35 Herausgerissen

Gähnend betrachtete Elayne Nynaeve von ihrem Bett aus. Sie hatte den Kopf auf einen Ellbogen gestützt, und das schwarze Haar hing an einem Arm herunter und kitzelte sie. Es war eigentlich schon lächerlich, darauf zu bestehen, daß diejenige, die nicht nach Tel'aran'rhiod ging, wach bleiben mußte. Sie wußte nicht, wieviel Zeit für Nynaeve in der Welt der Träume vergangen war, doch sie lag nun schon gut zwei Stunden hier und hatte nicht einmal ein Buch zum Lesen oder eine Handarbeit, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie konnte nichts weiter tun, als die andere Frau anzustarren, die auf ihrem eigenen schmalen Bett ausgestreckt lag. Den A'dam noch weiter zu untersuchen brachte auch nichts. Sie glaubte, ihm mittlerweile alles entrungen zu haben, was sie daraus lernen konnte. Sie hatte sogar ganz vorsichtig ein wenig der Heilkunst mit Hilfe der Macht an der schlafenden Frau ausprobiert. Eine wache Nynaeve hätte dem niemals zugestimmt, denn sie hielt nicht viel von Elaynes Fähigkeiten auf diesem Gebiet —nun, vielleicht hätte sie auch in diesem besonderen Fall eine Ausnahme gemacht —, aber Nynaeves blaues Auge war verschwunden. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war das die komplizierteste Heilung gewesen, die Elayne bisher unternommen hatte, und sie hatte all ihre Kräfte dafür zusammennehmen müssen. Nichts zu tun. Hätte sie ein wenig Silber, dann hätte sie versuchen können, selbst einen A'dam herzustellen. Silber war nicht das einzige Metall, das sie dafür benötigte, aber selbst dazu hätte sie eine Menge Münzen einschmelzen müssen. Nynaeve hätte bestimmt nicht viel davon gehalten, Geld zu verlieren und statt dessen einen zweiten A'dam vorzufinden. Hätte sie wenigstens Thom und Juilin über ihre Aktivitäten aufgeklärt, dann wäre sie in der Lage gewesen, Thom einzuladen und ihr Gesellschaft zu leisten.

Sie führten nämlich wirklich die nettesten Unterhaltungen. Es war, als wolle ein Vater seiner Tochter all seine Kenntnisse vermitteln. Sie hatte beispielsweise überhaupt nicht begriffen gehabt, wie tief das Spiel der Häuser sogar in Andor verwurzelt war, wenn auch vielleicht noch immer nicht so tief wie in anderen Ländern. Wie Thom meinte, waren da nur die Grenzlande vollständig ausgenommen. Da die Fäule gleich an ihrer Nordgrenze begann und Trolloc-Überfälle an der Tagesordnung waren, hatten sie einfach keine Zeit für Intrigen und komplizierte politische Manöver. Ja, sie und Thom unterhielten sich prächtig, jetzt, da er sicher sein konnte, daß sie nicht versuchen werde, sich an ihn heranzuschmusen. Bei der Erinnerung daran brannten ihre Wangen immer noch, denn sie hatte wirklich ein- oder zweimal daran gedacht, etwas in der Art mit ihm anzufangen, es aber glücklicherweise nicht fertiggebracht.

»›Selbst eine Königin stößt sich manchmal den Zeh an, doch eine kluge Frau schaut, wohin sie tritt‹«, zitierte sie leise. Lini war eine kluge Frau. Elayne glaubte nicht, daß ihr derselbe Fehler noch einmal unterlaufen werde. Ihr war schon klar, daß sie viele Fehler begangen hatte, aber selten nur denselben zweimal. Eines Tages vielleicht würde sie so wenige begehen, daß sie eine würdige Nachfolgerin ihrer Mutter auf dem Thron war.

Plötzlich setzte sie sich auf. Tränen waren unter Nynaeves geschlossenen Lidern hervorgequollen und rannen ihr über die Wangen. Was Elayne zunächst für leises Schnarchen gehalten hatte, denn Nynaeve schnarchte oft, auch wenn sie das vehement bestritt, war in Wirklichkeit ein leichtes Schluchzen und Wimmern, das trotz ihres geschlossenen Mundes hörbar wurde. Das war etwas, was nicht sein sollte. Wäre sie verwundet worden, dann hätte sich die Wunde auch hier gezeigt, wenn sie sie auch vor dem Erwachen selbst nicht fühlte.

Ob ich Sie wohl wecken sollte? Doch sie zögerte, obwohl sie schon die Hand ausgestreckt hatte. Jemanden aufzuwecken, der sich in Tel'aran'rhiod befand, war keineswegs leicht. Auch schütteln oder ein Guß kalten Wassers ins Gesicht erfüllten da manchmal ihren Zweck nicht. Und Nynaeve hätte bestimmt einiges dagegen, wenn sie auf ihr herumtrommelte, wo sie doch schon von Cerandin genug abbekommen hatte. Was mag da wirklich zwischen den beiden geschehen sein? Ich muß Cerandin ausfragen. Was auch in der Welt der Träume los war, Nynaeve sollte eigentlich in der Lage sein, jederzeit aus dem Traum zu entkommen und zurückzukehren, wenn sie das wünschte. Außer... Egwene hatte behauptet, die Weisen Frauen könnten jemand gegen den Willen dieser Person in Tel'aran'rhiod festhalten. Falls sie ihr das beigebracht hatten, hatte sie es allerdings nicht an Elayne oder Nynaeve weitergegeben. Wenn nun jemand Nynaeve dort festhielt und ihr Schmerzen zufügte, konnten das wohl kaum Birgitte oder die Weisen Frauen sein. Gut, die Weisen Frauen brächten so etwas schon fertig, falls sie Nynaeve auf Abwegen erwischt hatten. Doch wenn nicht sie, dann blieb nur noch...

Sie packte Nynaeve an den Schultern, um sie zu schütteln. Falls das nicht wirkte, würde sie die Kanne Wasser auf dem Tisch mit Hilfe der Macht bis an den Gefrierpunkt abkühlen oder die andere ohrfeigen... Doch dann schlug Nynaeve die Augen auf.

Fast im selben Augenblick begann sie auch schon, laut zu weinen. Ein so verzweifeltes Weinen hatte Elayne noch nie vernommen. »Ich habe sie getötet. O Elayne, ich habe sie mit meinem törichten Stolz umgebracht, habe gedacht, ich könne...« Sie konnte nicht weitersprechen und schluchzte nur mit geöffnetem Mund.

»Wen hast du getötet?« Moghedien konnte es nicht sein, denn der Tod dieser Frau würde bei ihr sicherlich keine Trauer auslösen. Sie wollte Nynaeve gerade in die Arme nehmen und trösten, da trommelte jemand an die Tür.

»Schick sie weg«, brachte Nynaeve mühsam heraus und rollte sich in der Mitte ihres Betts zu einem zitternden Häufchen Elend zusammen.

Seufzend ging Elayne zur Tür und zog sie auf. Doch bevor sie ein Wort herausbrachte, schob sich Thom aus der Nacht heraus an ihr vorbei. Das zerknitterte Hemd hing ihm aus der Hose und er trug eine in seinen Umhang gewickelte Gestalt auf den Armen. Nur die bloßen Füße einer Frau waren zu sehen.

»Sie war einfach plötzlich da«, sagte Juilin hinter ihm, als könne er die eigenen Worte kaum glauben. Beide Männer waren barfuß und Juilins hagerer, unbehaarter Oberkörper war nackt. »Ich bin ganz kurz aufgewacht, und da stand sie plötzlich vor mir, nackt wie ein Neugeborenes, und klappte augenblicklich zusammen wie ein Sack Fischmehl.«

»Sie lebt noch«, sagte Thom und legte die in den Umhang gehüllte Gestalt auf Elaynes Bett, »aber nur gerade eben. Ich konnte kaum noch einen Herzschlag fühlen.«

Mit gerunzelter Stirn zog Elayne die Kapuze des Umhangs weg — und blickte zu Tode erschrocken direkt in Birgittes leichenblasses Gesicht.

Nynaeve kletterte steif vom anderen Bett und kniete neben der bewußtlosen Frau nieder. Ihr Gesicht glänzte tränenfeucht, doch sie hatte mit Weinen aufgehört. »Sie lebt«, hauchte sie. »Sie lebt tatsächlich noch.« Mit einemmal schien ihr bewußt zu werden, daß sie im Hemd vor den Männern kniete, aber sie würdigte die beiden kaum eines Blickes und sagte lediglich: »Schicke sie raus, Elayne. Ich kann nichts tun, wenn sie dastehen und wie die Schafe gucken.«

Thom und Juilin sahen sich an und rollten frustriert die Augen, als Elayne sie hinauswinkte. Sie schüttelten leicht die Köpfe, gingen dann aber doch zur Tür, ohne sich zu beklagen. »Sie ist... eine Freundin«, sagte Elayne zu ihnen. Sie hatte das Gefühl, zu schweben wie in einem Traum, und sie empfand gar nichts dabei. Wie konnte das möglich sein? »Wir werden uns um sie kümmern.« Wie konnte das geschehen? Das war doch unmöglich! »Sagt niemandem etwas davon!« Die Blicke, die sie ihr zuwarfen, bevor sie die Tür zuschlug, ließen sie erröten. Natürlich waren sie schlau genug, nicht darüber zu reden. Aber manchmal mußte man Männer an die einfachsten Sachen erinnern, sogar Thom. »Nynaeve, was, beim Licht...«, begann sie, als sie sich zu den anderen Frauen umwandte, brach jedoch ab, da sie das Glühen Saidars um die Kniende herum wahrnahm.

»Verdammt soll sie sein!« grollte Nynaeve, die wild entschlossen Stränge der Macht lenkte. »Für immer soll sie verdammt sein, weil sie das getan hat!« Elayne erkannte die Stränge, die zur Heilung notwendig waren, aber weiter reichten ihre Kenntnisse nicht. »Ich werde sie aufspüren, Birgitte«, murmelte Nynaeve wieder. Stränge aus dem Element Geist dominierten das Gewebe, aber auch Wasser und Luft waren darin verwoben und sogar etwas Erde und Feuer. Es wirkte genauso kompliziert, als wolle man mit jeder Hand auf ein anderes Kleid Muster sticken, und das gleichzeitig auch noch mit den Füßen. Und mit verbundenen Augen. »Sie wird dafür bezahlen.« Das Glühen um Nynaeve wurde immer stärker, bis es die Lampen überstrahlte und Elayne nur noch mit zusammengekniffenen Augen sehen konnte. »Ich schwöre es! Beim Licht und meiner Hoffnung auf Erlösung und Wiedergeburt, ich werde sie dafür bezahlen lassen!« Der Zorn in ihrer Stimme änderte sich und wurde womöglich noch größer. »Es funktioniert nicht. Es ist nichts an ihr, was ich heilen könnte. Es geht ihr so gut, wie es nur sein kann. Und doch stirbt sie. O Licht, ich spüre, wie mir ihr Leben entgleitet. Verdammt sei Moghedien! Seng sie! Und mich gleich mit!« Sie gab aber noch nicht auf. Das Gewebe blieb bestehen. Kompliziert verwundene Stränge flossen in Birgitte ein. Und die Frau lag da, der goldene Zopf hing an der Seite des Betts herunter, und ihre Brust hob und senkte sich immer langsamer.

»Ich kann etwas tun, das vielleicht helfen wird«, sagte Elayne bedächtig. Man müßte dafür eigentlich eine Genehmigung einholen, aber das war auch nicht immer so gewesen. Einst war es durchaus auch ohne Genehmigung geschehen. Es gab keinen Grund, warum es bei einer Frau nicht anwendbar sein sollte. Sie hatte allerdings noch nie davon gehört, daß es bei einer Frau angewandt worden sei; nur immer bei Männern.

»Koppelung?« Nynaeve wandte den Blick nicht von der Frau auf dem Bett und ließ in ihren Bemühungen mit der Macht nicht nach. »Ja. Du wirst es tun müssen, denn ich weiß nicht, wie, aber ich muß die Führung übernehmen. Ich weiß nicht einmal zur Hälfte, was ich eigentlich in diesem Augenblick überhaupt mache, aber wenigstens weiß ich, daß ich es schaffen kann. Du könntest nicht einmal eine Prellung heilen.«

Elayne verzog den Mund, ließ die Bemerkung aber unbeantwortet. »Nein, keine Koppelung.« Die Menge an Saidar, die Nynaeve in sich aufgesogen hatte, war erstaunlich. Wenn sie damit Birgitte nicht retten konnte, würde das, was Elayne noch hinzufügen könnte, auch nicht mehr bringen. Gemeinsam wären sie wohl stärker, als eine einfache Addition ihrer Kräfte ergäbe, aber sie wußte nicht einmal genau, ob sie dazu schon in der Lage sei. Sie hatte sich nur einmal verkoppelt, und das hatte eine Aes Sedai getan, mehr, um ihr zu zeigen, was das für ein Gefühl war, als einen Zweck zu erfüllen. »Hör auf damit, Nynaeve. Du hast ja selbst gesagt, daß es nicht funktioniert. Hör auf und laß mich einen Versuch machen. Wenn es damit auch nicht geht, kannst du ja...« Was konnte sie dann? Wenn die Heilung geschah, dann war alles gut, wenn nicht... Es hatte gar keinen Zweck, es noch einmal zu versuchen, wenn sie schon beim ersten Mal keinen Erfolg gehabt hatte.

»Was willst du ausprobieren?« fauchte Nynaeve beleidigt, aber sie rutschte doch ungeschickt rückwärts und ließ Elayne ans Bett treten. Das Heilgewebe löste sich auf, nicht aber ihre glühende Aura.

Statt ihr zu antworten, legte Elayne eine Hand auf Birgittes Stirn. Bei dem, was sie vorhatte, war die körperliche Berührung genauso notwendig wie bei einer Heilung, und beide Male, als sie in der Burg zugesehen hatte, hatten die betreffenden Aes Sedai die Stirn des jeweiligen Mannes berührt. Die Stränge aus Geist, die sie nun verwob, waren äußerst kompliziert, wenn auch nicht in dem Maße wie Nynaeves Heilgewebe vor einer Minute. Sie verstand kaum selbst, was sie da tat, und von manchem überhaupt nichts, aber sie hatte sehr genau aufgepaßt —damals, aus ihrem Versteck heraus —, welche Muster das Gewebe bilden mußte. Aufgepaßt hatte sie, weil sie einfach romantische Vorstellungen gehabt hatte, weil sie Geschichten erfunden hatte über Liebe und Tapferkeit und Glück, wo die Wirklichkeit, die sie erlebte, nur trüb und enttäuschend schien. Nach ein paar Augenblicken war sie fertig, setzte sich auf das andere Bett und ließ Saidar los.

Nynaeve runzelte die Stirn und beugte sich wieder über Birgitte. Die Gesichtsfarbe der bewußtlosen Frau wirkte vielleicht ein wenig besser, und ihr Atem kam ein bißchen kräftiger. »Was hast du gemacht, Elayne?« Nynaeve nahm den Blick nicht von Birgitte, aber das sie umgebende Glühen verblaßte langsam. »Es war jedenfalls keine Heilung. Ich glaube, ich könnte es jetzt nachmachen, aber mit Heilen hatte es nichts zu tun.«

»Wird sie überleben?« fragte Elayne mit schwacher Stimme. Es gab keine sichtbare Verbindung zwischen ihr und Birgitte, keine Stränge der Macht, aber sie fühlte die Schwäche der Frau. Eine schreckliche Schwäche, die sie deutlich spürte. Und sie würde fühlen, wenn Birgitte starb, im gleichen Augenblick noch, und sei sie auch Hunderte von Meilen entfernt.

»Ich weiß nicht. Ihr Leben entflieht nicht mehr, aber ich weiß es nicht.« Die Erschöpfung machte Nynaeves Stimme weicher als gewohnt, und es lag auch viel Schmerz in ihrem Tonfall, als teile sie Birgittes Wunden, seien es auch nur innere. Sie sog scharf die Luft zwischen halb geöffneten Lippen ein, erhob sich, entfaltete eine rotgestreifte Decke und breitete sie über die liegende Frau. »Was hast du mit ihr gemacht?«

Elayne schwieg, bis Nynaeve zu ihr herüberkam und sich schwerfällig neben ihr auf das Bett sinken ließ. »Eine Bindung«, sagte sie schließlich. »Ich... habe sie an mich gebunden. Als Behüterin. Es war kein Eid notwendig.« Der ungläubige Blick der anderen Frau ließ sie schnell fortfahren: »Heilen hatte keinen Zweck. Ich mußte doch etwas tun. Du weißt doch, welche Gaben ein Behüter durch die Bindung an seine Aes Sedai erhält. Zum einen Kraft und Energie. Er kann weitermachen, wo andere Männer zusammenbrechen und sterben; er kann Wunden überleben, die jeden anderen töten würden. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen.«

Nynaeve atmete tief durch. »Nun, es scheint ja besser zu funktionieren als das, was ich versuchte. Ein weiblicher Behüter. Ich frage mich, was Lan davon halten wird. Aber es gibt eigentlich nichts, was dagegen spräche. Und wenn überhaupt eine Frau, dann sie.« Sie zog die Beine ächzend hoch und setzte sich darauf. Ihr Blick kehrte zu Birgitte zurück. »Du mußt das natürlich geheimhalten. Wenn jemand erfährt, daß eine Aufgenommene eine Behüterin an sich gebunden hat, gleich unter welchen Umständen...«

Elayne schauderte. »Ich weiß«, sagte sie schlicht und doch leidenschaftlich. Es war wohl kein Verstoß, der ihr eine Dämpfung einbringen würde, aber vermutlich würde jede Aes Sedai sie so in die Mangel nehmen, daß sie sich die Dämpfung herbeiwünschte. »Nynaeve, was ist in der Welt der Träume geschehen?«

Eine Weile lang glaubte sie, die andere werde wieder mit Weinen anfangen, denn sie bewegte die Lippen und ihr Kinn zitterte. Als sie aber zu sprechen begann, klang ihre Stimme wie Eisen, und auf ihrem Gesicht stand ein Gemisch aus Zorn und zu vielen vergossenen Tränen. Sie erzählte ihre Geschichte ganz nüchtern, sogar knapp, bis sie zu Moghediens Auftauchen im Lager der Truppe kam. Danach berichtete sie über jede noch so schmerzliche Einzelheit.

»Ich müßte eigentlich von Kopf bis Fuß Striemen tragen«, sagte sie schließlich in bitterem Tonfall, wobei sie einen glatten, unversehrten Arm berührte. Unversehrt oder nicht, jedenfalls zuckte sie zusammen. »Ich verstehe nicht, wieso nichts zu sehen ist. Ich spüre die Striemen, und ich verdiene sie auch für meinen dummen, törichten Stolz. Dafür, daß ich mich fürchtete, zu tun, was ich hätte tun sollen. Ich verdiente, in der Räucherkammer aufgehängt zu werden wie eine Speckseite. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, würde ich immer noch dort baumeln und Birgitte läge nicht auf diesem Bett und wir müßten uns nicht fragen, ob sie überlebt oder nicht. Wenn ich nur mehr wüßte. Hätte ich nur fünf Minuten lang Moghediens Wissen, dann könnte ich sie heilen. Da bin ich ganz sicher.«

»Wenn du noch immer hängen würdest«, sagte Elayne auf ihre praktische Art, »würdest du in kurzer Zeit aufwachen und mich abschirmen. Ich zweifle nicht daran, daß Moghedien dafür gesorgt hätte, dich zornig genug zu machen, um die Macht benützen zu können. Denk daran, sie kennt uns alle nur zu gut. Und ich bezweifle auch nicht, daß ich keinen Verdacht geschöpft hätte, bis es zu spät gewesen wäre. Ich halte nicht viel davon, hilflos zu Moghedien geschleppt zu werden, und du vermutlich auch nicht.« Die andere konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Es muß eine Art von Koppelung gewesen sein, Nynaeve, wie durch einen A'dam. So hat sie dich Schmerzen empfinden lassen, ohne dich tatsächlich zu verletzen.« Nynaeve saß da und starrte wütend und gleichzeitig schmollend vor sich hin. »Nynaeve, Birgitte ist am Leben. Du hast alles für sie getan, was du konntest, und so das Licht es will, wird sie leben. Moghedien hat ihr das angetan und nicht du. Ein Soldat, der die Verantwortung dafür übernimmt, daß seine Kameraden in der Schlacht fallen, ist ein Narr. Du und ich, wir sind Soldaten in einer Schlacht, aber du bist keine Närrin. Also hör auf, dich wie eine zu benehmen!«

Daraufhin blickte Nynaeve sie wieder an. Einen Moment nur sah sie ihre finstere Miene, und dann wandte sie ihr Gesicht ganz ab. »Du verstehst das nicht.« Sie senkte die Stimme, bis sie beinahe flüsterte: »Sie... war... eine der Helden und Heldinnen, die an das Rad der Zeit gebunden wurden, dazu bestimmt, immer wiedergeboren zu werden, zur Legende zu werden. Diesmal wurde sie nicht geboren, Elayne. Sie wurde einfach aus Tel'aran'rhiod herausgerissen. Ist sie immer noch an das Rad gebunden? Oder wurde sie auch aus dieser Bindung gerissen? Von dem weggerissen, was ihr eigener Mut ihr eingebracht hatte, nur, weil ich so stolz war, so männerstur dumm, daß ich sie losschickte, um Moghedien zu suchen?«

Elayne hatte gehofft, daß Nynaeve nicht so schnell auf diese Fragen stoßen werde, sondern erst, wenn sie ein wenig Zeit zur Erholung gehabt hätte. »Weißt du, wie schlimm Moghedien verletzt wurde? Vielleicht ist sie tot?«

»Ich hoffe nicht.« Die andere Frau fauchte das fast. »Ich will sie dafür bezahlen lassen...« Sie atmete tief durch, aber statt aufzuleben, sackte sie noch mehr in sich zusammen. »Ich würde nicht auf ihren Tod zählen. Birgittes Pfeil hat ihr Herz verfehlt. Ein Wunder, daß sie getroffen hat, so, wie sie herumtaumelte. Ich hätte nicht einmal aufstehen können, wäre ich so weit so hart weggeschleudert worden wie Birgitte. Ich konnte nicht einmal selbst aufstehen, nach dem was mir Moghedien angetan hatte. Nein, sie ist am Leben, und wir sollten damit rechnen, daß sie ihre Wunde mit Hilfe der Macht heilen läßt und morgen früh hinter uns her ist.«

»Sie würde dann immer noch Zeit benötigen, um sich zu erholen, Nynaeve. Das weißt du doch. Kann sie eigentlich wissen, wo wir uns befinden? Deinen Worten nach hatte sie nicht genug Zeit, um mehr herauszubekommen als eben, daß wir uns in einer Menagerie befinden.«

»Und was ist, wenn sie doch mehr gesehen hat?« Nynaeve rieb sich die Schläfen, als habe sie Schwierigkeiten, zu denken. »Was ist, wenn sie genau weiß, wo wir sind? Sie könnte uns Schattenfreunde auf den Hals hetzen. Oder Schattenfreunde in Samara benachrichtigen.«

»Luca ist wütend, weil bereits elf Menagerien um die Stadt herum lagern und drei weitere darauf warten, die Brücke überqueren zu dürfen. Nynaeve, sie wird Tage brauchen, um nach einer solchen Wunde wieder zu Kräften zu kommen, selbst wenn sie eine Schwarze Schwester findet, die sie heilt, oder auch eine der anderen Verlorenen. Und dann weitere Tage, um fünfzehn Menagerien abzusuchen. Falls sich nicht noch mehr auf der Straße hinter uns befinden oder aus Altara heraufkommen. Wenn sie selbst uns sucht oder auch Schattenfreunde ausschickt, ganz gleich, sind wir auf jeden Fall gewarnt und haben tagelang Zeit, ein Boot oder Schiff zu finden, das uns flußabwärts bringt.« Sie legte eine kurze Denkpause ein. »Hast du noch irgend etwas in deinem Kräuterbeutel, um Haare zu färben? Ich möchte wetten, daß du in Tel'aran'rhiod dein Haar zum Zopf geflochten trugst. Meines hat dort immer seine wirkliche Farbe. Wenn du deines lose trägst, so wie jetzt, und in einer anderen Farbe, dann werden wir viel schwerer zu finden sein.«

»Überall Weißmäntel«, seufzte Nynaeve. »Galad. Der Prophet. Keine Schiffe. Es ist, als habe sich alles gegen uns verschworen und arbeite Moghedien in die Hände. Ich bin so müde, Elayne. Ich bin es müde, Angst haben zu müssen, wer hinter der nächsten Ecke auf uns wartet. Ich bin der Furcht vor Moghedien müde. Ich scheine einfach nicht richtig überlegen zu können, was wir als nächstes tun sollten. Mein Haar? Nichts, um ihm irgendeine Farbe zu geben, die ich tragen kann.«

»Du brauchst Schlaf«, sagte Elayne energisch. »Ohne den Ring. Gib ihn mir.« Die andere zögerte, doch Elayne wartete einfach mit ausgestreckter Hand, bis Nynaeve den gefleckten Steinring aus ihrem Hemd fischte und von der Lederschnur abnahm. Elayne stopfte ihn einfach in die Tasche und fuhr fort: »Jetzt leg dich hier hin, und ich wache bei Birgitte.«

Nynaeve sah die auf dem Bett ausgestreckte Frau einen Augenblick lang an und schüttelte dann den Kopf. »Ich kann nicht schlafen... muß allein sein. Herumlaufen.« Sie stand so steif auf, als habe man sie wirklich verprügelt, nahm ihren dunklen Umhang vom Haken und legte ihn sich über dem Nachthemd um. An der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Wenn sie mich töten will«, sagte sie trübsinnig, »weiß ich nicht, wie ich sie daran hindern könnte.« Sie ging barfuß und mit trauriger Miene in die Nacht hinaus.

Elayne zögerte, ungewiß, welche der beiden Frauen sie nötiger habe. Dann setzte sie sich wieder hin. Nichts, was sie ihr sagen konnte, machte die Dinge besser für Nynaeve, aber sie glaubte an deren Widerstandkraft. Wenn sie genug Zeit hatte, das alles im Kopf zu verarbeiten, würde sie sehen, daß Moghedien die Schuld trug und nicht sie. Sie mußte es nur einsehen.

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