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Draußen auf der nebligen Straße genügt der Lichtkegel der nächsten Straßenlaterne gerade, um Scarpettas Schatten auf den Alphalt zu werfen, als sie über den feuchten, dunklen Garten hinweg die Fenster zu beiden Seiten der Tür betrachtet.

Die Bewohner dieser Gegend oder die Leute in vorbeifahrenden Autos hätten eigentlich das Licht im Haus und das Kommen und Gehen eines rothaarigen Mannes bemerken müssen. Vielleicht ist er ja auch motorisiert. Doch wie Browning ihr gerade mitgeteilt hat, weist nichts darauf hin, dass Pogue irgendein Fahrzeug besitzt, was seltsam klingt. Es bedeutet, dass der Wagen, den er vermutlich fährt, nicht auf ihn zugelassen ist. Entweder gehört ihm das Auto nicht, oder er verwendet gestohlene Nummernschilder. Allerdings ist es auch möglich, dass er gar kein Auto hat.

Das Mobiltelefon in ihrer Tasche fühlt sich schwer und lästig an, obwohl es eigentlich recht klein ist und nicht viel wiegt. Aber ihre Gedanken an Lucy bedrücken sie, und unter den gegebenen Umständen wagt sie es kaum, ihre Nichte anzurufen. Ganz gleich, wie Lucys persönliche Situation auch aussehen mag, graut es Scarpetta davor, Einzelheiten zu erfahren. Über das Privatleben ihrer Nichte gibt es nur selten etwas Erfreuliches zu berichten, und der Teil von Scarpetta, der offenbar nichts Besseres zu tun hat, als sich Sorgen zu machen und zu grübeln, verbringt ziemlich viel Zeit damit, sich die Schuld an Lucys Beziehungsunfähigkeit zu geben. Benton ist in Aspen, und sicher weiß Lucy darüber Bescheid. Bestimmt ist ihr auch klar, dass es zwischen Scarpetta und Benton nicht gut läuft, und zwar schon, seit sie wieder zusammen sind.

Scarpetta wählt gerade Lucys Nummer, als die Tür aufschwingt und Marino auf die dunkle Veranda hinaustritt. Scarpetta findet es merkwürdig, dass er mit leeren Händen einen Tatort verlässt. Als Detective in Richmond ist er nie gegangen, ohne so viele Beutel mit Beweisstücken mitzunehmen, wie in seinen Kofferraum passten. Nun jedoch hat er nichts bei sich, denn er ist in Richmond nicht mehr zuständig, weshalb es das Sinnvollste ist, wenn die Polizei die Beweismittel sicherstellt, beschriftet und gegen Aushändigung einer Quittung im Labor abgibt. Vielleicht werden diese Polizisten ihre Arbeit ja gut machen, nichts Wichtiges vergessen und auch nichts einsammeln, was nicht von Bedeutung ist. Doch während Scarpetta Marino beobachtet, der langsam den Backsteinweg entlang auf sie zukommt, fühlt sie sich machtlos und beendet den Anruf bei Lucy, bevor sich die Mailbox meldet.

»Was hast du vor?«, fragt sie Marino, als er bei ihr angekommen ist.

»Ich hätte jetzt gerne eine Zigarette«, erwidert er und blickt die unregelmäßig erleuchtete Straße entlang. »Jimmy, der furchtlose Immobilienmakler, hat mich zurückgerufen. Er hat Bernice Towle erreicht. Sie ist die Tochter.«

»Die Tochter von dieser Mrs. Arnette?«

»Genau. Und Mrs. Towle wusste nichts davon, dass jemand in dem Haus wohnt. Sie glaubt, dass es schon seit einigen Jahren leer steht. Es gibt da irgendein bescheuertes Testament, das ich nicht ganz kapiere. Die Familie darf das Haus nicht unterhalb eines gewissen Preises verkaufen, und Jim sagt, dass sie den nie im Leben bekommen werden. Keine Ahnung. Ich könnte jetzt wirklich eine Zigarette brauchen. Vielleicht liegt es ja an dem Zigarrenrauch da drin.«

»Was ist mit Gästen? Hat Mrs. Towle das Haus Gästen überlassen?«

»In dieser Bruchbude hat angeblich schon seit Menschengedenken niemand mehr übernachtet. Möglicherweise hat er es ja gemacht wie die Obdachlosen, die sich in verlassenen Gebäuden einnisten. Sie richten sich dort häuslich ein, wenn jemand kommt, verdrücken sie sich, und sobald die Luft wieder rein ist, kehren sie zurück. Wäre durchaus möglich. Und was willst du jetzt tun?«

»Ich denke, wir sollten ins Hotel fahren.« Sie schließt den Geländewagen auf und wirft noch einen Blick auf das erleuchtete Haus. »Heute Nacht können wir sowieso nicht mehr viel ausrichten.«

»Ich frage mich, wie lange die Hotelbar wohl geöffnet hat«, meint er, öffnet die Beifahrertür, zieht die Hosenbeine hoch, als er aufs Trittbrett steigt, und klettert vorsichtig in den Wagen. »Inzwischen bin ich hellwach. So ist das immer, verdammt. Eine einzige Zigarette wird mir schon nicht schaden. Und ein paar Bier. Dann kann ich vielleicht schlafen.«

Sie zieht die Tür zu und lässt den Motor an. »Hoffentlich ist die Bar geschlossen«, erwidert sie. »Wenn ich was trinke, wird die Sache nur noch schlimmer, weil ich dann nicht mehr denken kann. Was ist passiert, Marino?« Als sie losfährt, tanzen hinter ihr die Lichter von Edgar Allan Pogues Haus. »Er hat hier gewohnt. Hat jemand davon gewusst? Sein Holzschuppen ist voller menschlicher Überreste, und niemand hat ihn je im Garten oder in der Nähe dieses Schuppens gesehen? Willst du behaupten, dass er Mrs. Paulsson niemals dort aufgefallen ist? Oder vielleicht Gilly?«

»Warum fahren wir nicht kurz bei ihr vorbei und fragen sie selbst?«, gibt Marino zurück und schaut aus dem Fenster. Seine riesigen Hände liegen auf dem Schoß, als wolle er seine Verletzung schützen.

»Es ist fast Mitternacht.«

Er lacht höhnisch auf. »Die liebe Höflichkeit.«

»Einverstanden.« Sie biegt in der Grace Street links ab. »Aber mach dich auf etwas gefasst. Schwer zu sagen, was sie dir an den Kopf wirft, wenn sie dich sieht.«

»Sie sollte sich lieber auf etwas von mir gefasst machen, nicht umgekehrt.«

Scarpetta wendet und parkt hinter dem dunkelblauen Minivan vor dem Haus. Nur im Wohnzimmer brennt Licht, das durch die zarten Vorhänge schimmert. Sie überlegt, wie sie Mrs. Paulsson dazu bringen soll, an die Tür zu kommen, und beschließt, dass es wohl das Klügste ist, sie anzurufen. Also blättert sie auf dem Mobiltelefon die kürzlich geführten Anrufe durch und hofft, dass Mrs. Paulssons Nummer noch gespeichert ist, aber sie ist schon gelöscht. Also wühlt sie den Zettel, den sie seit ihrer ersten Begegnung mit Suzanna Paulsson besitzt, aus ihrer Tasche hervor, tippt die Nummer ins Telefon ein und schickt sie in den Äther oder wohin Anrufe sonst geschickt werden. Sie stellt sich vor, wie neben Mrs. Paulssons Bett das Telefon läutet.

»Hallo?« Mrs. Paulssons Stimme klingt argwöhnisch und benommen.

»Hier spricht Kay Scarpetta. Ich stehe vor Ihrem Haus. Es ist etwas geschehen, und ich muss mit Ihnen sprechen. Bitte kommen Sie an die Tür.«

»Wie viel Uhr ist es?«, fragt sie verwirrt und verängstigt.

»Bitte kommen Sie an die Tür«, erwidert Scarpetta nur und steigt aus. »Ich bin draußen.«

»Schon gut, schon gut.« Sie legt auf.

»Bleib im Auto«, sagt Scarpetta in den Wagen hinein. »Warte, bis sie aufmacht. Wenn sie dich durchs Fenster sieht, wird sie uns nicht reinlassen.«

Sie schließt die Tür. Marino sitzt reglos in der Dunkelheit, während sie zur Veranda geht. Lichter gehen an, als Mrs. Paulsson sich durchs Haus in Richtung Tür bewegt. Scarpetta wartet. Ein Schatten huscht hinter dem Wohnzimmervorhang vorbei. Mrs. Paulsson späht dazwischen hervor, dann fällt der Vorhang wieder zu, und die Tür öffnet sich. Mrs. Paulsson trägt einen Morgenmantel aus rotem Flanell mit Reißverschluss. Ihr Haar ist vom Liegen zerdrückt, ihre Augen sind verschwollen.

»Mein Gott, was ist denn jetzt schon wieder?«, fragt sie und lässt Scarpetta herein. »Was wollen Sie hier? Was ist passiert?«

»Kannten Sie den Mann, der in dem Haus hinter Ihrem Zaun gewohnt hat?«, erkundigt sich Scarpetta.

»Welchen Mann?« Sie wirkt durcheinander und erschrocken. »Welcher Zaun?«

»Das Haus dort hinten.« Scarpetta zeigt mit dem Finger und wartet auf Marino. »Ein Mann hat da gewohnt. Nun sagen Sie schon. Sie müssen doch gewusst haben, dass da jemand gelebt hat, Mrs. Paulsson.«

Als Marino an die Tür klopft, zuckt Mrs. Paulsson zusammen und fasst sich ans Herz. »Mein Gott! Was ist denn jetzt los?«

Scarpetta macht die Tür auf, und Marino kommt herein. Sein Gesicht ist gerötet, und er weicht Mrs. Paulssons Blick aus, als er die Tür schließt und ins Wohnzimmer tritt.

»Oh, Mist!«, ruft Mrs. Paulsson verärgert. »Diesen Kerl will ich nicht im Haus haben«, sagt sie zu Scarpetta. »Schicken Sie ihn weg!«

»Erzählen Sie uns von dem Mann hinter Ihrem Zaun«, beharrt Scarpetta. »Sie müssen doch gesehen haben, dass im Haus Licht brannte.«

»Hat er sich Edgar Allan oder Al oder irgendwie anders genannt?«, ergänzt Marino. Sein Gesicht ist immer noch rot, seine Miene ist hart. »Tisch uns hier keine Märchen auf, Suz. Dazu sind wir jetzt nicht in der Stimmung. Wie hat er sich genannt? Ich wette, ihr beide wart gute Kumpel.«

»Ich schwöre, dass ich nichts von einem Mann dort hinten weiß«, protestiert sie. »Warum? Hat er …? Glauben Sie …? O Gott.« Angst leuchtet in ihren tränennassen Augen auf, und sie wirkt absolut aufrichtig, so wie jeder gute Lügner. Aber Scarpetta glaubt ihr nicht.

»War er je hier im Haus?«, erkundigt sich Marino.

»Nein!« Sie schüttelt den Kopf und krampft die Hände in Taillenhöhe ineinander.

»Ach, wirklich?«, höhnt Marino. »Woher willst du das wissen, wenn du nicht einmal eine Ahnung hast, von wem wir reden? Vielleicht ist er ja der Milchmann. Vielleicht hat er mal reingeschaut, um bei deinen Spielchen mitzuspielen. Wie kannst du behaupten, dass er niemals bei dir im Haus war, ohne zu wissen, vom wem überhaupt die Rede ist?«

»Ich lasse mich nicht so behandeln«, wendet sie sich an Scarpetta.

»Beantworten Sie die Frage«, gibt Scarpetta nur zurück und blickt sie an.

»Ich habe doch schon gesagt …«

»Und ich sage dir, dass seine gottverdammten Fingerabdrücke in Gillys Zimmer gefunden wurden«, zischt Marino und macht einen Schritt auf sie zu. »Hast du den rothaarigen kleinen Schweinehund zu einem deiner Spielchen eingeladen? War es so, Suz?«

»Nein!« Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. »Nein! Da hinten wohnt niemand! Nur die alte Frau, und die ist schon seit Jahren fort! Es kann sein, dass hin und wieder jemand im Haus ist, aber richtig wohnen tut niemand dort. Ich schwöre! Seine Fingerabdrücke? O Gott, mein kleines Kind. Mein kleines Kind …« Schluchzend schlingt sie die Arme um ihren Leib und weint so heftig, dass ihre Unterlippe die Zähne freigibt. Dann presst sie die zitternden Hände an die Wangen. »Was hat er mit meinem kleinen Kind gemacht?«

»Er hat sie umgebracht«, entgegnet Marino. »Erzähl uns von ihm, Suz.«

»O nein«, jammert sie. »O Gilly …«

»Setz dich, Suz.«

Schluchzend bleibt sie stehen und schlägt die Hände vors Gesicht.

»Setz dich!«, befiehlt Marino streng. Scarpetta kennt dieses Spiel. Sie lässt ihn gewähren, weil sie weiß, dass er es kann, auch wenn es ihr schwer fällt zuzusehen.

»Setz dich!« Er weist aufs Sofa. »Und sag einmal in deinem Leben die Wahrheit. Gilly zuliebe.«

Mrs. Paulsson sinkt auf das karierte Sofa, das zwischen den Fenstern steht. Ihre Hände bedecken immer noch ihr Gesicht, die Tränen laufen ihr den Hals hinunter und durchnässen die Vorderseite ihres Bademantels. Scarpetta stellt sich, Mrs. Paulsson gegenüber, vor den kalten Kamin.

»Erzähl mir von Edgar Allan Pogue«, beginnt Marino langsam und mit lauter Stimme. »Hörst du mich, Suz? Hallo? Suz? Er hat dein kleines Mädchen auf dem Gewissen. Aber vielleicht interessiert dich das ja nicht. Sie war doch so lästig. Du hast selbst gesagt, wie schlampig sie war. Du warst nur damit beschäftigt, hinter der verwöhnten Göre herzuräumen …«

»Hör auf!«, kreischt sie. Aus großen, geröteten Augen starrt sie ihn hasserfüllt an. »Hör auf damit, du verdammter … Du …« Schluchzend wischt sie sich mit einer zitternden Hand über die Nase. »Meine Gilly …«

Marino setzt sich in den Lehnsessel. Beide scheinen Scarpetta völlig vergessen zu haben, auch wenn das bei ihm ganz sicher nicht der Fall ist. Er hat diese Szene oft genug gespielt. »Willst du, dass wir ihn fassen, Suz?«, fragt er, plötzlich freundlicher und ruhiger. Er beugt sich vor und stützt seine massigen Unterarme auf die dicken Knie. »Was willst du? Verrat es mir.«

»Ja.« Sie nickt unter Tränen. »Ja.«

»Dann hilf uns.«

Weinend schüttelt sie den Kopf.

»Du willst uns also nicht helfen?« Er lehnt sich im Sessel zurück und blickt Scarpetta an, die immer noch vor dem Kamin steht. »Sie will uns nicht helfen, Doc. Sie will nicht, dass wir ihn kriegen.«

»Nein«, schluchzt Mrs. Paulsson. »Ich … ich weiß nicht. Ich habe ihn nur gesehen. Ich glaube, es war … Ich bin mal abends rausgegangen … rüber zum Zaun … Ich bin zum Zaun, um Sweetie zu holen, und da war ein Mann hinten im Garten.«

»Im Garten hinter diesem Haus?«, meint Marino. »Auf der anderen Seite des Zauns?«

»Er war hinter dem Zaun. Zwischen den Brettern sind Ritzen, und er hatte die Finger durchgestreckt, um Sweetie zu streicheln. Ich habe hallo gesagt. Mehr nicht … Oh, Mist.« Sie schnappt nach Luft. »Oh, Mist. Er war es. Er hat Sweetie gestreichelt.«

»Was hat er dir geantwortet?«, fragt Marino mit ruhiger Stimme. »Hat er überhaupt was gesagt?«

»Er sagte …« Ihre Stimme wird höher und erstirbt. »Er … er sagte: ›Ich mag Sweetie.‹«

»Woher kannte er den Namen deines Hundes?«

»›Ich mag Sweetie‹, sagte er.«

»Woher wusste er, dass dein Hund so heißt?«, wiederholt Marino.

Sie holt tief Luft, starrt auf den Boden, und ihr Schluchzen wird schwächer.

»Tja, möglicherweise hat er dein Hündchen ja auch mitgenommen«, spricht Marino weiter. »Schließlich mochte er es. Oder hast du Sweetie in letzter Zeit gesehen?«

»Also hat er Sweetie mitgenommen.« Sie verkrampft die Hände im Schoß, bis sich ihre Knöchel weiß verfärben. »Er hat alles mitgenommen.«

»Was hast du an dem Abend, als er Sweetie durch den Zaun gestreichelt hat, gedacht? Was hast du davon gehalten, dass da hinten ein fremder Mann war?«

»Er hatte eine leise Stimme, hat ganz langsam geredet und klang weder freundlich noch unfreundlich. Mehr weiß ich nicht über ihn.«

»Und sonst hast du nicht mit ihm gesprochen?«

Sie starrt zu Boden. Ihre Hände auf dem Schoß sind zu Fäusten geballt. »Ich glaube, ich habe ›Ich heiße Suz‹ gesagt. ›Wohnen Sie hier?‹ Er antwortete, er sei nur zu Besuch. Mehr nicht. Ich habe Sweetie auf den Arm genommen und bin zurück zum Haus. Und beim Reingehen habe ich durch die Küchentür Gilly gesehen. Sie hat aus ihrem Zimmerfenster geschaut und beobachtet, wie ich Sweetie reingeholt habe. Sobald ich an der Tür war, ist sie mir entgegengelaufen, um mir Sweetie abzunehmen. Sie hat diesen Hund geliebt.« Mit zitternden Lippen blickt sie zu Boden. »Sie hätte sich schrecklich aufgeregt.«

»Waren die Vorhänge offen, als Gilly aus dem Fenster geschaut hat?«, fragt Marino.

Mrs. Paulsson starrt unbewegt zu Boden. Ihre Fäuste sind so verkrampft, dass ihr die Nägel in die Handflächen schneiden.

Als Marino ihr einen Blick zuwirft, sagt Scarpetta: »Schon gut, Mrs. Paulsson. Beruhigen Sie sich. Versuchen Sie, sich ein wenig zu entspannen. Wie lange vor Gillys Tod hat der Mann Sweetie durch den Zaun gestreichelt?«

Mrs. Paulsson wischt sich die Augen ab und kneift sie fest zu.

»Tage? Wochen? Monate?«

Sie hebt den Blick und sieht Scarpetta an. »Ich weiß nicht, warum Sie schon wieder hier sind. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie wegbleiben sollen.«

»Hier geht es um Gilly«, erwidert Scarpetta, die Mrs. Paulsson dazu zwingen will, sich mit etwas auseinander zu setzen, was sie lieber vergessen will. »Wir müssen alles über den Mann erfahren, den Sie durch den Zaun gesehen haben. Den Mann, der Sweetie gestreichelt hat.«

»Sie haben kein Recht, einfach wiederzukommen, obwohl ich es Ihnen verboten habe.«

»Tut mir Leid, dass Sie mich nicht hier haben wollen«, entgegnet Scarpetta, ohne sich vom Kamin wegzurühren. »Auch wenn Sie es mir nicht glauben, ich versuche Ihnen zu helfen. Wir alle wollen herausfinden, was Ihrer Tochter zugestoßen ist. Und Sweetie.«

»Nein«, erwidert Mrs. Paulsson, nun mit trockenen Augen, und wirft Scarpetta einen verschlagenen Blick zu. »Ich will, dass Sie jetzt gehen.« Sie verlangt nicht, dass Marino ebenfalls geht, und scheint nicht einmal zu bemerken, dass er links vom Sofa, keinen halben Meter entfernt von ihr, im Sessel sitzt. »Wenn nicht, rufe ich jemanden an. Die Polizei. Ich rufe die Polizei.«

Du willst nur mit ihm allein sein, denkt Scarpetta. Du willst wieder Spielchen spielen, weil das leichter ist, als sich der Realität zu stellen. »Erinnern Sie sich, was die Polizei aus Gillys Schlafzimmer mitgenommen hat?«, fragt sie. »Die Bettwäsche zum Beispiel. Es wurden eine ganze Menge Gegenstände ins Labor gebracht.«

»Ich will, dass Sie gehen«, wiederholt Mrs. Paulsson nur, bleibt reglos auf dem Sofa sitzen und starrt Scarpetta an.

»Wissenschaftler haben nach Spuren gesucht. Gillys sämtliche Bettwäsche, ihr Pyjama und alles andere, was die Polizei aus Ihrem Haus mitgenommen hat, wurde überprüft. Sie selbst wurde auch untersucht. Ich habe es getan«, spricht Scarpetta weiter und blickt Mrs. Paulsson unverwandt an. »Aber die Wissenschaftler haben keine Hundehaare gefunden. Kein einziges.«

Ein Gedanke huscht durch Mrs. Paulssons Blick wie ein Stichling durch seichtes braunes Wasser.

»Kein einziges Hundehaar. Nicht ein Haar von einem Basset«, fährt Scarpetta im selben nachdrücklichen und ruhigen Tonfall fort und blickt auf Mrs. Paulsson hinunter. »Sweetie ist fort, das stimmt. Und zwar weil sie nie existiert hat. Es gibt keinen Hund, und es hat auch nie einen gegeben.«

»Sag ihr, dass sie gehen soll«, meint Mrs. Paulsson zu Marino, ohne ihn anzusehen. »Sag ihr, sie soll aus meinem Haus verschwinden«, beharrt sie, als wäre er ihr Verbündeter oder ihr Mann. »Ihr Ärzte macht doch mit den Leuten, was ihr wollt«, wendet sie sich dann an Scarpetta. »Ihr macht mit ihnen, was ihr wollt.«

»Warum hast du gelogen und behauptet, dass du einen Hund hattest?«, will Marino wissen.

»Sweetie ist fort«, beharrt sie. »Fort.«

»Wir würden es wissen, wenn in deinem Haus je ein Hund gelebt hätte«, entgegnet er.

»Gilly hat immer öfter aus dem Fenster geschaut. Wegen Sweetie. Sie hat Sweetie gesucht, das Fenster aufgemacht und nach ihr gerufen«, antwortet Mrs. Paulsson und betrachtet ihre ineinander verkrampften Hände.

»Es hat nie ein Hündchen gegeben, richtig, Suz?«, hakt Marino nach.

»Sie hat wegen Sweetie ihr Fenster geöffnet. Wenn Sweetie im Garten war, hat Gilly ihr Fenster aufgemacht und gelacht und nach ihr gerufen. Der Riegel ist kaputtgegangen.« Langsam öffnet Mrs. Paulsson ihre Fäuste und mustert die halbmondförmigen Wunden, die ihre Nägel hinterlassen haben. »Ich hätte es reparieren sollen.«

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