Die Sonne scheint schwach vom blassgrauen Himmel, und das Licht ist fahl und kalt. Scarpetta überquert den Parkplatz, der lange dunkle Mantel flattert um ihre Beine. Rasch und zielstrebig geht sie auf die Eingangstür ihres ehemaligen Dienstgebäudes zu und stellt verärgert fest, dass die Parklücke Nummer eins, die für den Chefpathologen reserviert ist, leer steht. Dr. Marcus ist noch nicht da. Wie immer kommt er zu spät.
»Guten Morgen, Bruce«, begrüßt sie den Wachmann am Empfang.
Lächelnd winkt er sie durch. »Ich trage Sie ein«, sagt er und drückt auf den Knopf, der die Tür zur Gerichtsmedizin öffnet.
»Ist Marino schon da?«, fragt sie, ohne stehen zu bleiben.
»Hab ihn nicht gesehen«, erwidert Bruce.
Als Fielding gestern Abend nicht aufgemacht hat, hat sie, auf seiner Veranda stehend, versucht, ihn anzurufen. Aber seine alte Privatnummer ist nicht mehr gültig. Dann hat sie es bei Marino versucht, den sie wegen der lauten Stimmen und des Gelächters im Hintergrund kaum verstehen konnte. Vermutlich war er in einer Bar, aber sie wollte ihn nicht darauf ansprechen und sagte nur, dass Fielding offenbar nicht zu Hause sei und dass sie zurück ins Hotel gehen werde, wenn er sich nicht bald blicken ließe. Marino entgegnete darauf nur: »Okay, Doc, dann bis später. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
Scarpetta hat versucht, die vordere und die hintere Tür von Fieldings Haus zu öffnen, aber sie waren beide abgeschlossen. Während sie klingelte und klopfte, wuchs ihre Besorgnis. Im Carport ihres ehemaligen ersten Assistenten, ihrer rechten Hand und ihres Freundes stand ein mit einer Plane abgedeckter Wagen, und sie war sicher, dass es sich dabei um seinen geliebten alten roten Mustang handelte. Trotzdem lupfte sie eine Ecke der Plane, um nachzusehen, und sie hatte Recht. Da ihr der Wagen morgens in der Parklücke Nummer sechs hinter dem Gebäude aufgefallen war, musste er noch damit gefahren sein. Allerdings bedeutete die Tatsache, dass sein Mustang vor dem Haus unter der Plane stand, nicht zwangsläufig, dass er selbst auch zu Hause war und sich weigerte, an die Tür zu kommen. Vielleicht hat er ja ein Zweitauto, einen Geländewagen. Gut vorstellbar, dass er ein Ersatzfahrzeug hat, das zuverlässiger ist. Vielleicht war er gerade damit unterwegs und hatte sich ein bisschen verspätet. Möglicherweise hatte er die Verabredung zum Abendessen auch vergessen.
Während sie darauf gewartet hat, dass er die Tür aufmacht, ist sie all diese Alternativen im Geiste durchgegangen. Und schließlich hat sie es mit der Angst zu tun bekommen, dass Fielding etwas zugestoßen sein könnte. Vielleicht hatte er sich ja verletzt. Vielleicht hatte er einen allergischen Anfall mit starkem Ausschlag oder sogar einem anaphylaktischen Schock. Vielleicht hatte er Selbstmord begangen. Vielleicht hatte er den Zeitpunkt seines Selbstmordes so gelegt, dass sie diejenige war, die ihn finden musste, weil er glaubte, dass sie es schon verkraften würde. Die Leute nehmen immer an, dass sie alles verkraftet. Also könnte es ihr tragisches Schicksal sein, ihn mit einer Kugel im Kopf oder mit dem Magen voller Tabletten im Bett anzutreffen und die Situation meistern zu müssen. Anscheinend weiß nur ihre Nichte, dass Scarpetta Grenzen hat, weshalb ihr Lucy fast nie etwas erzählt. Seit September hat sie ihre Nichte nicht gesehen. Etwas ist da im Busch, und offenbar denkt Lucy, dass Scarpetta damit überfordert wäre.
»Tja, ich kann Marino nirgendwo finden«, sagt Scarpetta zu Bruce. »Wenn Sie also von ihm hören, richten Sie ihm bitte aus, dass ich ihn suche und dass eine Sitzung stattfindet.«
»Junius Eise könnte wissen, wo er steckt«, erwidert Bruce. »Sie kennen doch den Typen aus der Kriminaltechnik. Eise wollte sich gestern Abend mit ihm treffen und vielleicht in den Polizeiclub gehen.«
Scarpetta erinnert sich an Dr. Marcus’ Worte bei seinem Anruf vor einer knappen Stunde. Es hatte etwas mit neu entdeckten Spuren zu tun, die offenbar der Grund für diese Sitzung sind, und jetzt kann sie Marino nicht ausfindig machen. Gestern Abend war er im Polizeiclub und hat vermutlich mit Mr. Kriminaltechnik persönlich ein paar Biere getrunken. Sie hat keine Ahnung, was da gespielt wird, und Marino geht nicht ans Telefon. Sie drückt die Milchglastür auf und betritt ihren früheren Wartebereich.
Zu ihrem Schrecken sitzt Mrs. Paulsson auf dem Sofa. Sie starrt ins Leere, ihre Hände umklammern die Handtasche auf ihrem Schoß. »Mrs. Paulsson?«, sagt Scarpetta besorgt und geht auf sie zu. »Kümmert man sich schon um Sie?«
»Man hat mich zur Öffnungszeit hierher bestellt«, antwortet sie. »Und dann wurde ich gebeten zu warten, weil der Chefpathologe noch nicht da sei.«
Niemand hat Scarpetta mitgeteilt, dass Mrs. Paulsson bei der Besprechung mit Dr. Marcus anwesend sein würde. »Kommen Sie«, fordert sie sie auf. »Ich begleite Sie hinein. Sind Sie mit Dr. Marcus verabredet?«
»Ich glaube schon.«
»Ich bin es auch«, erwidert Scarpetta. »Also gehen wir wahrscheinlich zu derselben Besprechung. Kommen Sie, folgen Sie mir einfach.«
Langsam steht Mrs. Paulsson vom Sofa auf. Sie wirkt, als wäre sie müde oder hätte Schmerzen. Scarpetta wünscht sich echte Pflanzen in dem Wartebereich, nur ein paar, um eine wärmere und lebendigere Atmosphäre zu schaffen, damit die Menschen sich weniger verlassen fühlen. Auf der ganzen Welt gibt es keinen einsameren Ort als ein Leichenschauhaus. Kein Mensch sollte gezwungen sein, dort einen Besuch abzustatten, und den Betreffenden auch noch warten zu lassen ist wirklich der Gipfel. Sie drückt auf einen Knopf neben einem Fenster. Auf der anderen Seite der Scheibe befindet sich eine Theke, danach kommt ein Stück graublauer Teppich und dahinter eine Tür, die in die Verwaltung führt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, gellt eine Frauenstimme durch die Gegensprechanlage.
»Dr. Scarpetta«, meldet sie sich an.
»Kommen Sie herein«, entgegnet die Stimme, und die Glastür rechts vom Fenster öffnet sich mit einem Klicken.
Scarpetta hält Mrs. Paulsson die Tür auf. »Hoffentlich warten Sie noch nicht lange«, meint sie zu ihr. »Tut mir Leid, dass sich niemand um Sie gekümmert hat. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich Ihnen einen gemütlicheren Sitzplatz und einen Kaffee besorgt.«
»Man hat mir geraten, früh zu kommen, wenn ich noch eine Parklücke finden wollte«, antwortet sie und blickt sich um, als sie in ein Vorzimmer kommen, wo Sekretärinnen Akten ablegen und an Computern arbeiten.
Scarpetta merkt auf Anhieb, dass Mrs. Paulsson noch nie in der Gerichtsmedizin war. Das erstaunt sie nicht. Dr. Marcus gehört nicht zu den Leuten, die viel Zeit im trauten Gespräch mit Angehörigen verbringen, während Dr. Fielding viel zu ausgebrannt ist, um sich auch noch diese emotionale Belastung aufzubürden. Sie hat den Verdacht, dass Mrs. Paulsson aus strategischen Gründen herbestellt worden ist und dass sie selbst, Scarpetta, bald allen Grund bekommen wird, sich zu ärgern. Eine Sekretärin, die in ihrer Bürokabine sitzen bleibt, bittet sie, gleich nach hinten in den Konferenzraum durchzugehen. Dr. Marcus sei ein wenig verspätet. Scarpetta fällt auf, dass die Sekretärinnen niemals ihre Bürokabinen verlassen, sodass man beim Betreten des Vorzimmers den Eindruck hat, es seien gar keine Menschen hier, sondern nur Trennwände.
»Kommen Sie«, sagt Scarpetta und berührt Mrs. Paulsson am Rücken. »Möchten Sie einen Kaffee? Wir holen uns welchen, und dann setzen wir uns schon mal hin.«
»Gilly ist noch hier«, stößt sie hervor, geht steifbeinig weiter und sieht sich ängstlich um. »Sie erlauben nicht, dass ich sie mitnehme.« Mrs. Paulsson bricht in Tränen aus und knetet nervös den Trageriemen ihrer Handtasche. »Es ist nicht richtig, dass sie noch hier ist.«
»Welche Begründung hat man Ihnen dafür gegeben?«, fragt Scarpetta, während sie auf den Konferenzraum zugehen.
»Alles ist nur Franks Schuld. Sie hat so an ihm gehangen, und er hat ihr versprochen, sie könnte zu ihm ziehen. Das wollte sie unbedingt.« Sie weint noch heftiger, während Scarpetta an der Kaffeemaschine stehen bleibt und Kaffee in Styroporbecher einschenkt. »Gilly hat dem Richter gesagt, sie möchte nach diesem Schuljahr nach Charleston ziehen. Jetzt will er sie dorthin holen.«
Scarpetta tritt mit den Bechern in den Konferenzraum und setzt sich diesmal an den Mittelteil des langen polierten Tisches. Sie und Mrs. Paulsson sind allein in dem großen, leeren Raum. Benommen starrt Mrs. Paulsson auf das anatomische Modell, das in einer Ecke am Gestell hängt. Als sie den Kaffeebecher an die Lippen hebt, zittert ihre Hand.
»Wissen Sie, Franks Familie ist in Charleston begraben«, sagt sie. »Schon seit vielen Generationen. Meine Familie liegt hier, auf dem Friedhof von Hollywood, und ich habe dort auch eine Grabstelle. Warum muss das denn so kompliziert sein? Er will Gilly nur nach Charleston holen, um mir das Leben schwer zu machen, um sich an mir zu rächen und mich in ein schlechtes Licht zu rücken. Er hat schon oft gedroht, mich um den Verstand zu bringen, damit ich in der Irrenanstalt lande. Tja, diesmal könnte er es schaffen.«
»Reden Sie beide noch miteinander?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Bei ihm kann man das nicht reden nennen. Er teilt mir etwas mit und gibt mir Anweisungen. Alle sollen denken, dass er ein wundervoller Vater ist. Aber er liebt sie nicht so wie ich. Es ist seine Schuld, dass sie nicht mehr lebt.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt. Warum ist es seine Schuld?«
»Ich weiß genau, dass er dahintersteckt. Er will mich nur fertig machen. Zuerst hat er versucht, mir Gilly wegzunehmen, indem sie zu ihm ziehen sollte. Und jetzt nimmt er sie mir für immer. Er will, dass ich durchdrehe, damit niemand merkt, was für ein miserabler Ehemann und Vater er in Wirklichkeit ist. Kein Mensch erkennt die Wahrheit, und die Leute sehen nur das, was sie sehen wollen, nämlich, dass ich übergeschnappt bin. Und dann werden alle Mitleid mit ihm haben. Aber es gibt eine Wahrheit.«
Sie wenden sich um, als die Tür des Konferenzraums aufgeht und eine gut gekleidete Frau hereinkommt. Sie ist schätzungsweise Ende dreißig oder Anfang vierzig und hat die frische Ausstrahlung eines Menschen, der die Zeit hat, genug zu schlafen, sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben und sich regelmäßig die Strähnchen im blonden Haar auffrischen zu lassen. Die Frau stellt einen ledernen Aktenkoffer auf den Tisch und nickt Mrs. Paulsson lächelnd zu, als wären sie alte Bekannte. Die Schlösser des Aktenkoffers öffnen sich mit einem lauten Klacken, und nachdem die Frau eine Aktenmappe und einen Notizblock herausgeholt hat, nimmt sie Platz.
»Ich bin FBI Special Agent Weber, Karen Weber.« Sie sieht Scarpetta an. »Sie müssen Dr. Scarpetta sein. Man sagte mir, dass Sie hier sein würden. Wie fühlen Sie sich, Mrs. Paulsson? Ich habe nicht mit Ihnen gerechnet.«
Mrs. Paulsson kramt ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und wischt sich die Augen ab. »Guten Morgen«, erwidert sie.
Scarpetta muss sich zusammenreißen, um nicht mit der Frage herauszuplatzen, warum Special Agent Weber und das FBI mit dem Fall befasst sind. Da Gillys Mutter mit am Tisch sitzt, übt sich Scarpetta in Zurückhaltung. Aber sie versucht es indirekt.
»Sind Sie vom Büro in Richmond?«, fragt sie Special Agent Weber.
»Aus Quantico«, entgegnet diese. »Aus der Abteilung für Verhaltensforschung. Kennen Sie unsere neuen forensischen Labors in Quantico?«
»Nein, ich fürchte nicht.«
»Sie sind wirklich einen Besuch wert.«
»Da bin ich ganz sicher.«
»Was führt Sie heute hierher, Mrs. Paulsson?«, erkundigt sich Special Agent Weber.
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie. »Ich bin wegen dem Bericht hier. Sie wollen mir Gillys Schmuck aushändigen. Sie hat Ohrringe und ein Armband getragen, ein kleines Lederarmband, das sie nie abnahm. Außerdem hieß es, der Chef möchte ein paar Worte mit mir wechseln.«
»Sie nehmen an der Besprechung teil?« Verwirrung zeichnet sich auf dem attraktiven, gepflegten Gesicht der FBI-Agentin ab.
»Das weiß ich nicht.«
»Sie sind wegen Gillys Berichten und ihrer persönlichen Gegenstände hier?«, wiederholt Scarpetta und ahnt, dass da ein Fehler passiert sein muss.
»Ja, man hat mir gesagt, ich könnte sie um neun Uhr abholen. Bis jetzt habe ich es einfach nicht über mich gebracht. Ich habe einen Scheck dabei, weil ich eine Gebühr bezahlen muss«, fährt Mrs. Paulsson mit unverändert ängstlichem Blick fort. »Vielleicht dürfte ich gar nicht hier sein. Eine Besprechung hat niemand erwähnt.«
»Tja, wo Sie jetzt schon einmal da sind«, meint Special Agent Weber, »würde ich Ihnen gerne eine Frage stellen, Mrs. Paulsson. Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch? Sie sagten, Ihr Mann, Ihr Ex-Mann, sei Pilot. Ist das richtig?«
»Nein. Er ist kein Pilot. Ich habe gesagt, dass er das nicht ist.«
»Oh. Gut. Ich konnte nämlich keine Unterlagen finden, in denen steht, dass er irgendwann einmal den Pilotenschein gemacht hat«, antwortet Special Agent Weber. »Also war ich ein bisschen verwirrt.« Sie lächelt.
»Viele Leute glauben, er wäre Pilot«, fährt Mrs. Paulsson fort.
»Verständlicherweise.«
»Er umgibt sich gerne mit Piloten, vor allem mit welchen vom Militär und ganz besonders mit weiblichen. Ich wusste schon immer, was er da treibt.«
»Könnten Sie das etwas genauer erklären?«, fordert Special Agent Weber sie auf.
»Oh, er führt flugärztliche Untersuchungen durch. Sie können sich das sicher vorstellen«, erwidert sie. »Dabei kommt er sich ganz toll vor. Eine Frau im Fliegeroverall spaziert in seine Praxis, und der Rest ist ja dann wohl klar.«
»Haben Sie gehört, dass er weibliche Piloten sexuell belästigt hätte?«, fragt Special Agent Weber mit ernster Miene.
»Er streitet es immer ab, und jeder glaubt ihm«, antwortet sie. »Wissen Sie, dass er eine Schwester bei der Air Force hat? Ich habe mich schon oft gefragt, ob da ein Zusammenhang besteht. Sie ist einige Jahre älter als er.«
In diesem Augenblick betritt Dr. Marcus den Konferenzraum. Er trägt wieder ein weißes Baumwollhemd, durch das ein ärmelloses Unterhemd durchschimmert, und seine Krawatte ist dunkelblau und schmal. Er blickt an Scarpetta vorbei und sieht Mrs. Paulsson an.
»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagt er in befehlsgewohntem, aber freundlichem Ton.
»Mrs. Paulsson«, sagt Dr. Scarpetta. »Das ist Dr. Marcus, der Chefpathologe.«
»Hat eine von Ihnen Mrs. Paulsson hergebeten?« Er blickt erst Scarpetta, dann Special Agent Weber an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«
Mrs. Paulsson steht vom Tisch auf. Ihre Bewegungen sind langsam und unsicher, als würden ihre Gliedmaßen widersprüchliche Botschaften bekommen. »Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich bin nur wegen der Papiere, wegen der kleinen herzförmigen Goldohrringe und des Lederarmbands hier.«
»Ich glaube, es war mein Fehler«, meint Scarpetta und erhebt sich ebenfalls. »Ich habe sie im Warteraum getroffen und voreilige Schlüsse daraus gezogen. Tut mir Leid.«
»Schon gut«, sagt Dr. Marcus zu Mrs. Paulsson. »Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen vielleicht herkommen. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.« Er lächelt herablassend. »Der Fall Ihrer Tochter wird hier mit höchster Dringlichkeit behandelt.«
»Oh«, entgegnet Mrs. Paulsson.
»Ich begleite Sie hinaus.« Scarpetta hält ihr die Tür auf. »Es tut mir wirklich Leid«, wiederholt sie, als sie über den graublauen Teppich und an der Kaffeemaschine vorbei zum Hauptflur gehen. »Hoffentlich habe ich Sie nicht in eine peinliche Situation gebracht oder aufgeregt.«
»Sagen Sie mir, wo Gilly ist.« Sie bleibt mitten auf dem Flur stehen. »Ich muss es wissen. Bitte sagen Sie mir, wo genau sie ist.«
Scarpetta zögert. Obwohl sie solche Fragen öfter hört, fällt es ihr nicht leicht, darauf zu antworten. »Gilly ist auf der anderen Seite dieser Türen.« Sie dreht sich um und zeigt auf einige Türen, die vom Flur abgehen. Dahinter befinden sich weitere Türen. Dann kommt das Leichenschauhaus mit seinen Kühl- und Gefrierkammern.
»Bestimmt liegt sie in einem Sarg. Ich habe gehört, dass es in Einrichtungen wie dieser Särge aus Fichtenholz gibt.« Mrs. Paulssons Augen füllen sich mit Tränen.
»Nein, sie liegt nicht in einem Sarg. Wir haben keine Särge hier. Die Leiche Ihrer Tochter befindet sich in einer Kühlkammer.«
»Bestimmt muss mein armes Kind schrecklich frieren«, schluchzt sie.
»Gilly spürt die Kälte nicht, Mrs. Paulsson«, tröstet Scarpetta sie. »Sie leidet nicht, und sie hat keine Schmerzen, das versichere ich Ihnen.«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Ja«, antwortet Scarpetta. »Ich habe sie untersucht.«
»Bitte sagen Sie mir, dass sie nicht gelitten hat. Bitte.«
Aber das kann Scarpetta ihr nicht bestätigen, da es eine Lüge wäre. »Es müssen noch einige Tests durchgeführt werden«, entgegnet sie. »Die Labors werden noch eine Weile beschäftigt sein. Alle geben sich die größte Mühe, herauszufinden, was genau Gilly zugestoßen ist.«
Mrs. Paulsson schluchzt leise, als Scarpetta sie zurück in die Verwaltung begleitet und eine der Sekretärinnen bittet, ihre Bürokabine zu verlassen, um Mrs. Paulsson die Kopien der angeforderten Berichte und Gillys persönliche Habe auszuhändigen, die lediglich aus einem Paar herzförmiger Ohrringe aus Gold und einem Lederarmband besteht. Ihr Pyjama, das Bettzeug und alles, was die Polizei sonst sichergestellt hat, gelten als Beweisstücke und müssen hier bleiben. Gerade will Scarpetta in den Konferenzraum zurückkehren, als Marino erscheint. Mit gesenktem Kopf und gerötetem Gesicht eilt er den Flur entlang.
»Bis jetzt war es kein guter Morgen«, stellt sie fest, nachdem er näher gekommen ist. »Für dich offenbar auch nicht. Ich habe versucht, dich zu erreichen. Wie ich annehme, hast du meine Nachricht erhalten.«
»Was macht sie denn hier?«, platzt er, offenbar bestürzt, heraus und meint damit Mrs. Paulsson.
»Sie will Gillys persönliche Sachen und Kopien der Berichte abholen.«
»Geht das, obwohl noch nicht entschieden ist, wer ihre Leiche bekommt?«
»Sie ist die nächste Angehörige. Ich bin nicht sicher, welche Berichte man ihr aushändigen wird. Inzwischen verstehe ich hier überhaupt nichts mehr«, sagt Scarpetta. »Das FBI ist zu der Besprechung erschienen. Keine Ahnung, wer sonst noch kommt. Die neuste Information lautet, dass Frank Paulsson angeblich Pilotinnen sexuell belästigt.«
»Hm?« Marino hat es eilig und benimmt sich reichlich merkwürdig. Außerdem riecht er nach Schnaps und sieht ziemlich jämmerlich aus.
»Bei dir alles in Ordnung?«, erkundigt sie sich. »Ach, was rede ich? Natürlich nicht.«
»Ist nicht weiter schlimm«, erwidert er.