In der lachsfarbenen Villa ist niemand zu Hause, und er muss sich der traurigen Wahrheit stellen, dass sein Plan aus irgendeinem Grund gescheitert ist. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, denn sonst würde es jetzt überall hier von Leuten wimmeln. Zumindest müssten Hinweise darauf zu erkennen sein, dass sich eine zuvor vorhandene Menschenmenge inzwischen verlaufen hat. Absperrband der Polizei zum Beispiel. Außerdem wäre bestimmt etwas darüber in den Nachrichten gekommen. Aber als er langsam an der Villa des großen Fischs vorbeifährt, sieht der Briefkasten unbeschädigt aus. Der kleine Signalwimpel aus Metall ist heruntergeklappt, und nichts deutet darauf hin, dass jemand zu Hause sein könnte.
Er kurvt um den Block, biegt wieder in den Highway A1A ein und kann der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal vorbeizufahren. Dabei denkt er an den Signalwimpel am Briefkasten. Er war hochgeklappt, als er die Große Orange in den Briefkasten gelegt hat, da ist er ganz sicher. Dann fällt ihm ein, dass die Chlorbombe vielleicht immer noch in dem Briefkasten ruht, angeschwollen von Gasen und im Begriff zu explodieren. Was, wenn es so ist? Er muss es wissen. Sonst kann er weder essen noch schlafen. Tief in ihm regt sich eine Wut, die so vertraut und gegenwärtig ist wie seine kurzen Atemzüge. Im Bay Drive, gleich am Highway A1A, steht eine Reihe weißer einstöckiger Mietshäuser. Er biegt auf den Parkplatz ein und steigt aus seinem weißen Auto. Als er sich in Bewegung setzt, hängen ihm die gelockten langen Strähnen seiner schwarzen Perücke in die Augen. Er schiebt sie zurück und geht im Schein der niedrig stehenden Sonne die Straße hinunter.
Manchmal kann er die Perücke riechen, für gewöhnlich, wenn er an etwas anderes denkt oder beschäftigt ist. Dann steigt ihm der schwer zu beschreibende Geruch in die Nase. Plastik ist vielleicht der beste Vergleich, und das verwirrt ihn, weil die Perücke doch aus menschlichem Haar besteht. Also dürfte sie eigentlich nicht nach neuem Plastik riechen, außer er erschnuppert irgendeine Chemikalie, mit der sie bei der Herstellung behandelt worden ist. Palmwedel schwanken im dämmrigen Himmel, und die zarten Wolkenbänder haben hell erleuchtete, blassorangefarbene Ränder, als die Sonne untergeht. Er folgt dem Gehweg und betrachtet die Risse darin und die Gräser, die daraus hervorsprießen. Dabei achtet er darauf, nicht die schönen Häuser anzusehen, an denen er vorbeikommt, da die Leute in Stadtvierteln wie diesem Angst vor Verbrechern haben und jeden Fremden mit Argusaugen beobachten.
Kurz bevor er die lachsfarbene Villa erreicht, passiert er ein großes weißes Haus, das massiv in den Sonnenuntergang ragt. Er macht sich Gedanken über die Frau, die darin wohnt. Dreimal hat er sie jetzt schon gesehen, und sie hat es verdient, vernichtet zu werden. Eines Nachts, als er sich noch spät am Wellenbrecher hinter der lachsfarbenen Villa herumgedrückt hat, hat er sie in ihrem Schlafzimmerfenster im zweiten Stock beobachtet. Die Jalousien waren hochgezogen, und er konnte das Bett, andere Möbelstücke und einen riesigen Plasmafernseher erkennen. Im Fernsehen rannten Menschen, und dann flackerte eine Verfolgungsjagd auf Rennmotorrädern über den Bildschirm. Die Frau stand nackt am Fenster und presste sich dagegen. Ihre an der Scheibe platt gedrückten Brüste sahen abstoßend aus, als sie das Glas mit der Zunge berührte und ekelhafte, unmoralische Bewegungen machte. Zuerst befürchtete er, sie könnte ihn auf dem Wellenbrecher bemerken. Doch sie wirkte wie im Halbschlaf, als sie für die Leute, die nachts noch mit dem Boot unterwegs waren, und für die Männer von der Küstenwache auf der anderen Seite der Bucht ihre Privatvorführung abzog. Pogue ist neugierig, wie sie wohl heißt.
Er fragt sich, ob sie ihre Hintertür offen lässt und die Alarmanlage nicht einschaltet, wenn sie hinaus zum Swimmingpool geht, oder ob sie es beim Zurückkehren ins Haus vielleicht vergisst. Aber möglicherweise benutzt sie den Pool ja auch gar nicht, denkt er weiter. Er hat sie noch kein einziges Mal draußen auf der Terrasse oder bei ihrem Boot gesehen. Falls sie wirklich nie das Haus verlässt, wird es schwierig für ihn werden. Er betastet das weiße Taschentuch in seiner Tasche, zieht es heraus und wischt sich damit das Gesicht ab. Dann blickt er sich um und huscht zur Auffahrt und zum Briefkasten nebenan. Er tut ganz lässig, als würde er hierher gehören, aber er weiß, dass er mit seinen langen dunklen, verfilzten Haarsträhnen auffällt. Haare, die von einer Schwarzen oder Jamaikanerin stammen, passen nicht in diese Gegend, in der ausschließlich Weiße wohnen.
Er war schon einmal in dieser Straße. Auch damals hat er die Perücke getragen und sich Sorgen gemacht, sie könnte Aufmerksamkeit erregen. Aber es ist besser, die Perücke aufzusetzen, als auszusehen wie er selbst. Als er den Briefkasten des großen Fischs öffnet, ist er weder enttäuscht noch erleichtert, ihn leer vorzufinden. Er riecht keine Chemikalien und kann keine Beschädigungen entdecken, nicht einmal eine Verfärbung des schwarzen Lackes an der Innenseite. Also muss er sich mit der Tatsache abfinden, dass seine Bombe nicht die geringste Wirkung gehabt hat. Er ist ein wenig froh darüber, dass die Bombe weg ist, was heißt, dass jemand sie gefunden haben muss. Also weiß sie zumindest davon, und das ist vermutlich besser als gar nichts.
Es ist sechs Uhr abends, und das Haus der nackten Dame beginnt, gegen die herannahende Dunkelheit anzuleuchten. Er riskiert einen Blick auf ihren Gartenweg aus rosafarbenem Beton und schaut durch den schmiedeeisernen Zaun in den Vorgarten und durch die Eingangstür aus dickem Glas. Pogue schlendert weiter und denkt daran, wie sie am Fenster gestanden hat. Er hasst sie dafür, dass sie sich an die Scheibe gepresst hat, dafür, dass sie hässlich und abstoßend ist, und dafür, dass sie ihren hässlichen und abstoßenden Körper auf diese Weise präsentiert. Leute wie sie glauben, dass ihnen die Welt gehört und dass sie ihm und seinesgleichen einen Gefallen tun, wenn sie ihn gnädigerweise an ihrem Körper oder ihren Wohltaten teilhaben lassen. Die nackte Dame ist geizig. Bei ihr ist alles nur Theater.
Weiber wie die führen die Männer bloß an der Nase herum. So lautete die Anmerkung von Pogues Mutter zu Frauen wie der nackten Dame. Seine Mutter war genauso, ein ganz schwerer Fall sogar, weshalb sein Vater sich irgendwann im Suff eingeredet hat, es sei wohl die beste Idee, sich an einem Balken in der Garage aufzuhängen. Pogue kennt sich also aus mit Weibern wie der da. Und falls einmal ein Mann mit Werkzeuggürtel und Arbeitsstiefeln an die Tür der nackten Dame klopfen und verlangen sollte, dass sie ihr Versprechen auch einlöst, würde sie vor Angst wahrscheinlich schreien und die Polizei rufen. Das ist typisch für Leute wie die nackte Dame. Sie tun so etwas jeden Tag, ohne sich was dabei zu denken.
Inzwischen sind zu viele Tage vergangen, und er hat sein Werk noch nicht vollendet. Das ist zu lang. Vor diesen Tagen waren es Wochen, und davor sogar drei Monate. Allerdings müsste er dann auch die Male mitzählen, als er jemanden ausgegraben hat, der bereits erledigt war. Und außerdem all die Male, die er andere bereits Erledigte in ihren rieselnden, staubigen Kartons aus der unterirdischen Anatomieabteilung nach oben geschleppt hat. Er hat sie aus seinem Geheimversteck geholt, sich Kiste um Kiste abgemüht und sie, immer zwei oder drei Erledigte auf einmal, die Treppe hinaufgetragen. Seine steifen Lungen brannten, und er bekam kaum noch Luft, als er die Kartons auf den Parkplatz wuchtete, sie dort abstellte, weitere nach oben schleppte und alle ins Auto hievte, um sie zu guter Letzt in Müllsäcken zu verstauen. Das war im September, als er in den Nachrichten gehört hatte, dass sein Gebäude abgerissen werden sollte.
Allerdings sind ausgegrabene Knochen und staubige Kartons einfach nicht dasselbe. Schließlich sind diese Leute bereits erledigt, und das ist etwas völlig anderes, als das Erledigen selbst zu übernehmen. Denn dann fühlt sich Pogue mächtig, übermenschlich und für einen Moment erlöst. Er nimmt die Perücke vom Kopf und schließt sich im Auto ein. Dann verlässt er den Parkplatz vor den weißen Häusern und kehrt auf die dunklen, frühabendlichen Straßen von Südflorida zurück. Seine Gedanken tragen ihn zur Other Way Lounge.