein. Oder auch jede, die sie auf der Straße antrafen. Davon abgesehen konnte ja auch jeder, den sie überhaupt kennenlernten, ein Schattenfreund sein, doch das war nicht dasselbe; bei weitem nicht.

»Noch mehr als über die Schwarzen Ajah«, fuhr Elayne fort, »mache ich mir Gedanken über Mo...« Nynaeve legte ihr blitzschnell die Hand auf den Arm und nickte leicht in Richtung Juilin. Elayne hustete und fuhr fort, als sei sie nur durch das Husten unterbrochen worden. »Über Mutter. Sie hat keinen Grund, dich in die Arme zu schließen, Nynaeve. Ganz im Gegenteil.«

»Sie ist doch weit weg.« Nynaeve war froh, daß ihre Stimme nicht zitterte. Sie sprachen nicht von Elaynes Mutter, sondern von der Verlorenen, die sie besiegt hatten. Mit einem Teil ihres Verstandes hoffte sie flehentlich, daß Moghedien sich weit entfernt befinde. Sehr weit.

»Und wenn nicht?«

»Bestimmt«, sagte Nynaeve überzeugt, doch sie zog dabei immer noch unsicher die Schultern ein. Sie erinnerte sich noch zu gut daran, wie sie von Moghedien gedemütigt worden war und hätte nichts lieber gehabt, als die Frau wieder vor sich zu haben und sie wieder zu besiegen, aber diesmal endgültig. Nur, was geschah, wenn Moghedien sie überraschte und sie angriff, wenn sie gerade nicht zornig genug war, um die Macht gebrauchen zu können? Das gleiche galt natürlich für alle Verlorenen oder auch jede Schwarze Schwester, doch nach ihrem Zusammenstoß in Tanchico hatte Moghedien allen Grund, sie ganz persönlich zu hassen. Nicht gerade ein angenehmer Gedanke, daß eine der Verlorenen ihren Namen kannte und höchstwahrscheinlich ihren Kopf wollte. Das ist doch einfach nur Feigheit! sagte sie sich energisch. Du bist aber kein Feigling und wirst es nie sein! Das ließ aber dieses Jucken zwischen ihren Schulterblättern nicht vergehen, jedesmal, wenn sie an Moghedien denken mußte, als fühle sie den Blick dieser Frau in ihrem Rücken.

»Ich schätze, mich immerzu nach hinten umzusehen wegen der Banditen hat mich nervös gemacht«, sagte Elayne so nebenher und tupfte sich das Gesicht mit dem Handtuch ab. »Also, wenn ich in letzter Zeit träume, habe ich oft das Gefühl, daß mich jemand beobachtet.«

Nynaeve fuhr leicht zusammen, als sie dieses Echo ihrer eigenen Gedanken hörte, aber dann wurde ihr die Betonung auf dem Wort ›träume‹ bewußt. Damit waren nicht irgendwelche Träume gemeint, sondern Tel'aran'rhiod. Noch eine Sache, von der die Männer nicht wußten. Sie hatte jedenfalls das gleiche Gefühl gehabt, aber andererseits spürte man in der Welt der Träume oftmals unsichtbare Augen. Das konnte natürlich unangenehm sein, aber sie hatten darüber schon öfters miteinander gesprochen.

Sie bemühte sich, in heiterem Tonfall zu sprechen: »Na ja, wenigstens sehen wir deine Mutter nicht in unseren Träumen, Elayne, sonst würde sie uns vermutlich beide an den Ohren packen.« Moghedien würde sie wahrscheinlich foltern, bis sie um die Gnade des Todes bettelten. Oder einen Kreis von dreizehn Schwarzen Schwestern und dreizehn Myrddraal zusammenholen. Damit konnte man jeden gegen den Willen zum Schatten bekehren und an den Dunklen König binden. Vielleicht konnte Moghedien das sogar allein fertigbringen... Mach dich nicht lächerlich, Frau! Wenn sie das könnte, hatte sie es getan. Du hast sie besiegt, weißt du noch?

»Ich hoffe nicht«, antwortete die andere Frau nüchtern.

»Wirst du mir auch eine Gelegenheit geben, mich zu waschen?« fragte Nynaeve leicht verärgert. Sie wieder zu beruhigen war ja in Ordnung, aber man sollte doch etwas weniger von Moghedien sprechen. Die Verlorene mußte sich irgendwo weit entfernt befinden, denn wenn sie wüßte, wo sie sich aufhielten, hätte sie sie doch nicht unbehelligt umherziehen lassen. Das Licht gebe, daß es auch stimmt!

Elayne leerte den Eimer selbst aus und füllte ihn wieder für Nynaeve. Sie war an sich ein sehr nettes Mädchen, wenn sie daran dachte, daß sie sich nicht im königlichen Palast in Caemlyn befand. Und wenn sie sich nicht zum Narren machte. Aber dafür würde Nynaeve schon sorgen, wenn Thom zurück war.

Nachdem Nynaeve es genossen hatte, sich ausgiebig zu säubern, machte sie sich daran, das Lager zu richten und ließ Juilin abgestorbene Äste von den umstehenden Bäumen abbrechen, um ein Feuer vorzubereiten. Als Thom mit zwei gefüllten Weidenkörben zurückkehrte, die er dem Wallach übergehängt hatte, lagen ihre und Elaynes Decken unter dem Wagen bereit und die der beiden Männer unter den weit herunterhängenden Zweigen einer der zwanzig Fuß hohen Weiden, ein ordentlicher Stapel Feuerholz war aufgeschichtet, ein Teekessel stand zum Abkühlen neben der Asche eines kleinen Feuers auf einer kleinen, von Blättern gesäuberten und geschwärzten Fläche, und die dicken Steinguttassen waren abgewaschen. Juilin knurrte mürrisch in sich hinein, als er Wasser in dem winzigen Bächlein auffangen mußte, um die Fässer wieder aufzufüllen. Nach dem, was Nynaeve davon aufschnappen konnte, war sie froh, daß er das meiste zu leise brummte, um es verstehen zu können. Elayne hatte sich auf eine der Deichseln gesetzt und gab sich wenig Mühe, ihr Interesse an dem, was er so brummte, zu verbergen. Sowohl sie wie auch Nynaeve hatten sich hinter dem Wagen verborgen umgezogen und dabei zufällig genau die Farben ihrer Kleider vertauscht. In den sauberen, frischen Kleidern fühlten sie sich erheblich wohler.

Nachdem Thom dem Wallach die Fußfesseln angelegt hatte, hob er die schweren Tragekörbe problemlos herunter und begann mit dem Auspacken. »Mardecin ist nicht so wohlhabend, wie es aus der Entfernung wirkt.« Er legte ein Netz voll kleiner Äpfel auf den Boden und ein weiteres, gefüllt mit dunkelgrünen, großblättrigen Kohlköpfen. »Der Handel nach Tarabon hinein ist praktisch tot, und darunter leidet die Stadt.« Der Rest schien nur aus Säcken mit getrockneten Bohnen und Zwiebeln zu bestehen, und dazu in Pfeffer eingelegtes Fleisch und scharf geräucherte Schinken. Und eine graue, mit Wachs verschlossene Steingutflasche, von der Nynaeve sicher war, daß sie Branntwein enthielt. Die beiden Männer hatten sich bereits beklagt, sie hätten gar nichts zu trinken, wenn sie abends ihre Pfeifen schmauchten. »Man kann kaum sechs Schritte tun, ohne einem oder zwei Weißmänteln zu begegnen. Die Garnison umfaßt ungefähr fünfzig Mann Besatzung. Das Lager liegt auf der anderen Hügelseite jenseits des Flusses hinter dem Ort. Es ist um vieles größer, aber wie es scheint, zieht Pedron Niall aus allen Richtungen die Weißmäntel in Amador zusammen.« Er strich sich den langen Schnurrbart und blickte einen Augenblick lang sehr nachdenklich drein. »Ich kann mir nicht vorstellen, was er eigentlich vorhat.« Thom war nicht der Mann, dem so etwas gepaßt hätte. Für gewöhnlich reichten ihm ein paar Stunden Aufenthalt an einem Ort, um herauszubekommen, was sich zwischen den Adelshäusern und den Kaufleuten abspielte, wer mit wem verbündet war, welche Intrigen und Gegenintrigen abliefen, eben alles, was dieses sogenannte ›Spiel der Häuser‹ ausmachte. »Den Gerüchten nach versucht Niall, einen Krieg zwischen Illian und Altara zu verhindern, oder vielleicht zwischen Illian und Murandy. Da hätte er aber keinen Grund, sein Heer zu mobilisieren. Aber ich sage Euch eines: Was der Leutnant auch gesagt hat, die Lebensmittel, die nach Tarabon gebracht werden, werden durch eine königlich erlassene Steuer bezahlt, und das gefällt den Menschen hier überhaupt nicht. Sie wollen alles andere als die Taraboner durchfüttern.«

»König Ailron und der kommandierende Lordhauptmann gehen uns nichts an«, sagte Nynaeve und musterte seine Einkäufe. Drei gesalzene und geräucherte Schinken! »Wir werden so schnell und unauffällig wie möglich durch Amadicia fahren. Vielleicht haben Elayne und ich mehr Glück dabei als Ihr, Gemüse aufzutreiben. Kommst du mit spazieren, Elayne?«

Elayne stand sofort auf, strich ihren grauen Rock glatt und nahm ihren Hut vom Wagen. »Das wäre sehr schön nach dem harten Kutschbock. Es könnte ja anders sein, wenn Thom und Juilin mich etwas öfter auf Schmoller reiten lassen würden.« Ausnahmsweise einmal warf sie dem alten Gaukler keinen koketten Blick zu, und das wollte schon etwas heißen.

Thom und Juilin tauschten einen Blick, und der tairenische Diebfänger zog eine Münze aus seiner Manteltasche. Doch Nynaeve ließ ihm gar nicht die Zeit, um sie zu werfen. »Wir können durchaus allein bleiben. Was soll uns schon passieren, wenn hier so viele Weißmäntel Recht und Ordnung wahren?« Sie setzte sich den Hut auf, band den Schal drüber, verknotete ihn unter dem Kinn und sah sie herausfordernd an. »Außerdem müssen all diese Sachen, die Thom gekauft hat, noch verstaut werden.« Beide Männer nickten, bedächtig und zögernd zwar, aber sie stimmten zu. Manchmal nahmen sie ihre Rolle als angebliche Beschützer doch etwas zu ernst.

Sie und Elayne kamen an die leere Straße und schlenderten am Straßenrand entlang, auf einem Streifen dünnen Grases, wo sie keinen Staub aufwirbelten.

Schließlich hatte sie sich entschieden, wie sie sagen würde, was sie auf dem Herzen hatte. Doch bevor sie sprechen konnte, sagte Elayne: »Du willst offensichtlich allein mit mir sprechen, Nynaeve. Über Moghedien vielleicht?«

Nynaeve riß kurz die Augen auf und warf der anderen einen Seitenblick zu. Man sollte immer daran denken, daß Elayne alles andere als begriffsstutzig war. Sie hatte sich nur ein wenig dümmlich benommen. So beschloß Nynaeve, sich zu beherrschen, denn dies würde schon schwierig werden und konnte leicht in eine wilde Schreierei ausarten. »Nein, nicht darüber, Elayne.« Das Mädchen war der Meinung, sie sollten Moghedien in ihre Suche einschließen. Sie erkannte offensichtlich nicht den Unterschied zwischen einer der Verlorenen und beispielsweise Liandrin oder Chesmal. »Ich dachte, wir sollten uns einmal darüber unterhalten, wie du dich Thom gegenüber verhältst.«

»Ich weiß nicht, was du willst«, sagte Elayne, wobei sie stur geradeaus zur Stadt hin blickte. Doch die roten Flecken auf ihren Wangen straften ihre Worte Lügen.

»Er ist nicht nur alt genug, um dein Vater — ja, dein Großvater zu sein, sondern...«

»Er ist nicht mein Vater!« fauchte Elayne. »Mein Vater war Taringail Damodred, ein Prinz von Cairhien und der Erste Prinz des Schwerts von Andor!« Unnötigerweise rückte sie ihren Hut gerade und fuhr dann in sanfterem Tonfall — wenn auch nicht sehr gemäßigt — fort: »Es tut mir leid, Nynaeve. Ich wollte nicht schreien.«

Launen, mahnte sich Nynaeve selbst. »Ich dachte, du liebst Rand«, sagte sie und bemühte sich, sanft zu sprechen. Das fiel ihr nicht leicht. »Das ging jedenfalls aus den Briefen hervor, die du durch mich Egwene für ihn mitgegeben hast. Ich erwartete eigentlich, daß du ihr das gleiche gesagt hast.«

Die Wangen der anderen röteten sich noch stärker. »Ich liebe ihn, aber... Er ist sehr weit weg, Nynaeve. In der Wüste, und von tausend Töchtern des Speers umgeben, die springen, wenn er etwas will. Ich kann ihn nicht sehen, nicht sprechen und ihn nicht berühren.« Am Ende flüsterte sie nur noch.

»Du kannst doch wohl nicht glauben, daß er sich einer Tochter des Speers zuwenden wird«, sagte Nynaeve ungläubig. »Er ist ein Mann, aber doch nicht so wetterwendisch, und außerdem würde eine von denen ihm einen Speer in den Leib rennen, wenn er sie nur schief anblickte, ob er nun dieser Morgendämmerung oder wie auch immer ist oder auch nicht. Darüber hinaus sagt Egwene doch, daß Aviendha für dich auf ihn aufpaßt.«

»Ich weiß, aber... Ich hätte sichergehen sollen, daß ihm meine Liebe wirklich bewußt ist.« Elaynes Stimme klang sehr entschlossen. Und besorgt. »Ich hätte es ihm selbst sagen sollen.«

Nynaeve hatte sich vor Lan eigentlich noch nie für einen Mann interessiert, aber sie hatte als Seherin natürlich viel gesehen und erfahren. Und ihrer Erfahrung nach gab es keinen besseren Weg, um einen Mann sofort zum Davonlaufen zu bringen. Nein, er mußte es zuerst sagen.

»Ich glaube, Min hatte eine Vision«, fuhr Elayne fort. »Von mir und auch von Rand. Sie hat immer darüber gescherzt, daß ich ihn mit anderen teilen müsse, doch ich glaube, es war gar kein Scherz und sie konnte sich einfach nicht überwinden, zu sagen, was sie wirklich gesehen hat.«

»Das ist doch lächerlich.« Und das war es auch. Obwohl — in Tear hatte ihr Aviendha von einer abscheulichen Sitte bei den Aiel berichtet... Du teilst Lan mit Moiraine, flüsterte eine kleine Stimme in ihr. Das ist absolut nicht dasselbe! antwortete sie knapp. »Bist du sicher, daß es eine von Mins Visionen war?«

»Ja. Zuerst war ich mir nicht darüber im klaren, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich. Sie hat das zu oft im Scherz erwähnt, als daß es irgend etwas anderes bedeuten könnte.«

Nun, was Min auch gesehen haben mochte, Rand war jedenfalls kein Aiel. Oh, er mochte ja von Aiel abstammen, wie die Weisen Frauen behaupteten, aber er war in den Zwei Flüssen aufgewachsen und sie würde sowieso nicht dastehen und zusehen, wie er solch verruchte Aielsitten annahm. Sie bezweifelte auch sehr, daß Elayne sich dem beugen würde. »Hast du dich deshalb« — sie wollte nicht sagen: an ihn herangeschmissen — »so mit Thom abgegeben?«

Elayne blickte sie von der Seite her an, und das Rot kehrte auf ihre Wangen zurück. »Zwischen uns liegen tausend Wegstunden, Nynaeve. Glaubst du, daß Rand keine anderen Frauen ansieht? ›Ein Mann ist ein Mann, ob auf einem Thron oder im Schweinestall.‹« Sie hatte einen ganzen Vorrat solcher Sprichwörter auf Lager, die sie von ihrer ehemaligen Amme hatte, einer urvernünftigen Frau namens Lini, von der Nynaeve hoffte, sie könne sie eines Tages kennenlernen.

»Also, ich sehe ja nicht ein, daß du unbedingt flirten mußt, nur weil du glaubst, Rand täte das vielleicht auch.« Sie unterließ es, noch einmal Thoms Alter zu erwähnen. Lan ist alt genug, um dein Vater zu sein, murmelte diese kleine Stimme wieder. Ich liebe Lan. Wenn ich nur einen Weg finden könnte, ihn von Moiraine wegzubringen... Aber das ist jetzt nicht das Thema. »Thom ist ein Mann mit Geheimnissen, Elayne. Denk daran, daß ihn Moiraine uns mitgegeben hat. Was er auch sein mag, ein einfacher Gaukler vom Land ist er jedenfalls nicht.«

»Er war ein großer Mann«, sagte Elayne leise. »Er hätte noch größer sein können, wenn nicht die Liebe gewesen wäre.«

Das brachte Nynaeves Zorn zum Überkochen. Sie fuhr auf die andere los und packte sie an den Schultern. »Dieser Mann weiß nicht, ob er dich übers Knie legen soll oder... oder... auf einen Baum klettern!«

»Ich weiß.« Elayne entwich ein hilfloses Seufzen. »Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«

Nynaeve knirschte mit den Zähnen, so sehr mußte sie an sich halten, um Elayne nicht zu kräftig durchzuschütteln. »Wenn deine Mutter davon erführe, würde sie Lini herschicken, um dich ins Kinderzimmer zurückzuschleifen!«

»Ich bin kein Kind mehr, Nynaeve.« Elaynes Stimme klang gestreßt und die Röte ihrer Wangen rührte jetzt nicht mehr von Verlegenheit her. »Ich bin genauso eine Frau wie meine Mutter.«

Nynaeve beschleunigte ihren Schritt und packte dabei ihren Zopf so fest, daß ihre Knöchel schmerzten.

Nach ein paar Schritten hatte Elayne sie eingeholt. »Sollen wir wirklich Gemüse einkaufen?« Ihre Miene war beherrscht und ihr Tonfall heiter.

»Hast du gesehen, was Thom mitgebracht hat?« sagte Nynaeve mit gepreßter Stimme.

Elayne schauderte übertrieben. »Drei Speckseiten. Und dieses furchtbare in Pfeffer eingelegte Rindfleisch. Essen Männer überhaupt etwas anderes als Fleisch, wenn man es ihnen nicht direkt vor die Nase stellt?«

Nynaeves Laune besserte sich, als sie weitergingen und dabei über die Schwächen des schwächeren Geschlechts —natürlich der Männer — und andere ähnlich einfache Dinge plauderten. Natürlich verrauchte ihr Zorn nicht ganz, aber immerhin. Sie mochte Elayne und genoß ihre Gesellschaft. Zuzeiten schien es, als sei das Mädchen tatsächlich Egwenes Schwester. Manchmal hatten sich die beiden ja auch gegenseitig so bezeichnet — wenn Elayne nicht gerade das Flittchen spielte. Thom hätte dem natürlich entgegenwirken können, aber der alte Narr bestätigte Elayne noch, indem er sie behandelte wie ein wohlwollender Vater seine Lieblingstochter, selbst wenn er nicht wußte, ob er hüh oder hott sagen sollte. Wie auch immer, sie würde dem auf den Grund gehen. Nicht Rands wegen, sondern weil Elayne einfach zu gut für so etwas war. Es war, als habe sie sich ein fremdartiges Fieber eingefangen. Nynaeve hatte allerdings vor, sie davon zu heilen.

Die Straßen von Mardecin waren mit Granitplatten gepflastert, die von Generationen von Füßen und Wagenrädern ausgefahren und ausgetreten worden waren, und die Gebäude waren alle aus Backsteinen oder Naturstein erbaut. Allerdings stand eine ganze Anzahl davon leer, sowohl Geschäfte wie auch Wohnhäuser. Manchmal stand sogar die Vordertür offen, so daß Nynaeve in die leeren Räume dahinter blicken konnte. Sie sah drei Schmieden, von denen zwei aufgegeben worden waren, während in der dritten der Schmied gerade seine Werkzeuge halbherzig mit Öl pflegte. Die Essen waren kalt. Vor einer Schenke mit einem Schieferdach saßen die Gäste verdrießlich auf Bänken im Freien. Ein Teil der Fenster war zerbrochen, und bei einer anderen Schenke hing die Tür zum danebenstehenden Stallgebäude schief in den Angeln. Eine verstaubte Kutsche stand im Stallhof. Auf dem Kutschbock brütete einsam eine Henne. Im Schankraum spielte jemand auf der Zither den ›Reiherflug‹, doch selbst diese Melodie klang irgendwie mutlos und halbherzig. Die Eingangstür einer dritten Schenke war mit zwei rissigen Brettern vernagelt.

Die Menschen drängten sich in den Straßen, doch sie bewegten sich träge, von der Hitze erschlagen. Trübe Mienen sagten deutlich aus, daß sie eigentlich — außer der Gewohnheit — eigentlich gar keinen Grund hatten, sich zu bewegen. Viele Frauen trugen große, breitkrempige Hüte, die ihre Gesichter fast ganz verbargen, und die Säume ihrer Kleider waren ausgefranst. Genauso ausgefranst wie die Krägen oder Manschetten an den knielangen Mänteln vieler Männer.

Tatsächlich waren auf den Straßen einige Weißmäntel zu sehen, und wenn es vielleicht nicht so viele waren, wie sie nach Thoms Bericht erwartet hatten, waren es immer noch genug. Nynaeve stockte jedesmal der Atem, wenn sie bemerkte, daß ein Mann in jungfräulich weißem Umhang und glänzendem Harnisch sie anblickte. Sie wußte wohl, daß sie keinesfalls lange genug mit der Macht gearbeitet hatte, um die typische Alterslosigkeit der Aes Sedai anzunehmen, aber bei diesen Männern war durchaus zu erwarten, daß sie eine Hexe aus Tar Valon, die sich nicht in Amadicia aufhalten durfte, töten würden, selbst wenn sie sie nur einer Verbindung zur Weißen Burg verdächtigten.

Sie schritten durch die Menschenmenge und schienen die offensichtliche Armut ihrer Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Die Menschen machten ihnen respektvoll Platz und erhielten zur Antwort manchmal ein dankendes Nicken und oft ein strengbigottes ›Wandelt unter dem Licht‹.

So ignorierte sie die Kinder des Lichts, so gut es möglich war, und machte sich daran, frisches Gemüse aufzutreiben. Doch als die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht hatte, hatten Elayne und sie getrennt zu beiden Seiten der Brücke den gesamten Ort abgegrast und lediglich ein kleines Bündel Süßerbsen aufgegabelt, ein paar winzige Rettiche, mehrere harte Birnen und einen Korb, in dem sie alles zurücktragen wollten. Vielleicht hatte sich Thom wirklich nach Gemüse umgesehen. Zu dieser Jahreszeit hätten die Karren und Verkaufsstände voll sein müssen mit der Ernte des Sommers, aber was sie hier sahen, waren meist Kartoffeln und Zwiebeln, die auch schon bessere Tage gesehen hatten. Wenn sie an all die verlassenen Bauernhöfe dachte, die sie auf dem Weg hierher passiert hatten, dann fragte sich Nynaeve, wie diese Menschen den Winter überstehen sollten. Sie schlenderte weiter.

Neben der Tür eines strohgedeckten Hauses, das den Laden einer Näherin beherbergte, hing ein Pflanzenbündel, das beinahe wie Besenkraut aussah. Winzige gelbe Blüten befanden sich daran, und die Stiele waren ganz mit weißen Bändern umwickelt. Alles hatte man mit einem gelben Band zusammengebunden. Das konnte wohl der schwache Versuch einer Frau sein, in harten Zeiten ein wenig freundlichen Schmutz anzubringen, doch sie war eigentlich sicher, daß es eine andere Bedeutung haben mußte.

Sie blieb neben einem leeren Laden stehen, auf dessen Schild über der Tür ein Messer geschnitzt war, tat so, als suche sie einen Stein in ihrem Schuh und betrachtete derweil den Laden der Näherin ganz genau. Die Tür stand offen, und in den Fenstern mit ihren kleinen Butzenscheiben sah sie bunte Stoffballen stehen. Doch es ging niemand hinein und keiner kam heraus.

»Kannst du ihn nicht finden, Nynaeve? Nimm doch den Schuh ab.«

Nynaeves Kopf fuhr herum, denn sie hatte beinahe vergessen gehabt, daß auch Elayne da war. Keiner achtete auf sie, und es war wohl auch niemand nahe genug, um sie zu belauschen. Trotzdem senkte sie die Stimme: »Dieses Bündel Besenkraut an der Ladentür. Das ist ein Signal der gelben Ajah, ein Notsignal von einem der Augen-und-Ohren der Gelben.«

Sie mußte Elayne nicht sagen, daß sie nicht auffällig hinübersehen sollte. Der Blick des Mädchens schien den Laden kaum zu streifen. »Bist du sicher?« fragte sie leise. »Und woher weißt du das?«

»Klar bin ich sicher. Es stimmt genau; sogar das gelbe Band, das herunterhängt, ist in drei Enden aufgeschnitten.« Sie schwieg einen Moment lang und holte tief Luft. Wenn sie sich nicht ganz und gar irrte, hatte dieses unbedeutende Bündel Kräuter eben doch eine Bedeutung als Notsignal. Falls sie im Unrecht war, machte sie sich zum Narren, und das haßte sie. »Ich habe mich in der Burg sehr häufig mit Gelben unterhalten.« Der wichtigste Lebenszweck der Gelben war das Heilen von Krankheiten und Verletzungen. Sie legten wohl nicht viel Wert auf Kräuter, aber die benötigte man auch kaum, wenn man mit Hilfe der Macht heilen konnte. »Eine von ihnen hat mir das erzählt. Sie hat es nicht für einen besonders relevanten Verstoß gegen die Vorschriften gehalten, da sie sicher war, daß aus mir eine Gelbe wird. Außerdem ist dieses Signal seit beinahe dreihundert Jahren nicht mehr benützt worden. Elayne, selbst in jeder Ajah wissen nur wenige Frauen überhaupt, wer die Augen-und-Ohren ihrer eigenen Ajah sind, aber ein Bündel gelber Blüten, das so wie dieses zusammengebunden und aufgehängt wurde, sagt jeder Gelben Schwester, daß sich hier eine befindet und etwas zu berichten weiß, das wichtig genug ist, um dafür sogar die Entdeckung zu riskieren.«

»Wie werden wir herausfinden, worum es geht?«

Das gefiel Nynaeve. Nicht: ›Was sollen wir tun?‹ Das Mädchen hatte Rückgrat.

»Folge mir einfach nur«, sagte sie und ergriff ihren Korb mit fester Hand, während sie sich aufrichtete. Sie hoffte, sich noch an alles erinnern zu können, was ihr Shemerin gesagt hatte. Sie hoffte auch, daß Shemerin ihr wirklich alles gesagt hatte. Die mollige Gelbe war für eine Aes Sedai schon recht geschwätzig.

Das Innere des Ladens war nicht sehr groß, und jedes bißchen Wandfläche wurde von Regalen eingenommen. Da lagen dann Ballen aus Seide oder feingewebter Wolle, Spulen mit Fäden oder Säumen, und dazu Bänder und Spitzen jeder Breite und Sorte. Schneiderpuppen standen in den Ecken, auf denen sowohl halbfertige, wie auch fertig genähte Kleidungsstücke hingen — von einem Tanzkleid aus besticktem grünen Wollstoff bis zu einem grauen Seidengewand, die sich auch an einem Hof gut ausgenommen hätte. Auf den ersten Blick strahlte der Laden Geschäftigkeit und Wohlstand aus, doch Nynaeves scharfe Augen entdeckten eine feine Staubschicht auf einer hohen Halskrause aus feinster Solindespitze und auf einer großen Samtschleife um die Taille eines anderen Kleides. Im Laden befanden sich zwei dunkelhaarige Frauen. Die eine, jung und mager, wischte sich ständig mit dem Handrücken die laufende Nase, während sie einen Ballen hellroter Seide ängstlich an den Busen drückte. Ihr Haar fiel in einer großen Anzahl langer Korkenzieherlocken auf ihre Schultern, wie das in Amadicia Mode war, doch gegenüber der ordentlichen Frisur der anderen Frau wirkte es verfilzt. Diese andere war von mittleren Jahren und sah recht gut aus. Sie mußte ganz bestimmt die Näherin sein, denn an einem Handgelenk trug sie ein großes, mit Nadeln gespicktes Nadelkissen. Ihr Kleid war aus grüner Wolle guter Qualität gefertigt, schön geschnitten, und sicher trug sie es, um ihre Kunst auf diese Art gleich vorzuführen. Um den hohen Kragen herum war es allerdings nur mit wenigen Stickereien in Form weißer Blumen geschmückt, sicher, um ihre Kundinnen nicht in den Schatten zu stellen.

Als Nynaeve und Elayne eintraten, rissen beide Frauen die Augen auf, als sei seit dem letzten Jahr niemand mehr hereingekommen. Die Näherin fing sich zuerst und musterte sie mit ernster Würde, während sie einen leichten Knicks andeutete. »Wie kann ich Euch behilflich sein? Ich heiße Ronde Macura. Mein Geschäft steht Euch zu Diensten.«

»Ich möchte ein Kleid, das am Brustteil mit gelben Rosen bestickt ist«, sagte Nynaeve zu ihr. »Aber bitte ohne Dornen«, fügte sie lachend hinzu. »Ich heile nicht so schnell.« Was sie sagte, spielte keine Rolle, solange die Worte ›gelb‹ und ›heilen‹ darin vorkamen. Wenn jetzt nur nicht dieses Kräuterbündel reiner Zufall war! Falls es so wäre, müßte sie eine Ausrede finden, warum sie doch kein Kleid mit Rosen kaufen wolle. Und einen Ausweg, damit Elayne nicht die ganze unglückliche Angelegenheit brühwarm Thom und Juilin auftischte.

Frau Macura blickte sie einen Augenblick lang mit ihren dunklen Augen an und wandte sich dann zu dem Mädchen. Sie schob sie in den hinteren Teil dieses Gebäudes. »Geh in die Küche Richtung Luci, und bereite eine Kanne Tee für diese guten Damen. Aus der blauen Dose. Das Wasser ist bereits heiß, dem Licht sei Dank. Geh nur, Mädchen. Leg das hin und hör mit der Gafferei auf. Schnell, schnell. Die blaue Dose, vergiß es nicht! Mein bester Tee«, sagte sie, als sie sich wieder Nynaeve zuwandte, während das Mädchen durch die Hintertür verschwand. »Ich wohne über dem Laden, und meine Küche befindet sich hinten.« Sie strich nervös ihren Rock glatt, wobei Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand einen Kreis andeuteten. Für den Ring der Großen Schlange. Sie würde, wie es schien, keine Ausrede des Kleides wegen benötigen.

Nynaeve erwiderte das Zeichen, und nach einem Augenblick tat es ihnen auch Elayne nach. »Ich heiße Nynaeve, und das ist Elayne. Wir haben Euer Signal gesehen.«

Die Frau bebte wie ein Vogel, der wegfliegen möchte. »Das Signal? Ach ja. Natürlich.«

»Also«, sagte Nynaeve. »Wie lautet Eure dringende Botschaft.«

»Wir sollten hier draußen nicht darüber sprechen... äh...

Frau Nynaeve. Es könnte jemand hereinkommen.« Das bezweifelte Nynaeve. »Ich werde es Euch bei einer schönen Tasse Tee berichten. Mein bester Tee, hatte ich das erwähnt?«

Nynaeve tauschte einen Blick mit Elayne. Wenn Frau Macura so zögerte, ihre Botschaft loszuwerden, mußte sie wohl wirklich schlimm sein.

»Wenn wir einfach nach hinten gehen«, sagte Elayne, »wird uns niemand hören.« Ihr vornehmes Auftreten ließ die Näherin vor Ehrfurcht erstarren. Einen Augenblick lang hoffte Nynaeve, es werde ihre Nervosität lindern, doch im nächsten Moment plapperte die törichte Frau wieder los.

»Der Tee wird sofort fertig sein. Das Wasser ist bereits heiß. Wir haben sonst immer Tee aus Tarabon hier hereinbekommen. Deshalb bin ich ja wohl auch hier. Natürlich nicht wegen des Tees. All der Handel vorher und all die Neuigkeiten, die man von beiden Seiten her durch die Händler und ihre Angestellten erfuhr. Sie... Ihr werdet vor allem an Ausbrüchen von Epidemien oder an neuen Krankheiten interessiert sein, und das interessiert mich auch. Ich beschäftige mich ein wenig mit...« Sie hustete, und es sprudelte weiter aus ihr heraus. Hätte sie dabei ihr Kleid noch ein wenig fester geglättet, dann wäre es vermutlich bald verschlissen. »Es gibt natürlich auch einiges von den Kindern des Lichts, aber sie... Ihr... seid daran wohl kaum sehr interessiert.«

»Die Küche, Frau Macura!« mahnte Nynaeve, als die Frau einmal Luft holte. Wenn die Nachricht dieser Frau sie derartig verschüchtert hatte, dann würde Nynaeve kein Zögern mehr dulden. Sie mußte wissen, worum es ging.

Die Hintertür öffnete sich, und Lucis ängstliches Gesicht erschien. »Alles ist fertig, Frau Macura«, verkündete sie atemlos.

»Hier entlang, Frau Nynaeve«, sagte die Näherin, die immer noch über die Vorderseite ihres Rocks strich. »Frau Elayne.«

Ein kurzer Flur führte an einer engen Treppe vorbei in eine gemütliche Küche mit dicken Deckenbalken. Auf dem Herd stand ein dampfender Wasserkessel. Überall an den Wänden befanden sich hohe Schränke. Zwischen dem Hintereingang und einem Fenster, aus dem man in einen kleinen, von einem hohen Holzzaun umgebenen Hof sah, hingen kupferne Kochtöpfe. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums standen eine leuchtend gelbe Teekanne, ein grüner Honigtopf, drei nicht zusammenpassende Tassen in genauso vielen Farben und eine viereckige, blaue Keramikdose, deren Deckel daneben lag. Frau Macura schnappte sich die Dose, legte den Deckel auf und stellte sie hastig in einen Schrank, in dem weitere Dosen in zwei Dutzend verschiedenen Farben und Schattierungen standen.

»Setzt Euch bitte«, sagte sie und goß ihnen Tee ein. »Bitte sehr.«

Nynaeve setzte sich auf einen Stuhl mit Sprossenrücklehne neben Elayne, und die Näherin stellte die Tassen vor sie hin und eilte zu einem der Schränke, um Zinnlöffel hervorzuholen.

»Die Botschaft?« forderte Nynaeve, als sich die Frau ihnen gegenüber hinsetzte. Frau Macura war zu nervös, um die eigene Tasse zu berühren, also rührte Nynaeve ein wenig Honig in ihre und nippte daran. Er war heiß, schmeckte aber irgendwie kühl und erfrischend wie Pfefferminz. Heißer Tee würde vielleicht die Nerven der Frau beruhigen, falls man sie zum Trinken brachte.

»Ein angenehmer Geschmack«, murmelte Elayne über den Rand ihrer Tasse hinweg. »Welche Sorte Tee ist das denn?«

Gutes Mädchen, dachte Nynaeve.

Doch die Hand der Näherin zitterte lediglich neben der Tasse. »Ein Tee aus Tarabon. Aus der Nähe der Schattenküste.«

Seufzend nahm Nynaeve einen weiteren Schluck, um ihren eigenen Magen zu beruhigen. »Eure Botschaft«, sagte sie eindringlich. »Ihr habt dieses Signal ja nicht hinausgehängt, um uns zum Tee einzuladen. Was sind denn nun Eure dringenden Neuigkeiten?«

»Ach ja.« Frau Macura fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, musterte sie beide, und dann sagte sie bedächtig: »Das ist vor beinahe einem Monat durchgekommen und damit auch der Auftrag, es jeder Schwester unter allen Umständen mitzuteilen, die hier im Ort auftaucht.« Sie befeuchtete erneut ihre Lippen. »Alle Schwestern werden gebeten, zur Weißen Burg zurückzukehren. Die Burg muß vollständig besetzt und stark sein.«

Nynaeve wartete auf den Rest, aber die andere Frau schwieg. Und das sollte die dringende Nachricht sein? Sie blickte zu Elayne hinüber, doch das Mädchen schien unter der Hitze zu leiden. Sie saß zusammengesackt auf ihrem Stuhl und betrachtete ihre auf dem Tisch liegenden Hände. »Ist das alles?« wollte Nynaeve wissen und war überrascht, als sie sich beim Gähnen ertappte. Die Hitze machte wohl jetzt auch ihr zu schaffen.

Die Näherin beobachtete sie nur eindringlich.

»Ich sagte«, begann Nynaeve, doch plötzlich war ihr Kopf einfach zu schwer für ihren Hals. Elaynes Kopf war auf die Tischplatte gesunken, wie ihr noch bewußt wurde. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen und ihre Arme hingen schlaff herab. Nynaeve blickte in plötzlichem Erschrecken die Tasse in ihren Händen an. »Was habt Ihr uns gegeben?« fragte sie mit schwerer Zunge. Der Pfefferminzgeschmack war immer noch zu spüren, doch ihre Zunge schien angeschwollen zu sein. »Sagt es mir!« Sie ließ die Tasse fallen und stützte sich auf den Tisch. Ihre Knie bebten. »Das Licht soll Euch versengen. Was war es?«

Frau Macura schob ihren Stuhl zurück und trat aus ihrer Reichweite. Aus der früheren Nervosität war jetzt ein Blick voll gelassener Zufriedenheit geworden.

Schwärze rollte über Nynaeve hinweg. Das letzte, was sie hörte, war die Stimme der Näherin: »Fang sie auf, Luci!«

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