Als sie in der Broad Street ankommen, ist Scarpetta kurz davor, die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln. Ganz gleich, ob er will oder nicht, er muss es ihr jetzt erzählen.
»Was hast du gestern Abend gemacht?«, fragt sie. »Und damit meine ich nicht den Umtrunk im Polizeiclub.«
»Keine Ahnung, worauf du hinauswillst.« Marino hockt als missmutiger Koloss auf dem Beifahrersitz und hat die Kappe tief in das mürrische Gesicht gezogen.
»O doch, das weißt du ganz genau. Du warst bei ihr.«
»Jetzt komme ich überhaupt nicht mehr mit.« Er starrt aus dem Seitenfenster.
»O doch.« Scarpetta rast in hoher Geschwindigkeit über den Broadway. Sie hat darauf bestanden, selbst zu fahren, und hätte weder Marino noch sonst jemanden ans Steuer gelassen. »Ich kenne dich. Verdammt, Marino – du hast es schon einmal getan. Wenn es wieder so war, dann sag es mir. Ich habe gesehen, wie sie dich angeschaut hat, als wir bei ihr waren. Du hast es auch bemerkt, und du hast es genossen. Ich bin schließlich nicht blöd.«
Anstatt eine Antwort zu geben, starrt er aus dem Fenster, und die Baseballkappe verdeckt sein Gesicht.
»Mach den Mund auf, Marino. Warst du bei Mrs. Paulsson? Hast du dich irgendwo mit ihr getroffen? Sag die Wahrheit. Irgendwann kriege ich es sowieso raus, das weißt du doch.« Scarpetta bremst abrupt an einer Ampel, die plötzlich von Gelb auf Rot umspringt, und sieht ihn an. »Gut. Dein Schweigen spricht Bände. Deshalb hast du dich so seltsam benommen, als du ihr heute Morgen im Büro begegnet bist. Du warst gestern Nacht bei ihr, und vielleicht ist es ja nicht so gelaufen, wie du gehofft hast. Und deshalb warst du bei ihrem Anblick heute Morgen so überrascht.«
»So war es nicht.«
»Wie dann?«
»Suz brauchte jemanden zum Reden, und ich wollte Informationen. Also haben wir uns gegenseitig geholfen«, sagt er zum Fenster gewandt.
»Suz?«
»Und es hat etwas gebracht, oder?«, fährt er fort. »Ich habe Einblicke in das Amt für Heimatschutz gewonnen, darüber, was für ein Schwachkopf und Widerling ihr Ex ist und warum das FBI hinter ihm her sein könnte.«
»Könnte?« Sie biegt links in die Franklin Street ein und hält auf ihr erstes Büro in Richmond zu, das alte Gebäude, das gerade abgerissen wird. »In der Besprechung – wenn man das so bezeichnen will – schienst du dir deiner Sache sehr sicher zu sein. Hast du das alles nur erraten? Worauf genau willst du hinaus?«
»Sie hat mich gestern Abend auf dem Mobiltelefon angerufen«, erwidert Marino und wechselt beim Anblick des Gebäudes das Thema. »Seit unserer Ankunft sind sie mit dem Abriss ziemlich weit vorangekommen. Zurzeit geht eine ganze Menge kaputt.« Er betrachtet die Ruine, die sich vor ihnen erhebt.
Das Gebäude aus Gussbeton wirkt kleiner und kläglicher als beim ersten Mal. Vielleicht bilden sie sich das auch nur ein, weil die Zerstörung sie nicht mehr überrascht. Als sie sich der Fourteenth Street nähern, geht Scarpetta vom Gas und sieht sich vergeblich nach einer Parklücke um.
»Wir müssen die Cary Street rauffahren«, beschließt sie. »Dort gibt es einen oder zwei Häuserblocks weiter einen bewachten Parkplatz. Zumindest war das einmal so.«
»Vergiss es. Ich habe, was wir brauchen.« Er öffnet seinen schwarzen mit Stoff bezogenen Aktenkoffer und holt einen roten Ausweis mit der Aufschrift »Chefpathologe« heraus, den er aufs Armaturenbrett legt.
»Wo hast du den denn her?« Sie traut ihren Augen nicht. »Wie zum Teufel hast du das geschafft?«
»Wenn man sich die Zeit nimmt, mit den Mädchen im Büro zu plaudern, kann man eine Menge erreichen.«
»Du bist ein böser Junge«, meint sie kopfschüttelnd. »Mir fehlt dieser Ausweis wirklich«, fügt sie hinzu, denn früher war das Parken für sie nicht so aufwändig und umständlich wie heute. Sie konnte bei jedem x-beliebigen Tatort vorfahren und ihr Auto abstellen, wo es ihr gefiel. Wenn sie während der Hauptverkehrszeit zum Gericht musste, parkte sie irgendwo im Halteverbot, und das alles dank eines kleinen roten Schildes, auf dem in großen weißen Buchstaben »Chefpathologe« stand. »Warum hat Mrs. Paulsson dich gestern Abend angerufen?« Sie schafft es nicht, sie Suz zu nennen.
»Sie wollte reden«, erwidert er und öffnet die Beifahrertür. »Komm, bringen wir es hinter uns. Du hättest Stiefel anziehen sollen.«