4

Im Konferenzraum der Gerichtsmedizin zieht sich Scarpetta einen Stuhl am Fußende des Tisches heran.

Marino holt sich einen Stuhl, der an der Wand steht, und platziert ihn neben ihrem. Er beugt sich zu ihr hinüber. »Die Mitarbeiter hassen ihn wie die Pest«, flüstert er.

Sie antwortet nicht und nimmt an, dass Julie, die Sekretärin, die Quelle für diese Information ist. Dann kritzelt er etwas auf einen Block und schiebt ihn ihr hin. »FBI eingeschaltet«, liest sie.

Offenbar hat Marino herumtelefoniert, während Scarpetta mit Dr. Marcus in der Bibliothek war. Sie ist verblüfft, denn Gilly Paulssons Tod fällt eigentlich nicht unter den Zuständigkeitsbereich des FBI. Im Augenblick wird noch nicht einmal von einem Verbrechen ausgegangen, da weder eine Todesursache noch eine Todesart bekannt ist. Als sie den Notizblock dezent zu Marino zurückschiebt, spürt sie, dass Dr. Marcus sie beide beobachtet. Kurz fühlt sie sich wie in ihrer Schulzeit, als sie heimlich Zettel weitergereicht hat und dafür von den Nonnen zurechtgewiesen wurde. Marino wagt es tatsächlich, eine Zigarette herauszuholen und damit auf den Notizblock zu klopfen.

»Ich fürchte, in diesem Gebäude ist das Rauchen verboten«, durchschneidet Dr. Marcus’ befehlsgewohnte Stimme die Stille.

»Und das ist auch gut so«, gibt Marino zurück. »Passivrauchen kann nämlich tödlich sein.«

Aus Dr. Marcus’ Mitarbeiterstab kennt Scarpetta niemanden – mit Ausnahme seines Stellvertreters Jack Fielding, der ihrem Blick bis jetzt ausgewichen ist und seit ihrer letzten Begegnung offenbar eine Hautkrankheit bekommen hat. Fünf Jahre sind vergangen, denkt sie, und sie kann kaum fassen, was aus ihrem eitlen, Bodybuilding treibenden ehemaligen Kollegen geworden ist. Fielding war nie sehr begabt in Verwaltungsdingen und auch nicht unbedingt für hochfliegende medizinische Theorien bekannt, doch er hat sich in den zehn Jahren, die er für sie gearbeitet hat, stets loyal, respektvoll und aufmerksam gezeigt. Nie hat er versucht, ihre Autorität zu untergraben oder ihren Platz einzunehmen. Allerdings ist er auch nicht für sie in die Bresche gesprungen, als Mächte, die skrupelloser waren als er, erfolgreich beschlossen haben, sie loszuwerden.

Fielding hat den Großteil seiner Haarpracht verloren, und sein früher attraktives Gesicht ist heute fleckig und verquollen. Seine Augen tränen. Er schnieft ständig. Drogen würde er niemals anrühren, da ist sich Scarpetta ganz sicher, aber er sieht aus wie ein Trinker. Sie bezweifelt, dass er eine Erkältung, die Grippe oder eine sonstige ansteckende Krankheit hat. Vielleicht ist es ja ein Kater. Womöglich leidet er an einer Histamin-Reaktion auf irgendetwas. Scarpetta entdeckt einen rot entzündeten Ausschlag oben im V-Ausschnitt seines OP-Anzugs, und ihr Blick gleitet die weißen Ärmel seines offenen Labormantels und die Konturen seiner Arme entlang bis zu den wunden, schuppigen Händen. Fielding hat beträchtlich an Muskelmasse verloren. Er ist beinahe abgemagert und scheint an einer oder mehreren Allergien zu leiden. Unselbständige Menschen neigen dazu, Allergien, Krankheiten und Probleme mit der Haut zu entwickeln, und Fielding geht es gesundheitlich offensichtlich ganz und gar nicht gut. Aber vielleicht soll das ja auch so sein, denn wenn es ihm ohne sie gut ginge, würde das bedeuten, dass der Bundesstaat Virginia und die Menschheit im Allgemeinen aufatmen konnten, als man sie vor einem halben Jahrzehnt aus dem Amt gejagt hat. Doch im nächsten Moment zieht sich das kleine, gemeine Ungeheuer in Scarpetta, das sich an Fieldings Leiden ergötzt, schon wieder in sein dunkles Loch zurück, und sie wird von Bestürzung und Sorge ergriffen. Wieder sieht sie ihn an, aber er weigert sich, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen.

»Hoffentlich haben wir vor meiner Abreise Gelegenheit, ein wenig zu plaudern«, sagt sie von ihrem grün gepolsterten Stuhl am Fußende des Tisches aus, als wäre sonst niemand im Raum, nur Fielding und sie. Ganz wie früher, als sie hier Chefin gewesen ist und ein solches Ansehen genoss, dass sie ab und zu von naiven Medizinstudenten und frisch gebackenen Polizisten um ein Autogramm gebeten wurde.

Wieder spürt sie, wie Dr. Marcus sie beobachtet, und zwar so deutlich, als wären seine Blicke Nadeln, die sich in ihre Haut bohren. Er trägt weder Labormantel noch einen Arztkittel, was sie nicht überrascht. Wie die meisten gleichgültigen Chefpathologen, die schon vor Jahren ihren Beruf an den Nagel hätten hängen sollen, da sie ihn vermutlich ohnehin nie geliebt haben, gehört er offensichtlich zu den Leuten, die niemals eine Autopsie selbst durchführen würden, solange sich ein anderer dafür findet.

»Fangen wir an«, verkündet er. »Ich fürchte, wir haben heute Morgen ein volles Haus. Außerdem haben wir Gäste – Dr. Scarpetta und Captain Marino … Oder war es Lieutenant? Arbeiten Sie jetzt in Los Angeles?«

»Kommt ganz drauf an«, erwidert Marino. Seine Augen werden vom Schirm der Baseballkappe verdeckt, und er fingert an seiner nicht angezündeten Zigarette herum.

»Tut mir Leid, aber soweit ich mich erinnere, hat Dr. Scarpetta nicht erwähnt, dass sie Sie mitbringen wollte.« Auch Scarpetta bekommt ihren öffentlichen Dämpfer.

Anscheinend hat er vor, seine Seitenhiebe ab jetzt in Gegenwart von Publikum auszuteilen. Er wird sie dafür büßen lassen, dass sie ihn in seiner schlampigen Bibliothek zur Rede gestellt hat. Dann denkt sie an Marinos Telefonate. Vielleicht hat einer seiner Gesprächspartner Dr. Marcus ja gewarnt.

»Oh, aber natürlich.« Plötzlich fällt es ihm wieder ein. »Sie hat gesagt, dass Sie beide zusammenarbeiten, richtig?«

»Ja«, bestätigt Scarpetta vom Fuß des Tisches aus.

»Also, wir sprechen nur rasch die Fälle durch«, teilt er ihr mit. »Wenn Sie und … äh … Mr. Marino, wenn Sie beide also einen Kaffee trinken wollen. Oder eine Zigarette rauchen, solange das draußen geschieht. Sie sind bei unserer Mitarbeiterbesprechung gern willkommen, aber Sie müssen nicht bleiben.«

Scarpetta erkennt die Warnung, die in seinem Tonfall mitschwingt. Wenn sie sich weiter aufdrängt, wird sie sich eine Art von Aufmerksamkeit gefallen lassen müssen, die bestimmt nicht angenehm sein wird. Dr. Marcus ist Politiker, allerdings kein guter. Offenbar haben die Mächtigen ihn bei seiner Ernennung als willfähig und harmlos eingestuft, also als das genaue Gegenteil von ihr. Allerdings kann es durchaus sein, dass sie sich geirrt haben.

Er wendet sich zu der Frau, die gleich rechts neben ihm sitzt. Sie ist groß und grobknochig, hat ein Pferdegesicht und kurz geschorenes graues Haar. Offenbar ist sie für die Verwaltungsarbeit zuständig, und er fordert sie mit einem Nicken auf anzufangen.

»Okay«, beginnt sie, und alle betrachten die gelben Fotokopien der heutigen Abweisungen, Leichenschauen und Autopsien. »Dr. Ramie, Sie hatten letzte Nacht Bereitschaft?«, fragt sie.

»Allerdings. In der besten Jahreszeit«, erwidert die Angesprochene.

Niemand lacht. Eine düstere Stimmung hängt wie ein Leichentuch über dem Konferenzraum. Und sie hat nichts mit den Patienten am Ende des Flurs zu tun, die auf die letzte und invasivste Untersuchung warten, die je ein irdischer Arzt an ihnen vornehmen wird.

»Als Erstes haben wir Sissy Shirley, eine zweiundneunzigjährige Schwarze aus Hanover County, herzkrank, tot im Bett aufgefunden«, sagt Dr. Ramie mit einem Blick in ihre Notizen. »Sie lebte in einer Einrichtung für betreutes Wohnen und war ein bemerkenswerter Anblick. Ich habe die Leichenschau bereits durchgeführt. Dann hätten wir noch Benjamin Franklin – der heißt wirklich so. Neunundachtzigjähriger Schwarzer, ebenfalls tot im Bett aufgefunden, herzkrank und Nervenversagen …«

»Was?«, unterbricht Dr. Marcus. »Was zum Teufel ist Nervenversagen?«

Einige Anwesende lachen, und Dr. Ramies Gesicht wird rot. Sie ist eine übergewichtige, unscheinbare junge Frau, deren Gesicht nun leuchtet wie ein voll aufgedrehter Halogenstrahler.

»Ich glaube nicht, dass Nervenversagen eine anerkannte Todesursache ist«, weidet sich Dr. Marcus an der Scham seiner Mitarbeiterin. Er ist wie ein Schauspieler, der sich vor einem gebannten Publikum produziert. »Bitte sagen Sie jetzt nicht, wir hätten einen armen Teufel in unsere Klinik gebracht, weil er angeblich an Nervenversagen gestorben ist.«

Seine Scherze sind nicht freundlich gemeint. Kliniken sind für die Lebenden. Mit wenigen Worten hat er es geschafft, die Wirklichkeit der Menschen am Ende des Flurs zu leugnen und sich darüber lustig zu machen. Menschen, die kläglich, kalt und steif in Leichensäcken aus Vinyl, Kunstpelz-Beuteln aus dem Bestattungsinstitut oder nackt auf harten Bahren sowie Stahltischen liegen und dort auf das Skalpell und die Stryker-Säge warten.

»Tut mir Leid«, sagt Dr. Ramie mit glühend roten Wangen. »Ich habe mich verlesen. Hier steht Nierenversagen. Manchmal kann ich meine eigene Handschrift nicht mehr entziffern.«

Dr. Marcus’ Blick ist kalt und undurchdringlich.

Monoton fährt Dr. Ramie fort: »An Mr. Franklin musste ebenfalls eine Leichenschau durchgeführt werden. Das habe ich bereits erledigt. Dann hätten wir da noch Finky … äh … Finder …«

»Finky Finder? Ist das der richtige Name?« Dr. Marcus’ Stimme unterbricht sie in schneidendem Ton.

Bei Dr. Ramies Anblick befürchtet Scarpetta, die arme Frau könnte in Tränen ausbrechen und aus dem Raum laufen. »Ich habe den Namen vorgelesen, der mir genannt wurde«, entgegnet sie förmlich. »Zweiundzwanzigjährige Schwarze, tot auf der Toilette, Nadel noch im Arm. Vermutlich eine Überdosis Heroin. Das ist der zweite Fall in vier Tagen in Spotsylvania. Und das hier habe ich eben erhalten.« Umständlich zieht sie eine Telefonnotiz hervor. »Unmittelbar vor der Mitarbeitersitzung haben wir einen Anruf wegen eines zweiundvierzigjährigen Weißen namens Theodore Whitby bekommen. Verletzt beim Arbeiten mit einem Traktor.«

Dr. Marcus’ Augen blinzeln hinter der kleinen Metallbrille. Die Mienen der Anwesenden sind ausdruckslos. Lass es, sagt Scarpetta lautlos zu Marino. Aber er tut es trotzdem.

»Verletzt?«, fragt er. »Lebt er denn noch?«

»Den Anruf«, stammelt Dr. Ramie, »habe ich nicht selbst entgegengenommen. Nicht persönlich. Dr. Fielding …«

»Nein, ich auch nicht«, fällt Fielding ihr ins Wort wie ein zuschnappendes Pistolenschloss.

»Sie auch nicht? Oh, dann war es Dr. Martin. Die Notiz ist von ihm«, fährt Dr. Ramie fort, den hochroten Kopf verlegen über die Telefonnotiz gebeugt. »Niemand scheint genau zu wissen, was passiert ist, aber er saß angeblich auf dem Traktor oder stand daneben. Und im nächsten Moment sahen seine Kollegen ihn schwer verletzt auf dem Boden liegen. Gegen halb neun heute Morgen, also vor einer knappen Stunde. Offenbar hat er sich selbst überfahren, ist runtergefallen oder so, und der Traktor ist über ihn hinweggerollt. Als der Rettungswagen eintraf, war er schon tot.«

»Oh. Er hat sich also umgebracht. Ein Selbstmord«, schlussfolgert Marino und dreht langsam seine Zigarette zwischen den Fingern.

»Eine Ironie des Schicksal, dass es bei dem alten Gebäude an der Nine North Fourteenth Street passiert ist, das gerade abgerissen wird«, fügt Dr. Ramie hinzu.

Scarpetta erinnert sich an den Mann in olivgrüner Hose und dunkler Jacke, der am Heck des Traktors unweit des Rolltors stand. Zu diesem Zeitpunkt lebte er noch. Er sollte sich nicht so dicht am Reifen aufhalten, während er sich am Motor zu schaffen macht, hat sie vorhin noch gedacht. Und jetzt ist er tot.

»Er ist ein Fall für eine Leichenöffnung«, sagt Dr. Ramie, die ihre Fassung und ihre Autorität wenigstens teilweise wiedergewonnen hat.

Scarpetta erinnert sich daran, wie sie in ihrem Leihwagen um die Ecke gebogen und um das alte Gebäude herumgefahren ist und wie der Mann und sein Traktor danach aus ihrem Blickfeld verschwanden. Offenbar hat er den Traktor wenig später wieder zum Laufen gebracht und ist dann gestorben.

»Dr. Fielding, ich schlage vor, Sie übernehmen den Traktortod«, meint Dr. Marcus. »Vergewissern Sie sich, dass er keinen Herzinfarkt oder einen anderen Anfall hatte, bevor er überfahren wurde. Die Auflistung seiner Verletzungen wird umfangreich sein und viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, wie gründlich wir in solchen Fällen vorgehen müssen. Ein makaberer Tod.« Er sieht Scarpetta an. »Es war ein bisschen vor meiner Zeit, aber Sie haben doch früher in dem Gebäude in der Nine North Fourteenth Street gearbeitet.«

»Richtig«, erwidert sie. Der Geist der Vergangenheit. Sie hat das Bild von Mr. Whitby in Schwarz und Olivgrün vor Augen, den sie aus der Ferne gesehen hat und der jetzt auch ein Geist ist. »In diesem Gebäude habe ich angefangen. Ein bisschen vor Ihrer Zeit«, sagt sie. »Dann bin ich hierher umgezogen.« Sie will ihm klar machen, dass sie auch in diesem Gebäude tätig war. Im nächsten Moment fühlt sie sich deshalb ein wenig albern, weil diese Tatsache schließlich allgemein bekannt ist.

Dr. Ramie trägt weiter ihre Fälle vor: ein Tod im Gefängnis ohne verdächtige Begleitumstände, doch dem Gesetz nach muss jeder, der im Gefängnis stirbt, in die Gerichtsmedizin. Ein Mann wurde tot auf einem Parkplatz gefunden, vermutlich erfroren. Eine Frau, die an Diabetes litt, ist beim Aussteigen aus dem Auto aus heiterem Himmel tot umgefallen. Ein plötzlicher Kindstod. Und ein Neunzehnjähriger, der tot mitten auf der Straße lag, möglicherweise aus einem fahrenden Auto erschossen.

»Ich habe einen Gerichtstermin in Chesterfield«, beendet Dr. Ramie ihre Ausführungen. »Jemand muss mich hinfahren. Mein Auto ist schon wieder in der Werkstatt.«

»Ich bringe Sie hin«, erbietet Marino an und zwinkert ihr zu.

Sie macht ein entsetztes Gesicht.

Alle wollen aufstehen, aber Dr. Marcus hält sie zurück. »Bevor Sie gehen«, sagt er, »möchte ich Sie um Ihre Hilfe bitten. Wahrscheinlich können Sie auch ein bisschen Hirngymnastik gebrauchen. Wie Sie wissen, veranstaltet das Institut einen weiteren Lehrgang zum Thema Ermittlung von Todesursachen, und wie immer hat man mich gebeten, einen Vortrag über die Gerichtsmedizin zu halten. Ich habe mir gedacht, ich probiere in dieser Runde einmal ein paar Testfälle aus, da wir heute schließlich eine Expertin in unserer Mitte haben.«

Dreckskerl, denkt Scarpetta. So wird ihre Zusammenarbeit also aussehen. Das Gespräch in der Bibliothek hat überhaupt nichts geändert.

Er hält inne und lässt seinen Blick über den Tisch schweifen. »Eine zwanzigjährige Weiße«, beginnt er, »ist in der siebten Woche schwanger. Ihr Freund tritt sie in den Bauch. Sie ruft die Polizei und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Einige Stunden später stößt sie den Fötus und die Placenta ab. Die Polizei verständigt mich. Was tue ich?«

Niemand antwortet. Offensichtlich sind Dr. Marcus’ Mitarbeiter keine Denksportaufgaben gewohnt, denn sie starren ihn einfach nur an.

»Kommen Sie«, drängt er mit einem Lächeln. »Sagen wir mal, ich hätte gerade so einen Anruf erhalten, Dr. Ramie.«

»Sir?« Wieder errötet sie.

»Los, erklären Sie mir, wie ich mich verhalten soll, Dr. Ramie.«

»So wie bei einem Tod auf dem Operationstisch?«, mutmaßt sie, als hätte eine außerirdische Macht sie soeben ihrer jahrelangen medizinischen Ausbildung beraubt.

»Sonst noch jemand?«, fragt Dr. Marcus. »Dr. Scarpetta?« Er spricht ihren Namen betont langsam aus, als wolle er hervorheben, dass er sie nicht mehr Kay nennt. »Hatten Sie je so einen Fall?«

»Leider ja«, antwortet sie.

»Dann verraten Sie uns doch bitte, wie er juristisch aussieht«, fordert er sie scheinbar freundlich auf.

»Eine Schwangere zu verprügeln ist ganz eindeutig eine Straftat«, erwidert sie. »Und deshalb würde ich auf dem Formular CME-1 den Tod dieses Fötus als Tötungsdelikt bezeichnen.«

»Interessant.« Dr. Marcus sieht sich am Tisch um und feuert dann den nächsten Schuss auf sie ab. »In Ihrem Anfangsbericht würde also Tötungsdelikt stehen. Wäre das nicht ein wenig kühn? Schließlich ist es Aufgabe der Polizei und nicht unsere, festzustellen, ob Vorsatz vorliegt.«

Hinterhältiger Mistkerl, denkt sie. »Dem Gesetz nach ist es unsere Aufgabe, Ursache und Art des Todes zu bestimmen«, entgegnet sie. »Wie Sie sich möglicherweise erinnern, wurde dieser Paragraph in den späten Neunzigern geändert, nachdem ein Mann einer Frau in den Bauch geschossen hatte. Sie überlebte, aber ihr ungeborenes Kind starb. In dem Szenario, das Sie uns eben geschildert haben, Dr. Marcus, würde ich vorschlagen, dass Sie den Fötus herbringen lassen. Obduzieren Sie ihn, und geben Sie ihm eine Fallnummer. Auf dem Totenschein mit dem gelben Rand gibt es keine Zeile für Todesart, weshalb Sie unter die Rubrik Todesursache eintragen müssen: Tod des Fötus im Mutterleib in Folge eines Übergriffs auf die Mutter. Sie müssen einen Totenschein mit gelbem Rand nehmen, da der Fötus ja nicht geboren wurde. Heften Sie der Fallakte eine Kopie bei, da der Totenschein in einem Jahr, wenn das Amt für Statistik seine Daten komplettiert hat, nicht mehr existieren wird.«

»Und was machen wir mit dem Fötus?«, fragt Dr. Marcus, nun nicht mehr so freundlich.

»Das hängt von der Familie ab.«

»Er ist nicht einmal zehn Zentimeter groß. Das reicht nicht für eine Beerdigung.«

»Dann legen Sie ihn in Formalin ein. Geben Sie ihn der Familie, und lassen Sie sie selbst entscheiden.«

»Und ich soll es als Tötungsdelikt bezeichnen«, sagt er kühl.

»So will es das neue Gesetz«, erinnert sie ihn. »In Virginia ist ein Angriff in der Absicht, Familienmitglieder, ob nun geboren oder nicht, zu töten, ein Kapitalverbrechen. Selbst wenn Sie den Vorsatz nicht nachweisen können und die Anklage schließlich auf Körperverletzung zum Schaden der Mutter lautet, steht darauf dieselbe Strafe wie auf Mord. Beim Weg durch die Instanzen wird dann irgendwann Totschlag oder Ähnliches daraus. Der springende Punkt ist, dass kein Vorsatz vorliegen muss. Der Fötus muss nicht einmal lebensfähig gewesen sein. Es hat in jedem Fall ein Gewaltverbrechen stattgefunden.«

»Irgendwelche Einwände?«, fragt Dr. Marcus seine Mitarbeiter. »Keine Anmerkungen?«

Niemand antwortet, nicht einmal Fielding.

»Dann versuchen wir es mit einem anderen Fall«, verkündet Dr. Marcus mit einem verkniffenen Lächeln.

Nur zu, denkt Scarpetta. Mach schon, du mieser Hund.

»Ein junger Mann liegt in einem Hospiz«, beginnt Dr. Marcus. »Er wird an AIDS sterben und bittet den Arzt, den Stecker zu ziehen. Als dieser die lebenserhaltenden Maschinen abschaltet, stirbt der Patient. Ist das ein Fall für die Gerichtsmedizin oder nicht? Handelt es sich um ein Tötungsdelikt? Warum fragen wir nicht wieder unsere Gastexpertin? Hat der Arzt ein Tötungsdelikt begangen?«

»Es ist ein natürlicher Tod, solange der Arzt dem Patienten keine Kugel in den Kopf jagt«, erwidert Scarpetta.

»Aha. Dann sind Sie also eine Befürworterin der Euthanasie.«

»Zustimmung im Vollbesitz der geistigen Kräfte ist ein sehr schwammiger Begriff.« Sie geht nicht auf seine alberne Anschuldigung ein. »Häufig leidet der Patient an Depressionen, und jemand in diesem Zustand kann keine Entscheidung im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte fällen. Es ist eher eine gesellschaftliche Frage.«

»Darf ich Ihre Ausführungen erläutern?«, sagt Dr. Marcus.

»Ich bitte darum.«

»Da liegt also ein Mann im Hospiz und meint: ›Ich glaube, ich möchte heute sterben.‹ Soll sein Hausarzt dieser Bitte entsprechen?«

»Tatsache ist, dass ein Patient in einem Hospiz bereits über diese Möglichkeit verfügt. Er kann beschließen zu sterben«, erwidert sie. »Er kann Morphium gegen die Schmerzen bekommen, wann immer er das wünscht, also bittet er einfach um mehr, schläft ein und stirbt an einer Überdosis. Er kann ein Armband mit der Aufschrift ›Nicht wiederbeleben‹ tragen. Dann müssen die Sanitäter ihn auch nicht zurückholen. Und so stirbt er, wahrscheinlich, ohne dass das für jemanden Konsequenzen hat.«

»Aber hätte es das nicht in unserem Fall?«, beharrt Dr. Marcus. Sein mageres Gesicht ist starr vor Wut, als er sie finster anblickt.

»Menschen liegen in Hospizen, weil sie ohne Schmerzen leben und in Frieden sterben wollen«, antwortet sie. »Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte beschließen, das bereits oben erwähnte Armband zu tragen, wollen im Grunde genommen dasselbe. Eine Überdosis Morphium, das Abschalten lebenserhaltender Maschinen in einem Hospiz, ein Mensch, der ein Armband trägt und nicht wiederbelebt wird. Das sind nicht unsere Themen. Falls man Sie je zu so einem Fall hinzuzieht, Dr. Marcus, hoffe ich, dass Sie ablehnen.«

»Irgendwelche Anmerkungen?«, fragt Dr. Marcus spitz, sucht seine Akten zusammen und schickt sich an zu gehen.

»Ja«, sagt Marino laut. »Haben Sie schon mal daran gedacht, als Moderator bei einer Quizsendung anzufangen?«

Загрузка...