Die Privatflugzeuge stehen wie Spielzeuge vor den riesigen weißen Bergen, die sich aus feuchtem schwarzem Asphalt erheben. Der Flughafenmitarbeiter, der einen Overall und Ohrstöpsel trägt, winkt mit orangefarbenen Kegeln und dirigiert dadurch einen Beechjet, der langsam und mit surrenden Turbinen rangiert. Im Inneren des Privat-Terminals hört Benton, wie Lucys Maschine ankommt.
Es ist Sonntagnachmittag in Aspen. Hinter ihm wimmelt es von reichen Leuten in Pelzmänteln und mit teuren Koffern, die am riesigen offenen Kamin Kaffee oder heißen Apfelwein trinken. Sie wollen nach Hause und beklagen sich über die Verzögerung, weil sie vergessen haben, wie es war, als sie noch mit gewöhnlichen Linienmaschinen fliegen mussten – sofern sie diese Erfahrung überhaupt je gemacht haben. Sie lassen goldene Armbanduhren und große Diamanten aufblitzen und sind sonnengebräunt und schön. Einige reisen mit ihren Hunden, die wie die Privatflugzeuge ihrer Besitzer in allen Formen und Größen vorkommen und das Edelste sind, was man für Geld kaufen kann. Benton beobachtet, wie sich die Tür des Beechjet öffnet und die Treppe herabgelassen wird. Lucy springt, ihr Gepäck in der Hand, herunter. Sie bewegt sich mit der Anmut einer Sportlerin, selbstbewusst und ohne zu zögern, als wisse sie stets, wo sie hinwill, auch wenn sie das eigentlich gar nicht wissen dürfte.
Eigentlich sollte sie nicht hier sein. Er hat es ihr verboten. Nein, Lucy, komm nicht her, hat er gesagt, als sie anrief. Nicht jetzt. Der Zeitpunkt ist ungünstig.
Sie haben sich nicht gestritten, obwohl sie das stundenlang hätten tun können. Doch sie haben beide nicht mehr die Geduld für lange, ausufernde Auseinandersetzungen, die von unlogischen Ausbrüchen und Wiederholungen strotzen. Deshalb lassen sie es und feuern lieber kurze, schnelle Salven ab, um die Sache rasch hinter sich zu bringen. Benton ist nicht sicher, ob es ihm gefällt, dass Lucy und er sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher werden. Aber es ist eindeutig der Fall und wird immer offensichtlicher. Der analytische Teil seines Verstandes, der unablässig sortiert, stapelt und verteilt, hat bereits in Erwägung gezogen oder sogar geschlussfolgert, dass die Erklärung für seine Beziehung mit Kay – sofern man diese überhaupt erklären kann – möglicherweise in den Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Lucy zu suchen ist. Scarpetta liebt ihre Nichte sehr und absolut bedingungslos. Allmählich beginnt ihm der Zusammenhang zu dämmern.
Lucy schiebt die Tür mit der Schulter auf und kommt, eine Reisetasche in jeder Hand, herein. Sie ist erstaunt, ihn zu sehen.
»Warte, ich helfe dir.« Er nimmt ihr eine Tasche ab.
»Ich habe nicht mit dir gerechnet«, sagt sie.
»Tja, jetzt bin ich aber da. Und du offenbar auch. Wir machen das Beste daraus.«
Die Reichen in ihren Tierfellen und Tierhäuten halten Benton und Lucy vermutlich für ein unglückliches Paar, er der wohlhabende ältere Mann, sie die hübsche junge Freundin oder Ehefrau. Dann schießt ihm durch den Kopf, dass einige Leute auch denken könnten, sie sei seine Tochter. Allerdings verhält er sich nicht wie ihr Vater. Obwohl er sich auch nicht wie ihr Liebhaber benimmt, würde er, wenn er eine Wette abschließen müsste, darauf tippen, dass sie für Außenstehende ein typisches reiches Paar darstellen. Er trägt weder Pelz noch Gold und wirkt auch nicht auffällig wohlhabend. Doch die Reichen erkennen ihresgleichen, und er hat die gewisse Ausstrahlung, denn er braucht sich über Geld keine Sorgen zu machen. Benton hat viele Jahre lang ruhig und zurückgezogen gelebt und hatte Zeit, um Phantasien, Pläne und Ersparnisse anzuhäufen.
»Ich habe einen Mietwagen reserviert«, sagt Lucy, als sie zusammen durch den Terminal gehen, der mit seiner Ausstattung aus Holz und Stein, den Ledermöbeln und den indianischen Kunstgegenständen aussieht wie das Innere eines kleinen Landhauses. Draußen vor der Tür steht eine riesige Bronzefigur, die einen auffliegenden Adler darstellt.
»Dann hol deinen Mietwagen ab«, meint Benton. Sein Atem steigt in die helle, kalte Luft hinauf wie eine bleiche Rauchwolke. »Wir treffen uns bei Maroon Bells.«
»Was?« Sie bleibt auf der runden Auffahrt vor dem Eingang stehen, ohne auf die Parkwächter mit ihren langen Mänteln und Cowboyhüten zu achten.
Bentons markantes, gebräuntes und attraktives Gesicht wendet sich ihr zu. Zuerst lächeln seine Augen, dann kräuseln sich seine Lippen ein wenig, als amüsiere ihn etwas. Er steht in der Auffahrt neben dem großen Adler und mustert sie von oben bis unten. Sie trägt Stiefel, Cargohose und Skijacke.
»Ich habe Schneeschuhe im Auto«, sagt er.
Er sieht ihr in die Augen. Der Wind zaust ihr Haar, das länger ist als bei ihrer letzten Begegnung. Es ist dunkelbraun mit einem rötlichen Schimmer, als glömmen Funken darin. Die Kälte hat ihre Wangen gerötet. In ihre Augen zu blicken war schon immer so, als schaue man in den Kern eines Atomreaktors oder in den Krater eines aktiven Vulkans. Vielleicht auch, als sehe man dasselbe wie Ikarus, während er der Sonne entgegenflog. Ihre Augenfarbe verändert sich mit dem Licht und ihren schwankenden Stimmungen. Im Moment ist sie leuchtend grün. Kays Augen sind blau und ebenso intensiv, nur auf eine andere Weise. Ihre Farbe wechselt subtiler, und sie können so zart wie ein Dunsthauch oder so hart wie Metall dreinblicken. Er vermisst sie mehr, als er bis jetzt geahnt hat. Lucys Gegenwart hat ihn auf grausame Weise wieder daran erinnert.
»Ich dachte, wir machen einen Spaziergang und unterhalten uns«, meint er zu Lucy und schlendert auf den Parkplatz zu. An diesem Plan ist nicht zu rütteln. »Das ist wichtig. Also treffen wir uns bei Maroon Bells, oben bei der Schneemobilvermietung, wo die Straße endet. Kommst du mit der Höhe zurecht? Die Luft ist dünn.«
»Ich kenne die Luft«, sagt sie, obwohl er ihr schon den Rücken zugekehrt hat und davongeht.