46

Hundertdreißig zu achtzig«, verkündet Dr. Paulsson und berührt wieder ihre Brust, während er den Klettverschluss der Manschette aufreißt. »Ist Ihr Blutdruck immer so hoch?«

»Nein, ganz und gar nicht«, antwortet Lucy in gespieltem Erstaunen. »Ist er das wirklich? Ich meine, Sie müssen es ja wissen. Aber normalerweise habe ich immer hundertzehn zu siebzig. Meistens ist mein Blutdruck eher zu niedrig.«

»Sind Sie nervös?«

»Ich bin noch nie gern zum Arzt gegangen«, antwortet sie, und da sie auf dem Untersuchungstisch sitzt und er vor ihr aufragt, muss sie sich ein wenig zurücklehnen. Sie möchte, dass Benton Dr. Paulssons Gesicht sieht, während er mit ihr spricht und versucht, sie einzuschüchtern und unter Druck zu setzen. »Kann sein, dass ich ein bisschen nervös bin.«

Er legt die Hände auf ihren Hals dicht unterhalb des Kiefers. Ihre Haut ist warm und trocken, als er die weichen Stellen unter ihren Ohren betastet. Da ihr Haar die Ohren bedeckt, kann er den Empfänger unmöglich bemerken. Er fordert sie auf zu schlucken, befühlt ihre Lymphknoten und lässt sich Zeit dabei. Während dieser Prozedur sitzt Lucy aufrecht da und versucht, sich einzureden, dass sie nervös ist. Sie weiß, dass er den kräftigen Puls in ihrem Hals spürt.

»Schlucken«, sagt er wieder, tastet nach ihrer Schilddrüse und überprüft, ob die Luftröhre auch in der Mitte sitzt. Ihr schießt durch den Kopf, dass sie bestens über ärztliche Untersuchungen im Bilde ist. Immer wenn sie als Kind zum Arzt musste, hat sie ihre Tante Kay mit Fragen gelöchert und war erst zufrieden, wenn sie die Gründe für jede Berührung und Bemerkung des Arztes kannte.

Erneut betastet er ihre Lymphknoten und rutscht näher an sie heran. Sie spürt seinen Atem leicht auf ihrem Kopf.

»Ich sehe nur den Arztkittel«, hört sie Bentons Stimme deutlich im linken Ohr.

Dagegen kann ich nichts tun, denkt sie.

»Haben Sie sich in letzter Zeit öfter müde oder unwohl gefühlt?«, fragt Dr. Paulsson auf seine kühle und einschüchternde Art.

»Nein. Na ja, ich meine, ich habe viel gearbeitet und bin eine Menge gereist. Kann sein, dass ich ein bisschen müde bin«, stammelt sie und tut so, als wäre sie so verängstigt, wie sie klingt, während er sich an ihre Knie drückt. Sie spürt seine Erektion erst am einen, dann am anderen Knie, doch leider kann die Kamera ihre Gefühle nicht aufzeichnen.

»Ich muss auf die Toilette«, sagt sie. »Tut mir Leid, ich beeile mich auch.«

Als er zurückweicht, kommt plötzlich wieder das Zimmer in Sicht. Es ist, als wäre von einem Erdloch der Deckel abgenommen worden, sodass sie endlich hinausklettern kann. Lucy rutscht vom Untersuchungstisch und eilt zur Tür, während er zum Computer geht und nach ihrem Formular, dem korrekt ausgefüllten, greift. »Am Waschbeckenrand steht ein Becher in einer Plastiktüte«, meint er, als sie den Raum verlassen will.

»Ja, Sir.«

»Lassen Sie ihn einfach auf der Toilette stehen, wenn Sie fertig sind.«

Allerdings benutzt Lucy die Toilette nicht, betätigt nur die Spülung und bittet Benton um Verständnis. Dann nimmt sie ohne weitere Erklärung den Empfänger aus dem Ohr und steckt ihn in die Tasche. Einen Becher mit Urin hinterlässt sie nicht, weil sie nicht die Absicht hat, Dr. Paulsson biologische Spuren zu liefern. Obwohl ihre DNS vermutlich in keiner Datenbank gespeichert ist, muss das noch lange nichts heißen. In den vergangenen Jahren hat Lucy die notwendigen Maßnahmen ergriffen, um sicherzugehen, dass weder ihre genetischen noch ihre tatsächlichen Fingerabdrücke in irgendeiner amerikanischen oder ausländischen Datenbank vermerkt sind. Doch da sie immer vom Schlimmsten ausgeht, rückt sie diesem Arzt lieber nicht ihren Urin heraus. Er wird nämlich bald große Lust bekommen, Miss P. W. Winston ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Seit sie sein Haus betreten hat, hat sie sämtliche von ihr berührten Flächen abgewischt, damit niemand am Ende doch noch ihre Fingerabdrücke als die von Lucy Farinelli, früher Agentin beim FBI und bei der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, identifizieren kann.

Als sie ins Behandlungszimmer zurückkehrt, redet sie sich ein, dass Gefahr droht. Ihr Puls reagiert entsprechend.

»Ihre Lymphknoten scheinen leicht vergrößert zu sein«, verkündet Dr. Paulsson, und sie weiß, dass er lügt. »Wann waren Sie das letzte Mal … Aber Sie sagten ja selbst, dass Sie nicht gern zum Arzt gehen, und Sie haben sich vermutlich schon seit einer Weile nicht mehr gründlich untersuchen lassen. Darf ich annehmen, dass Ihr letzter Bluttest auch schon eine Zeit her ist?«

»Sie sind vergrößert?«, erwidert Lucy in dem panischen Tonfall, den er offenbar von ihr erwartet.

»Haben Sie sich in letzter Zeit wohl gefühlt? Keine Erschöpfungszustände? Kein Fieber? Überhaupt nichts dergleichen?« Wieder nähert er sich, um ihr das Otoskop ins linke Ohr zu stecken. Sein Gesicht ist ganz dicht an ihrer Wange.

»Ich war nicht krank«, entgegnet sie, während er ihr auch ins andere Ohr sieht.

Dann legt er das Otoskop weg und greift zum Ophthalmoskop. Als er ihr damit in die Augen späht, ist sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Anschließend ist das Stethoskop dran. Lucy versucht sich einzureden, dass sie Angst hat, obwohl sie eigentlich eher wütend ist. Genau genommen fürchtet sie sich überhaupt nicht, als sie auf der Kante des Untersuchungstisches sitzt. Das Papier knistert leise, wenn sie sich bewegt.

»Wenn Sie jetzt bitte Ihren Overall aufmachen und bis zur Taille hinunterziehen könnten«, fordert er sie in unverändert sachlichem Ton auf.

Lucy blickt ihn an. »Ich glaube, ich muss noch mal aufs Klo … Tut mir Leid.«

»Beeilen Sie sich«, antwortet er ungeduldig. »Ich habe nicht ewig Zeit.«

Lucy geht zur Toilette. Eine knappe Minute später kommt sie, gefolgt vom Spülgeräusch und mit dem Empfänger im Ohr, wieder heraus.

»Verzeihung«, entschuldigt sie sich noch einmal. »Ich habe vor dem Termin eine große Cola light getrunken. War wohl ein Fehler.«

»Ziehen Sie den Overall hinunter«, weist er sie an.

Sie zögert. Jetzt ist der Moment da, aber sie weiß, was sie tun muss. Als sie ihren Overall öffnet und ihn bis zur Taille herunterrollt, zupft sie den Stoff so zurecht, dass sich der Stift im richtigen Winkel befindet und weiter durch einen Draht mit der Funk-Schnittstelle verbunden ist, die unsichtbar an der Innenseite des Kleidungsstücks klebt.

»Nicht so senkrecht«, hört sie Bentons Stimme im Ohr. »Etwa zehn Grad nach unten.«

Unauffällig rückt sie den oberen Rand des Overalls zurecht, der um ihre Taille liegt.

»Den BH auch«, sagt Dr. Paulsson.

»Muss ich den wirklich ausziehen?«, fragt Lucy ängstlich und verschüchtert. »Das habe ich bis jetzt noch nie …«

»Miss Winston. Ich habe es wirklich eilig. Bitte.« Er steckt sich die Ohrstöpsel des Stethoskops in die Ohren und nähert sich mit strenger Miene, um ihr Herz und ihre Lungen abzuhören. Sie streift den Sport-BH über den Kopf und sitzt reglos und wie erstarrt auf dem Untersuchungstisch.

Er drückt ihr das Stethoskop erst unter die eine, dann unter die andere Brust und fasst sie dabei an. Lucy verharrt stocksteif. Sie atmet schnell, und ihr Herz klopft rasend vor Wut. Doch sie weiß, dass er es als Furcht deuten wird, und fragt sich, was für Bilder Benton wohl empfängt. Vorsichtig zupft sie den Overall um ihre Taille zurecht und positioniert die Kamera, während Dr. Paulsson sie berührt und so tut, als interessiere ihn das, was er sieht und betastet, nicht im Geringsten.

»Zehn Grad abwärts und dann nach rechts«, weist Benton sie an.

Unauffällig schiebt sie den Stift zurecht. Dr. Paulsson beugt sich vor und lässt das Stethoskop über ihren Rücken gleiten. »Tief einatmen.« Er ist sehr geschickt darin, seine Arbeit zu machen und sie gleichzeitig anzufassen. Es gelingt ihm sogar, die Hand um ihre Brust zu legen, während er sich gegen sie presst. »Haben Sie irgendwelche Narben oder Muttermale? Ich sehe nämlich keine.« Prüfend streicht er mit den Händen über ihren Körper.

»Nein, Sir«, erwidert sie.

»Eigentlich müssten Sie welche haben. Eine Blinddarmoperation vielleicht?«

»Nein.«

»Es reicht«, sagt Benton in Lucys Ohr, und sie kann aus seinem ruhigen Tonfall den Zorn heraushören.

Aber es reicht noch nicht.

»Ich möchte jetzt, dass Sie aufstehen und auf einem Bein balancieren«, meint Dr. Paulsson.

»Kann ich mich vorher anziehen?«

»Noch nicht.«

»Es reicht«, wiederholt Benton.

»Stehen Sie auf!«, befiehlt Dr. Paulsson.

Lucy bleibt auf dem Untersuchungstisch sitzen, zieht ihren Overall hoch, schlüpft in die Ärmel und schließt den Reißverschluss. Mit dem BH hält sie sich nicht auf, weil das zu lange dauern würde. Als sie ihn wieder ansieht, wirkt sie nicht mehr befangen und nervös. In seinen Augen ist zu erkennen, dass er diese Veränderung bemerkt hat. Lucy steht vom Tisch auf und geht auf ihn zu.

»Setzen Sie sich!«, weist sie ihn an.

»Was soll das?« Seine Augen weiten sich.

»Hinsetzen!«

Er rührt sich nicht von der Stelle und starrt sie an. Er hat Angst wie alle anderen Tyrannen, denen sie je begegnet ist. Sie tritt auf ihn zu, um ihn noch stärker einzuschüchtern, nimmt den Stift aus der Tasche und zeigt ihm den daran befestigten Draht. »Frequenztest«, sagt sie zu Benton, damit er die im Wartezimmer und in der Küche versteckten Wanzen überprüft.

»Die Luft ist rein«, erwidert er.

Sehr gut, denkt sie. Benton empfängt von unten keine Signale.

»Wenn Sie wüssten, was für einen Ärger Sie sich gerade eingehandelt haben«, sagt Lucy zu Dr. Paulsson. »Es wurde nämlich alles live mitgeschnitten. Also setzen Sie sich endlich!« Sie steckt den Stift wieder ein, sodass die verborgene Linse direkt auf ihn gerichtet ist.

Sein Schritt wird unsicher, als er sich einen Stuhl vom Schreibtisch heranzieht, Platz nimmt und sie mit bleichem Gesicht ansieht. »Wer sind Sie? Was soll das?«

»Ich bin Ihr Schicksal, Sie Scheißkerl«, erwidert Lucy und versucht, ihre Wut zu zügeln. Allerdings scheint es leichter zu sein, sich Angst einzureden, als den eigenen Zorn zu unterdrücken. »Haben Sie diesen Mist auch mit Ihrer Tochter gemacht? Mit Gilly? Haben Sie sie ebenfalls belästigt, Sie Schwein?«

Er blickt sie verwirrt an.

»Sie haben mich sehr wohl verstanden, Sie Arschloch. Und die Flugsicherungsbehörde wird auch bald von Ihnen erfahren.«

»Verlassen Sie sofort meine Praxis!« An seinen angespannten Muskeln und seinem Blick erkennt sie, dass er überlegt, ob er sie angreifen soll.

»Lassen Sie das lieber«, warnt sie ihn. »Sie rühren sich erst von diesem Stuhl, wenn ich es sage. Wann haben Sie Gilly zuletzt gesehen?«

»Was wollen Sie von mir?«

»Die Rose«, gibt Benton ihr das Stichwort.

»Ich stelle hier die Fragen«, entgegnet sie Dr. Paulsson, und am liebsten würde sie Benton dasselbe sagen. »Ihre Ex-Frau verbreitet Gerüchte. Wussten Sie das, Dr. Spitzel-für-den-Heimatschutz?«

Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Augen sind weit aufgerissen, Angst spiegelt sich in ihnen.

»Mrs. Paulssons Behauptungen, Sie seien schuld an Gillys Tod, klingen recht überzeugend. Wussten Sie das?«

»Die Rose«, sagt Benton ihr ins Ohr.

»Sie erzählt überall herum, Sie hätten Gilly kurz vor ihrem plötzlichen Tod besucht und ihr eine Rose geschenkt. Ja, wir sind darüber im Bilde. Das Zimmer des armen Mädchens wurde nämlich auf den Kopf gestellt, darauf können Sie Gift nehmen.«

»In ihrem Zimmer war eine Rose?«

»Er soll sie beschreiben«, meint Benton.

»Die Antwort darauf will ich von Ihnen hören«, entgegnet Lucy. »Woher hatten Sie die Rose?«

»Sie war nicht von mir. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Sie verschwenden meine Zeit.«

»Sie werden nicht zur Flugsicherungsbehörde gehen …«

Lachend schüttelt Lucy den Kopf. »Ach, ihr kleinen Arschlöcher seid doch alle gleich. Offenbar glauben Sie allen Ernstes, dass Sie ungeschoren davonkommen werden. Erzählen Sie mir von Gilly. Dann können wir uns anschließend über die Flugsicherungsbehörde unterhalten.«

»Schalten Sie das Ding ab.« Er zeigt auf die Stiftkamera.

»Werden Sie mit mir über Gilly sprechen, wenn ich es tue?«

Er nickt.

Sie berührt den Stift und tut, als schalte sie ihn ab. Sein Blick bleibt ängstlich und argwöhnisch.

»Die Rose«, wiederholt sie.

»Ich schwöre bei Gott, dass ich nichts von einer Rose weiß«, antwortet er. »Ich hätte Gilly nie etwas angetan. Was hat diese Schlampe behauptet?«

»Ach, Suzanna.« Lucy blickt ihn an. »Die redet wie ein Wasserfall. Und wenn man ihr Glauben schenkt, sind Sie schuld an Gillys Tod. An ihrer Ermordung.«

»Nein! Gütiger Himmel, nein!«

»Haben Sie mit Gilly auch Soldat gespielt? Haben Sie sie in einen Tarnanzug und Stiefel gesteckt, Arschloch? Haben Sie andere Perverse zu Ihren kranken Spielchen zu sich nach Hause eingeladen?«

»O Gott«, stöhnt er auf und schließt die Augen. »Diese Schlampe. Das war etwas, das nur zwischen uns lief.«

»Uns?«

»Suz und mir. Paare tun manchmal solche Dinge.«

»War sonst noch jemand dabei? Haben auch andere Leute mitgespielt?«

»Alles fand in meinem Privathaus statt.«

»Was sind Sie bloß für ein Schwein!«, sagt Lucy bedrohlich. »So widerliches Zeug in Gegenwart eines kleinen Mädchens zu treiben.«

»Sind Sie vom FBI?« Als er die Augen öffnet, sind sie stumpf vor Hass und erinnern an die Augen eines Hais. »Ich liege doch richtig, oder? Ich hätte mir denken können, dass so etwas irgendwann passieren wird. Als ob mein Privatleben etwas mit dieser Sache zu tun hätte. Offenbar will mich jemand reinlegen.«

»Ich verstehe. Das FBI hat Sie also gezwungen, von mir zu verlangen, dass ich mich für eine ganz alltägliche flugärztliche Untersuchung ausziehe.«

»Das hat nichts damit zu tun. Es spielt keine Rolle.«

»Da bin ich aber anderer Ansicht«, höhnt sie. »Es spielt sehr wohl eine Rolle. Und zwar eine ziemlich große, wie Sie gleich herausfinden werden. Allerdings bin ich nicht vom FBI, Pech gehabt.«

»Geht es um Gilly?« Inzwischen ist seine Sitzhaltung etwas lockerer. Er bewegt sich kaum und scheint sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. »Ich habe meine Tochter geliebt. Seit Thanksgiving habe ich sie nicht gesehen, und das ist, bei Gott, die Wahrheit.«

»Der Hund«, gibt Benton ihr ein neues Stichwort. Lucy überlegt ernsthaft, ob sie sich den Empfänger aus dem Ohr reißen soll.

»Glauben Sie, jemand hat Ihre Tochter umgebracht, weil Sie für den Heimatschutz spionieren?« Lucy weiß zwar, dass dem nicht so ist, aber irgendwie muss sie ihn ja kriegen. »Kommen Sie, Frank. Raus mit der Wahrheit! Machen Sie es nicht noch schlimmer für sich.«

»Jemand hat sie umgebracht?«, wiederholt er. »Das kann nicht sein.«

»Es ist aber so.«

»Unmöglich.«

»Wer war bei den Spielchen in Ihrem Haus sonst noch dabei?

Kennen Sie einen gewissen Edgar Allan Pogue? Das ist der Typ, der in Mrs. Arnettes früherem Haus wohnt.«

»Mrs. Arnette kannte ich«, erwidert er. »Sie war meine Patientin. Hypochondrisch veranlagt und eine ziemliche Nervensäge.«

»Das ist wichtig«, sagt Benton, als ob Lucy das nicht selbst wüsste. »Er vertraut sich dir an. Sei seine Freundin.«

»Ihre Patientin in Richmond?«, fragt Lucy ihn. Obwohl sie nicht die geringste Lust hat, seine Freundin zu mimen, ist ihr Tonfall versöhnlicher, und sie gibt sich interessiert. »Wann?«

»Wann? O Gott, vor einer Ewigkeit. Ich habe unser Haus in Richmond von ihr gekauft. Sie besaß einige Häuser. Um die Jahrhundertwende gehörte ihrer Familie ein ganzer Straßenzug. Es war ein riesiges Grundstück, das irgendwann unter den Familienmitgliedern aufgeteilt und später verkauft wurde. Unser Haus war ein richtiges Schnäppchen. Wenn ich nur gewusst hätte, was ich mir dadurch einhandelte.«

»Klingt, als hätten Sie sie nicht sehr gemocht«, erwidert Lucy. Sie tut, als würden sie und Dr. Paulsson sich wunderbar vertragen; so als hätte er sie nicht erst vor ein paar Minuten sexuell belästigt.

»Ständig kam sie zu mir nach Hause oder in die Praxis, um zu jammern. Sie war eine Landplage.«

»Was ist aus ihr geworden?«

»Sie ist gestorben. Vor acht oder zehn Jahren. Lange her.«

»Woran?«, will Lucy wissen.

»Sie litt schon seit einer Weile an Krebs. Sie ist zu Hause gestorben.«

»Einzelheiten«, sagt Benton.

»Was wissen Sie darüber?«, fragt Lucy. »War sie allein, als sie starb? Hatte sie eine große Beerdigung?«

»Warum wollen Sie das alles wissen?« Dr. Paulsson sitzt auf seinem Stuhl und blickt sie an. Doch er fühlt sich sichtlich besser, weil sie freundlich zu ihm ist.

»Es könnte etwas mit Gilly zu tun haben. Ich weiß mehr als Sie, also lassen Sie mich meine Fragen stellen.«

»Vorsicht«, warnt Benton. »Verärgere ihn nicht.«

»Tja, dann fragen Sie«, meint Dr. Paulsson spöttisch.

»Waren Sie auf der Beerdigung?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass eine stattgefunden hätte.«

»Sie muss doch beerdigt worden sein«, beharrt Lucy.

»Sie hat Gott gehasst und ihn für ihre Schmerzen und Leiden verantwortlich gemacht. Auch dafür, dass es niemand lange in ihrer Nähe aushielt, was Sie verstehen könnten, wenn Sie sie gekannt hätten. Eine unangenehme alte Frau. Einfach unerträglich. Ärzte verdienen nicht genug, um sich mit Patientinnen wie ihr herumzuärgern.«

»Und sie ist zu Hause gestorben? Sie hatte Krebs und ist allein zu Hause gestorben?«, wundert sich Lucy. »Wurde sie von einem Pflegedienst betreut?«

»Nein.«

»Eine wohlhabende Frau wie sie stirbt allein zu Hause, ohne die geringste medizinische Hilfe zu erhalten?«

»Mehr oder weniger. Warum ist das so wichtig?« Sein Blick schweift durch das Behandlungszimmer.

»Weil es wichtig ist. Und weil Sie sich selbst damit helfen.« Das ist gleichzeitig Beruhigung und Drohung. »Ich möchte Mrs. Arnettes Krankenakte sehen. Zeigen Sie sie mir. Rufen Sie sie auf Ihrem Computer auf.«

»Ihre Daten habe ich mit Sicherheit gelöscht. Sie ist tot.« Er sieht sie spöttisch an. »Das Komischste daran ist, dass Mrs. Arnette ihre Leiche der Wissenschaft gespendet hat. Sie wollte keine Beerdigung, weil sie Gott hasste. Mir tut der arme Medizinstudent Leid, der sich mit ihrer Leiche herumplagen musste. Manchmal denke ich daran und bedaure den armen Teufel, der das Pech hatte, an ihren hässlichen, verschrumpelten alten Körper zu geraten.« Inzwischen ist Dr. Paulsson ruhiger und selbstsicherer. Und je wohler er sich in seiner Haut fühlt, desto mehr spürt Lucy Hass in sich aufsteigen wie bittere Galle.

»Der Hund«, sagt Benton ihr ins Ohr. »Frag ihn.«

»Was ist aus Gillys Welpen geworden?«, erkundigt sich Lucy. »Ihre Frau sagt, der Hund sei verschwunden, und Sie hätten etwas damit zu tun.«

»Sie ist nicht mehr meine Frau«, entgegnet er. Sein Blick ist hart und kalt. »Und Gilly hatte nie einen Hund.«

»Sweetie«, hakt Lucy nach.

Als er sie ansieht, blitzt etwas in seinen Augen auf.

»Wo ist Sweetie?«, will Lucy wissen.

»Die einzigen Sweeties, die ich kenne, sind Gilly und ich«, antwortet er mit einem höhnischen Grinsen.

»Lassen Sie die Witze«, warnt Lucy. »Hier gibt es nichts zu lachen.«

»Suz nennt mich Sweetie. Das hat sie immer getan. Und ich habe zu Gilly Sweetie gesagt.«

»Das ist die Antwort«, meint Benton. »Es reicht. Verschwinde.«

»Es gab nie einen Hund«, sagt Dr. Paulsson. »Dieses Gefasel ist nichts als Mist.« Als er sich vorbeugt, ahnt sie, was jetzt kommt. »Wer sind Sie?«, fragt er. »Geben Sie mir den Stift.« Er steht auf. »Sie sind nur ein dummes kleines Mädchen, das geschickt worden ist, um mich vor den Richter zu zerren, stimmt’s? Sie denken wohl, Sie könnten Geld aus mir herauspressen. Aber Sie müssen doch einsehen, dass das zwecklos ist. Her mit dem Stift!«

Lucy steht mit hängenden Armen da. Ihre Hände sind bereit.

»Da haben sich wohl einige Flittchen verbündet, um ein paar Dollar zu kassieren.« Als er sich vor ihr aufbaut, weiß sie, was gleich passieren wird.

»Verschwinde«, warnt Benton. »Es ist vorbei.«

»Sie wollen also die Kamera?«, meint Lucy. »Und den Mikro-Recorder?« Allerdings hat sie gar keinen Recorder, der steht nämlich bei Benton. »Wollen Sie die wirklich haben?«

»Wir können ja einfach so tun, als wäre nie etwas vorgefallen«, schlägt Dr. Paulsson lächelnd vor. »Geben Sie mir die Sachen. Sie haben die Informationen, die Sie haben wollten. Also vergessen wir das Ganze einfach. Geben Sie schon her.«

Sie tastet nach dem Funkgerät, das an einer Gürtelschlaufe befestigt ist. Der Draht verläuft durch ein winziges Loch in ihrem Overall. Mit einem Knopfdruck schaltet sie das Gerät aus, und Bentons Bildschirm wird dunkel. Er kann zwar noch hören und sprechen, aber nichts mehr sehen.

»Nicht!«, zischt er ihr ins Ohr. »Du musst sofort verschwinden.«

»Sweetie«, meint Lucy höhnisch zu Dr. Paulsson. »Was für ein Witz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass je ein Mensch zu Ihnen Sweetie gesagt hat. Wenn Sie die Kamera und den Recorder wollen, müssen Sie sie sich schon holen.«

Als er sich auf sie stürzen will, läuft er ihr direkt in die Faust. Seine Beine knicken weg, und er sinkt mit einem Stöhnen zu Boden. Im nächsten Moment kauert sie schon auf seinem Rücken. Ein Knie fixiert seinen rechten Arm, während ihre linke Hand seinen linken Arm festhält. Sie dreht ihm die Arme schmerzhaft auf den Rücken.

»Lassen Sie mich los!«, brüllt er. »Sie tun mir weh!«

»Lucy! Nein!«, ruft Benton, aber sie hört nicht auf ihn.

Ihr Atem geht stoßweise, und sie schmeckt ihre eigene Wut, als sie Dr. Paulsson an den Haaren packt und seinen Kopf hochreißt. »Hoffentlich haben Sie sich heute gut amüsiert, Sweetie«, sagt sie und zerrt ihn noch einmal heftig an den Haaren. »Ich sollte Ihnen den gottverdammten Schädel einschlagen. Haben Sie Ihre Tochter missbraucht? Haben Sie sie an die anderen Perversen, die zu Ihnen kamen, als Sexspielzeug verliehen? Haben Sie sie in ihrem eigenen Zimmer belästigt, bevor Sie im letzten Sommer ausgezogen sind?« Sie presst sein Gesicht auf den Boden und drückt so fest zu, als wolle sie ihn in den weißen Fliesen ertränken. Seine Wange schabt am Boden. »Wie vielen Menschen haben Sie das Leben ruiniert, Sie Dreckschwein?« Sie schlägt seinen Kopf kräftig auf den Boden, damit er merkt, dass sie ihm ernsthaft Schaden zufügen könnte. Er stöhnt und schreit.

»Lucy! Hör auf!« Bentons Stimme lässt ihr Trommelfell vibrieren. »Geh jetzt!«

Lucy blinzelt, und plötzlich wird ihr klar, was sie da tut. Sie darf ihn nicht umbringen. Also steht sie auf. Sie will ihn schon gegen den Kopf treten, hält aber mitten in der Bewegung inne. Schwer atmend und in Schweiß gebadet, weicht sie zurück, obwohl sie ihn am liebsten zertrampeln und totschlagen würde und das auch mühelos könnte. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«, zischt sie, und ihr Herz rast, als sie erkennt, wie gerne sie ihn töten würde. »Liegen bleiben und nicht bewegen!«

Sie nimmt ihre Formulare mit den falschen Daten vom Tisch, geht zur Tür und öffnet sie. Er bleibt reglos auf dem Boden liegen. Blut tropft ihm aus der Nase und sammelt sich auf den weißen Fliesen.

»Sie sind am Ende«, sagt sie, schon auf der Schwelle, zu ihm und fragt sich, wo wohl seine mollige Assistentin steckt. Als sie in Richtung Treppe späht, kann sie niemanden entdecken. Das Haus ist totenstill. Sie ist mit Dr. Paulsson allein, genau wie er es geplant hat. »Sie sind am Ende. Ihr Glück, dass Sie noch leben«, sagt sie zu ihm und zieht die Tür hinter sich zu.

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