05 - Die Lehrerin in Amt und Würden

Als Anne in die Schule kam - es war das erste Mal gewesen, dass sie taub und blind für seine Schönheit den Birkenpfad entlanggegangen war waren alle still und friedlich. Die frühere Lehrerin hatte den Kindern eingetrichtert, bei Annes Eintreffen auf ihren Plätzen zu sitzen. Als sie den Klassenraum betrat, sah sie sich geordneten Reihen von strahlenden »Guten-Morgen-Gesichtern« gegenüber und wachen, wissbegierigen Augen. Sie hängte den Hut an den Haken, schaute ihre Schüler an und hoffte, dass sie nicht so verschüchtert und dämlich dreinsah, wie sie sich fühlte, und dass sie ihr nicht anmerkten, wie sie zitterte.

Am Vorabend hatte sie fast bis Mitternacht über einer Rede gesessen, die sie den Schülern zum Schulanfang halten wollte. Sie hatte sie sorgfältig überarbeitet, verbessert und sie dann auswendig gelernt. Es war eine ausgezeichnete Ansprache mit ein paar glänzenden Gedanken, vor allem in puncto gegenseitiger Hilfe und dem ernsthaften Bemühen, etwas dazuzulernen. Das Dumme war nur, dass sie sich jetzt an kein einziges Wort mehr erinnern konnte.

Nach einer Weile, die ihr wie ein Jahr vorkam - in Wirklichkeit waren es nur zehn Sekunden -, sagte sie schwach: »Nehmt bitte die Bibeln zur Hand«, und sank unter dem dann folgenden Rascheln und dem Klappern von Pultdeckeln atemlos in ihren Stuhl. Während die Kinder Verse lasen, ordnete Anne ihre fünf Sinne wieder und ließ ihren Blick von den kleinen zu den größeren Schülern wandern.

Die meisten kannte sie natürlich ganz gut. Ihre eigenen Klassenkameraden hatten im letzten Schuljahr die Schule verlassen, aber alle anderen kannte sie, bis auf die Erstklässler und zehn in Avonlea Neu zugezogene. Anne war insgeheim gespannter auf diese zehn Neuen, weil sie über die Fähigkeiten der anderen schon halbwegs im Bilde war. Sicher, vielleicht waren sie genauso durchschnittlich wie die Übrigen, aber vielleicht war ja doch ein Genie darunter. Dies war ein aufregender Gedanke.

Allein an einem Ecktisch saß Anthony Pye. Er machte ein finsteres, mürrisches Gesicht und sah Anne aus seinen dunklen Augen böse an. Anne beschloss sofort, dass sie die Zuneigung dieses Jungen gewinnen musste, was die Pyes restlos verwirren würde.

In der anderen Ecke neben Arty Sloane saß ein Neuer - ein drollig aussehendes Kerlchen mit einer Stupsnase, Sommersprossen und großen strahlend blauen Augen mit hellen Wimpern - vermutlich der kleine Donnell. Und wenn es so etwas wie Familienähnlichkeit gab, dann musste das drüben in der anderen Reihe neben Mary Bell seine Schwester sein. Anne fragte sich, was das für eine Mutter sein musste, die sie in einem solchen Kleid zur Schule geschickt hatte. Sie trug ein verblichenes, rosafarbenes Seidenkleid mit jeder Menge Baumwollspitze, schmutzige weiße Sandalen und Seidenstrümpfe. Ihr rotblondes Haar war zu unzähligen unnatürlichen Löckchen aufgedreht und mit einer auffallenden rosafarbenen Schleife, die größer als ihr Kopf war, versehen. Sie machte jedoch einen durchaus mit sich zufriedenen Eindruck.

Das blasse kleine Mädchen mit den weichen schulterlangen Locken aus feinem, seidigem, hellbraunem Haar musste Annetta Bell sein, deren Eitern früher im Einzugsbereich der Newbridge-Schule gewohnt hatten, die aber jetzt, nachdem sie um knappe hundert Meter weiter nach Norden gezogen waren, zu Avonlea gehörten. Die drei blassen Mädchen waren bestimmt die Cottons. Und die kleine Schönheit mit den langen braunen Haaren und den haselnussbraunen Augen, die über ihre Bibel hinweg Jack Gillis kokette Blicke zuwarf, musste Prillie Rogerson sein, deren Vater vor kurzem zum zweiten Mal geheiratet hatte und Prillie von der Großmutter in Grafton zu sich nach Hause geholt hatte. Das große linkische Mädchen auf einem der hinteren Plätze, das nicht wusste, wohin mit seinen Füßen und Händen, konnte Anne überhaupt nicht zuordnen. Später stellte sich heraus, dass es sich um Barbara Shaw handelte, die nun bei einer Tante in Avonlea wohnte. Außerdem fand sie heraus, dass, wenn Barbara es je fertig brachte, den Gang entlangzugehen, ohne über ihre eigenen oder anderer Leute Füße zu stolpern, ihre Mitschüler diese ungewöhnliche Tatsache an der Tafel auf der Schulveranda festhielten.

Als sich Annes Blicke mit denen des Jungen vorn in der ersten Reihe trafen, durchfuhr sie ein seltsamer kleiner Schauer, so als hätte sie ihr Genie entdeckt. Das musste Paul Irving sein. Mrs Rachel Lynde hatte zumindest dieses eine Mal Recht gehabt, als sie prophezeite, dass er anders wäre als die Kinder aus Avonlea. Ja, mehr noch, bemerkte Anne, dass er überhaupt ganz anders war als andere Kinder und dass da eine ihr verwandte Seele sie aus dunklen blauen Augen unverwandt musterte.

Sie wusste, dass Paul zehn Jahre alt war, aber er sah höchstens nach acht aus. Er hatte das schönste Gesicht, das sie je bei einem Kind gesehen hatte. Seine Gesichtszüge waren von ausgesprochener Feinheit und Vollkommenheit, umrahmt von kastanienbraunen Locken. Sein Mund war ebenmäßig, die roten Lippen waren groß, berührten einander nur leicht und formten sich zu fein vollendeten Mundwinkeln, wo sich winzige Grübchen bildeten. Er machte einen ruhigen, ernsten und nachdenklichen Eindruck, so als wäre er vom Verstand her seiner körperlichen Entwicklung weit voraus. Aber als Anne ihm leicht zulächelte, verwandelte sich dieser Ausdruck unvermittelt in ein Lachen, das regelrecht wie eine Erleuchtung seines ganzen Wesens wirkte, so als wäre in ihm plötzlich ein Licht entzündet worden und ließe ihn von Kopf bis Fuß erstrahlen. Das Schönste daran war, dass es unwillkürlich geschah und nicht gesteuert war; es war wie das Aufblitzen einer verborgenen Persönlichkeit, eines seltenen, schönen und lieben Menschen. Nachdem sie einander kurz zugelächelt hatten, waren Anne und Paul auf immer Freunde, noch ehe sie überhaupt ein Wort gewechselt hatten.

Der Tag verging wie im Traum. Anne konnte sich später nie in allen Einzelheiten daran erinnern. Ihr kam es vor, als unterrichtete nicht sie selbst, sondern eine andere. Sie erklärte, rechnete und schrieb mechanisch. Die Kinder führten sich ganz ordentlich auf, von zwei Zwischenfällen einmal abgesehen. Morley Andrews erwischte sie dabei, wie er ein Grillenpärchen über den Gang scheuchte. Anne stellte Morley zur Strafe eine Stunde lang nach vorn ans Pult, was Morley nur umso aufgekratzter machte, und beschlagnahmte seine Grillen. Sie legte sie in eine Schachtel und setzte sie auf dem Nachhauseweg im Veilchental aus. Aber Morley war nicht davon abzubringen, dass sie sie mit nach Hause genommen hätte und sie sie zu ihrem eigenen Vergnügen behielt.

Der andere Übeltäter war Anthony Pye, der die letzten paar Tropfen Wasser aus seinem Wasserbehälter Aurelia Clay hinten in den Kragen schüttete. In der Pause rief Anne Anthony zu sich und erklärte ihm, wie ein Gentleman sich zu benehmen hätte, und belehrte ihn, dass er niemals Damen Wasser in den Kragen schütten dürfe. Sie wünsche, dass alle Jungen sich wie Gentlemen aufführten, sagte sie. Ihre Strafpredigt war durchaus freundlich und rührend, aber Anthony ließ sie leider vollkommen ungerührt. Er hörte ihr mit einem mürrischen Gesichtsausdruck schweigend zu und pfiff verächtlich, als er hinausging. Anne seufzte. Dann jedoch rief sie sich zu ihrer Ermunterung ins Gedächtnis, dass, ebenso wie Rom nicht an einem einzigen Tag erbaut worden war, man nicht an einem Tag die Zuwendung eines Pye gewinnen konnte. Und es war zu bezweifeln, ob das bei manchen Pyes überhaupt möglich war. Aber bei Anthony hatte Anne die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vielleicht entpuppte er sich ja als ein ganz netter Bursche, wenn man ihm sein mürrisches Wesen auszutreiben vermochte.

Als die Schule aus war und die Kinder fort waren, sank Anne erschöpft in ihren Stuhl. Der Kopf tat ihr weh und sie fühlte sich jämmerlich entmutigt. Dazu gab es eigentlich gar keinen Grund, denn es war nichts Schlimmes vorgefallen. Aber Anne war sehr müde und glaubte schon fast, dass ihr die Schule nie Spaß machen würde. Wie furchtbar musste es sein, eine Arbeit zu tun, zu der man tagein, tagaus - nun, sagen wir vierzig Jahre lang - keine Lust hatte. Anne schwankte, ob sie auf der Stelle losheulen oder ob sie damit warten sollte, bis sie in ihrem Zimmer zu Hause war. Noch ehe sie einen Entschluss gefasst hatte, hörte sie draußen in der Vorhalle Schritte und das Knistern und Rascheln eines Seidenkleides. Anne sah sich einer Dame gegenüber, deren Erscheinung sie an eine vor kurzem gemachte kritische Bemerkung von Mr Harrison erinnerte, bezüglich eines allzu aufgedonnerten Frauenzimmers, das er in einem Laden in Charlottetown gesehen hätte. »Sie sah aus wie ein Frontalzusammenstoß zwischen einer Modepuppe und einem Schreckgespenst.«

Die Fremde trug ein auffallend hellblaues, seidenes Sommerkleid voller Rüschen und Krausen und hatte einen riesigen weißen Chiffonhut auf, geschmückt mit drei langen, schlanken Straußenfedern. Ein Schleier aus rosafarbenem Chiffon mit vielen großen schwarzen Punkten hing von der Hutkrempe bis auf die Schultern und schwebte wie zwei leichte flatternde Bänder hinterdrein. Sie trug so viel Schmuck, wie an einer einzelnen Frau nur irgend unterzubringen war, und ein strenger Duft nach Parfüm begleitete sie.

»Ich bin Mrs Donnell... Mrs H. B. Donnell«, verkündete sie. »Ich bin hier, um mich bei Ihnen nach etwas zu erkundigen, das mir Clarice Almira erzählte, als sie gestern zum Essen nach Hause kam. Es hat mich unmäßig geärgert.«

»Das tut mir Leid«, stotterte Anne und versuchte vergebens sich an einen morgendlichen Vorfall zu erinnern, in den die Donnell-Kinder verwickelt gewesen wären.

»Clarice Almira hat mir erzählt, Sie würden unseren Namen Donnell aussprechen. Nun, Miss Shirley, die korrekte Aussprache unseres Namens lautet Donnell - die Betonung auf der letzten Silbe. Ich hoffe, dass Sie in Zukunft daran denken.«

»Ich werde mich bemühen«, japste Anne und hätte am liebsten losgelacht. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie unangenehm es ist, wenn der Name falsch geschrieben wird, es muss noch viel schlimmer sein, wenn er falsch ausgesprochen wird.«

»Ja, das ist es. Und Clarice Almira hat mir auch berichtet, dass Sie meinen Sohn Jacob nennen.«

»Er hat es mir selbst so gesagt«, protestierte Anne.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Mrs H. B. Donnell in einem Ton, in dem mitschwang, dass man von Kindern in diesem schlimmen Alter keine Dankbarkeit zu erwarten hatte. »Der Junge hat einen so vulgären Geschmack, Miss Shirley. Eigentlich wollte ich ihn St. Clair nennen - es klingt so aristokratisch, nicht wahr? Aber sein Vater bestand darauf, er soll nach seinem Onkel Jacob heißen. Ich willigte ein, weil Onkel Jacob ein reicher, eingefleischter Junggesselle war. Und was glauben Sie, Miss Shirley? Als unser unschuldiger Junge fünfjahre alt war, ging doch Onkel Jacob tatsächlich hin und heiratete und jetzt hat er selbst drei jungen. Haben Sie je eine solche Undankbarkeit erlebt? Als uns die Einladung zur Hochzeit - er besaß tatsächlich die Unverfrorenheit, uns eine Einladung zu schicken, Miss Shirley - ins Haus schneite, sagte ich: >Schluss mit Jacob, danke bestens!< Von dem Tag an nannte ich meinen Sohn St. Clair und so soll er auch weiterhin genannt werden. Sein Vater nennt ihn hartnäckig weiter Jacob und der Junge selbst hat eine völlig unerklärliche Vorliebe für den gewöhnlichen Namen. Aber sein Name ist St. Clair und dabei soll es auch bleiben. Sie sind doch so nett und denken daran, Miss Shirley, ja? Vielen Dank. Ich habe zu Clarice Almira gesagt, es wäre bestimmt nur ein Missverständnis, das man schnell klären könne. Donnell - mit der Betonung auf der letzten Silbe und St. Clair - auf gar keinen Fall Jacob. Sie denken doch daran? Vielen Dank.«

Als Mrs H. B. Donnell davongerauscht war, schloss Anne die Schultür ab und ging nach Hause. Am Fuße des Hügels beim Birkenpfad traf sie Paul Irving. Er hielt ihr einen Strauß schöner wilder Orchideen entgegen, die die Kinder von Avonlea »Reislilien« nannten.

»Für Sie, Miss Shirley, ich habe sie auf Mr Wrights Feld gepflückt«, sagte er verlegen. »Ich bin noch mal hergekommen und wollte sie Ihnen geben, weil ich dachte, sie würden Ihnen gefallen, und weil...«, er sah mit seinen großen schönen Augen zu ihr hoch, ». . . ich Sie mag.«

»Lieb von dir«, sagte Anne und nahm die duftenden Blumen. So als wären Pauls Worte ein Zauberspruch gewesen, schwanden ihre Entmutigung und Erschöpfung dahin und einer sprudelnden Quelle gleich stieg Hoffnung in ihr auf. Leichtfüßig ging sie den Birkenpfad entlang, begleitet vom süßen Duft der Orchideen.

»Nun, wie ist es dir ergangen?«, wollte Marilla wissen.

»Frage mich das in einem Monat, vielleicht kann ich es dir dann beantworten. Ich kann jetzt... ich weiß es selbst nicht... ich stecke zu sehr darin. Ich war ganz aufgewühlt, alle meine Gedanken waren verschwommen und konfus. Das Einzige, was ich mit Bestimmtheit weiß, ist, dass ich Cliffie Wright beigebracht habe, was ein A ist. Er wusste es nicht. Ist das etwa nichts, eine Menschenseele auf einen Weg geschickt zu haben, der vielleicht zu Shakespeare und dem Verlorenen Paradies< führt?«

Später kam Mrs Lynde vorbei und trug ein Übriges zu Annes Ermutigung bei. Sie hatte die Schulkinder an ihrem Tor abgefangen und sie gefragt, wie sie ihre neue Lehrerin fänden.

»Alle fanden dich prima, Anne, außer Anthony Pye. Er war da ganz anderer Ansicht. Er sagte, du taugst nichts, genau wie alle Lehrerinnen. So sind die Pyes nun mal. Aber mach dir nichts draus.«

»Ich mache mir auch nichts daraus«, sagte Anne ruhig. »Ich werde Anthony Pye schon noch auf meine Seite bringen. Mit Geduld und Freundlichkeit werde ich es schon schaffen.«

»Na ja, bei einem Pye kann man da nie so sicher sein«, sagte Mrs Rachel vorsichtig. »Bei ihnen ist es wie mit Wünschen - sie werden oft nicht wahr. Und was diese Donneil angeht, ich werde sie nicht Donnell nennen, das kann ich dir aber sagen. Der Name heißt Donnell und hat immer so geheißen. Die Frau ist verrückt, jawohl. Sie hat einen Mops namens Queenie und der sitzt beim Essen mit am Tisch und isst von einem Teller. Ich an ihrer Stelle würde mich das nicht getrauen. Thomas sagst, Mr Donnell wäre ein vernünftiger und hart arbeitender Mann, aber als er sich eine Frau gesucht hat, hat er nicht gerade gesunden Menschenverstand bewiesen, jawohl!«

06 - Menschen aller Art

Ein Tag im September auf den Hügeln der Prince Edward Island: Vom Meer her weht ein frischer Wind über die Sanddünen; die lange rote Straße schlängelt sich durch Felder und Wälder, führt bald in einer Biegung an einem Fichtenwald vorbei, windet sich durch eine Anpflanzungjunger Ahornbäume, unter denen gefiederter Farn wächst, taucht dann in eine Senke hinab, wo plötzlich ein Bach auftaucht und wieder im Wald verschwindet, und liegt schließlich zwischen Goldruten und rauchblauen Astern im hellen Sonnenlicht da. Die Luft sirrt vom Gezirpe von Myriaden von Grillen, den zufriedenen kleinen Sommergästen auf den Hügeln; ein behäbiges braunes Pferd trottet gemächlich den Weg entlang; zwei Mädchen folgen ihm, erfüllt von den einfachen, unschätzbaren Freuden der Jugend und des Lebens. »Ach, dies ist ein Tag wie im Paradies, nicht wahr, Diana?«, seufzte Anne vor purem Glück. »Ein Zauber liegt in der Luft. Sieh einmal das Purpur in der Mulde dort im Tal, Diana. Und riechst du den Duft der harzigen Tannen? Er dringt von der kleinen sonnigen Senke herauf, wo Mr Eben Wright Zaunpfähle zurechtgeschnitten hat. Glück heißt einen solchen Tag erleben zu dürfen, aber den Duft harziger Tannen zu genießen bedeutet den Himmel. Das stammt zu zwei Dritteln von Wordsworth und zu einem Drittel von Anne Shirley. Im Himmel wird es wohl keine harzigen Tannen geben, nicht wahr? Aber der Himmel wäre nicht vollkommen, könnte man nicht einen Hauch von diesem Duft riechen, wenn man durch die Himmelswälder streift. Ja, ich glaube, so muss es sein. Der herrliche Duft ist die Seele der Tannen -im Himmel gibt es natürlich nur Seelen.«

»Bäume haben keine Seelen«, sagte Diana in ihrer nüchternen Art, »aber der Duft harziger Tannen ist natürlich wunderbar. Ich werde ein Kissen machen und es mit Tannennadeln füllen. Mach du dir doch auch eins, Anne.«

»Ich glaube, das werde ich - für meine Nickerchen. Dann würde ich bestimmt träumen, ich wäre eine Dryade oder eine Waldelfe. Aber im Augenblick bin ich rundum glücklich, Anne Shirley, die Avonlea-Lehrerin, zu sein und an diesem wunderschönen, traumhaften Tag eine Straße wie diese entlangzufahren.«

»Es ist zwar ein angenehmer Tag, aber wir haben alles andere als eine angenehme Aufgabe vor uns«, seufzte Diana. »Warum musstest du vorschlagen, dass ausgerechnet wir diese Straße abklappern, Anne? Fast alle verschrobenen Leute, die es in Avonlea gibt, wohnen entlang dieser Straße. Wahrscheinlich wird man uns behandeln, als wollten wir das Geld für uns selbst erbetteln. Es ist die schlimmste Straße von allen.«

»Deshalb gerade habe ich sie ja ausgesucht. Natürlich hätten auch Gilbert und Fred sie übernommen, wenn wir sie darum gebeten hätten. Aber verstehst du, Diana, ich fühle mich für den D.V.V. verantwortlich, weil es mein Vorschlag war, und dann habe ich gefälligst auch die unangenehmen Aufgaben zu übernehmen. Es tut mir Leid für dich, aber du brauchst kein Wort zu sagen. Ich übernehme das Reden ... Mrs Lynde sagt immer, darauf würde ich mich verstehen. Mrs Lynde weiß nicht so recht, ob sie unseren Verein unterstützen soll oder nicht. Wenn sie bedenkt, dass Mrs und Mr Allan ihn für gut befinden, neigt sie schon dazu, aber die Tatsache, dass die ersten Dorfverschönerungs-Vereine in den Staaten gegründet wurden, spricht dagegen. Also schwankt sie noch, in ihren Augen kann uns nur der Erfolg Recht geben. Priscilla will bis zu unserem nächsten Treffen ein Schreiben aufsetzen. Ich glaube, es wird gut, denn ihre Tante ist Schriftstellerin und bestimmt macht es in der ganzen Familie die Runde. Ich werde mein Lebtag nicht vergessen, wie begeistert ich war, als ich herausfand, dass Mrs Charlotte E. Morgan Priscillas Tante, ist. Ich fand es wundervoll, die Freundin eines Mädchens zu sein, dessen Tante Gefährliche Zeiten< und >Der Rosenknospen-Garten< geschrieben hat.«

»Wo wohnt Mrs Morgan?«

»In Toronto. Nächsten Sommer kommt sie auf einen Besuch auf die Insel. Priscilla will versuchen es so einzurichten, dass wir sie kennen lernen. Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein - aber da hat man nach dem Zubettgehen etwas Schönes, was man sich ausmalen kann.«

Der D.V.V. war ins Leben gerufen. Gilbert Blythe war Vorsitzender, Fred zweiter Vorsitzender, Anne Shirley Schriftführerin und Diana Barry Schatzmeisterin. Die »Verschönerer«, wie sie sofort getauft wurden, trafen sich alle vierzehn Tage bei einem der Mitglieder zu Hause. Man hatte eingesehen, dass so spät im Jahr nicht mehr groß etwas auf die Beine gestellt werden konnte, aber sie wollten die Kampagne für den Sommer vorbereiten, Vorschläge sammeln und besprechen, Schreiben verlesen und verfassen und, wie Anne gesagt hatte, das öffentliche Interesse wecken.

Natürlich wurde einiges missbilligt und - woraufhin sich die Verschönerer nur noch eifriger ans Werk machten - ins Lächerliche gezogen. Mrs Elisha Wright etwa, so wurde berichtet, sollte gesagt haben, ein passender Name für den Verein wäre Freiers-Club. Mrs Hiram Sloane verkündete, ihr sei zu Ohren gekommen, die Verschönerer wollten alle Wegränder umpflügen und dort Geranien einsetzen. Mr Levi Boulter warnte seine Nachbarn, die Verschönerer wollten sämtliche Häuser abreißen und sie nach ihren eigenen Plänen wieder aufbauen. Mr James Spencer bat sie, sie möchten doch so freundlich sein und den Hügel, auf dem die Kirche stand, wegschaufeln. Eben Wright sagte zu Anne, er wünsche, die Verschönerer könnten den alten Josiah Sloane dazu bewegen, seinen Bart zu stutzen. Mr Lawrence Bell meinte, er würde seine Scheune weiß tünchen, wenn sie das glücklich machte, aber er wäre nicht bereit, Spitzengardinen vor die Fenster seines Kuhstalls zu hängen. Mr Major Spencer fragte Clifton Sloane, ebenfalls ein Mitglied des D.V.V., der die Milch zur Käsefabrik in Carmody fuhr, ob es wahr sei, dass im kommenden Sommer jeder seinen Milchstand von Hand bemalt haben und eine bestickte Decke darauf legen müsse.

Trotz allem - oder vielleicht auch gerade weil der Mensch nun einmal ist, wie er ist - nahm der Verein voller Elan die einzige Verschönerung, die vielleicht noch diesen Herbst bewerkstelligt werden konnte, in Angriff. Beim zweiten Treffen bei den Barrys hatte Oliver Sloane die Idee, Geld zu sammeln, um den Gemeindesaal neu decken und streichen zu lassen. Julia Bell brachte die Idee als Antrag ein mit dem unbehaglichen Gefühl, dass das nicht eben anständig war. Gilbert nahm den Antrag auf, der einstimmig verabschiedet wurde, und Anne hielt ihn feierlich im Protokoll fest. Als Nächstes musste eine Abordnung berufen werden. Gertie Pye wollte auf gar keinen Fall Julia Bell die Lorbeeren ernten lassen und schlug kühn Miss Jane Andrews als Vorsitzende vor. Nachdem dieser Antrag ebenfalls aufgenommen und verabschiedet wurde, gab Jane das Kompliment zurück, indem sie ihrerseits Gertie vorschlug, zusammen mit Gilbert, Anne, Diana und Fred Wright. Nach geheimer Beratung wurden die Routen festgelegt. Anne und Diana wurden für die Straße nach Newbridge eingeteilt, Gilbert und Fred für die White-Sands-Straße und Jane und Gertie für die Carmody-Straße.

»Weil nämlich«, erklärte Gilbert Anne, als sie zusammen durch den Geisterwald nach Hause gingen, »sämtliche Pyes an der Straße wohnen und sie geben nicht einen Cent, außer einer aus ihrem eigenen Clan bearbeitet sie.«

Am Sonntag darauf machten sich Anne und Diana auf den Weg. Sie fuhren ans Ende der Straße und klapperten dann auf dem Rückweg alle ab, wobei sie als Erstes den »Andrews-Schwestern« einen Besuch abstatteten.

»Wenn Catherine allein zu Hause ist, bekommen wir vielleicht etwas«, sagte Diana, »wenn Eliza da ist, bekommen wir nicht einen Cent.«

Eliza war zu Hause - unübersehbar - und schaute noch düsterer drein als sonst. Miss Eliza gehörte zu den Menschen, die einem den Eindruck vermitteln, dass das Leben wirklich ein Tal der Tränen ist und dass ein Lächeln, ganz zu schweigen von einem Lachen, eine wirklich sträfliche Kraftverschwendung ist. Die Andrews-Mädchen waren seit über fünfzig Jahren »Mädchen« und würden es wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage auch bleiben. Catherine, so sagten die Leute, war noch kein ganz hoffnungsloser Fall, aber Eliza war eine geborene Pessimistin. Die beiden wohnten in einem kleinen braunen Haus, das in einer sonnigen Schneise von Mark Andrews’ Buchenwald lag. Eliza jammerte, dass es im Sommer unerträglich heiß im Haus wäre, aber Catherine hielt stets dagegen, dass es dafür im Winter mollig warm darin sei.

Eliza nähte eine Flickendecke, nicht weil sie eine brauchten, sondern nur aus Protest gegen die unnütze Spitzengardine, die Catherine häkelte. Eliza hörte mit gerunzelter Stirn zu, Catherine mit einem Lächeln, als die Mädchen ihr Anliegen vorbrachten. Jedes Mal wenn Eliza Catherine ansah, hörte diese für einen Moment schuldbewusst verlegen auf zu lächeln, doch im nächsten Augenblick stahl es sich wieder auf ihr Gesicht.

»Wenn ich Geld übrig hätte«, sagte Eliza grimmig, »würde ich mir einen Spaß daraus machen, es in Flammen aufgehen zu sehen. Aber nie im Leben würde ich es für diesen Saal hergeben, nicht einen Cent. Er dient nicht der Allgemeinheit — ist doch nur ein Ort, wo sich junges Volk trifft und herumtreibt, wenn es längst zu Hause im Bett liegen sollte.«

»Oh, Eliza, die jungen Leute brauchen doch ein paar Vergnügungen«, wandte Catherine ein.

»Ich sehe das nicht ein. Wir haben uns auch nicht in Sälen herumgetrieben, als wir jung waren, Catherine Andrews. Die Welt wird mit jedem Tag schlechter.«

»Ich finde, sie wird besser«, sagte Catherine fest.

»Du findest!«, Miss Elizas Stimme drückte allergrößte Verachtung aus. »Was du findest, tut überhaupt nichts zur Sache, Catherine Andrews. Tatsachen bleiben Tatsachen.«

»Nun, ich sehe eben lieber die schönen Seiten, Eliza.«

»Die gibt es nicht.«

»0 doch«, rief Anne, die es nicht länger schweigend hinnehmen konnte. »Es gibt sogar sehr viele schöne Seiten, Miss Andrews. Die Welt ist wohl schön.«

»Der hohen Meinung wären Sie nicht, wenn Sie so lange darin gelebt hätten wie ich«, erwiderte Miss Andrews verdrießlich. »Und Sie würden auch nicht mehr diese Begeisterung aufbringen, um sie zu verschönern. Wie geht es deiner Mutter, Diana? Ach ja, sie war ja erst neulich so schlecht auf dem Damm. Sie sieht furchtbar mitgenommen aus. Und wann wird Marilla stockblind sein, Anne?«

»Der Arzt meint, ihre Augen würden sich nicht verschlechtern, wenn sie sie schont«, stotterte Anne.

Eliza schüttelte den Kopf.

»Ärzte reden immer so was daher, nur um den Leuten Mut zu machen. Ich an ihrer Stelle hätte da nicht so große Hoffnung. Besser, man rechnet mit dem Schlimmsten.«

»Aber sollte man nicht auch auf das Beste hoffen?«, brachte Anne vor. »Das Gute kann so gut geschehen wie das Schlechte.«

»Meiner Erfahrung nach nicht und da sprechen meine siebenundfünfzig Jahre gegen deine sechzehn«, erwiderte Eliza. »Ihr wollt weiter, nicht wahr? Nun, ich kann nur hoffen, euer neuer Verein verhindert, dass es mit Avonlea weiter bergab geht, aber große Hoffnung habe ich da nicht.«

Anne und Diana waren froh, gehen zu können, und fuhren so schnell, wie das behäbige Pferd laufen konnte. Als sie unterhalb des Buchenwaldes um die Kurve bogen, kam eine Gestalt über Mr Andrews’ Weide gerannt und winkte ihnen aufgeregt zu. Es war Catherine Andrews. Sie war so außer Atem, dass sie kaum sprechen konnte, aber sie schob Anne zwei Centstücke in die Hand.

»Das ist mein Beitrag für den Saal«, keuchte sie. »Ich wollte euch einen Dollar geben, aber ich traue mich nicht, noch mehr von meinem Eiergeld abzuzweigen, weil Eliza dahinterkommen würde. Euer Verein interessiert mich und ich glaube, ihr werdet einiges erreichen. Ich bin Optimistin. Muss man ja sein, wenn man mit Eliza zusammenlebt. Ich muss mich beeilen, nicht dass sie mich vermisst. Sie denkt, ich füttere die Hühner. Viel Glück noch bei eurer Aktion und lasst den Kopf nicht hängen wegen dem, was Eliza sagt. Die Welt wird wohl besser .. . ganz bestimmt.«

Als Nächstes kamen sie zu Daniel Blair.

»Diesmal hängt alles ganz davon ab, ob seine Frau zu Hause ist oder nicht«, sagte Diana, als sie über den tief ausgefahrenen Weg holperten. »Wenn sie da ist, bekommen wir nicht einen Cent. Alle sagen, Dan Blair traue sich nicht einmal, sich die Haare schneiden zu lassen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Sie ist wirklich geizig, um es einmal milde auszudrücken. Lieber geizig als einmal großzügig, lautet ihre Devise. Aber Mrs Lynde sagt, die Gefahr bestünde nicht, dass sie einmal großzügig sei.«

Am Abend berichtete Anne Marilla von ihrem Erlebnis bei den Blairs. »Wir haben das Pferd angebunden und dann an die Küchentür geklopft. Niemand kam, aber die Tür stand offen. Wir hörten, wie in der Speisekammer jemand schimpfte wie ein Rohrspatz. Wir konnten kein Wort verstehen, aber Diana sagte, es klänge ganz nach Fluchen.

Ich kann mir das bei Mr Blair gar nicht vorstellen, er ist immer so ruhig und sanftmütig. Aber schließlich hatte er allen Grund dazu, Manila. Als dieser arme Kerl rot wie eine Rübe und mit schweißüberströmtem Gesicht an die Tür kam, hatte er eine von den Gingham-Schürzen seiner Frau an. >Ich kriege dieses verdammte Ding nicht auf<, sagte er, >weil die Bänder so fest verknotet sind, und einfach kaputtmachen kann ich sie auch nicht. Sie müssen entschuldigen, meine Damen.< Wir sagten ihm, dass das doch nichts ausmache, und gingen ins Haus und setzten uns hin. Mr Blair setzte sich ebenfalls. Er drehte die Schürze auf den Rücken, aber er sah so beschämt und gequält drein, dass er mir Leid tat. Diana sagte, sie fürchte, wir wären vielleicht in einem unpassenden Augenblick vorbeigekommen. >Oh, nein, gar nicht<, sagte Mr Blair und versuchte zu lächeln, du weißt, er ist immer sehr höflich. >Ich habe nur ziemlich viel zu tun, wollte gerade einen Kuchen backen. Meine Frau hat vorhin ein Telegramm bekommen, dass heute Nachmittag ihre Schwester aus Montreal kommt. Sie holt sie vom Zug ab und hat mir aufgetragen, zum Tee einen Kuchen zu backen. Sie hat das Rezept aufgeschrieben und mir erklärt, wie ich der Reihe nach vorgehe, aber das meiste habe ich wieder vergessen. Und da steht: Nach Geschmack. Was heißt das? Wissen Sie das? Und was ist, wenn mein Geschmack zufällig nicht anderer Leute Geschmack ist? Reicht ein Esslöffel voll Vanille für eine kleine Schichttorte?< Mir tat der arme Mann noch mehr Leid als ohnehin schon. Das schien wirklich nicht sein Fach zu sein. Männer, die unter dem Pantoffel stehen, kenne ich vom Hörensagen, aber da hatte ich leibhaftig einen vor mir. Mir lag schon auf den Lippen: >Mr Blair, wenn Sie uns eine Spende für den Saal geben, rühre ich Ihnen den Teig an.< Aber dann fiel mir ein, dass es nicht gerade die feine Art ist, mit einem Menschen, der in höchster Not steckt, einen so gerissenen Handel zu treiben. Also bot ich ihm an den Teig anzurühren, ohne irgendwelche Bedingungen daran zu knüpfen. Er stürzte sich förmlich auf mein Angebot. Er sagte, vor seiner Heirat hätte er immer sein Brot selbst gebacken, aber er fürchte, Kuchen übersteige seine Fähigkeiten und er wollte seine Frau nicht enttäuschen. Er gab mir eine Schürze. Diana schlug die Eier auf und ich rührte den Teig an. Mr Blair rannte herum und holte die Sachen zusammen. Seine Schürze hatte er darüber völlig vergessen und wie er so umherflitzte, flatterte die Schürze hinter ihm drein. Diana konnte es kaum mehr mit ansehen. Er sagte, in den Ofen schieben könne er den Kuchen allein, damit kenne er sich aus. Dann fragte er nach unserer Liste und trug sich mit vier Dollar ein. Du siehst also, wir wurden belohnt. Aber auch wenn er nicht einen Cent gegeben hätte, dann hätten wir immerhin eine christliche Tat getan, indem wir ihm geholfen haben.«

Als Nächstes hatten sie bei dem Anwesen von Theodore White Halt gemacht. Weder Anne noch Diana waren jemals dort gewesen. Sie kannten nur Mrs Theodore flüchtig, die nicht gerade als gastfreundlich galt. Sollten sie an die Hinter- oder an die Vordertüre gehen? Als sie sich flüsternd berieten, erschien Mrs Theodore mit einem Arm voll Zeitungen an der Vordertür. Sie legte sie eine nach der anderen sorgsam auf den Verandafußboden und die Stufen zur Veranda und dann den Weg entlang genau bis vor die Füße der verblüfften Besucher.

»Würden Sie bitte sorgfältig Ihre Schuhe auf dem Gras abputzen und über die Zeitungen gehen?«, sagte sie besorgt. »Ich habe gerade das ganze Haus gefegt und ich möchte nicht, dass es wieder voller Dreckspuren ist. Der Weg ist ganz schlammig nach dem Regen gestern.«

»Fang ja nicht an zu lachen«, warnte Anne Diana flüsternd, als sie über die Zeitungen schritten. »Und ich flehe dich an, Diana, sieh mich nicht an, egal was sie sagt, oder ich kann nicht mehr an mich halten.« Die Zeitungen reichten quer durch den Flur und bis in ein tipptopp und makellos sauberes Wohnzimmer. Anne und Diana nahmen höchst vorsichtig auf den nächstbesten Stühlen Platz und brachten ihr Anliegen vor. Mrs White hörte ihnen höflich zu und unterbrach sie nur zweimal, einmal um eine verwegene Fliege zu verscheuchen, das zweite Mal, um einen winzigen Grashalm aufzuheben, der aus Annes Kleid auf den Teppich gefallen war. Anne war sich ihrer Schuld bewusst. Aber Mrs White trug sich mit zwei Dollar ein und bezahlte das Geld gleich. »Damit wir nicht noch einmal herkommen müssen«, sagte Diana, als sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten. Mrs White hatte die Zeitungen aufgesammelt, noch ehe sie das Pferd losgebunden hatten. Als sie vom Hof fuhren, sahen sie sie geschäftig mit einem Besen durch den Flur wedeln.

»Man hat immer erzählt, Mrs Theodore White wäre die ordentlichste Frau der Welt-jetzt weiß ich es«, sagte Diana und brach in schallendes Gelächter aus, kaum, dass sie in sicherer Entfernung waren. »Was für ein Glück, dass sie keine Kinder hat«, sagte Anne ernst. »Für Kinder wäre es einfach unerträglich.«

Bei den Spencers war ihnen ganz mulmig zumute, weil Mrs Isabella Spencer über jeden in Avonlea etwas Boshaftes zu berichten wusste. Mr Thomas Boulter weigerte sich eine Spende zu geben, weil der Saal vor zwanzig Jahren nicht an der Stelle erbaut worden sei, die er vorgeschlagen hatte. Mrs Esther Bell, die vor Gesundheit nur so strotzte, brauchte eine halbe Stunde, um ihnen in allen Einzelheiten ihre Krankheiten und Leiden darzulegen, und spendete traurig fünfzig Cents, weil sie im nächsten Jahr um die Zeit nicht mehr da wäre, um sie ihnen zu geben - ja, sie würde dann längst im Grab liegen. Den schlimmsten Empfang allerdings erlebten sie bei den Fletchers. Als sie in den Hof einbogen, sahen sie, wie zwei Mädchen sie durch das Speisekammerfenster hindurch anstarrten. Als sie anklopften und geduldig warteten - niemand kam an die Tür -, fuhren die zwei wutentbrannt und aufgebracht davon. Selbst Anne gab zu, dass sie allmählich der Mut verließ. Aber danach lief es besser. Als Nächstes waren mehrere Sloane-Anwesen an der Reihe, wo sie freigebig Spenden erhielten. Von da an bis zum Schluss erging es ihnen, bis auf eine einzige Abfuhr, bestens. Als Letzten besuchten sie Robert Dickinson an der Bachbrücke. Sie blieben dort lieber zum Tee, obwohl sie schon so gut wie zu Hause waren, um nicht womöglich Mrs Dickinson zu beleidigen, die als sehr »empfindlich« galt.

Während ihres Besuches erschien Mrs James White.

»Ich war gerade bei Lorenzo«, verkündete sie. »Er ist im Augenblick der glücklichste Mensch von ganz Avonlea. Denken Sie nur! Sie haben eben einen kleinen Jungen bekommen — nach sieben Mädchen ist das wirklich ein Ereignis, nicht wahr?«

Anne spitzte die Ohren. Als sie weiterfuhren, sagte sie: »Ich gehe auf der Stelle zu Lorenzo White.«

»Aber er wohnt an der White-Sands-Straße, das ist ein Riesenumweg für uns«, wandte Diana ein. »Gilbert und Fred werden ihn doch aufsuchen.«

»Aber erst nächsten Samstag und bis dahin ist es zu spät«, sagte Anne entschieden. »Dann ist die Neuigkeit schon Schnee von gestern. Lorenzo White ist furchtbar knauserig, aber im Augenblick würde er für egal was etwas spenden. So eine günstige Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen, Diana.«

Das Ergebnis gab Anne Recht. Sie trafen Mr White im Hof. Er strahlte wie die Sonne am Ostersonntag. Als Anne ihn um eine Spende bat, war er gleich begeistert dabei.

»Sicher, sicher. Tragen Sie mich mit einem Dollar mehr, als die bisher größte Spende beträgt, in die Liste ein.«

»Das wären fünf Dollar. Mr Daniel Blair hat vier gegeben«, sagte Anne halb ängstlich. Aber Lorenzo zuckte nicht mit der Wimper.

»Also fünf - hier ist auch gleich das Geld. Und jetzt müssen Sie hereinkommen! Da gibt es etwas, das sich anzuschauen lohnt... etwas, das bisher nur ganz wenige Leute gesehen haben. Kommen Sie kurz mit herein und urteilen Sie selbst.«

»Was sagen wir, wenn das Baby nicht hübsch ist?«, flüsterte Diana besorgt, als sie dem aufgeregten Lorenzo ins Haus folgten.

»Ach, dann gibt es bestimmt sonstwas Nettes zu sagen«, sagte Anne leichthin. »Was man bei Babys eben so sagt.«

Doch das Baby war hübsch und Mr White fand, das aufrichtige Entzücken der Mädchen über den pummeligen kleinen neuen Erdenbürger war die fünf Dollar wert. Aber das war das erste, letzte und einzige Mal, dass Lorenzo White etwas spendete.

Anne, erschöpft wie sie war, tat an dem Abend noch etwas für das Gemeinwohl, indem sie nämlich über die Felder zu Mr Harrison ging und ihn um eine Spende bat. Er saß wie üblich auf der Veranda und rauchte seine Pfeife, Ginger neben sich. Genau genommen wohnte er an der Carmody-Straße, aber Jane und Gertie, die ihn abgesehen von ein paar dubiosen Erzählungen nicht kannten, hatten ängstlich Anne gebeten, zu ihm zu gehen.

Mr Harrison jedoch lehnte es rundweg ab, auch nur einen Cent zu spenden. All ihre Überredungsversuche blieben erfolglos.

»Aber ich dachte, Sie würden unseren Verein gut finden, Mr Harrison«, sagte Anne bedauernd.

»Tu ich auch, tu ich auch. Aber tief in die Tasche greifen will ich dafür nicht, Anne.«

»Noch ein paar solche Erfahrungen, wie ich sie heute gemacht habe, und ich würde eine Pessimistin werden wie Miss Eliza Andrews«, sagte Anne vor dem Zubettgehen zu ihrem Spiegelbild in ihrem Zimmer im Ostgiebel.

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