42 Vor dem Pfeil

Die Innenseite eines Zeltdachs dürfte wohl der langweiligste Anblick der Welt sein, aber trotzdem legte sich Mat in Hemdsärmeln auf den Kissen mit roten Quasten zurück, die Melindhra erworben harte, und musterte den graubraunen Stoff eingehend. Oder genauer, er blickte durch ihn hindurch. Einen Arm hatte er hinter dem Kopf, und in der freien Hand schwenkte er einen gehämmerten Silberpokal voll guten Weins aus dem Süden Cairhiens. Ein kleines Faß hatte ihn genausoviel gekostet wie zwei gute Pferde — oder soviel, wie zwei gute Pferde gekostet hätten, stünden nicht die Welt und alles darin kopf —, er aber betrachtete es als geringen Preis für etwas wirklich Gutes. Gelegentlich spritzten ein oder zwei Tropfen auf seine Hand, doch er bemerkte es nicht und trank auch überhaupt nicht.

So, wie er es sah, war die Lage mittlerweile für ihn mehr als nur ernst zu nennen. Ernst war sie gewesen, als er noch in der Wüste festsaß, ohne den Weg hinaus zu finden. Ernst war sie, als Schattenfreunde überall auftauchten, wo er sie am wenigsten erwartet hatte, wenn Trollocs in der Nacht angriffen und gelegentlich Myrddraal ihm das Blut mit ihrem augenlosen Blick in den Adern gefrieren ließen. Diese Art von Gefahr erschien schnell und war gewöhnlich vorüber, bevor man überhaupt eine Gelegenheit zum Nachdenken bekam. Es war auch sicher nichts, was er von sich aus suchte, aber wenn es sein mußte, konnte er damit leben, soweit er es überlebte. Aber jetzt wußte er bereits seit Tagen, wohin sie zogen und warum. Diesmal gab es nichts Überraschendes. Tage, um darüber nachzudenken.

Ich bin kein verdammter Held, dachte er grimmig, und ich bin kein verdammter Soldat. Wild entschlossen unterdrückte er eine Erinnerung daran, über Festungsmauern zu wandeln und seine letzten Reserven an einen Punkt zu schicken, an dem eine weitere Gruppe Trollocs mit Leitern die Mauer zu erklimmen versuchten. Das war ich nicht, und verdammt sei der, dessen Erinnerungen ich herumschleppe! Ich bin... Er wußte selbst nicht, was er war — ein unangenehmer Gedanke —, aber was er auch sein mochte, hatte immer mit Spielen zu tun, mit Tavernen, Frauen und Tanz. Dessen war er sicher. Außerdem brauchte er nur ein gutes Pferd, dann standen ihm alle Straßen der Welt offen; statt dessen saß er hier und wartete darauf, daß irgend jemand Pfeile auf ihn abschoß oder sich nach besten Kräften bemühte, ihm ein Schwert oder einen Speer in die Rippen zu rammen. Wäre es anders, müßte er sich als reinen Narren betrachten, und den wollte er auf keinen Fall spielen, nicht für Rand oder Moiraine oder sonst jemanden.

Als er sich aufsetzte, rutschte das silberne Medaillon in Form eines Fuchskopfes an seiner Lederschnur aus dem offenen Hemd. Er steckte es zurück und nahm dann doch endlich einen langen Zug aus dem Pokal. Das Medaillon sorgte dafür, daß er vor Moiraine und jeder anderen Aes Sedai sicher war, solange sie es ihm nicht abnahmen — was irgendwann die eine oder andere bestimmt versuchen würde —, aber nur sein eigener Verstand konnte ihn davor bewahren, von irgendeinem Idioten zusammen mit ein paar tausend anderer Idioten umgebracht zu werden. Oder von Rand, oder von der Tatsache, daß er ein Ta'veren war.

Ein Mann sollte doch in der Lage sein, Profit daraus zu schlagen, wenn sich die Ereignisse um ihn herum durch seinen Einfluß veränderten. Auf gewisse Weise hatte Rand es ausgenützt. Er selbst hatte an sich nie etwas davon bemerkt, außer beim Würfelspiel. Er würde sich vor einigen der Dinge bestimmt nicht drücken, die in den Legenden einem Ta'veren passierten. Reichtum und Ruhm fielen ihm buchstäblich in den Schoß, Männer, die ihn töten wollten, entschieden sich plötzlich, ihm statt dessen als Anführer zu folgen, und Frauen mit Eis im Blick schmolzen plötzlich vor ihm dahin.

Nicht, daß er sich wirklich über das beklagte, was er erreicht hatte. Und ganz bestimmt wollte er mit Rand nicht tauschen, denn der Preis, an diesem Spiel teilzunehmen, war ihm einfach zu hoch. Es lag eben nur daran, daß er mit allen Nachteilen behaftet war, die mit der Rolle eines Ta'veren einhergingen, aber keinen der Vorteile genoß.

»Es ist Zeit, zu gehen«, sagte er dem leeren Zelt, und dann schwieg er nachdenklich und nippte an dem Pokal. »Es ist an der Zeit, auf Pips zu steigen und davonzureiten. Vielleicht nach Caemlyn?« Keine schlechte Stadt, solange er den königlichen Palast mied. »Oder nach Lugard.« Er hatte Gerüchte über Lugard gehört. Das sollte ein feiner Aufenthaltsort für Männer wie ihn sein. »Es ist höchste Zeit, mich von Rand abzusetzen. Er hat ein verdammtes Aielheer und mehr Töchter des Speers, als er zählen kann, die sich um ihn kümmern. Er braucht mich nicht.«

Das letztere entsprach nicht ganz der Wahrheit. Auf eine seltsame Art und Weise war er an den Erfolg oder Mißerfolg Rands in Tarmon Gai'don gebunden, Perrin und er, genauer gesagt, also drei Ta'veren, die alle miteinander verstrickt waren. Die Geschichtsschreiber würden eines Tages vermutlich nur Rand erwähnen. Die Chance, daß er oder Perrin Eingang in deren Erzählungen finden würden, war ziemlich gering. Und dann war ja da noch das Horn von Valere. Darüber wollte und würde er nicht nachdenken. Nicht, bevor es nicht unabdingbar notwendig war. Vielleicht gab es auch noch einen Ausweg aus diesem speziellen Dilemma. Wie er es auch betrachtete, das Horn war jedenfalls im Moment kein Problem. Das hatte noch viel Zeit. Mit etwas Glück würde man ihm all diese Rechnungen erst eines sehr fernen Tages präsentieren. Nur würde er wahrscheinlich mehr Glück brauchen, als ihm gegeben war.

Der springende Punkt in diesem Augenblick war, daß er über eine Abreise hatte nachdenken können, ohne Gewissensbisse zu empfinden. Es war noch nicht lange her, daß er unfähig gewesen war, auch nur davon zu sprechen. Wenn er sich zu weit von Rand entfernte, fühlte er sich zu ihm zurückgezogen wie ein Fisch an einer unsichtbaren Angel. Dann wurde es ihm möglich, es wenigstens auszusprechen, doch die kleinste Kleinigkeit brachte ihn wieder davon ab und ließ ihn alle Pläne, sich heimlich davonzustehlen, verschieben. Sogar in Rhuidean, als er Rand erklärt hatte, er werde gehen, war er sicher gewesen, daß noch etwas dazwischenkommen würde. Das war auch auf gewisse Weise so gekommen; Mat war wohl aus der Wüste herausgelangt, aber nicht weiter von Rand entfernt als zuvor. Diesmal aber, so glaubte er, würde ihn nichts mehr davon abbringen.

»Es ist doch nicht so, daß ich ihn im Stich ließe«, knurrte er. »Wenn er verdammt noch mal jetzt noch nicht auf sich selbst aufpassen kann, dann wird er es nie lernen. Ich bin doch nicht sein verfluchtes Kindermädchen.«

Er leerte den Pokal, zwängte sich in seinen grünen Mantel, steckte seine Messer in die verborgenen Scheiden, legte sich einen dunkelgelben Seidenschal so um den Hals, daß die Narbe, wo man ihn aufgehängt hatte, verdeckt war, schnappte sich seinen Hut und ging gebückt aus dem niedrigen Zelt.

Die Hitze erschlug ihn fast nach der relativen Kühle im schattigen Zelt. Er war nicht sicher, wie sich die Jahreszeiten hier entwickelten, doch der Sommer zog sich für seinen Geschmack schon zu lange hin. Etwas, auf das er sich in der Wüste gefreut hatte, war der Einbruch des Herbstes in den Ländern jenseits der Drachenmauer. Ein wenig Kühle. Kein Glück gehabt.

Wenigstens hielt die breite Hutkrempe die schlimmste Sonnenglut von seinen Augen ab. Diese hügeligen Wälder in Cairhien waren bedauernswert: mehr Lichtungen als Bäume, und die Hälfte färbte sich bei dieser Trockenheit bereits braun. Zu Hause im Westwald würde sich noch kein brauner Fleck zeigen. Überall standen die niedrigen Aielzelte, doch auf eine gewisse Entfernung wirkten sie wie ein Haufen abgestorbener Blätter oder eine kahle Bodenerhebung, und selbst da, wo man die Seitenwände hochgezogen hatte, waren sie nur schwer zu erkennen. Die Aiel, die geschäftig umherliefen, beachteten ihn nicht weiter.

Von einer hochgelegenen Stelle auf seinem Weg durch das Lager aus erhaschte er einen Blick auf Kaderes Wagen, die im Kreis aufgestellt worden waren. Die Fahrer lagen im Schatten unter ihren Gefährten, und der Händler war nirgends zu sehen. Kadere blieb immer häufiger in seinem Wohnwagen und steckte kaum noch die Nase heraus, außer wenn Moiraine kam, um die Ladung zu inspizieren. Die Aiel, die seine Wagen in kleinen Gruppen mit Speer und Schild, Bogen und Köcher bewehrt umstanden, bemühten sich gar nicht, etwas anderes als Wachtposten darstellen zu wollen. Moiraine schien zu glauben, Kadere oder einige seiner Männer würden versuchen, sich mit den aus Rhuidean stammenden Gegenständen heimlich davonzumachen. Mat fragte sich, ob Rand überhaupt bewußt sei, daß er ihr alles gab, was sie von ihm wollte. Eine Zeitlang hatte Mat geglaubt, Rand habe endlich die Oberhand gewonnen, aber da war er sich nun nicht mehr sicher, selbst als Moiraine beinahe noch vor Rand geknickst und ihm die Pfeife herbeigetragen hätte.

Rands Zelt stand natürlich allein für sich auf einer Hügelkuppe, und diese rote Flagge hing an ihrem Mast davor. Sie flatterte in der leichten Brise, und dabei breitete sie sich manchmal so weit aus, daß man die schwarzweiße Scheibe erkennen konnte. Das Ding jagte Mat genauso eine Gänsehaut ein wie vorher das Drachenbanner. Wenn ein Mann es vermeiden wollte, in Angelegenheiten der Aes Sedai verwickelt zu werden, so wie jeder Mann, der nicht gerade ein Idiot war, war es eigentlich das Allerletzte, ausgerechnet mit diesem Sinnbild herumzuwedeln.

Die Abhänge dieses Hügels waren leer, doch um seinen Fuß zog sich ein Ring von Zelten der Töchter des Speers. Weitere standen zwischen den Bäumen an den Hängen der unmittelbaren Umgebung. Auch das war ganz normal, genau wie das Lager der Weisen Frauen innerhalb jenes der Far Dareis Mai: Dutzende niedriger Zelte in Rufweite von Rands Hügel, zwischen denen weißgekleidete Gai'schain geschäftig umhereilten.

Nur wenige der Weisen Frauen waren gerade zu sehen, doch das machten sie durch die kritischen Blicke wett, die sie ihm zuwarfen. Er hatte keine Ahnung, wie viele aus dieser Gruppe die Macht benützen konnten, aber wenn es um abwägende und abschätzende Blicke ging, standen sie den Aes Sedai in nichts nach. Er schritt schneller voran und bemühte sich, die Schultern nicht einzuziehen, obwohl er sich nicht gerade wohl fühlte. Er spürte ihre Blicke, als bohre sich ein Stock in seinen Rücken. Und auf dem Rückweg würde sich das ganze Spießrutenlaufen wiederholen. Nun, ein paar Worte mit Rand, und dann mußte er sich das zum letztenmal gefallen lassen.

Als er den Hut abnahm, sich duckte und in Rands Zelt trat, befand sich niemand darin außer Natael, der auf den Kissen saß, die vergoldete, drachenbeschnitzte Harfe ans Knie gelehnt hatte und einen goldenen Kelch in der Hand hielt.

Mat schnitt eine Grimasse und fluchte leise. Das hätte er eigentlich wissen müssen. Falls Rand anwesend wäre, hätte er einen Kreis von Töchtern rund um das Zelt passieren müssen. Höchstwahrscheinlich befand er sich oben auf dem neuerbauten Turm. Das war eine gute Idee gewesen. So konnte man das Terrain besser kennenlernen. Das war so etwas wie die zweite Grundregel, die gleich nach der ersten kam: ›Lerne Deinen Feind kennen. ‹ Die beiden Regeln nahmen sich nicht viel.

Der Gedanke stieß ihm schon wieder säuerlich auf. Diese Regeln stammten aus den Erinnerungen anderer Männer. Die einzigen Regeln, an die er sich erinnern wollte, waren: ›Küsse nie ein Mädchen, dessen Brüder Narben von Messerschnitten aufweisen‹, und: ›Fange nie ein Würfelspiel an, ohne vorher den Hinterausgang erkundet zu haben‹. Es wäre ihm lieber gewesen, diese fremden Erinnerungen hingen noch immer wie Klumpen in seinem Gedächtnis, anstatt sich in seine Gedanken einzuschleichen, wenn er es am wenigsten erwartete.

»Schwierigkeiten mit einem sauren Magen?« fragte Natael träge. »Vielleicht hat eine der Weisen Frauen eine Wurzel, die das heilt. Oder Ihr könntet Moiraine fragen.«

Mat konnte den Mann nicht leiden; er schien immer einen Scherz auf Kosten anderer auf den Lippen zu haben. Und er sah stets aus, als kümmerten sich mindestens drei Diener um seine Kleidung. Ständig diese schneeweißen Spitzen an Kragen und Manschetten, und immer schien alles gerade frisch gewaschen und gebügelt worden zu sein. Der Kerl schien auch niemals zu schwitzen. Warum Rand ihn ständig um sich hatte, war ihm ein Rätsel. Er spielte auch kaum jemals eine fröhliche Melodie auf seiner Harfe. »Wird er bald zurück sein?«

Natael zuckte die Achseln. »Wann er sich eben dazu entschließt. Vielleicht bald, vielleicht auch später. Kein Mann schreibt dem Lord Drachen die Zeit vor. Und nur wenige Frauen.« Da war es wieder, dieses geheimnisvolle Lächeln. Diesmal etwas düster gefärbt.

»Ich werde warten.« Diesmal wollte er das tatsächlich. Er hatte sich schon zu oft dabei ertappt wie er auf diese Weise seine Abreise ein weiteres Mal hinausschob.

Natael nippte an seinem Wein und musterte ihn über den Rand des Kelches hinweg.

Es war schon schlimm genug, wenn ihn Moiraine und die Weisen Frauen auf diese schweigende, forschende Art anblickten — manchmal machte es Egwene genauso; sie hatte sich sehr geändert, zur Hälfte Weise Frau und zur Hälfte Aes Sedai —, aber bei Rands Gaukler ließ ihn dieser Blick mit den Zähnen knirschen. Das Beste an einem Abschied wäre sicher, daß niemand ihn mehr ansehen würde, als könne er oder sie innerhalb einer Minute ablesen, was er dachte, oder als wisse derjenige bereits im ersten Moment, ob seine Unterwäsche sauber sei.

Zwei Landkarten lagen ausgebreitet in der Nähe der Feuergrube. Die eine, in allen Einzelheiten von einer zerfledderten Karte abgezeichnet, die sie in einer halb niedergebrannten Ortschaft gefunden hatten, zeigte das nördliche Cairhien von westlich des Alguenya bis halbwegs zum Rückgrat der Welt, während die andere — frisch gezeichnet und recht skizzenhaft — die Umgebung der Stadt darstellte. Auf beiden lagen eine Reihe von Pergamentfetzen, die durch kleine Steinchen festgehalten wurden. Wenn er hierbleiben und gleichzeitig Nataels forschenden Blicken entgehen wollte, mußte er sich wohl oder übel mit diesen Landkarten beschäftigen.

Mit der Spitze eines Stiefels verschob er ein paar Steinchen auf der Karte der Stadt und ihrer Umgebung, damit er lesen konnte, was auf den Pergamentfetzen geschrieben stand. Unwillkürlich fuhr er zusammen. Falls die Aiel-Kundschafter recht hatten, verfügte Couladin über beinahe einhundertundsechzigtausend Speere, Shaido und diejenigen, die sich wohl ihren Kriegergemeinschaften unter den Shaido angeschlossen hatten. Das war eine harte Nuß, die sie zu knacken hatten, und schwierig war die Lage außerdem. Auf dieser Seite des Rückgrats der Welt hatte es seit der Zeit Artur Falkenflügels kein so großes Heer mehr gegeben.

Die zweite Karte zeigte die anderen Clans, die die Drachenmauer überquert hatten. Alle befanden sich mittlerweile hier in Positionen, die damit zu tun hatten, wann sie den Jangai verlassen hatten und ausgeschwärmt waren, doch alle unangenehm nahe ihrer eigenen Stellung. Die Shiande, die Codarra, die Daryne und die Miagoma. Zusammengenommen verfügten sie über etwa genauso viele Speere wie Couladin. Wie es aussah, hatten sie nicht viele Clanmitglieder zurückgelassen. Die sieben Clans unter Rands Führung hatten bestimmt doppelt so viele Mitglieder und konnten sich problemlos mit Couladin oder den vier Clans messen. Entweder, oder. Aber nicht mit beiden gleichzeitig. Und doch konnte es geschehen, daß Rand gleichzeitig mit beiden Seiten zu tun bekam.

Was die Aiel als die ›Trostlosigkeit‹ bezeichneten, mußte wohl auch diese Clans betroffen haben. Noch immer warfen jeden Tag einige Männer ihre Waffen hin und verschwanden. Doch nur ein Narr hätte darauf gezählt, daß dies deren Anzahl stärker beeinträchtigte als die der Anhänger Rands. Und es bestand ja durchaus die Möglichkeit, daß einige von ihnen zu Couladin überliefen. Die Aiel sprachen nicht oft und nicht freimütig genug darüber und verbargen den Gedanken an diese unangenehme Möglichkeit hinter Gesprächen über die Kriegergemeinschaften, doch nach wie vor kamen manche Männer und Töchter zu dem Schluß, daß sie weder Rands Führung noch das, was er ihnen über ihre eigene Geschichte erzählt hatte, zu akzeptieren vermochten. Jeden Morgen fehlten wieder einige, und nicht alle ließen die Speere zurück.

»Eine nette Situation, nicht wahr?«

Mats Kopf fuhr hoch, als Lans Stimme erklang, aber der Behüter war allein in das Zelt eingetreten. »Nur etwas, um mir die Wartezeit zu vertreiben. Kommt Rand zurück?«

»Er wird bald bei uns sein.« Lan hatte die Daumen in seinen Schwertgürtel eingehakt, stand neben Mat und blickte auf die Karte hinab. Sein Gesichtsausdruck verriet genausoviel wie der einer Statue. »Der morgige Tag sollte die größte Schlacht seit der Zeit Artur Falkenflügels bringen.«

»Glaubt Ihr wirklich?« Wo war Rand? Womöglich immer noch auf diesem Turm. Vielleicht sollte er hingehen. Nein, das könnte damit enden, daß er ihm durch das ganze Lager hinterherrannte, immer einen Schritt zu spät. Irgendwann würde Rand schon zurückkehren. Er wollte mit ihm noch über etwas anderes als über Couladin sprechen. Ich habe nichts mit diesem Kampf zu tun. Ich renne nicht vor etwas davon, was mich nicht im geringsten betrifft. »Wie steht es mit denen?« Er deutete auf vier Fetzen, die die Miagoma und die anderen darstellen sollten. »Irgendeine Nachricht, ob sie vorhaben, sich Rand anzuschließen, oder wollen sie nur da hocken und zuschauen?«

»Wer weiß das schon? Rhuarc scheint genausowenig Ahnung davon zu haben wie ich, und falls die Weisen Frauen etwas wissen, sagen sie es nicht. Das einzige, was wir sicher wissen, ist die Tatsache, daß Couladin nirgendwohin weiterzieht.«

Wieder Couladin. Mat trat nervös von einem Fuß auf den anderen und machte dann einen halben Schritt auf den Ausgang zu. Nein, er würde warten. So richtete er den Blick fest auf die Landkarten und tat so, als studiere er sie wieder genau. Vielleicht würde ihn Lan in Ruhe lassen. Er wollte doch nur Rand sagen, was er auf dem Herzen hatte, und dann gehen. Der Behüter schien sich aber unterhalten zu wollen. »Was denkt Ihr, Meister Gaukler? Sollen wir morgen Couladin mit allen Kräften angreifen, die wir zu Verfügung haben, und ihn so vernichten?«

»Das klingt in meinen Ohren genauso gut wie jeder andere Plan«, erwiderte Natael mürrisch. Er kippte den Inhalt des Kelchs auf einmal herunter, ließ ihn auf den Teppich fallen, nahm seine Harfe auf und begann, eine düstere Melodie zu zupfen, die auch auf eine Beerdigung gepaßt hätte. »Ich führe keine Heere, Behüter. Ich beherrsche niemanden außer mir selbst, und sogar das nicht immer.«

Mat knurrte, und Lan blickte ihn an, bevor er sich wieder dem Studium der Karte zuwandte. »Ihr haltet es nicht für einen guten Plan? Warum nicht?«

Er sagte das so nebensächlich, daß Mat antwortete, ohne weiter nachzudenken: »Zwei Gründe. Wenn Ihr Couladin umstellt und ihn zwischen Euch und der Stadt einschließt, könntet Ihr ihn vielleicht gegen die Stadtmauer drängen und vernichten.« Wie lange brauchte Rand denn noch? »Aber Ihr drängt ihn möglicherweise auch über die Stadtmauer ins Innere. Demzufolge, was ich gehört habe, wäre er schon zweimal beinahe durchgebrochen, und das ohne Tunnelbauer oder Belagerungsmaschinen, und die Stadt hält sich nur noch mit äußerster Mühe.« Einfach seinen Spruch aufsagen und gehen: das war das Richtige. »Wenn Ihr ihn mit aller Macht gegen die Stadt treibt, werdet Ihr euch plötzlich dabei ertappen, daß Ihr mitten in Cairhien kämpft. Das ist eine ziemlich tückische Angelegenheit, Straßenkämpfe in einer Stadt. Und außerdem wollt Ihr ja die Stadt retten und sie nicht vielmehr endgültig in Schutt und Asche legen.« Das ging alles so klar und deutlich aus den Pergamentfetzen auf der Karte und aus der Karte selbst hervor.

Er hockte sich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, stirnrunzelnd nieder. Lan hockte sich neben ihn, aber er bemerkte es kaum. Ein verwürfeltes Problem. Und faszinierend dazu. »Am besten versucht Ihr, ihn wegzutreiben. Vor allem müßt Ihr von Süden aus zuschlagen.« Er deutete auf den Gaelin, der ein paar Meilen nördlich der Stadt in den Alguenya mündete. »Hier oben gibt es Brücken. Gebt den Shaido den Weg dorthin frei. Laßt ihnen immer einen Fluchtweg offen, es sei denn, Ihr wollt wirklich herausfinden, wie hart ein Mann kämpfen kann, wenn er keinen Ausweg mehr sieht und nichts mehr zu verlieren hat.« Sein Finger bewegte sich nach Osten zu. Zumeist fand man dort bewaldete Hügel, wie es schien. Wahrscheinlich nicht viel anders als hier, wo sie lagerten. »Wenn Ihr ihnen mit einer Abfangtruppe genau hier auf dieser Seite des Flusses den Weg blockiert, geht Ihr sicher, daß sie sich den Brücken zuwenden. Die Truppe muß nur stark genug sein und an der richtigen Stelle warten. Sobald sie einmal in Bewegung sind, hat Couladin kein großes Interesse daran, auch noch gegen jemanden von vorn zu kämpfen, während Ihr von hinten her angreift.« Ja. Beinahe die gleiche Lage wie bei Jenje. »Jedenfalls, wenn er nicht gerade ein kompletter Idiot ist. Sie schaffen vielleicht einen geordneten Rückzug bis zum Fluß, doch diese Brücken werden zu einem Engpaß. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ausgerechnet Aiel hinüberschwimmen oder im Fluß nach Übergängen suchen werden. Drängt weiter mit aller Macht nach und treibt sie hinüber. Mit Glück könnt Ihr sie dann endgültig in die Flucht schlagen und zurück in die Berge treiben.« Das war auch ähnlich wie bei den Cuaindaigh-Furten, in der letzten Phase der Trolloc-Kriege, und es spielte sich sogar ungefähr im gleichen Maßstab ab. Und es war auch kein großer Unterschied zu den Tora Shan. Oder dem Sulmein-Paß, bevor Falkenflügel nicht mehr zu bremsen war. Die Namen zuckten ihm durch den Kopf und die Bilder blutiger Schlachtfelder, die mittlerweile selbst bei den Historikern in Vergessenheit geraten waren. Da er so vollständig in den Anblick der Karten versunken war, kamen ihm diese Erinnerungen wie die eigenen vor. »Zu schade, daß Ihr nicht mehr Kavallerie habt. Leichte Kavallerie ist am besten, wenn man einen Gegner vertreiben will. Beißt an den Flanken zu, haltet sie immer in Bewegung und laßt sie niemals stillstehen, um sich zum Kampf zu stellen. Na ja, Aiel sollten das fast genausogut können.«

»Und der andere Grund?« fragte Lan ruhig.

Nun war Mat völlig gefesselt. Er war sowieso ein echter Spielertyp, und eine Schlacht war ein Spiel, gegen das auch das schönste Würfelspiel in einer Taverne wie eine Beschäftigung für Kinder und zahnlose Greise erschien. Hier standen Menschenleben auf dem Spiel, die der eigenen Männer und die anderer. Setze den falschen Einsatz, wage eine törichte Wette, und Städte oder ganze Länder starben. Nataels düsterernste Musik war die passende Begleitung. Gleichzeitig aber brachte ihm ein solches Spiel das Blut zum Wallen, so begeisterte es ihn.

Ohne den Blick von der Karte zu wenden, schnaubte er. »Den kennt Ihr genauso gut wie ich. Wenn nur einer dieser Clans beschließt, sich Couladin anzuschließen, dann greifen Sie Euch von hinten an, während Ihr noch alle Hände voll mit Couladin zu tun habt. Dann wird Couladin zum Amboß, und sie werden zum Hammer, während ihr die Nuß seid, die dazwischen liegt. Deshalb nehmt nur die Hälfte Eurer Truppen, um gegen Couladin zu kämpfen. Das macht Euch zu gleichstarken Gegnern, aber es wird Euch nicht viel anderes übrigbleiben.« Es gab im Krieg einfach keine Fairneß. Da griff man eben den Feind von hinten an, wenn er es am wenigsten erwartete und zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, wo er am schwächsten war. »Ihr habt trotzdem noch einen taktischen Vorteil. Er muß sich Gedanken darüber machen, daß gleichzeitig aus der Stadt heraus ein Ausfall erfolgt. Die andere Hälfte Eurer Truppen teilt Ihr in drei Gruppen auf. Eine braucht Ihr, um Couladin zum Fluß zu drängen, und die anderen beiden stellt Ihr ein paar Meilen voneinander entfernt zwischen die Stadt und die vier Clans.«

»Sehr geschickt«, sagte Lan und nickte. Dieses anscheinend aus Fels gehauene Gesicht änderte seinen Ausdruck nicht, doch in seiner Stimme lag ein Hauch von Anerkennung, wenn auch fast nicht wahrzunehmen. »Es würde keinem Clan etwas bringen, einen der beiden Truppenteile anzugreifen, besonders deshalb nicht, weil ihm der andere inzwischen in den Rücken fallen könnte. Und aus dem gleichen Grund wird keiner in die Kämpfe in der unmittelbaren Umgebung der Stadt eingreifen. Natürlich könnte es sein, daß alle vier Clans angreifen. Nicht sehr wahrscheinlich, sonst hätten sie es wohl schon getan, aber falls das geschieht, ändert sich die Lage vollständig.«

Mat lachte laut auf. »Alles ändert sich ständig. Der beste Plan gilt nur so lange, bis der erste Pfeil den Bogen verläßt. Dieser ist so leicht zu durchschauen, daß auch ein Kind ihn durchführen könnte, nur wissen eben Indirian und die anderen nicht, was sie wollen. Sollten sie sich alle entschließen, zu Couladin überzulaufen, dann laßt die Würfel rollen und hofft, denn der Dunkle König hat seine Hände im Spiel. Ihr habt dann aber wenigstens so viele Männer außerhalb der Stadt bereitstehen, daß sie ihnen an Stärke beinahe gleichkommen. Genügend, um sie so lange hinzuhalten, wie Ihr benötigt. Sobald er wirklich ganz mit der Überquerung des Gaelin beschäftigt ist, gebt Ihr Couladins Verfolgung auf und werft statt dessen alles ihnen entgegen. Doch ich könnte wetten, daß sie abwarten und beobachten werden, und wenn Ihr Couladin besiegt habt, werden sie sich Euch anschließen. Ein Sieg beendet fast jede Unschlüssigkeit in den Hirnen der meisten Menschen.«

Die Musik war verklungen. Mat blickte zu Natael hinüber und stellte fest, daß der Mann erstarrt seine Harfe umkrampfte und ihn darüber hinweg mit starrem Blick fixierte. Der Mann starrte ihn an, als habe er ihn noch nie zuvor gesehen und wisse nicht, was er war. Die Augen des Gauklers schienen wie aus frisch geputztem Glas, und seine Knöchel hatten sich vor Anstrengung über dem vergoldeten Rahmen seiner Harfe weiß verfärbt.

Und damit wurde ihm schlagartig alles bewußt, was er gesagt hatte und die Erinnerungen, aus denen er geschöpft hatte. Verdammt sollst du Narr sein! Kannst den Mund einfach nicht halten! Warum mußte Lan auch die Unterhaltung in diese Richtung steuern? Warum konnte er nicht mit ihm über Pferde sprechen, oder das Wetter, oder einfach den Mund halten? Bisher hatte der Behüter noch nie den Eindruck erweckt, daß er sich unbedingt mit ihm unterhalten wolle. Gewöhnlich erschien diesem Mann gegenüber selbst ein Baum noch geschwätzig. Natürlich hätte er auch selbst darauf kommen können, sich auf den Zweck seines Hierseins zu besinnen und den Mund zu halten. Nun, wenigstens hatte er nicht wieder in der Alten Sprache gesprochen. Blut und Asche, hoffentlich habe ich das wirklich nicht!

So sprang Mat nun auf und wandte sich zum Zelteingang, durch den aber gerade in diesem Moment Rand eingetreten zu sein schien. Er hielt den eigenartigen verkürzten Speer mit den Troddeln in Händen und drehte ihn geistesabwesend hin und her. Sollte er schon länger dort gestanden haben? Es spielte keine Rolle. Mat sprudelte alles in einem Atemzug heraus, was er sich zu sagen vorgenommen hatte. »Ich gehe weg, Rand. Beim ersten Tageslicht morgen bin ich im Sattel und weg. Ich würde noch in dieser Minute abreiten, wenn ich an einem halben Tag weit genug käme. Ich habe vor, so viele Meilen wie nur möglich zwischen mich und die Aiel — alle Aiel — zu bringen, wie Pips nur zurücklegen kann, bevor wir rasten müssen.« Es kam überhaupt nicht in Frage, einen Rastplatz zu suchen, wo ihn die Kundschafter irgendeiner Seite schnappen und zum Trocknen aufhängen könnten. Couladin hatte sicher welche ausgesandt, und selbst die eigenen hier erkannten ihn vielleicht erst, wenn er schon einen Speer in der Leber stecken hatte.

»Es tut mir sehr leid, wenn du gehst«, sagte Rand leise.

»Versuche nicht, mich davon abzubrin...« Mat riß die Augen auf. »Das ist alles? Es tut dir leid, wenn ich gehe?«

»Ich habe nie versucht, dich zum Bleiben zu zwingen, Mat. Perrin ging, als er dies mußte, und du kannst das auch.«

Mat öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Rand hatte nie versucht, ihn zum Bleiben zu zwingen, das stimmte. Er hatte es einfach geschafft, ohne sich darum zu bemühen. Aber jetzt fühlte er überhaupt nichts von der Abhängigkeit eines Ta'veren, nicht einmal das vage Gefühl, einen Fehler zu begehen. Er war standhaft und hatte nur ein klares Ziel vor Augen.

»Wohin willst du ziehen?«

»Nach Süden.« Nicht, daß er eine große Auswahl gehabt hätte. Die anderen Richtungen würden ihn entweder zum Gaelin führen, und nördlich des Flusses gab es nichts, was ihn interessierte, oder den Aiel in die Arme, von denen ihn die einen ganz bestimmt töten würden und die anderen vielleicht, je nachdem, wie nahe sich Rand befand und was sie am letzten Abend gegessen hatten. Soweit er das beurteilen konnte, blieben ihm nicht allzu viele Chancen. »Anfangs jedenfalls. Dann wird schon irgendwo eine Taverne stehen, und es wird Frauen geben, die nicht gerade Speere schwenken.« Melindhra. Sie würde ein Problem darstellen. Er hatte das Gefühl, sie sei die Art von Frau, die nicht lockerließ, bis sie selbst genug hatte. Nun, er würde sich so oder so damit auseinandersetzen müssen. Vielleicht sollte er einfach losreiten, bevor sie etwas merkte. »Das hier ist nichts nur mich, Rand. Ich verstehe nichts von Schlachten, und ich will auch gar nichts davon wissen.« Er vermied jeden Blick in Richtung Lan oder Natael. Wenn einer von beiden sich auch nur rührte, würde er ihm eine aufs Maul verpassen. Sogar dem Behüter. »Das verstehst du doch, oder?«

Rands Nicken konnte durchaus Verständnis bedeuten. Möglicherweise. »Wenn ich du wäre, würde ich vergessen, Egwene auf Wiedersehen zu sagen. Ich bin mir nicht mehr sicher, wieviel von dem, was ich ihr sage, letztendlich bei Moiraine oder den Weisen Frauen oder bei beiden landet.«

»Zu diesem Schluß bin ich auch vor einiger Zeit gekommen. Sie hat sich weiter von Emondsfeld entfernt als jeder andere von uns. Und sie bereut es weniger als wir.«

»Vielleicht«, sagte Rand traurig. »Das Licht leuchte dir, Mat«, fügte er hinzu und streckte die Hand aus, »und gebe dir gerade Straßen, gutes Wetter und angenehme Gesellschaft, bis wir uns Wiedersehen.«

Falls es nach Mat ging, würde das eine Weile dauern. Das machte ihn selbst ein wenig traurig. Außerdem kam es ihm töricht vor, Trauer darüber zu empfinden. Ein Mann mußte schließlich selbst sehen, wo er blieb. Wenn nun alles besprochen und getan war, dann war's das wohl.

Rands Griff war so hart wie immer. All diese Schwertkämpferei und was sonst noch hatten den alten Schwielen des Bogenschützen neue hinzugefügt. Doch die harten Ränder des reiherförmigen Brandzeichens in seiner Handfläche konnte Mat trotzdem noch deutlich fühlen. Das sollte ihn nur daran erinnern, daß er die Male an den Unterarmen des Freundes und die noch eigenartigeren Dinge in seinem Kopf, die ihn die Macht lenken ließen, niemals vergaß. Wenn er schon vergaß, daß Rand die Macht benützen konnte, und daran hatte er nun tagelang nicht mehr gedacht — tagelang! —, dann war es mehr als nur höchste Zeit für ihn, zu gehen.

Sie wechselten noch ein paar verlegene Worte im Stehen. Lan schien sie zu ignorieren. Er hatte die Arme verschränkt und studierte schweigend die Landkarte, während Natael damit begonnen hatte, müßig an seiner Harfe herumzuzupfen. Mat hatte ein feines Gehör, und ihm kam die unbekannte Melodie ironisch vor. Er fragte sich, warum der Kerl ausgerechnet diese spielte. Noch ein paar Augenblicke; Rand tat einen zögernden Schritt und beendete damit das Gespräch, und dann war Mat draußen. Dort standen eine Menge Leute herum: gut hundert Töchter des Speers hatten die Hügelkuppe umstellt und gingen vor kampfbereiter Anspannung beinahe auf Zehenspitzen umher, alle sieben Clanhäuptlinge warteten geduldig und unbeweglich wie Felsblöcke, und drei tairenische Lords bemühten sich, so zu tun, als schwitzten sie nicht und als gäbe es keine Aiel.

Er hatte von der Ankunft der Lords gehört und war sogar hingegangen, um einen Blick auf ihr Lager —oder ihre Lager — zu werfen, doch es hatte sich niemand darunter befunden, den er kannte, und keiner hatte Lust auf die Würfel oder ein Kartenspielchen. Diese drei musterten ihn von oben bis unten, runzelten mißbilligend die Stirn und entschieden offensichtlich, er sei nicht besser als die Aiel, also in anderen Worten: nicht einmal wert, angeschaut zu werden.

Mat klatschte sich den Hut auf den Kopf, zog die Krempe tief über seine Augen herunter und musterte die Tairener seinerseits einen Augenblick lang kalt. Es machte ihm Spaß, zu bemerken, daß wenigstens die beiden jüngeren ihm noch einmal unangenehm berührt nachblickten, bevor er endgültig den Hügel hinabschritt.

Der Graubart wirkte immer noch so ungeduldig, als wolle er am liebsten in Rands Zelt stürmen, aber es spielte alles keine Rolle. Er würde keinen von ihnen jemals Wiedersehen.

Er hatte keine Ahnung, warum er sie nicht einfach ignoriert hatte. Nur war sein Schritt jetzt leichter und er fühlte sich beschwingt. Kein Wunder natürlich, da er morgen endlich gehen würde. Die Würfel schienen durch seinen Kopf zu wirbeln, und er konnte nicht voraussagen, wie viele Augen sie zeigen würden, wenn sie endlich still lägen. Seltsame Sache. Es mußte an Melindhra liegen, daß er sich Sorgen machte. Ja. Er würde auf jeden Fall früh aufbrechen, und zwar so leise und unauffällig wie eine Maus, die auf Zehenspitzen über Federn schleicht.

Pfeifend machte er sich zu seinem Zelt auf. Welche Melodie hatte er da eigentlich auf den Lippen? Ach, ja: ›Tanz mit dem Schwarzen Mann‹. Er hatte nicht die Absicht, mit dem Tod ein Tänzchen zu wagen, aber es klang so fröhlich, daß er trotzdem weiterpfiff, während er versuchte, den günstigsten Weg von Cairhien weg zu planen.

Rand stand noch da und blickte Mat nach, lange nachdem sich die Zeltklappe hinter ihm geschlossen hatte. »Ich habe nur den letzten Teil gehört«, sagte er schließlich. »War alles andere genauso?«

»Ja, beinahe«, antwortete Lan. »Er hatte nur ein paar Minuten Zeit, um die Karten zu betrachten, aber dann entwickelte er einen Schlachtplan ganz ähnlich dem Rhuarcs und der anderen. Er sah die Schwierigkeiten und Gefahren und fand heraus, wie man ihnen begegnen kann. Er weiß über Tunnelbauer und Belagerungsmaschinen Bescheid und wie man leichte Kavallerie benützt, um einen geschlagenen Gegner zu verjagen.«

Rand blickte ihn an. Der Behüter zeigte keine Überraschung und zuckte mit keiner Wimper. Natürlich war er derjenige gewesen, der behauptet hatte, Mat verstehe überraschend viel von militärischen Dingen. Und Lan würde keineswegs die Frage stellen, die so offensichtlich auf der Hand lag. Das war auch gut so. Rand hatte kein Recht dazu, ihm das wenige zu verraten, was er wußte.

Er hatte ja auch selbst ein paar Fragen auf der Zunge. Beispielsweise, was Tunnelbauer mit Schlachten zu tun haben sollten. Oder vielleicht betraf das auch nur Belagerungen. Wie auch die Antwort ausfallen mochte — es gab wohl kein Bergwerk, das näher als der Drachendolch gelegen hätte, und auch dort stand keineswegs fest, daß noch jemand nach Erz schürfte. Nun, diese Schlacht würde jedenfalls ohne sie stattfinden. Das wichtigste war, daß er nun wußte, daß Mat auf der anderen Seite dieses türförmigen Ter'Angreal mehr gewonnen hatte als nur die Angewohnheit, gelegentlich ohne nachzudenken in der Alten Sprache zu sprechen. Und da er das jetzt sicher wußte, würde sich Rand Mats Fähigkeiten zunutze machen.

Du mußt wirklich nicht noch härter werden, dachte er bitter. Er hatte gesehen, wie Mat zu seinem Zelt hinaufgegangen war, und hatte nicht gezögert, Lan hinunterzuschicken, um herauszufinden, was er mit ihm allein in einer ganz nebensächlichen Unterhaltung an die Oberfläche bringen könne. Es war in voller Absicht geschehen. Der Rest würde sich vielleicht bewahrheiten, vielleicht auch nicht, aber vieles würde unausweichlich geschehen. Er hoffte, Mat möge sich gut amüsieren, während er frei war. Er hoffte, auch Perrin möge seinen Aufenthalt an den Zwei Flüssen genießen, Faile seiner Mutter und den Schwestern vorstellen und sie vielleicht sogar heiraten. Er hoffte das, denn er wußte genau, daß er sie zurückholen und an sich binden würde, ein Ta'veren, der andere Ta'veren anlockte, und er war der stärkste von ihnen. Moiraine hatte es auch nicht eben als Zufall bezeichnet, daß gleich drei von ihnen im gleichen Dorf aufwuchsen, und alle darüber hinaus etwa im gleichen Alten Das Rad webte Zufälle ins Muster hinein, aber es verwob nicht gleich drei dieser Sorte grundlos miteinander. Auf lange Sicht würde er seine Freunde zu sich zurückholen, gleich, wie weit sie sich inzwischen entfernt hatten und wann sie kamen, und er würde sie benutzen, soweit er nur konnte. Soweit er mußte. Weil es nicht anders ging. Denn was die Prophezeiungen des Drachen auch aussagten: er war sicher, daß seine einzige Chance, Tarmon Gai'don zu gewinnen, darin lag, daß sie alle drei, drei Ta'veren, die seit ihrer frühesten Kindheit miteinander verknüpft waren, zur Letzten Schlacht noch einmal gemeinsam verwebt würden. Nein, er mußte wirklich nicht erst hart werden. Du bist schon so widerlich, daß selbst ein Seanchan sich übergeben würde!

»Spielt den Todesmarsch«, befahl er mit härterer Stimme als beabsichtigt, und Natael blickte ihn einen Augenblick lang verständnislos an. Der Mann hatte alles mit angehört. Er hatte bestimmt Fragen, doch er würde keine Antworten erhalten. Wenn Rand Mats Geheimnisse schon Lan nicht enthüllen konnte, würde er sie erst recht nicht vor einem der Verlorenen ausbreiten, wie zahm dieser jetzt auch wirken mochte. Diesmal also sprach er absichtlich mit harter Stimme und deutete mit der Speerspitze auf den Mann: »Spielt das, es sei denn, Ihr kennt noch etwas Traurigeres. Spielt etwas, das Eure Seele zum Weinen bringt. Falls Ihr noch eine habt«

Natael lächelte ihn gewinnend an und verbeugte sich im Sitzen, doch er wurde bleich um die Augen. Er begann dann auch tatsächlich mit dem Todesmarsch, doch er klang auf seiner Harfe einschneidender denn je, ein klagendes Heulen, das sicherlich jede Seele zum Weinen bringen konnte. Er starrte Rand unverwandt an, als hoffe er auf irgendeine Reaktion.

Rand wandte sich ab und streckte sich auf den Teppichen aus. Unter den Ellbogen hatte er sich ein rotgoldenes Kissen gelegt und er blickte auf die Landkarten herunter. »Lan, würdet Ihr die anderen jetzt hereinbitten?«

Der Behüter machte eine steife Verbeugung und schritt nach draußen. Er hatte das zum allererstenmal gemacht, doch Rand nahm es nur geistesabwesend wahr.

Die Schlacht würde morgen beginnen. Nur aus Höflichkeit taten Rhuarc und die anderen so, als helfe er ihnen beim Planen. Er war klug genug, sich darüber im klaren zu sein, was er alles nicht wußte, und trotz der vielen Gespräche mit Lan und Rhuarc war er noch nicht soweit. Ich habe hundert Schlachten von diesem Ausmaß oder auch größere strategisch geplant und Befehle erteilt, die noch zehnmal mehr auslösten. Das war nicht sein eigener Gedanke gewesen. Lews Therin kannte den Krieg — hatte den Krieg gekannt —, nicht aber Rand al'Thor, und der war er immer noch. Er hörte zu, stellte Fragen und nickte, als verstünde er, warum eine bestimmte Sache auf diese ganz bestimmte Art und Weise gemacht werden müsse. Manchmal verstand er es tatsächlich und wünschte sich, er verstünde nichts, weil er wußte, woher dieses Verstehen gekommen war. Sein einziger eigener Beitrag zur Planung war gewesen, daß er ihnen sagte, Couladin müsse besiegt werden, ohne die Stadt zu zerstören. Auf jeden Fall würde dieses neue Treffen lediglich dem sowieso schon Entschiedenen ein paar Einzelheiten hinzufügen. Mats Anwesenheit wäre nützlich gewesen bei all seinem neuen Wissen.

Nein. Er wollte nicht an seine Freunde denken und daran, was er ihnen antun würde, bevor alles vorüber war. Selbst wenn er die Schlacht einmal beiseite ließ, gab es noch genug, womit er sich beschäftigen mußte, Probleme, bei denen er etwas ausrichten konnte. Die Abwesenheit der Flagge Cairhiens über der Stadt Cairhien deutete auf ein wesentliches Problem hin, und die ständigen Scharmützel mit Andoranern auf ein anderes. Dann mußte er überlegen, was Sammael wohl vorhabe, und...

Die Häuptlinge schoben sich ohne bestimmte Reihenfolge herein. Diesmal kam Dhearic zuerst und Rhuarc mit Erim und Lan zusammen am Schluß. Bruan und Jheran setzten sich neben Rand. Sie waren überhaupt nicht an einer Rangordnung untereinander interessiert, und Aan'allein betrachteten sie beinahe als einen der ihren.

Weiramon trat als letzter ein, die kleinen Lords auf den Fersen und mit finsterer Miene und verkniffenem Mund. Für ihn spielte eine feste Rangordnung offensichtlich sehr wohl eine Rolle. Er knurrte etwas in seinen eingeölten Bart hinein, stolzierte um die Feuergrube herum und nahm einen Platz hinter Rand ein. Zumindest solange, bis die empörten Blicke der Häuptlinge in sein Bewußtsein drangen. Unter den Aiel durfte sich vielleicht ein naher Verwandter oder ein Mitglied der gleichen Kriegergemeinschaft auf den Platz hinter einem Mann setzen, damit keine Gefahr bestand, daß er ein Messer in den Rücken bekam. Trotzdem sah er Jheran und Dhearic zornig an, als erwarte er, daß einer von ihnen für ihn Platz mache.

Schließlich deutete Bael auf den Platz neben ihm, Rand und den Landkarten gegenüber, und nach kurzem Zögern begab sich Weiramon dorthin und setzte sich steif aufgerichtet mit übergeschlagenen Beinen. Er wirkte wie ein Mann, der eine unreife Pflaume geschluckt hat. Die jüngeren Tairener standen genauso steif hinter ihm, nur hatte der eine wenigstens den Anstand, verlegen dreinzublicken.

Rand nahm wohl Notiz von ihm, sagte aber kein Wort. Er stopfte dafür gelassen seine Pfeife und benützte ganz kurz Saidin, um sie anzuzünden. Er mußte etwas in bezug auf Weiramon unternehmen; der Mann verschärfte alte Probleme und schuf daneben auch noch neue. Rhuarc verzog keine Miene, doch die Gesichtsausdrücke der anderen Häuptlinge reichten von Hans angewiderter Grimasse bis zu Erims eindeutig kaltem Blick, in dem die Aufforderung lag, auf der Stelle mit ihm den Tanz der Speere zu tanzen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit für Rand, Weiramon loszuwerden und gleichzeitig damit zu beginnen, an der Beseitigung einer seiner anderen Sorgen zu arbeiten.

Lan und die Häuptlinge folgten Rands Beispiel und fingen an, ihre Pfeifen zu stopfen.

»Ich sehe lediglich die Notwendigkeit für ein paar kleine Änderungen«, sagte Bael und paffte, um seinen Tabak richtig durchzuglühen. Wie gewöhnlich rief er damit einen finsteren Blick Hans hervor.

»Haben diese kleinen Änderungen mit den Goshien zu tun oder vielleicht mit einem anderen Clan?«

Rand verdrängte Weiramon aus seinem Verstand und beugte sich vor, um besser zu hören, was sie gemeinsam ausarbeiteten und was sich — hervorgerufen durch den Anblick des Geländes von oben her —ändern mußte. Von Zeit zu Zeit sah einer der Aiel zu Natael hinüber und zeigte durch seinen Blick oder ein kurzes Zusammenziehen von Augen oder Mund, daß ihm die traurige Musik des Gauklers auf die Nerven ging. Sogar die Tairener machten allmählich Trauermienen. Über Rand schwappten die Klänge jedoch hinweg, ohne ihn zu berühren. Tränen waren ein Luxus, den er sich nicht mehr leisten konnte, noch nicht einmal tief im Innern.

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