Die Morgensonne bescheint warm den Schreibtisch, der am Fenster steht. Rudy sitzt daran und gibt etwas in den Computer ein. Er wartet, tippt hastig, wartet wieder, bewegt den Cursor, blättert Seiten durch und durchsucht das Internet nach etwas, das seiner Ansicht nach sicher dort zu finden sein wird. Es muss einfach da sein. Bestimmt hat der Psycho etwas im Internet gesehen, das ihm den Kick gegeben hat. Inzwischen weiß Rudy, dass die Bombe kein Zufall war.
Seit zwei Stunden sitzt er nun schon im Büro des Ausbildungslagers und tut nichts weiter, als sich durchs Internet zu wühlen, während einer der Forensiker im nahe gelegenen Privatlabor die vollständigen und die bruchstückhaften Fingerabdrücke in die Datenbank IAFIS einspeist. Es gibt bereits Neuigkeiten. Rudys Nerven jaulen auf wie einer von Lucys Ferraris im sechsten Gang. Er wählt eine Telefonnummer, klemmt den Hörer unters Kinn und starrt weiter auf den Flachbildschirm.
»Hallo, Phil«, meldet er sich. »Ein großer Plastikbecher, auf dem die Katze mit Hut aus dem Kinderbuch von Dr. Seuss ist. Ein Halb-Liter-Becher. Deckel ursprünglich weiß. Ja, ja, die Sorte von Becher, wie man sie im Supermarkt oder an Tankstellen zum Selbstbefüllen kriegt. Aber die Katze mit Hut? Das ist eher ungewöhnlich. Können wir das nachverfolgen? Nein, das ist kein Scherz. Das ist doch eine Lizenzsache? Der Film lief vor längerer Zeit, letztes Jahr zu Weihnachten, stimmt’s? Nein, ich habe ihn mir nicht angeschaut, und verschon mich mit deinen Witzen. Jetzt mal im Ernst. Wo könnte es solche Becher nach so langer Zeit noch geben? Schlimmstenfalls hatte der Täter sie schon seit einer Weile. Aber wir müssen es versuchen. Ja, wir haben Fingerabdrücke darauf gefunden. Dieser Typ gibt sich nicht einmal Mühe. Offenbar ist es ihm scheißegal, ob er überall seine Spuren hinterlässt. Auf der Zeichnung, die er der Chefin an die Tür geklebt hat. Im Schlafzimmer, wo Henri angegriffen wurde. Und jetzt auf einer Bombe. Inzwischen haben wir einen Treffer bei IAFIS gelandet. Ja, kaum zu fassen. Nein, mit einem Namen kann ich noch nicht dienen. Vielleicht gibt es ja auch keinen. Die Übereinstimmung wurde bei einem Vergleich von latenten Fingerabdrücken gefunden, und zwar bei partiellen Spuren aus einem anderen Fall. Wir prüfen das nach. Mehr habe ich momentan noch nicht.«
Er legt auf und wendet sich wieder dem Computer zu. Lucy hat mehr Suchmaschinen im Internet laufen, als Pratt & Whitney Turbinen besitzt, aber sie hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht, dass es im World Wide Web auch Informationen über sie geben könnte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie auch keinen Grund dazu. Spezialagenten sind normalerweise nicht auf öffentliche Aufmerksamkeit aus, außer sie sind schon aus dem Dienst ausgeschieden und verspüren einen Drang nach Hollywood. Aber dann bekam es Lucy tatsächlich mit Hollywood zu tun. Sie ist in Henris Fänge geraten, und ihr Leben hat sich dadurch dramatisch verändert. Und zwar zum Schlechteren. Zum Teufel mit Henri, denkt Rudy, während er weitertippt. Zum Teufel mit dieser Möchtegern-Schauspielerin, die unbedingt Polizistin werden wollte. Zum Teufel mit Lucy, weil sie sie eingestellt hat.
Er beginnt eine neue Suche und gibt als Suchbegriffe »Kay Scarpetta« und »Nichte« ein. Jetzt wird es interessant. Rudy greift nach einem Stift, wirbelt ihn zwischen den Fingern wie einen Taktstock herum und liest den Artikel, der im letzten September bei AP veröffentlicht wurde. In dem kurzen Bericht steht nur, dass in Virginia ein neuer Chefpathologe, Dr. Joel Marcus aus St. Louis, ernannt worden ist. Weiterhin heißt es, er habe nach jahrelangen chaotischen Übergangslösungen Scarpettas Platz eingenommen. Allerdings fällt in dem kurzen Artikel auch Lucys Name. Seit ihrem Abschied aus Virginia, steht da, arbeitet Dr. Scarpetta als Beraterin für die Privatdetektei Das Letzte Revier, deren Gründerin ihre Nichte, die ehemalige FBI-Agentin Lucy Farinelli, ist.
Das stimmt nicht ganz, denkt Rudy. Scarpetta arbeitet eigentlich nicht für Lucy. Allerdings bedeutet das nicht, dass sie nicht hin und wieder mit denselben Fällen zu tun haben. Scarpetta würde niemals Lucys Angestellte werden, und er kann ihr das nicht zum Vorwurf machen. Er ist nicht einmal sicher, wie sein eigenes berufliches Verhältnis zu Lucy aussieht. Den Artikel hatte er ganz vergessen, und er erinnert sich, wie wütend er deshalb auf Lucy gewesen ist. Damals hat er sie gefragt, wie zum Teufel ihr Name und der des Letzten Reviers in einen dämlichen Bericht über Dr. Joel Marcus geraten konnten. Öffentliche Aufmerksamkeit kann Das Letzte Revier nämlich ganz und gar nicht gebrauchen, und es ist auch davon verschont geblieben, bis Lucy Kontakt zur Unterhaltungsindustrie bekam und plötzlich alle möglichen Gerüchte in den Zeitungen und Boulevardmagazinen im Fernsehen verbreitet wurden.
Er startet eine weitere Suche, starrt angestrengt auf den Bildschirm und bemüht sich, etwas zu finden, was ihm bis jetzt noch nicht eingefallen ist. Plötzlich scheinen seine Finger wie von selbst weiterzutippen, und er gibt den Suchbegriff »Henrietta Waiden« ein. Zeitverschwendung, denkt er. Denn als sie noch arbeitslose Schauspielerin der zweiten Garnitur war, lief sie unter Jen Thomas oder einem ähnlichen Dutzendnamen. Ohne hinzuschauen, greift er nach seiner Pepsi und kann sein Glück kaum fassen. Die Suche liefert drei Ergebnisse.
»Hoffentlich bringt es was«, sagt er ins leere Büro hinein, während er den ersten Eintrag anklickt.
Eine Henrietta Taft Waiden, die vor hundert Jahren gestorben ist, war eine wohlhabende Gegnerin der Sklaverei und lebte in Lynchburg, Virginia. Junge, Junge, die Frau hat sich bestimmt ganz schön unbeliebt gemacht. Er kann sich kaum vorstellen, wie es gewesen ist, zur Zeit des Bürgerkriegs in Virginia gegen die Sklaverei zu kämpfen. Eine Frau mit Courage, das muss er ihr lassen. Er klickt den zweiten Eintrag an. Diese Henrietta Waiden lebt zwar noch, ist aber uralt, wohnt auf einer Farm ebenfalls in Virginia, züchtet Rassepferde und hat kürzlich eine Million Dollar an eine Menschenrechtsorganisation für Afroamerikaner gespendet. Vermutlich eine Nachfahrin der ersten Henrietta Waiden, denkt er und fragt sich, ob Jen Thomas sich den Namen Henrietta Waiden von diesen ehrenwerten noch lebenden oder schon verstorbenen Kämpferinnen für die Gleichberechtigung der Schwarzen ausgeborgt hat. Und wenn ja, warum? Er denkt an die attraktive blonde Henri und ihre aggressiv fordernde Haltung. Welchen Grund könnte sie haben, sich nach Frauen zu benennen, die sich leidenschaftlich gegen die Diskriminierung von Schwarzen engagieren? Vielleicht weil das im liberalen Hollywood schick ist, sagt er sich zynisch und klickt den dritten Eintrag an.
Es handelt sich um einen kurzen Artikel aus dem Hollywood Reporter, der Mitte Oktober erschienen ist.
Henri Waiden, früher Schauspielerin und heute bei der Polizei von Los Angeles, hat bei der angesehenen international operierenden Privatdetektei Das Letzte Revier angeheuert. Inhaberin und Leiterin ist die ehemalige Spezialagentin Lucy Farinelli, Helikopterpilotin und Ferrarifahrerin und zufällig auch die Nichte der berühmten Dr. Kay Scarpetta, die Quincy als Vorbild gedient haben könnte. Das Letzte Revier, das kürzlich eine Filiale im weniger bedeutenden Hollywood, dem in Florida, eröffnet hat, hat seinen geheimnisvollen Wirkungskreis nun auch auf Personenschutz für Stars ausgeweitet. Obwohl die Namen der Kunden streng geheim sind, ist dem Reporter zu Ohren gekommen, dass einige der wichtigsten Schauspieler und Musiker der ersten Garnitur, zum Beispiel Top-Berühmtheiten wie Filmstar Gloria Rustic und der Rapper Rat Riddly, dazugehören. »Meine bislang aufregendste und gewagteste Rolle«, merkt Waiden zu ihrem jüngsten Job an. »Wer könnte einen Star besser schützen als jemand, der einmal selbst in der Branche gearbeitet hat?« »Gearbeitet« ist möglicherweise ein wenig übertrieben, da die blonde Schönheit während ihres Abstechers in die Welt des Films jede Menge Freizeit hatte. Allerdings hat sie das Geld nicht nötig, da ihre Familie bekanntermaßen genug davon besitzt. Waiden ist für kleine Rollen in großen Produktionen wie Ein rascher Tod und Der Abschied bekannt. Seien Sie auf der Hut vor Waiden. Sie ist das Mädchen mit der Kanone.
Rudy druckt den Artikel aus. Er sitzt auf seinem Stuhl, und die Finger ruhen locker auf der Tastatur, während er auf den Bildschirm starrt und überlegt, ob Lucy wohl von dem Artikel weiß. Warum hat sie nicht getobt, als sie davon erfahren hat? Warum hat sie Henri nicht schon vor Monaten gefeuert? Und warum hat sie ihm nichts davon erzählt? Ein solcher Verstoß gegen die Regeln ist eigentlich undenkbar. Es erschreckt ihn, dass Lucy so etwas zulassen konnte, vorausgesetzt, sie war darüber im Bilde. Seines Wissens ist es noch nie dazu gekommen, dass ein Mitarbeiter des Letzten Reviers ein Medieninterview gegeben oder auch nur aus dem Nähkästchen geplaudert hätte, außer es war Bestandteil einer ausgeklügelt geplanten Operation. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden, denkt er und greift zum Telefon.
»Hallo«, sagt er, als Lucy sich meldet. »Wo bist du?«
»In St. Augustine. Beim Auftanken.« Ihr Tonfall ist ängstlich. »Ich habe schon von der Scheißbombe gehört.«
»Deshalb rufe ich nicht an. Vermutlich hast du mit deiner Tante geredet.«
»Marino hat sich bei mir gemeldet. Ich habe keine Zeit, darüber zu sprechen«, erwidert sie zornig. »Ist sonst noch was?«
»Wusstest du, dass deine Freundin ein Interview gegeben und erzählt hat, dass sie bei uns arbeitet?«
»Hier geht es nicht darum, dass sie meine Freundin ist.«
»Darüber streiten wir uns später«, entgegnet Rudy. Er gibt sich viel ruhiger, als er sich fühlt, denn innerlich kocht er. »Antworte mir. Wusstest du davon?«
»Ich weiß nichts von einem Artikel. Was für ein Artikel soll das denn sein?«
Rudy liest ihn ihr am Telefon vor. Nachdem er fertig ist, wartet er auf ihre Reaktion. Ihm ist klar, dass sie reagieren muss, und deshalb fühlt er sich ein bisschen besser. Als sie nicht antwortet, fragt er: »Bist du noch dran?«
»Ja«, gibt sie barsch zurück. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Tja, nun weißt du’s, und wir müssen uns mit einem völlig anderen Sonnensystem auseinander setzen. Mit ihrer reichen Familie zum Beispiel, und was zum Teufel sonst noch dahintersteckt. Aber die wichtigste Frage ist, ob der Psycho diesen Artikel kennt und worum es hier überhaupt geht. Übrigens hat sie den Namen einer Kämpferin gegen die Sklaverei als Künstlernamen angenommen, und sie kommt aus Virginia. Du eigentlich auch. Vielleicht war euer Treffen ja doch nicht ganz zufällig.«
»Das ist ja albern. Jetzt geht die Phantasie mit dir durch«, protestiert Lucy zornig. »Sie stand auf der Liste der Polizisten aus Los Angeles, die schon einmal im Personenschutz …«
»Ach, Schwachsinn«, ruft Rudy aus, und inzwischen merkt man auch ihm die Wut an. »Scheiß auf die Liste. Du hast Vorstellungsgespräche mit verschiedenen Polizisten geführt, und sie ist einfach erschienen. Du wusstest genau, wie wenig Erfahrung sie im Personenschutz hatte, aber du hast sie trotzdem eingestellt.«
»Ich möchte darüber nicht am Telefon sprechen.«
»Ich auch nicht. Rede mit dem Seelenklempner.« Das ist der Spitzname für Benton Wesley. »Warum rufst du ihn nicht an? Das meine ich ernst. Vielleicht fällt ihm ja etwas ein. Sag ihm, ich maile ihm den Artikel. Wir haben Fingerabdrücke. Der Psycho, der die hübsche kleine Zeichnung gemacht hat, hat dir auch das Geschenk im Briefkasten hinterlassen.«
»Große Überraschung. Wie ich schon sagte, wären zwei von diesen Typen wirklich zu viel des Guten. Ich habe schon mit dem Seelenklempner gesprochen«, fährt sie fort. »Er wird mir am Funk soufflieren.«
»Gute Idee. Ach, das hätte ich fast vergessen: Ich habe an dem Isolierband, das an der Bombe war, ein Haar gefunden.«
»Beschreib es.«
»Etwa zwanzig Zentimeter lang, lockig, dunkel. Sieht eindeutig aus wie Kopfhaar. Mehr später. Ruf mich auf dem Festnetz an. Ich habe viel zu tun«, meint er. »Vielleicht weiß deine Freundin etwas, für den Fall, dass du es schaffst, sie dazu zu bringen, einmal im Leben die Wahrheit zu sagen.«
»Nenn sie nicht meine Freundin«, erwidert Lucy. »Lass uns nicht mehr darüber streiten.«